Ludwig Tieck
Der fünfzehnte November
Ludwig Tieck

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Der fünfzehnte November

Einige Meilen von Amsterdam lebte auf seinem Gute und in einem behaglichen Hause der reiche Herr van der Winden. Garten und Haus war heut' besonders festlich ausgeschmückt, weil er seinen Jugendfreund Thomas erwartete, der von Ostindien zurückgekommen war, und den er seit mehr als zwölf Jahren nicht gesehn hatte. Er saß mit seiner Frau Susanne im hellen Zimmer, in dem die großen Glasthüren nach dem reinlichen und zierlich geordneten Garten offen standen, wo der Tulpenflor glänzte und Hyazinthen auf andern Beeten leuchteten, indes eine Nachtigall ihre vollen Töne abwechselnd anschlug und ein milder Frühlingswind die Blumendüfte nach dem Saale hineinwehte.

Die Frau Susanne schaute behaglich in das Grün und nach der Ferne, wo kaum kenntlich auf dem Kanal Schiffe von Zeit zu Zeit vorüberfuhren. Neben ihr saß die Nichte, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, dem Anscheine nach nicht so ruhig wie ihre beiden Pflegeeltern, »Du hättest dich doch etwas mehr schmücken sollen, liebe Elsbeth«, fing die Tante an; »du weißt, wie sehr der reiche Thomas das Geschmeide liebt, und an deinem Halse, in deinem Ohr würde es ihm vorzüglich gefallen, die schönen Perlen von deiner seligen Mutter wiederzufinden.«

»Glänzt das Mädchen denn nicht«, sagte der Alte schmunzelnd, »wie eine volle weiße Hyazinthe? Was bedarf sie der Perlen? Sie ist auch ohne Gold und Edelstein so voll, groß und strahlend wie eine Königin.«

Elsbeth wurde mit einer Purpurröte plötzlich übergossen und bückte sich nieder, bis die Beschämung sie wieder verlassen hatte und sie wagen konnte, das Auge zu erheben. »Ihr verzieht mich immerdar«, sagte sie dann; »sind wir Mädchen nicht schon von selbst eitel genug? Und der Vater spricht immer mit mir wie ein Liebhaber; das solltet Ihr, Mutter Susanne, gar nicht leiden.«

»Laß nur den Schiffskapitän, den Thomas, kommen«, erwiderte die Mutter, »der wird dir in seiner rauhen Seemanier noch ganz andre Sachen vorschwatzen. Nun, hast du dir denn seinen letzten Brief überlegt?«

Elsbeth wurde noch verlegener, nur schien ihre Miene fast noch mehr Verdruß anzudeuten. »Ja! ja!« rief der Vater vergnügt und rieb die Hände; »Bräutchen! Bräutchen! da wirst du denn doch den Schmuck tragen müssen, den er dir mitbringt.«

Das große, blühende Mädchen stand in seiner ganzen Schönheit auf und stellte sich vor den lachenden Vater. Sie nahm dessen Hand, verneigte sich und küßte sie, worauf sie mit einem schmerzlichen Tone, indem eine kleine Thräne ihr blaues Auge verschattete, sagte: »Sie sollen mich noch nicht so früh los werden, lieber Vater; mag Herr Thomas am Lande bleiben oder wieder in See gehn, aus diesem teuren Hause, von Ihrer Seite soll man mich nicht so leicht entfernen.«

Der alte Kaufmann wurde irr, weil er das Mädchen fast noch niemals, die immer fröhlich war, so ernst gesehn hatte. Er schüttelte den Kopf, drückte ihre Hand und sagte nach einer Pause: »So wird also nichts in der Welt nach meinem Wunsche gehn; er könnte ja das Haus hier kaufen, oder wir wohnten hier und in der Stadt beisammen, mein liebster Freund auf Erden hätte mein liebstes Elschen, und ich könnte ruhig sterben! – Ah!« fuhr er verdrüßlich fort, »das ruhige Sterben wird mir überhaupt nicht so leicht ankommen, es war einmal beschlossen, daß ich kein glücklicher Mann sein sollte.«

Die Mutter fing jetzt auch an zu weinen, und das Mädchen suchte sie mit ernsten und freundlichen Worten zu trösten. Aus dem Garten sang jetzt die Nachtigall lauter und näher, und in die melodischen Töne kreischte eine pfeifende Säge hinein, die hartes und widerspenstiges Holz zu teilen schien, worauf dann Hiebe eines Beiles noch lauter schallten. Der Vater sah die Mutter bedeutend an, doch Elsbeth stand auf und ging einem großen Manne mit leichtem Schritt entgegen, der jetzt den Baumgang herunterkam. »Da ist ja das braune, liebe, närrische Gesicht!« rief der Vater plötzlich wieder erheitert, fuhr vom Sessel auf, rannte dem Mädchen eilig vorüber und sprang dem Fremden fast an die Brust, den er mit lautem, stammelnden Jubel begrüßte. »Da wäre ich wieder«, sagte dieser, indem er mit starker, gebräunter Hand den Alten etwas von sich zurückschob, still stand und ihn von oben bis unten betrachtete; »du bist älter geworden, Jahn, und dicker«, fing er dann mit ruhiger Stimme an; »aber doch noch immer ein Springinsfeld; hat mir der alte Windbeutel nicht beim an den Hals Springen die Binde losgerissen und die Perücke verschoben?« fuhr er wie verdrüßlich fort, indem er beide Stücke wieder phlegmatisch in ihre gehörige Ordnung richtete.

Die Mutter war indessen ebenfalls hinzugetreten, und nachdem die Begrüßung geschehen war, gingen die vier Menschen, wie es wohl bei der Spannung, die ein lange nicht gesehener und geliebter Freund bei seiner Ankunft verursacht, zu geschehen pflegt, schweigend und verlegen in den Gartensaal zurück, setzten sich nieder und betrachteten sich von neuem. Elsbeth verließ die Gesellschaft, um ein Frühstück zu besorgen, welches sie dann selbst, von einer reinlichen Magd begleitet, auf Tellern von japanischem Porzellan auf dem Tische anordnete. Bei den Freunden hatte sich indessen die Sprache wieder eingefunden, und der Seemann, der sich selbst ein Glas alten Rheinwein einschenkte, sagte: »Else, du bist sehr hübsch geworden, voller und schöner, wie die Sirene am Vorderteil meines Schiffs. Trink hier von diesem Wein, dann setz' ich meinen Mund an dieselbe Stelle, und der Trunk wird mir gut sein und den besten Willkommen bedeuten.«

Elsbeth that, was er verlangte; er nahm das Glas mit einer Art von Andacht, trank und setzte es dann herzhaft auf den Tisch »Nun, Alter«, rief der Kaufmann ihm zu, »siehst du denn nicht Blindauge, daß es derselbe Kristallpokal ist, den Dir Elschen vor zwölf Jahren auf deinem Geburtstag schenkte, und worein sie deinen Namen und dein Wappen hatte stechen lassen? Als du in See stießest, trankest du auch hier auf der nämlichen Stelle, aus dem nämlichen Glase uns dein letztes Lebewohl zu.«

Der Seemann nahm den Becher, betrachtete ihn von allen Seiten und sagte nach einer Pause: »Hm! ja derselbe; hatt' ich ihn doch ganz vergessen und hätte ihn auch nicht wiedererkannt, ob er sich gleich nicht verändert hat; und die Else, die so groß, breit und dick gewachsen und aus einem rötlichen Apfelblütchen jetzt ein voller Apfel geworden ist, ist mir doch gleich so bekannt und vertraut. Aber mir ist wie einer alten Henne zu Mute; als wenn ich das Rosenkindchen die ganzen zwölf langen Jahre in meinem warmen Herzen so schön ausgebrütet hätte. Seht sie an! Sieht sie nicht aus, wie die weißschimmernde Rosenblume, die die Engländer Maiden-blush»Mädchen-Schamröte«, in Deutschland Jungfernrose genannt nennen? Hol' mich der Teufel! wenn ich den Schatz erobere, so bin ich reicher, als der Mogul. Nicht, Bräutchen? Schätzchen?« rief er entzückt, indem er das zagende Mädchen heftig umarmte.

»Ja, ja«, schmunzelte van der Winden, »sie wird sich dir doch noch, hoff' ich, auf Gnad' und Ungnade ergeben, und das kann ich dir sagen, daß ich in den sechszehn Jahren, seit sie in meinem Hause ist, ihr großes Vermögen um das Dritteil vermehrt habe.«

»Jude!« fuhr ihn Thomas an, indem er das Mädchen losließ; »alter Wucherer! Ich wollte, sie hätte keinen Stüber,Niederländisch Stuiver, früher eine kleine Silbermünze im Wert von 8½ Pfennig. das runde, weiße Kind, damit ich ihr mit meinem Golde und Schiffen und Gewürzen und kostbaren Sachen eine Freude machen könnte. Wie ich am Kap ersaufen sollte, war das mein einziger Gedanke, und wie ich gerettet war, ärgerte ich mich nur ihretwegen, daß wir so viele Kisten hatten ins Meer schmeißen müssen. Wenn das Seevieh da unten sich in all die kostbaren Stoffe gekleidet hat, so haben sie bei einer Walfischvermählung eine herrliche Hofgala sehn lassen. Aber, alter dummer Junge, wo ist denn dein Sohn, der schlanke Bengel, der Fritz-Wilhelm, der mir, wenn er mir auf den Schoß sprang, immer die vielen Ohrfeigen gab?«

Der Alte fuhr mit einem grimmigen Blicke auf, stampfte erst mit dem rechten und hernach mit dem linken Beine so gewaltig, daß das Porzellan durcheinander klirrte, und rannte dann mit den Zähnen knirschend in den sonnenhellen Garten, ohne nur den Hut mitzunehmen, der an der Wand hing. Thomas sah ihm verwundert nach, schüttelte mit dem Kopf und betrachtete die Mutter mit Erstaunen. »Ist der Alte mir böse«, fragte er dann mit besorgtem Ton, »daß ich ihn Wuchrer, Jude und dummer Junge geheißen habe? Er ist ja doch alles Dreies; was fängt er gleich von Geld an, wenn ich noch nicht einmal einen Bissen Brot in Eurem Hause hintergeschluckt habe? Und ist er nicht dumm und wie ein Junge, daß er mit seinen Bärentatzen da über die Spargelbeete tummelt und beinahe das Treibhaus umgerannt hätte? Frau Gevatterin, Ihr müßt die alte Seele wieder gut machen, ich mein' es, Gott weiß, nicht böse; denn wenn ich ihn nicht liebhabe, so will ich gleich auf der Stelle zum Seehund werden, und mehr kann ich für ihn nicht thun.«

»Setzen Sie sich«, sagte die Frau begütigend, »es ist nicht das, Herr Gevatter, was Sie denken; er ist und bleibt Ihr Freund, nur hat er schweren Gram und großes Leid.«

»Gram?« sagte der Seemann; »muß er den wie ein Rhinozeros auslassen? Und gerade an mir? Und gerade, wenn ich eben angekommen bin? Er hat ja außerdem Zeit genug, sich zu grämen, und sollte es auch manierlicher lernen. Der Mensch war sonst so ruhig und faul und schalt mich immer aus über meine Heftigkeit. Grämt man sich denn mit den Beinen? Wenn ich fluche und Donnerwetter brülle, dann stampf' ich so herum wie er eben. Und hat doch auch schon Podagra gehabt. Und schlägt das alles in den Wind. Aber Sie weinen ja selbst, alter Schatz? Und die Elsbeth hat sich auch aus dem Staube gemacht? Sagen Sie mir nur, was es gibt, sonst fang' ich auch an mit den Beinen zu rumoren.«

»Es ist um unsern Sohn«, sagte die Mutter, als der Seemann endlich schwieg; »und das ist der Punkt, wo der Alte jedesmal außer sich gerät.«

»Ist der ein Taugenichts geworden?« fuhr Thomas heraus; »sehn Sie, Sie hätten ihn mir nach Ostindien mitgeben sollen, wie ich immer sagte.«

»Es ist nicht das«, antwortete die Frau mit tief bekümmerter Miene, »viel schlimmer noch; vielleicht würden wir in jenem Falle doch noch Gott danken, wenn wir die Wahl haben könnten.«

»Ach Gott! ach Gott!« schrie der Seemann ganz außer sich und tanzte in der Stube herum, um seine Thränen zu verbergen, »so ist das schlanke Fritzken mit den braunen Augen tot? tot? Ja! ja, wir alten Taugenichtse bleiben übrig, und die Engel marschieren uns voran, um uns da oben Quartier zu machen. Ach! Alte! Alte! was bist du eine arme Mutter! Darum stehn dir unter den Augen die Thränenmuskeln so hervor, so traurig und wehmütig, vom vielen Heulen. Ja, ja, wenn ich schon um den allerliebsten Bengel so heulen muß, so muß ja der Leichnam einer alten Mutter ganz zu Thränenwasser werden.«

»Er ist nicht gestorben«, sagte Susanne, noch heftiger weinend.

»Kuriose Leute ihr!« rief Thomas, wie im freudigen Grimm; »seid's denn ganz auf den Kopf gefallen, daß ihr so einen Narren aus mir macht? Was hat's dann für Not?«

»Er ist vielleicht schlimmer als gestorben«, sagte Susanne, »und das ist wohl das Schrecklichste, was eine Mutter von ihrem geliebtesten, einzigen Sohne aussagen kann.«

»In den Narrenturm sollte man Euch, alte Thränenkanne, stellen!« schrie der Seemann wieder; »und den alten Jahn dazu! Ihr habt's Sprechen und Denken und die Vernunft verlernt. Schlimmer als tot? So muß er also noch obendrein am Galgen hängen, sonst ist kein Menschenverstand in Eurer Rede.«

In den Thränen mußte die Mutter über die komische Ungeduld des Seekapitäns lächeln. »Sie lassen mich nicht ausreden«, fuhr sie dann gelassener fort, »Wilhelm ist weder tot, noch ein Bösewicht und ein Taugenichts, davor hat ihn der Herr behütet, so schwer er uns auch heimgesucht hat. Ich muß Ihnen kürzlich das Unglück erzählen, damit Sie alles wissen, bevor mein Mann wiederkommt, denn er kann es nicht ertragen, wenn in seiner Gegenwart darüber gesprochen wird; deshalb hat er Ihnen auch in den zwölf Jahren nichts davon geschrieben, und ich und kein andrer hat etwas davon melden dürfen. Wir haben uns auch darum von der Welt fast ganz zurückgezogen und wohnen selbst im Winter meist auf diesem Landgute, weil der Alte wirklich darüber gewissermaßen zum Menschenfeinde geworden ist.«

»Sie wissen, unser Fritz-Wilhelm war ein zarter, schlanker Knabe, fein gebaut, heiter und thätig, aber über sein Alter hinaus verständig und begabt. Bücher machten seine ganze Freude aus, die Schule konnte er nicht früh genug besuchen; nachher hatten wir einen verständigen Mann zum Hofmeister, der immer schneller ermüdete als unser lieber Junge. Geschichte, Latein, Griechisch, neuere Sprachen, auch Mathematik und Geometrie hatte er schon angefangen, als Sie uns das letzte Mal besuchten.«

»Ich weiß, weiß«, warf der Kapitän ein, »die Krabbe fragte mich über Kompaß und Schiffsbau so naseweis aus und wußte manches schon so gut wie ich selber, und vom Admiral Tromp und RuyterMartin Harpertzoon Tromp (1597-1653), dessen Sohn Cornelis Tromp (1629-91) und Michel Aadriaanszoon de Ruyter (1607-76), berühmte holländische Seehelden. mehr als ich.«

»Nur gegen den Handel«, fuhr die Mutter fort, »bezeigte er immer den größten Widerwillen, ja, Abscheu, was auch meinen Alten so verdroß, daß sie oft hart aneinander gerieten. Da aber alle Welt den Jungen so lobte, alle Lehrer über ihn erstaunten und selbst gelehrte Männer in Amsterdam und fremde Professoren aus Leiden, die zu uns kamen, prophezeiten, daß unser Kind dermaleinst einer der größten Gelehrten in Europa werden müsse, so nahm sich denn mein Mann dergleichen thörichte Reden zu Herzen und wurde eitel auf seinen Sohn. Das Kind war schon von einem außerordentlichen Ehrgeiz beseelt, und unser Jahn stachelte seine Ambition noch immer mehr, und doch war es überflüssig, einem hitzigen Roß die Sporen zu geben, denn das Kind saß schon in die Nächte hinein und arbeitete. Ballschlagen und andre Kinderspiele oder das Umtreiben mit seinen Jugendgenossen war ihm ein Greuel; er nannte alles dergleichen, wenn sie sich jagten, mit Tüchern und Gerten schlugen, sprangen und sich haschten, dumm, gemein und pöbelhaft. Sonst war er gesund und wohl, auch immer heiter und konnte über ein neues schönes Buch in heftige Freude geraten. So kam er zu seinem zehnten Geburtstag. Wir hatten in der Stadt eine kleine, frohe Gesellschaft. Er war beschenkt worden, er war sehr vergnügt gewesen, hatte sich seit einigen Tagen weniger angestrengt, weil er mit uns eine Reise über Land gemacht hatte; am Geburtstage selbst hatte er nicht viel genossen, am wenigsten aber Wein oder hitzige Sachen, so daß es gewiß keiner Vernachlässigung von uns zuzuschreiben ist  «

»Nun?« fragte Thomas, äußerst gespannt.

»Gegen Mitternacht«, fuhr die Mutter fort, wiederum von Thränen unterbrochen, »hören wir vom Zimmer unsers Sohnes her einen seltsamen Aufschrei – einen Schrei – wie soll ich ihn beschreiben? – Wir hatten von dem Kinde nie etwas Ähnliches vernommen, und doch erkannten wir sogleich seine Stimme wieder; – es war fast wie von einem wilden Tier; es klang beinah' wie der heiser gellende Ton einer Hyäne, den ich einige Jahr später mit Entsetzen hörte, weil er mich wieder an diese Nacht erinnerte. Eine Mutter ist noch angsthafter als ein Vater: ich war gleich drüben, der Hofmeister war auch schon aufgestanden, van der Winden kam nach. Das Kind war wach in seinem Bett, konnte aber kein Glied rühren, war sprachlos und sah uns mit starren Augen an. Nach Ärzten wurde geschickt, Medikamente gebraucht; sie erklärten es für einen Nervenschlag, und jede Hülfe war vergeblich. Nur die Bewegung kam wieder; schon am Morgen konnte er aufstehn, gehn, essen und trinken, aber das Gehirn war verletzt, der Schlag muß es innerlich getroffen haben, er sprach wenig oder nichts, konnte nichts begreifen, hatte alles vergessen, was ihm bis dahin beigebracht war, und schien uns, seine Eltern, erst nach einigen Tagen wiederzuerkennen. Er war also dumm, blödsinnig geworden und ist es seitdem geblieben. Da lag nun unsre Freude und der Hochmut des Alten; das war nun der größte Gelehrte in Europa, der jetzt wie ein unmündiges Tier herumgaffte, sich mit gar nichts beschäftigen konnte, zum unbedeutendsten Beruf, nicht zum Schreiber auf dem Comptoir, nicht zum Handlanger oder Ackerknecht zu gebrauchen war.«

Der Kapitän stieß einen so tiefen, anhaltenden und lauten Seufzer aus, daß man ihn fast ein Gebrüll hätte nennen können. »Und ist so geblieben, das arme Unkraut?« fragte er dann.

»So ziemlich«, antwortete die Mutter, »nur daß sich seitdem mit seiner Leibeskonstitution die allergrößte Veränderung zugetragen hat. Denn wie er vorher schlank und fein, fast zu geistig und zart, auch höchst reizbar und empfindlich war, so ist er jetzt außerordentlich robust, fest und von beinah' übermenschlichen Kräften, dabei macht fast nichts einen Eindruck auf ihn; sein Wuchs ist über das Gewöhnliche.«

»Und was treibt er denn, das arme Riesentier?« fragte der Seemann wieder.

»Es gibt für ihn«, erwiderte die Frau, »keine ernsthafte Beschäftigung, weder versteht er, noch liebt er sie. Es scheint ihm aber gutzuthun, ja ein wahres Bedürfnis zu sein, sich körperlich recht anzustrengen und mehr zu arbeiten, als wohl zwei vermöchten. Hören Sie wohl das Sägen, das Hauen mit dem Beil? Das ist er, der Arme. Der Vater hat ihm einen Teil des Gartens eingegeben, und so ist er seit fast zwei Jahren dabei, ein großes, sehr großes Boot zu bauen. An diesem macht er alles selber, das Kleinste wie das Größte, fällt das Holz, läßt es trocknen, schneidet und meißelt und ist oft Tag und Nacht unermüdet in dieser unnützen Anstrengung.«

»Leute!« erwiderte Thomas, wie in Angst, »seht, ich bin selbst keiner von den Lautersten, aber mir deucht, ihr wäret immer etwas zu verständig und rückhaltend: habt ihr denn auch wohl rechtschaffen gebetet? Im Sturm damals, wie ich noch keinen erlebt hatte, und als mir das Wasser schon in den Hals drang, habe ich es gut gelernt und getrieben, und es hat mir tüchtig zugeschlagen. Besucht denn auch das liebe, dumme Ungeheuer mit euch das Haus Gottes?«

»Lieber Gevatter«, erwiderte die Mutter etwas saumselig und nur den letzten Punkt beachtend, »der Unglückliche hat einen eignen Widerwillen gegen unsern DomineVokativ von Dominus (Herr), in den Niederlanden früher die gewöhnliche Benennung der Geistlichen. und läßt sich nur selten bereden, uns zu begleiten.«

»Was Domine!« rief Thomas, »vor den rechten, wahren Domine soll er und sollt ihr alle treten und keine Flausen machen. Wer den Verstand genommen, kann ihn auch wiedergeben. Er hat dessen im Überfluß und braucht nicht zu knausern, er kann euch alle und mich mit reichlichst versorgen und wird keinen Abgang spüren. Wenn nichts hilft, gebt ihn mir mit und laßt ihn die Linie passieren. In Ostindien halten sie dergleichen Dummerjahns an vielen Orten für Heilige, die Weibsen und andere noch dümmere würden ihn da drüben als einen Herrgott anbeten. So wantschapenWanschapen (wahnschaffen), d. h mißgestalt, verrückt sind die Menschen an manchen Orten.«

Das Gespräch wurde hier unterbrochen, denn der Vater kam aus dem Garten zurück, von einem großen, schwarzen Pudel begleitet. Unmittelbar darauf trat die hohe Gestalt eines Jünglings in den Saal, in dessen wunderbarem Gesicht, das ebensoviel Verstand als Blödsinn, Gefühl wie Stumpfheit andeutete, der Fremde unmittelbar seinen geliebten Fritz-Wilhelm erkannte und erriet. Der junge, schöne Mann trug eine große, weiße Katze im Arm, die ziemlich verstört aussah, indem ihre Haare aufgesträubt waren und ihre grünen Augen unruhig hin und her gingen. Der Sohn setzte sich, streichelte das Tier, welches er sehr zu lieben schien, und suchte es zu beruhigen. Der Alte war vor Zorn noch rot im Gesicht und sagte nach einiger Zeit mit rauher Stimme: »Diese wenigen Nachtigallen, die uns alljährlich besuchen, sollen mir nicht von der verfluchten Katze aufgefressen und verscheucht werden! Und wenn ich den Pudel diesmal nur gehetzt habe, um das Vieh zu zausen, so werde ich den weißen Satan nächstens mit meiner Kugelbüchse mit eignen Händen totschießen.«

Der junge Mann hatte sich dem Vater gegenüber gesetzt und schaute ihn groß mit seinen hellbraunen Augen an. »Tot!« rief er mit einem Ton, der eher eine freundliche Stimmung als eine zornige verriet; »geh, Mus« – indem er die Katze laufen ließ – »Verfolgung – alle Welt – Undank –«, sagte er nach Pausen im einförmigen Ton, so daß man nicht genau wissen konnte, was er mit diesen Worten ausdrücken wollte. Der Pudel hatte sich unterdessen unter dem Tisch zusammengekauert, doch Wilhelm kroch ihm nach und holte den Widerstrebenden hervor. Er ging mit dem schwarzen Widersacher an das Fenster, beschaute ihn genau und rupfte ihm alsdann einige weiße Haare von Maul und Kopf. Er nahm diese, die augenscheinlich seiner Katze zugehörten und vom Pudel nicht auf die freundlichste Weise waren errungen worden, wickelte sie in ein Papier und steckte sie in seine Westentasche. Hierauf ging er zum Vater und sagte sehr ernsthaft: »Schwarze mehr Fell hat, mehr Haar als Mus, eher etwas abgeben kann.«

»Frißt aber keine Nachtigallen«, sagte der Vater ebenso kurz.

»Nicht fressen«, ließ sich der Sohn auf Erörterungen ein, »auch Mus hören – achtgeben – unten am Baum – Schwarze ganz dumm, hört nicht, ohne Musik.«

»Schon gut, schon gut«, brach der Vater ab, indem er jetzt zuerst, in der Voraussetzung, seine Frau würde indessen erzählt haben, die Augen gegen seinen Jugendfreund aufzuheben wagte. Dieser zog die Schultern in die Höhe und seufzte wieder so laut, daß Fritz-Wilhelm aufmerksam wurde, den Fremden im Zimmer bemerkte und ihn genau von der Seite mit einem scheuen Blicke musterte. Sein Auge fing an finster zu werden, er murmelte etwas in sich hinein und schlug dann mit der Faust heftig auf den Tisch. Elsbeth ging besorgt zu ihm, reichte ihm freundlich die Hand und sagte dann, indem sie ihm eine braune Locke aus der Stirne strich: »Nicht verdrüßlich, lieber Wilhelm!«

»Muß!« rief jener sehr ergrimmt, »Fremde da – vor Fremden – nicht zur Familie – meine Mus gescholten, verleumdet.«

»Mus wird sich schon bei Gelegenheit verantworten«, sagte Elsbeth mit der heitersten Miene, »der schwarze Mustapha hat auch nicht den besten Ruf, lieber Freund, er hat vorige Woche eine Maus gefangen, als wenn er eine Katze wäre.«

Der Kranke sah dem Mädchen, wie es vor ihm stand, in sein heiteres Gesicht und fing jetzt, ganz in dem Ton, wie man ihn wohl von kleinen Kindern hört, auf das herzlichste zu lachen an, worüber der Vater noch ernster wurde und Thomas seinen ehemaligen Liebling mit noch größerer Teilnahme betrachtete.

»Der Herr da«, fuhr Elsbeth fort, »ist auch kein Fremder, es ist der Vetter, der Kapitän Thomas, der dich schon als Kind gekannt hat.«

Wilhelm stand auf, stellte sich vor den Kapitän hin, grüßte ihn höflich und schüttelte dann mit dem Kopfe, »Kein Vetter«, sagte er dann, »Mustapha knurrt auch – kennt ihn nicht.«

»Lieber Freund«, sagte Thomas, »du bist mein liebster, mein teuerster Fritz-Wilhelm, wenn du mich auch nicht kennst und vergessen hast.«

Der Kranke trat wie scheu und erschreckt zurück und nahm die angebotene Hand nicht an. Worauf sich Thomas wieder niedersetzte und Wilhelm nachdenkend im Zimmer auf und nieder ging. Er trat an den Tisch und betrachtete alles, was Elsbeth dort aufgetragen hatte, und bei dieser Musterung fiel ihm auch das geschliffene Kristallglas ins Auge; er nahm es auf, hielt es gegen das Licht und betrachtete Wappen und Namenszug sehr genau. Dann ging er mit dem Glase zu Elsbeth und sagte: »Du geschenkt – lange her – der da ist! Thomas, Seemann!« – Er stellte das Glas behutsam hin und ging mit offenen Armen auf den Kapitän zu, der ihn herzlich an seine Brust drückte. »Armer Vetter!« sagte hierauf Thomas, »du bist recht groß und stark geworden.«

»Jawohl«, seufzte der Vater, »wie eine dicke Pumpelmus,Holländisch Pompelmoes, die kopfdicke Frucht des aus Indien stammenden Adamsapfel-Baumes. in der kein Saft ist.«

Wilhelm schien die Rede nicht ganz zu verstehen, aber dennoch wurde sein Gesicht etwas verfinstert, worauf Thomas, der es bemerkte, um ihn wieder zu erheitern, fortfuhr: »Laß gut sein, alter Freund, mein junger Kamerad hier wird ein Seefahrer, wie ich gehört habe. Du baust ja ein Schiff, Fritzchen? Nicht? Nun, wir werden es wohl im Garten umfahren und Rollen darunter machen können? Oder den Winter abwarten und es im Schnee zum Schlitten brauchen? Denn See und Wasser ist doch von hier zu weit ab.«

»Schlitten? Rollen?« schrie Wilhelm aus. und sein Auge funkelte auf eine schreckliche Weise. »Kommen! gleich! sehn!« rief er, indes er mit seinen starken Armen den Seemann so kräftig packte, daß er ihn aus der Saalthüre fast mehr hinaustrug als schob. Der Schiffskapitän, der seine eigne Stärke und Schwere kannte und sich so plötzlich von dem Jünglinge fast wie ein Kind behandelt sah, betrachtete den jungen Menschen mit einem wundersamen Blicke, ohne sich zu widersetzen. Der Vater, so traurig und verdrüßlich er auch sein mochte, konnte ein gewisses wohlgefälliges Lächeln über die Riesenkraft seines Sohnes nicht unterdrücken, Elsbeth aber sah den beiden Forteilenden mit bedenklicher Miene nach, als wenn sie irgend ein Unheil fürchtete. Ihre und der Mutter Besorgnisse wurden aber bald aufgelöst, als die beiden Streitenden Hand in Hand und ganz versöhnt nach kurzer Zeit zurückkamen. »Ehr' und Reputation«, rief der Kapitän, »und die beste Satisfaktion obenein muß ich meinem Paten geben, dem tüchtigen, lieben Fritz! Ei was, ihr alten Menschen, der Bursche ist nicht einfältig, das muß ich besser wissen. Ihr versteht aber von Schiffen nichts. Kein Schiffsbaumeister könnte es besser machen. Und alles selbst! Teufel, das hat was zu bedeuten! Mir ist es nur als Boot zu groß, das herrliche Ding, sonst kaufte ich es dem jungen Hünen ab. Ich habe mein Lebtage nichts gesehen, das schöner und zweckmäßiger gearbeitet wäre.«

Er rieb sich die Hände vor Freuden und klopfte dem Jüngling mit Zärtlichkeit auf die Schulter. Der Vater schien das Lob auch gern anzuhören, und alle waren heiterer geworden, als der alte Diener sie zur Mittagstafel abrief, indem er zugleich den Domine und noch einen Fremden als Gäste anmeldete.


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Der Gast, welcher mit dem Domine gekommen, war ein junger Deutscher, welchen der ehemalige Hofmeister des Hauses, der nach Deutschland zurückgekehrt war, dem Herrn van der Winden empfohlen hatte. Dieser junge Mensch, der sich der Handlung gewidmet, sollte in Amsterdam oder dem Haag auf einem großen Comptoir angestellt werden, um einige Jahre später nach London zu gehn und sich dort vielleicht niederzulassen. Da der junge Sommer wohlhabend war, so eilte er nicht sehr, seine ihm bestimmte Station einzunehmen, sondern er zog es vor, dieses Jahr noch in Holland und den Niederlanden umherzureisen, um, wie er sich einbildete, die Nation und ihre Art und Weise kennen zu lernen. So war er in Brüssel, Rotterdam, Antwerpen und Amsterdam gewesen und kam jetzt von der letzten großen Stadt nach diesem Landhause zurück, um die Bekanntschaft der Familie fortzusetzen, in welcher ihn vorzüglich Elsbeth durch ihre Schönheit und freundliches Betragen angezogen hatte. Erst kürzlich war in Deutschland Goethe mit seinem Götz und Werther»Götz von Berlichingen« erschien 1770, »Die Leiden des jungen Werthers« 1774. aufgetreten, und der junge Reisende gehörte zu jenen Verehrern, die das letzte Werk über alles priesen, es auswendig wußten, allen empfahlen und in ihrer Begeisterung jedermann zu diesen Ansichten und Empfindungen bekehren wollten, ohne wohl selbst den ganzen Wert des unübertrefflichen Buches empfunden zu haben.

Dieser junge Mann kontrastierte in seinem hellblauen Frack und gelben Unterkleidern sehr mit der holländischen Gesellschaft, in die er eingeführt wurde. Der Domine vorzüglich, der ihn in seinem Wagen von seinem Pfarrdorf mitgebracht hatte, betrachtete und behandelte ihn ganz wie einen, der von einem unschädlichen Wahnsinn befallen sei, und fand es daher auch ganz natürlich, daß er sich bei Tisch neben den Blödsinnigen setzte, mit welchem er zwar nichts sprach, ihn aber fleißig beobachtete, weil es ihm auch darum zu thun war, Menschenkenntnis auf seinen Reisen einzusammeln. Der Vater war freundlich gegen seinen Gast und die Mutter noch mehr; nur der Kapitän, welcher gleich bemerkt hatte, daß der Fremde gegen Elisabeth sehr zuvorkommend war, suchte seinen Verdruß über den Zudringlichen hinter ein Nichtbemerken seiner Person zu verstecken.

Man war vom Tische aufgestanden, spazierte im Baumgang und begab sich dann in eine Laube, um den Kaffee einzunehmen, Wilhelm, der immer nur wenig genoß, hatte sich schon wieder an seine Arbeit gemacht, und obgleich das Sägen und Zimmern das Gespräch der Ruhenden zuweilen störte, so wollte der Vater doch diese Unterhaltung seinem unglücklichen Sohne nicht untersagen, um diesen nicht aufzubringen, der leicht über dergleichen Verbote in Zorn geriet.

Der junge Deutsche hatte nichts Besseres und Eiligeres zu thun, als seinen neuen Enthusiasmus zu verkündigen, wozu er täglich jede Gelegenheit benutzte. »Wir und die übrigen Nationen«, sagte er nach einigen vorangegangenen Reden, »haben bis jetzt, mag auch in einem gewissen Sinne manches geleistet sein, nichts besessen, was sich mit diesem neuesten Aufschwung nur irgend in Vergleichung stellen ließe. Denn die Seele, das Gemüt selbst war bis dahin noch nirgend gezeichnet und in der Tiefe des Schmerzes, der Verzweiflung an sich selbst und allem Leben jener wunderbare Punkt nicht gefunden worden, der vor- und rückwärts alles erklärt und im Tode und der Vernichtung wieder eine Leuchte anzündet, die uns den Glanz eines höhern Daseins entgegenspiegelt.«

»Ich verstehe den jungen Mann nicht«, sagte der Domine; »was derselbe zu verstehn gibt, wenn ich etwas von seinen Worten gefaßt habe, möchte etwa nur auf die Offenbarung und Heilige Schrift anzuwenden sein.«

»Ich habe Ihr Lieblingsbuch gelesen«, setzte Elisabeth das Gespräch fort, »und es hat mich tief erschüttert; ich kann es nicht beurteilen, weil der Eindruck eben zu groß und allgewaltig war, denn meine Seele wird noch auf lange darüber zu denken haben, um alle die Massen von Empfindungen zu ordnen, die mich hin und her bestürmten. Das Buch ist ein einziges; aber Sie können doch nicht wünschen und es für möglich halten, daß nun alle poetischen Bücher dieselbe Gestalt erhielten.«

»Doch«, sagte der junge Sommer, »mehr oder weniger. Denn von der Liebe ist wenigstens bis jetzt noch nicht mit Ausdruck und Gefühl geredet worden.«

»Hoho!« rief jetzt der Seemann, der aufmerksamer wurde und sich seiner Jugend und so mancher Lieder erinnerte, die ihn damals entzückt hatten; »das Lieben sollten wir also von euch Deutschen zuerst lernen?«

»Und Vondel!«Jost van den Vondel (1587-1679), der bekannte niederländische Dichter. sagte der Vater, »und so manche unsrer Autoren! – Ei, mein junger Herr, ich mag jetzt nicht alle die Namen aufführen, die auch in unsrer Litteratur herrlich klingen.«

»Spreu! Stroh! gefühllose Zeilen!« rief Sommer mit Hohn und Anmaßung aus, worüber der Domine so böse wurde, daß er seinen großen dreieckigen Hut auf seiner Perücke rund herum drehte und nachher schief sitzen ließ. »Ich bin kein Dichter«, rief er mit Heftigkeit, »und mag keiner sein und will keinen Verliebten vorstellen und keinen heidnischen, wilden, ungeregelten Enthusiasten, am wenigsten aber mich zu einem gottlosen Selbstmörder bekehren lassen, vollends von einem jungen, reisenden Handlungsdiener mit rund geschnittenen Haaren; aber so alt und hölzern ich da auch sitze, so nehme ich es doch mit einem hochfahrenden Nebukadnezar in allen Versmaßen auf, der solche unnütze Worte spricht. Feder, Tinte her und Papier!«

Alle lachten laut über den polternden Geistlichen, aber der Fremde fühlte sich beleidigt und fuhr mit empfindlichem Tun fort: »Wie kann denn ein Volk eine Litteratur besitzen, das, genau genommen, nur eine Provinz von Deutschland sein müßte, wenn es nach dem Rechten ginge? Die Sprache ein verdorbener deutscher Dialekt, ihr Streben Geld und Handel, ihre Sitten altfränkische und veraltete: während das große Deutschland ausgebildet und sich bildend, mannigfaltig in der Geschichte, Wissenschaft und Kunst, in reicher Litteratur, in unendlichen Strebungen sich in Kraft und Herrlichkeit entwickelt, indes hier die Geschichte, die freilich niemals groß und eigentümlich war, völlig abstirbt und bald alles hier, was sich ehemals noch von Geist melden mochte, in steifen Formen, in vertrockneten Fratzen nur als seltsame Mumien umherstehn wird.«

Der junge Wilhelm war, von dem Gelächter und Streit gelockt, ebenfalls herbeigekommen, und der Domine, der jetzt alle Fassung verloren hatte, erhob sich im erhabnen Zorn und rief aus: »Himmel und Erde! Auf holländischem Boden Holland so von einem Fremden gelästert! O ihr Deutschen, ihr Schwachen, ihr Armen! Als ihr im Schlaf lagt, in saumseliger Erstorbenheit, aus welcher euch späterhin nicht einmal ein dreißigjähriger Bürgerkrieg erwecken konnte, als England noch vor einer wilden KöniginMaria die Blutige, 1553-58 Königin von England, verfolgte die Protestanten auf das grausamste. zitterte, in Frankreich Greuel auf GreuelGemeint sind die Hugenottenkriege 1562-98 (die Bartholomäus-Nacht 1572) sich wälzten und Armutseligkeit das Erbärmliche und Elende ablöste, da standen wir kleiner Haufe, ein offnes, ebnes Land, mit schwachen Kräften, nur vom Glauben gestützt, gegen die allmächtige Tyrannei offenbar und trotzend auf, vor der sich Europa in Ehrfurcht neigte; und dieses kleine Ländchen, diese armen, unwissenden Bürgersleute waren es, an welchen die Kraft des TyrannenPhilipp II. von Spanien (1555-98), unter dessen Regierung bekanntlich die Niederlande von Spanien abfielen. sich erschöpfte und seine Weltherrschaft endlich verschmachtete! Und was habt ihr Deutschen denn in jenen, für uns so denkwürdigen Lustren gethan, als unser großer Wilhelm von Oranien und seine edlen Landsleute die Kette zerschlugen, die für die Ewigkeit geschmiedet schien? Und wo ist noch das Buch in Deutschland, das sich mit unserem großen HooftPieter Corneliszoon van Hooft (1581-1647), niederländischer Dichter und Geschichtsschreiber; Verfasser der berühmten, in Taciteischem Stil geschriebenen »Nederlandsche Historien«, Amsterdam 1642. messen dürfte, der diese glorreiche Zeit als Mann beschrieben hat?«

»Hooft!« seufzte Wilhelm und senkte das Haupt, als wenn er nach einem Gedanken suchte; »Tacitus!« – Der Vater wurde aufmerksam, und die Mutter erschrak beinah', denn dergleichen Namen hatte ihr Sohn schon seit Jahren nicht mehr ausgesprochen.

»Und unsre Seehelden!« rief der Kapitän, »und Afrika, Ostindien, Amerika! Wo kennt man denn auf Erden unsern Namen nicht? Geht mal bei Gelegenheit hinaus, junger Mensch, und seht Euch ein bißchen das unermeßliche Weltmeer an, das uns ein Jahrhundert gedient hat, bis die Engländer, mit uns wetteifernd und von uns lernend, uns den Rang abgelaufen haben. Und wie wir Handel und Reichtum schufen und lenkten, so hat der freie Gedanke, die ungeschnürte und ungefesselte Wissenschaft auch bei uns Zuflucht und Herberge gefunden, und was wir Gutes vom übrigen Europa empfingen, haben wir ihnen längst mit wuchernden Zinsen zurückgezahlt. Möchte das verlorne Italien, das menschenleere Spanien, ja selbst das träge Deutschland nur die Gaben des Geistes und der Freiheit haben benutzen können und wollen, die von uns ausgegangen sind.«

»Hat die Kunst nicht auch«, fing der Vater wieder an, »bei uns geblüht, als sie im übrigen Europa schon untergegangen war? Unser großer Rubens mußte Spanien verherrlichenAls Hofmaler des niederländischen Generalgouverneurs Albert und der Nachfolgerin desselben, der Infantin Isabella und die Italiener in Erstaunen setzen, van Dyck und diese Schule, dann Rembrandt, ebenso unsre Landschaftmaler, wer kennt, wer bewundert sie nicht? Hier bei uns war die Freiheit erwacht und mit ihr das Genie und die schaffende Kraft. Ihnen, junger Mann, als einem Schulgelehrten, darf ich nicht einmal in Erinnerung bringen, was unsre berühmten Männer für die Philologie und die Kenntnis der AltenBerühmte holländische Philologen sind unter andern Hemsterhusius, Ruhnten, Bossius, Dousa, Meursius, Hugo Grotius &c. gethan haben. Sind wir jetzt nicht mehr ganz das, was wir waren, so erfahren wir nur den Umschwung, der alles Menschliche ergreift. Seit dem preußischen Friedrich sind die Deutschen erst gewissermaßen wieder lebendig geworden, und es kann sein, daß auch in ihrer Litteratur ein neues Licht aufgeht, was ich nicht beurteilen kann, weil ich es nicht verstehe.«

»Rubens!« sagte der Kapitän, »ja, das ist ein Gewaltmensch, und wenn man unser Elsbethchen anschaut, so merkt man wohl, wo er hin gewollt hat; aber entweder hat es ihm doch an Auge gefehlt, oder die Natur hat damals noch eine solche schmucke Jacht nicht vom Stapel laufen lassen; denn alles, was ich von dem großen Färbemeister gesehn habe, reicht diesem Prunkstück, unserem Elschen, noch das Wasser nicht. Gewiß, auch in seinen schönsten Sachen schwimmt immer noch, vorzüglich bei seinen Weibern, so etwas Geringes obenauf, daß man zu den großen, vollen Massen keine Andacht fassen kann. Aber hier unser Gotteskindchen ist so strahlend und weise wie ein hoher Engel, und dabei so fromm und sanft wie ein Lämmchen, und vornehm und groß wie Maria Theresia in ihrer Jugend, und so zauberreich zugleich und anlockend, wie die Heiden von ihrer Venus und den Sirenen fabeln. Von der Sirene an meinem Schiff will ich nichts sagen, so sehr ich sie in Ehren halte.«

»Und Ihr seid ein alter, versalzner Seenarr!« fuhr der Domine heraus; »müßt Ihr das aufgeblasene Kind noch eitler und weltlicher machen, die schon meine Kirche mit den übrigens verehrten Eltern selten genug besucht? Ohne Demut keine Schönheit, ohne Glauben und Wandel kein Strahlen; und Reiz! dummes Wort! Reiz soll es gar nicht geben und ist heidnisches, weltliches, unerlaubtes Gefühl!«

»Und lobtet selbst vorher«, schrie Thomas, »Eure Dichter, alter Seelenverfolger statt Seelenversorger! Ihr seid ja schlimmer wie die englischen Methodisten, Quäker, deutsche Herrenhuter oder unsre WiedertäuferDas Unwesen der bekannten Wiedertäufer in Münster wurde von Angehörigen dieser Sekte, die 1533 aus den Niederlanden vertrieben worden waren, angestiftet. Da kämen wir ja auf etliche verrückte Lehren des Talmud hinaus, wenn der Reiz des Leibes und der Sinne durchaus etwas Verwerfliches wäre. Ihr habt überhaupt, Domine, nehmt's nicht übel, was von einem alten Juden, Nur ein verstockter Jude könnte das schöne Kind so lästern.«

»Und Ihr seid ein alter verliebter Geck!« rief der wilde Domine.

»Verliebt?« rief Wilhelm und sah den Kapitän und den Domine abwechselnd mit großen Augen an. »Verliebt?« rief der junge Sommer; »was muß ich da hören? Ist das wahr, meine teure, verehrte, angebetete Freundin? Soll der alte braune Seedrache meinen AlbertDa sich Sommer gern als Werther aufspielen möchte, sieht er in Elsbeth seine unglücklich geliebte Lotte, in Thomas deren Bräutigam Albert. vorstellen? O weh! warum bin ich, Unseliger, hieher gekommen?«

»Was?« schrie Thomas noch eifriger; »das fremde Kerlchen spricht hier solchen Unsinn, und zu meinem Kinde, als wenn er ein Recht auf sie hätte? Seedrache, Ihr Wurm, nennt Ihr mich? O Ihr aufgelämmerteAufgeläppert, kümmerlich großgezogen. Gänseblume! Wie könnt Ihr einem Manne, der mehr Länder und Meere gesehn hat, als Ihr Fibelbüchelchen und Gedichtkritzeleien durchschnüffelt habt, nur ins Angesicht schauen?«

»Meine Herren«, sagte Elisabeth freundlich lachend, indem sie aufstand, »als Sie alle zuletzt noch von dem edlen Kapwein so fleißig tranken, habe ich es fast vermutet, was vorgehen würde. Ich bin auf keinen Fall so wichtig, daß man meinethalb so in Eifer geraten dürfte. Mein guter Vater hat so viel Ruhe und Fassung, daß er alles, was hier doch nur im Scherz gesprochen ist, auch wird zum Scherz zu wenden wissen, und sowie Sie alle stiller geworden sind, werde ich wieder zu Ihnen kommen.« Mit diesen Worten verließ sie die Gesellschaft. Wilhelm ging ihr nach und, nachdem sie ins Haus getreten war, wieder an seine Arbeit.

»Sie hat recht«, sagte der Kapitän, der ihr lange nachgesehn hatte, »wir müssen uns alle schämen. Aber ich mache kein Hehl daraus, daß ich in sie verliebt bin, wenn das Gefühl denn doch einmal einen Namen haben soll. Ich kannte mal einen Mann, der hieß Kunz-Peter, so hatte ihn ein einfältiger Domine getauft, ein Mann, der nach seinem Wesen hätte Emanuel heißen sollen, oder Abraham, Isaak und Jakob zusammen, mit dem lieben Joseph obendrein, so tugendhaft war der liebe Mensch. Und so kann das Kind auch vielleicht bei mir unrecht getauft sein. Was weiß ich: heiße es Verliebt!«

»Wir wollen uns nicht wieder ereifern«, sagte Sommer mit zärtlicher Stimme, »aber, wie gesagt, Sie, teurer Mann, wären für das edle, hochgestimmte Wesen ja noch viel schlimmer als Albert.«

»Ich mag von dem Albertus nichts mehr wissen«, rief der Seemann, »was geht mich der Mensch mit seinen Pfiffen und Kniffen an,Der Seemann, der den »Werther« nicht kennt, meint den als Schwarzkünstler verläumdeten Albertus Magnus (Albert Graf von Bollstädt, 1193-1280), einen der größten Gelehrten des Mittelalters. wenn er ein Hasenfuß und Windbeutel war.«

»Albert ein Hasenfuß!« unterbrach Sommer laut lachend, »im Gegenteil, er war zu gesetzt und vernünftig, zu solide als Geschäftsmann, um lieben zu können, oder seine Lotte und gar den schwärmenden Werther zu verstehn.«

»Nun«, erwiderte Thomas, »so mögen Sie mich denn allenfalls mit dem soliden Manne vergleichen. Sie wollen vielleicht den Herrn Werther vorstellen?«

»Allerdings«, sagte jener, »und wir jüngern Leute in Deutschland, alle bessern Köpfe und fühlenden Gemüter streben dahin, und die übrigen, die das nicht können oder wollen, sind Philister.«

»Apropos Philister!« sagte der Domine ganz trocken, »es soll ja in Unteritalien ein Erdbeben gewesen sein.«

Der Deutsche war dieses künstlichen Überganges wegen völlig aus aller Fassung gebracht; der Kapitän ging aber ganz ehrlich in das Gespräch über Erdbeben ein, und nur der Vater lächelte, welcher die Bosheit des Geistlichen wohl verstanden hatte.

»Es ist entsetzlich«, erzählte der Kapitän, »wie es damals in Lisbon aussah, als das schreckliche ErdbebenDas furchtbare Erdbeben von 1755 es durcheinander gerissen und geworfen hatte. Tempel, Häuser, Gassen zusammengestürzt, Leichname, zerschmetterte, noch lebende Menschen, viele hundert verschüttet, andere von oben aus halben Trümmern nach Rettung jammernd, und keine Hülfe oder nur ungenügende da, die Menschen im Felde umirrend, die in der Stadt zitternd und gewärtig, daß sich der Schrecken erneuerte, manche zwischen Mauern in Folterqualen eingeklemmt, Seufzen, Schreien, Brand, Verzweiflung, Hunger und Erschöpfung, wohin man sieht – O, es war ein Anblick, daß man meinte, die Allmacht selbst reiche nicht aus, um hier unter die Arme zu greifen. Und wenn man nun in dem Jammer selbst nach einem verlornen Freunde umlief, wenn man auf Kinder stieß, die die Eltern suchten, wenn die leichenblassen Mütter durch Qualm und taumelnde Mauern rannten, die Kleinen zu finden, wenn keiner sich und sein eignes Haus wiedererkannte, oder den Ort, wo es gestanden; wenn diejenigen, die sich schon gefunden hatten, noch immer nacheinander schrieen oder sich in der Betäubung wieder verloren, so war das alles ein Anblick, daß man dachte, man hätte schon den Jüngsten Tag erlebt.«

»O weh!« sagte die Mutter; »wie glücklich sind wir, daß wir einem solchen Greuel in unserm Lande nicht ausgesetzt sind.«

»Aber dafür den Überschwemmungen«, rief der Vater, »die sich schon so oft wiederholt haben. Dieses unermeßliche Meer, unser Erhalter und liebster Freund, ist zugleich unser gefährlichster Feind. Wir wissen auch nicht, wie er uns noch einmal schaden und verderben kann. Wie viele Leiden haben sich nicht schon durch die gerissenen Dämme über mein armes Vaterland ergossen! Und immerdar stehen wir in Gottes gnädiger Hand, wie gelinde oder strenge er uns züchtigen will.«

»Es gibt keinen andern Trost bei dergleichen Gedanken und Furcht«, sagte der Domine, »als daß wir die Überzeugung recht fest halten, daß alles nur geschieht, was geschehn soll, und schon seit Ewigkeiten so beschlossen ist. Darum sollte eigentlich auch alle große wie kleine Furcht völlig verschwinden, denn ich kann dem Unglück nicht ausweichen, das über mich verhängt ist.«

»Die eigne, selbständige Kraft«, erwiderte der Deutsche, »muß mächtiger sein als alles Schicksal. Am Ende ist doch jede Furcht nur Feigheit, und wenn ich den Tod verachte, was kann mich dann noch beängstigen oder mir drohen?«

»Recht gut gesagt«, sagte der Vater, »aber schwer ausgeübt.«

»Und doch auch gottlos obenein«, bemerkte die Mutter, »denn wenn ich nicht immerdar meine Abhängigkeit von Gott fühle, so ist mir auch nicht wohl. Solche strenge Freiheit kommt uns Menschen wohl auch nicht zu.«

Da das Gespräch wieder ruhig geworden war, so hatte sich Elisabeth auch zur Gesellschaft zurückbegeben, und der kranke Jüngling war ihr gefolgt. Dieser setzte sich außerhalb der Laube unter einen Baum und schien nicht nach den Reden der andern hinzuhören.

»Außerdem aber«, sagte der Domine, »um die Bemerkung der Hausfrau zu ergänzen, »darf man annehmen, daß nach der ewigen Gerechtigkeit und Weisheit sowie nach jenen unabänderlichen Gesetzen auf jedermann so viel Glück wie Unglück, Wohlthat wie Leiden fällt und ihm zugeteilt wird, als er durch seinen Wandel und die Güte seines Herzens verdient oder verschuldet. Ich bin kein ausgezeichnet edler oder tugendhafter Mann, manche sind auch wohl schon frommer gewesen, aber ich bin doch so wenig böse, so rechtlich, so ergeben in den Willen meines Herrn, dem ich wissentlich nie etwas zuleide gethan habe, ein aufmerksamer Wirt, Gatte und Vater, war auch ein ziemlich gehorsamer Sohn in der Jugend, so daß ich mit Recht vertrauen, wenn auch nicht fordern darf, daß es mir immer gut gehe und kein großes Leiden, keine Lebensgefahr, keine Not auf mich einbreche, bis ich zu meinen Vätern versammelt werde.«

»Soll man das nun«, fragte der Seemann, »fromm oder gottlos nennen? Domine, da müßt Ihr Euch ja fast mit dem Schöpfer so stehn, wie der erste Buchhalter mit seinem Kaufherrn.«

»Wenn ich im Wort des Herrn lese«, sagte der Priester, »und es verstehe und glaube, so habe ich daran Genüge, und die übrige Welt mit allen ihren Begebenheiten ist für mich gar nicht mehr da.«

»Soll man Gott nicht allenthalben sehen?« fragte Thomas wieder.

»Vielleicht«, erwiderte der Domine, »um ihn über dem allzu eifrigen Suchen zu verlieren.«

Indem zogen noch Störche durch den Himmel; das eine Paar ließ sich nieder und kehrte in das alte Nest auf der Scheune wieder gastlich ein. »Domine!« rief Wilhelm, »seht – abreisen – wiederkommen – finden – was ist das?«

»Das nennt man Instinkt, mein guter Sohn«, belehrte der Geistliche.

»Das ist Gott!« rief Wilhelm, und alle sahen ihn verwundert an.

»Ist und bleibt Instinkt!« rief der Priester.

Wilhelm faßte den Geistlichen am Arm und zeigte auf ein nahes Fenster am Gartenhause. Hier flog zum Nest die alte Schwalbe hin und wieder und brachte den Kleinen Würmchen im Schnabel, lockte, so daß die unmündigen Vögelchen die Köpfe heraussteckten, weit das Maul öffneten, und die Mutter jedem gab, indem alle bei dieser freundlichen Atzung, die Kleinen wie die Großen, ein süßlautendes Geschwätz flüsterten und zwitscherten. »Was ist das?« fragte Fritz-Wilhelm wieder, indem seine Augen glänzten.

»Mein lieber unwissender, aber doch lehrbegieriger Sohn«, sagte der Pfarrer etwas verstimmt, »das ist ja wiederum obbemeldeter Instinkt!«

»Ist Gott!« rief der Kranke noch heftiger, und da alle um ihn standen, erstaunten und aus Elisabeths Augen, die von wundersamer Rührung ergriffen war, zwei große Thränen langsam flossen, ging Wilhelm näher, wies auf die überfließenden Augen und sagte ganz leise: »Ist wieder Gott!« worauf er andächtig die Hände faltete.

»Mittelbar«, sagte der Domine, der etwas verwirrt wurde, »mittelbar vielleicht, wie dann aber alles.«

Fritz schüttelte den Kopf. Hierauf nahm er dem Geistlichen den Hut ab, dann die Perücke und klopfte ihm mit seinem Finger leise auf den Kopf, indem er mit Anstrengung sagte: »Da drin du – dann Haar draußen – dann Hut – und wo du? da unterm Knochen? Rede nicht du – Hauch nicht du – Knochen nicht du – und wenn du mir lieb – Perücke du – alter Hut du!« worauf er ihm beides wieder aufsetzte und stillschweigend zu seinem Boote ging, um weiter zu arbeiten. Der Domine schüttelte bedenklich mit dem Kopf, der Seemann sagte gerührt: »Gebt mir ihn mit, der würde draußen in Indien sein Glück machen; wir alle sind klug, in unsern Gedanken, und was jetzt der Dumme gesagt hat, darüber könnte wenigstens ich lange nachdenken.«

Elisabeth sah den alten gerührten Mann wie dankbar an und gab sich keine Mühe, ihr aufgeregtes Gefühl zu verbergen, denn sie weinte heftig. Der Vater umarmte sie mit Innigkeit, da sie seinen tiefen Kummer, sein herbes Leid teilte; die Mutter war auch in Thränen, und alle gingen jetzt, da es kühl geworden war, in das Feld spazieren, um sich zu zerstreuen und von andern Gegenständen erheitern zu lassen.



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