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Drittes Kapitel

Jimmy ließ sich zweifellos täuschen. Er wußte, daß sie ihn erwartete, aber der rasche Blick des Erstaunens, mit dem sie zu ihm aufsah, bestätigte seinen ersten Eindruck ... dieses junge Mädchen war damit beschäftigt, ihren Schatz an Weisheit zu mehren, wo jedes andere junge Ding vor Erwartung auf den Zehen gestanden hätte. Er bildete sich nämlich ein, die Welt zu kennen. Den Mitgliedern der königlichen Marine wurden in jedem Hafen, in den sie einliefen, so viel Vorteile in geselligem Verkehr geboten, daß sie mehr als andere Gelegenheit fanden, das Leben kennenzulernen, und er hatte diese Gelegenheiten eifrig ausgenützt.

Die Folge war eine Sicherheit im Auftreten, die Barbara sogleich bei ihrem ersten Zusammentreffen bezaubert hatte. So täuschten sie beide einander, wie alle Verliebten es zunächst tun. Früher oder später lernen sie sich dann wirklich kennen. Das ist der Weg wahrer Liebe zu allen Zeiten gewesen; es ist ein Weg, der keineswegs glatt und leicht ist.

Vorläufig hatte sie all die liebliche Weltklugheit vor ihm zur Schau getragen, die sie von Laetitia entlehnt hatte, verbrämt mit einigen scharfen Sprüchen, die sie aus dem Munde ihres Vaters gehört. Er war auf dem spannenden Wege seines romantischen Erlebnisses nunmehr so weit, daß er sie ganz anders fand als alle Mädchen, die er je kennengelernt hatte.

Sie wieder glaubte fest an seine Weltkenntnis und seine reiche Erfahrung, die ihr durch die Sicherheit seines Auftretens verbürgt war. Die Keckheit, mit der er ihr rund um den ganzen Garten beim Fest nachgegangen war, die Unbefangenheit, mit der er sie zuerst in dem tiefgelegenen Rosengarten angesprochen hatte, als er sie dort allein fand, bewiesen ihr, daß er Ähnliches schon öfters getan. Und obwohl sie in dem stillen Sterrenden lebte, das höchstens dann und wann durch das Klingeln des Telephons in Herrn Nashs Postamt aufgestört wurde, war sie modern genug, daß er ihr darum nicht weniger gefiel. Sie war ganz sicher, daß Wilfrid Inglis mit fünfunddreißig Jahren noch nie im Leben ein Mädchen angesprochen hatte, ohne ihr vorher feierlich vorgestellt zu sein.

Jimmy betrat das Zimmer, als ob auch das fremdeste Haus das Gleichgewicht seiner Seele und seine schöne Sicherheit nicht beeinträchtigen könnte. Er tat das, was er zu tun wünschte. Ein Unterschied zwischen ihm und Wilfrid Inglis fiel ihr sofort lebhaft auf. Inglis wußte nie, was er mit seinen Beinen anfangen sollte. Jimmy schien dies in keiner Weise Sorge zu machen.

Bei seinem jugendlichen Temperament war es ihm ebenso leicht, diese sichere Rolle durchzuführen und sie völlig zu täuschen, wie es ihr leicht geworden war, bei seinem Eintritt überrascht von ihrem Buche aufzusehen.

Die Freude, einander zu täuschen, war noch neu. Beide hatten nur eine Sorge: das zu verbergen, was beide an sich nicht schätzten und was doch für jeden anderen so leuchtend sichtbar war: ihre Jugend. Zwei Minuten später plauderten sie und lachten sie bereits mit einer Fröhlichkeit, die alten Leuten, die für die Wege, auf denen junges Volk sich unbewußt und heimlich der Liebe nähert, kein Verständnis mehr haben, geradezu komisch vorgekommen wäre.

Er war im Kriege ein »schneidiger Bursch« gewesen und hatte eine der größten Seeschlachten mitgemacht; aber mit weltkluger Zurückhaltung sprach er nicht von seinen Taten, sondern von den Leistungen der Admirale. Er sprach sehr bestimmte Ansichten über die Führung des Krieges aus, die er genau so von anderen gehört hatte, wie sie ihre Ansichten von ihren Eltern hatte. Aber er sprach wenigstens nicht von seinem Vieh und von seiner Ernte wie Wilfrid. Jeder Vergleich, den sie machte, fiel vernichtend für diesen vortrefflichen jungen Mann aus, der gleichfalls den Krieg mitgemacht hatte; aber da das Soldatenleben ihm gänzlich ungewohnt war, so redete er nie davon, ohne zu berichten, was er in den Schützengräben und Unterständen hatte leiden müssen.

So saßen sie als zwei völlig moderne junge Menschen hier im Salon, teilten sich gegenseitig ihre Urteile über Welt und Leben im allgemeinen mit und waren jeder von der Erfahrung und den realistischen Anschauungen des anderen beeindruckt.

Sie sprach von Roger und von Laetitia wie von Bekannten, ein wenig sonderbaren und durchaus netten Bekannten, wenn sie auch merkwürdige Gewohnheiten hatten. Er bog sich vor Lachen, als sie ihm das Vegetarianertum ihres Vaters schilderte.

»Es sind jedenfalls magere Wochen, weiß Gott,« sagte sie, »wenn man nach dem letzten Rosenkohl und vor dem ersten Weißkohl höchstens brasilianische Nüsse zu essen kriegt!«

Er klatschte vor Vergnügen in die Hände; aber es war ein scherzhafter Ausspruch Laetitias gewesen, den diese im vorigen Winter getan hatte, als kein Gemüse mehr im Garten war.

Sie fühlte nicht die geringsten Gewissensbisse bei seinem Lachen. Es machte auch einen gewissen Eindruck auf ihn, genau, wie sie beabsichtigt hatte, als sie ihm sagte, daß ihr Vater heute zum Firnistag der Akademie nach London gefahren war.

»Aber das nenne ich gar nicht nach London fahren«, fügte sie hinzu. »Heute morgen ist er fortgefahren, mit drei Nüssen und ein paar Bananen, und heute abend bringt er die Schalen zurück. Er sieht nur nach, wo sie sein Bild hingehängt haben, ißt eine Nuß und dann im Zug die Bananen. Papa hat sich hier einfach begraben, wirklich begraben! Er ist zwar noch nicht tot, aber schon begraben. Seit zehn Jahren will er Mutti einmal nach London mitnehmen, aber nie hat er es getan. Er braucht eine vollständige Veränderung, die braucht er.«

»Warum sagen Sie ihm das nicht?« fragte Jimmy verständnisvoll.

»Ich hab's ihm gesagt. Ich hab's beiden gesagt. Ich habe ihn schon einmal so weit gebracht, daß er seinen Koffer packte. Dann aber, ehe noch Mutti ihren Koffer fertiggepackt hatte, brauchte er etwas, was in dem seinen ganz unten lag, und da packte er ihn wieder aus. Dabei kam ihm ein Gedanke, und er fing ein neues Bild an, und da hätte er sich um alles in der Welt nicht unterbrochen. Es hilft nichts. Man kann nichts mit ihnen anfangen. Sie haben sich in diesen Trott so eingelebt, daß sie nie wieder herauskommen werden.«

Die Weisheit spricht aus dem Munde der Kinder. Wenn Laetitia und Roger dieses vernichtende Urteil gehört hätten!

Eben trat Ellen ein und brachte ein Paket für Laetitia und sah die beiden dasitzen, Schokoladebonbons aus der Tüte essen und die ganze tiefe Weisheit ihrer jungen Jahre auskramen.

Mit einer fast unnatürlichen Selbstbeherrschung wartete Barbara, bis Ellen das Zimmer verlassen hatte. Als die Tür sich schloß, stand sie auf und ging gleichmütig durch das Zimmer zu dem Stuhl, auf dem das Paket lag.

»Ich dachte mir's,« sagte sie, »Mutters neues Kleid.«

Die vollkommene Gleichgültigkeit, mit der sie diese Worte sprach, setzte Jimmy in Erstaunen. Die meisten modernen Mädchen waren verschwenderisch; aber sollte diesem jungen Mädchen jedes weibliche Interesse an Kleidern fehlen? Es war wirklich schwer, genau zu wissen, was einem eigentlich an einem Weibe gefiel. Die Marine war kein sehr einträglicher Beruf. Er war wesentlich auf sein Gehalt angewiesen, und er hatte schon manchen Kameraden in argen Schwierigkeiten gesehen, weil er zu Hause eine verschwenderische Frau hatte. Aber auf der anderen Seite konnte man auf eine Frau, die sich schlecht anzog, auch nicht gerade stolz sein.

»Interessiert Sie denn das nicht?« fragte er mit kritischem Ausdruck.

»Nein. Warum? Ich kenne Mutters neue Kleider. Sie schafft sich jedes Jahr eins an und hofft zu Gott, daß es nicht zu schön wird, damit Vater sie nicht darin malen will. Sitzen Sie ihm nur einmal für eins seiner Plakate – dann haben Sie auch genug. Ich wollte, sie bekäme einmal ein neues Kleid, das der Mühe wert ist.«

Dies beruhigte ihn, aber von Laetitia gab es ihm eine Vorstellung, die sie in einem höchst unvorteilhaften Lichte zeigte. Und er war einigermaßen überrascht, als jemand mit jugendlicher Stimme im Garten zu singen begann, und Barbara auf seine Frage, wer das sei, ihm sagte, es wäre ihre Mutter.

»Aber sie hat doch eine ganz junge Stimme«, sagte er.

»Nun, sie ist doch auch erst neununddreißig Jahre alt,« sagte Barbara, »das ist doch noch nicht alt. Sie ist viel jünger, als sie selber weiß. Soll ich gehen und sie rufen? Es ist Zeit zum Tee.«

Heutzutage müssen die Eltern sehen, wie sie sich zu ihren Kindern stellen. Die gute alte Zeit der Autorität ist dahin. Barbara sprach von Laetitia freundlich, ja liebevoll, aber doch wie von einer Person, die als ihre Mutter seine Billigung finden sollte.

Er nickte zu ihrem Vorschlag, und sie ging in den Garten, während er in dem bequemsten Armstuhl, der sich im Zimmer befand, saß und wartete.

Er dachte darüber nach, wie er die Mutter finden würde, ob er an ihr nicht zu deutlich sehen würde, wie die Tochter einst aussehen mußte. Seine Furcht war, daß die nachlässige Kleidung, in der er sie zu sehen erwartete, etwas von dem Licht und Glanz zerstören könnte, in dem er sich eben sonnte, und er dann wieder mit dem fröstelnden Gefühl dasitzen würde, wie er es so oft nach früheren Bezauberungen erfahren hatte.

Bis jetzt war es ihm mit der Liebe jedesmal so ergangen. Sie kam und schwand wieder, wie ein warmer Wind, der vom Himmel wehte. Jedesmal wenn sie kam, hoffte er, es würde für immer sein, jedesmal wenn sie schwand, freute er sich, daß er rechtzeitig erkannt hatte, wie unbeständig Liebe ihrer Natur nach war und sein mußte. Nach jedem neuen Erlebnis glaubte er an Erfahrung gewonnen zu haben. Das war immerhin etwas. Aber es kamen sonderbare Augenblicke, in denen er fühlte, daß es nicht das rechte war. Und solch ein Augenblick kam gerade wieder, als er nachdenklich in Rogers Lehnstuhl saß.

Wie, wenn die Mutter eine alte, altmodisch gekleidete, vernachlässigte Person war! Manche Frauen waren mit neununddreißig Jahren schon alt. Wie, wenn er an ihr wiederum die gleiche Enttäuschung erlebte, die er schon so oft erlebt hatte? Das Leben war wirklich eine schwierige Sache. Jetzt war er schon zweiundzwanzig Jahre alt und war noch nicht zur Klarheit darüber gekommen. Nichts war wirklich deutlich zu erkennen, kein klarer Weg, nichts, was einen unwiderstehlich in einer Richtung trieb, wie ein Schiff auf dem Meer. Es war ein unsicheres Hin- und Hertreiben, ein Tasten und Versuchen, wie wenn man in dunkler Nacht in eine Werft einfahren oder aus ihr herauskommen wollte.

Er fragte sich, ob er je völlig klares Licht sehen würde, so daß er mit aller Dampfkraft des Willens und in voller Fahrt sich ins Leben hineinstürzen konnte: er war nur zu bereit dazu, und gerade jetzt besonders. Dies fragte er sich, während er mit einer gewissen Angst den Augenblick erwartete, in dem Barbara mit ihrer Mutter aus dem Garten kommen mußte, als die Tür sich öffnete und Roger Campion auf die Schwelle trat und einen fremden jungen Mann sah, der es sich auf seinem Lieblingsplatz bequem machte.

Er hatte die Tür leise geöffnet und hatte eine ganze Weile dagestanden, ehe Jimmy seine Gegenwart bemerkte. Während dieser Zeit hatte sich der ganze Ärger in ihm angesammelt, den jeder Mann instinktiv gegen einen Fremden empfindet, der in seinem Lieblingsstuhl sitzt. Es ist der natürliche atavistische Instinkt des Tieres, das von seiner Lagerstätte vertrieben wird. Wenn Roger Borsten auf dem Rücken gehabt hätte, so würden sie sich jetzt aufgerichtet und gesträubt haben. Ein unheilkündendes Knurren war in seiner Stimme, als Jimmy aufstand und er kurz fragte:

»Wer sind Sie denn?«

»Mein Name ist Laidlaw«, sagte Jimmy.

»Von den Laidlaws in Eltringham?«

»Ja.«

»Wollten Sie mich sprechen?«

»N–nein«, sagte Jimmy verlegen.

»Also wen denn? Zu wem sind Sie denn gekommen? Ich muß doch annehmen, daß Sie hier jemanden suchen? Sie sind doch nicht nur ins Haus gekommen, um sich dahin zu setzen und auszuruhen?«

Wer Roger kannte, würde sofort gewußt haben, woher dieser gereizte Ton kam. Seine Bilder waren in der Akademie schlecht gehängt worden. Wären sie gut gehängt gewesen, so würde er dem Schornsteinfeger beide Hände hingestreckt haben, und wenn er ihn in seinem sauber überzogenen Bett gefunden hätte.

Jimmy aber, der davon keine Ahnung hatte, waren diese Fragen peinlich unangenehm. Und was noch schlimmer war, der Gedanke brach sich in seinem Hirn Bahn, daß dies ihr Vater sein mußte.

»Die Sache ist die,« sagte Jimmy, dem halb zum Lachen zumute war, während er halb gleichfalls anfing, gereizt zu werden, »die Sache ist die: ich kam, um Ihre Tochter zu sprechen.«

Roger starrte ihn an. Was bedeutete das, all diese jungen Leute, die ins Haus kamen, um seine Tochter zu sprechen? Es schien ihm geradezu unfein und taktlos, wie offen und ruhig Barbara ihre Besuche annahm, einen nach dem anderen, so wie sie kamen. Es war, als ob die jungen Leute ihre Verliebtheit und ihre Werbung nicht anders abmachten, als wenn eine Frau zum Sommerausverkauf eines Konfektionshauses geht und sich auf dem Ladentisch eine Reihe Stoffe vorlegen läßt.

Er sah Jimmy halb ärgerlich und halb mitleidig an.

»Nun, und haben Sie sie gesprochen?« fragte er.

»Ja; sie ist gerade in den Garten gegangen, um Frau Campion zu holen.«

»Sie kennen meine Frau noch nicht?«

»Nein.«

Um Frau Campion zu holen! Was zum Teufel sollte das heißen? War die Welt in den neunzehn Jahren, die er in Sterrenden verbracht hatte, einfach auf den Kopf gestellt? Pflegten junge Männer heutzutage, wenn sie sich um junge Damen bewarben, sich einfach in den besten Lehnstuhl zu setzen und zu warten, bis der Herr und die Frau des Hauses ihnen zur Begutachtung vorgeführt wurden? War die Welt verrückt geworden vor lauter Materialismus?

In seiner augenblicklichen Stimmung sah er all dies ganz klar. Seine Bilder waren viel zu hoch gehängt worden. Was Barbara gesagt hatte, war buchstäblich wahr. Er hatte das Akademiegebäude nur betreten, war durch alle Säle gestampft, bis er seine Bilder gefunden hatte, hatte sie empört angestarrt und wütend die Nüsse gegessen, die er in der Tasche hatte, und war dann fortgeeilt, in den Zug gestiegen, und hatte die Bananen im Abteil auf der Heimreise verzehrt.

In dieser Stimmung war es Roger völlig klar, daß die Welt unter den Rädern des Molochs Materialismus platt gequetscht wurde; jede moderne Neuerung schien eine Erfindung des Teufels – die Kultur, die er als junger Mensch gekannt hatte, raste dem Abgrund zu, wie eine Dampfwalze, über die der Führer die Herrschaft verloren hat.

»Nun, ich hoffe, Sie werden sie gut befinden, wenn Sie sie sehen werden«, sagte er und kam beinahe wieder in gute Laune, so befriedigte ihn die schneidende Ironie seiner Worte. »Vielleicht sollte nicht gerade ich es sagen, aber Frau Campion ist eine entzückende Frau.«

Jimmy wußte noch nicht recht, wo er war und wie ihm geschah, als Laetitia und Barbara durch die Gartentür eintraten. Beim ersten Anblick fühlte er den Riß an seinem Herzen, den er so gut kannte. Es war ein fröstelndes Gefühl, als ob der Wind an einem warmen Sommertag umgeschlagen wäre und er in seinem Blut den nahenden Herbst für all seine Hoffnungen fühlte.

Sie sah in der Tat vernachlässigt aus. Sie trug einen alten Hut, der mit einer Nadel derart im Haar festgesteckt war, daß er in einem spitzen Winkel abstand. Zum erstenmal erkannte er, wie wichtig für den Eindruck, den eine Frau in ihrer Erscheinung macht, der Hut sein kann. Das Kleid, das sie selber aus Stoffen gemacht hatte, die Roger als Draperie für den Hintergrund in seinem Atelier verwendet hatte und nicht mehr brauchen konnte, hing an ihr wie Wäsche an der Leine. An den wenigen krausen Haaren, die unter dem Hut hervor in ihre Stirne standen, konnte er nicht erkennen, wie schön ihr Haar war. Da sie ihre Hände, die noch schmutzig von der Gartenarbeit waren, mit einer gewissen Verlegenheit zurückhielt, konnte er nicht sehen, wie fein sie geformt waren. Sie sah aus wie die Magd, zu der sie geworden war, weil Roger vergessen hatte, ihre Schönheit zu sehen, und Jimmy gewahrte in ihr die vernachlässigte Hausmagd und nichts sonst.

Da stand ihr Vater, unfreundlich, mit unangenehmen Manieren, und da stand ihre Mutter, schlecht gekleidet und vernachlässigt; so schien die Tochter einmal werden zu sollen. Instinktiv sah er sich nach Barbara um. Konnte sie wirklich eines Tages so werden und aussehen? Hatte er wieder den gleichen verhängnisvollen Irrtum begangen? War sie doch nicht so anders wie alle anderen Mädchen, denen er je begegnet war?

So unerhört selbstsüchtig ist die Jugend, daß dies alles war, was er bei seinem ersten raschen Blick auf die Eintretenden empfand und dachte. Er merkte die liebevolle Rücksicht gar nicht, mit der sie, ohne auf Jimmy auch nur einen Blick zu werfen, schnell auf Roger zueilte.

»Nun, wie hat man sie gehängt?« fragte sie.

»An den Galgen!« sagte Roger.

Sie wußte, daß dies das Schlimmste bedeutete, und streichelte nur einmal leicht über seine Hand, die diese Liebkosung nicht erwiderte. Es war nichts dazu zu sagen. Aus beinahe zwanzigjähriger Erfahrung wußte sie, was die Worte »an den Galgen« bedeuteten, und daß in diesem einen Augenblick die Hoffnungen eines ganzen Jahres unter der Erkenntnis zusammengebrochen waren, daß seine besten Arbeiten wieder nicht verkauft wurden und ihm wieder nichts übrigblieb, als Plakate zu entwerfen, um leben zu können. Und mit einem Lächeln, vor dem sein erster Eindruck ihm plötzlich zweifelhaft wurde, wendete sie sich zu Jimmy.

»Halten Sie mich nicht für gar zu unfreundlich – es scheint Ihnen gewiß so, aber es ist nicht so. Sie ahnen nicht, was der Firnistag für einen Künstler bedeutet. Barbara sagte mir, sie habe Sie auf dem Gartenfest bei Frau Quilter getroffen. Es gibt doch auch einen Herrn Quilter, und es kommt doch nicht so auf die Frau an. Die hilft doch nur. Ich wenigstens will nicht mehr als eine Hilfe sein. Ich möchte nicht, daß man von meinem Hause als von dem von Frau Campions spräche.«

Sie hatte es sich angewöhnt, all ihre selbstlose Liebe, all ihre Vornehmheit mit einem derartigen Redefluß zu verbergen. Sie versuchte, ihre Empfindungen so unter hingeworfenen und abgebrochenen Sätzen und unzusammenhängenden Worten zu verstecken. Jahre waren vergangen, seit sie zum letztenmal ruhig und überlegt gesprochen hatte.

Aber sie war noch nicht zu Ende, als Roger sie unterbrach.

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Letty!« sagte er. »Wer wird denn dein Haus Frau Campions Haus nennen? Es hat doch schließlich seinen Namen, der im Postadreßbuch steht, oder nicht?«

Diese Worte hemmten ihren Redestrom.

Sie sah Jimmy an, ein rasches Verständnis leuchtete in ihren Augen auf, und sie sagte:

»Barbara sagt mir, Sie spielen Tennis. Sie spielen gewiß sehr gut.«

»Ich glaube, er könnte mir dreißig vorgeben, Mutti, und würde dennoch gewinnen«, warf Barbara mit einer Begeisterung ein, die zu heftig war, als daß sie sie hätte verbergen können.

Laetitia nickte verständnisvoll.

»Ich weiß nicht, ob das viel ist,« sagte sie, »aber er spielt gewiß sehr gut. Tanzen Sie auch gerne, Herr Laidlaw?«

»O – ja.«

Er gab es mit einem gewissen Zögern zu, aber Barbara rief: »Er tanzt großartig!«

Jetzt lächelte Laetitia, und einen Augenblick vergaß er, wie nachlässig sie gekleidet war.

»Ich bin überzeugt davon«, sagte sie freundlich. »Man sieht es ihm an. Die Marine ist doch wirklich ein herrlicher Beruf!«

Ob sie das aufrichtig meinte, oder ob es eine zarte Ironie war? Was konnte sie damit sagen wollen? Jimmy wurde sich plötzlich bewußt, daß er vor einer Frau stand, die viel mehr Erfahrung hatte. In seinem Gesicht war ein eingebildetes Lächeln, das der feine Reiz des ihren auf seinen Zügen hervorrief. Er fühlte es wohl und fühlte zugleich, daß sie sah, wie eingebildet sein Lächeln war. Er versuchte seine Haltung zu bewahren, ärgerte sich jedoch über sein Lächeln. Er fühlte eine Erleichterung, als sie ihn fragte, ob er schon den Garten gesehen hätte, und, da er es verneinte, vorschlug, daß Barbara ihm das Grasbeet zeigen sollte, in dem sie gerade ihre Lilien festgebunden hatte.

»Sie sind sicherlich entsetzt, daß ich so schlampig aussehe; aber es geht nicht anders: bei der Gartenarbeit kann man nicht sauber und ordentlich aussehen. Ich wenigstens kann's nicht!«

Als sie draußen auf dem Rasenweg standen, sagte Barbara plötzlich: »Die gute Mutti! Sie sieht nie anders aus. Immer schiebt sie's auf den Garten, aber ich glaube, es liegt ihr einfach nichts daran, ob sie hübsch aussieht oder nicht.«

Jimmy warf einen raschen Blick auf sie, als sie so neben ihm herschritt. Was war geschehen? Jetzt empfand er wieder genau das, was er bei Frau Quilters Gartenfest empfunden hatte. Es war ihm keineswegs behaglich zumute. Mit zweiundzwanzig Jahren sollte ein Mann schon wissen, was er wollte. Er pflegte doch sonst nicht so zu sein. Was war nur mit ihm vorgegangen? Innerhalb weniger Minuten hatte er bald so empfunden und bald wieder ganz anders, und jetzt schien sich seine Empfindung abermals zu verändern.

Barbara war wirklich ganz anders als alle Mädchen, die er bisher gekannt hatte, und doch war ihre Mutter in ihrer Erscheinung außerordentlich vernachlässigt. Diese zwei Dinge waren seiner Erfahrung nach nicht zu vereinigen, sondern standen in einem vollkommenen Widerspruch zueinander.

»Wir wollen uns jetzt das Rasenbeet ansehen«, sagte er; »dann muß ich fort.«

Roger und Laetitia sahen ihnen nach.

»Der Bursch ist ganz wohlgebaut«, sagte Roger.

»Das ist er wirklich«, sagte sie.

In seinen Augen leuchtete plötzlich der eifrige und gierige Blick auf, den alle, die ihn kannten, sehr bald gleichfalls kannten und verstanden. Niemand aber kannte ihn besser als Laetitia. Das gleiche Leuchten war in seinen Augen gewesen, als er zum erstenmal nach ihr gesehen, und damals hatte sie geglaubt, seine Augen leuchteten vor Liebe und Anbetung. Seither hatte sie es unzählige Male auffunkeln sehen, aber es flammte mit der gleichen Ekstase vor einer Schafherde auf, die auf dem Hügel weidete, vor einer Herde Vieh, die an einem Bach graste.

Mit dem gleichen Blick hatte sie ihn nach einem zerlumpten alten Weibe schauen sehen, das in den Gassen von Sterrenden für ein paar Kupfermünzen sang. Das war alle Romantik, die ihr geblieben war, und sie war ihrer müde geworden und zog, wie Barbara gesagt hatte, die ältesten Kleider an, um ihn an den Reiz nicht zu erinnern, den er einst an ihr gefunden hatte. Gewiß, es bedeutete jedesmal einige Augenblicke seliger Bewunderung. Einige Augenblicke war er wieder der Liebhaber wie einst, aber dann kam die unvermeidliche Bitte, ob sie für ihn sitzen wollte, nur für einen Augenblick, nur solange er die Figur skizzierte, nicht länger!

Und dann wurden die Augenblicke zu Minuten, und die Minuten schleppten sich zu Stunden hin. Und wenn sie ihn in seinem unermüdlichen Arbeitsrausch unterbrach, dann war er verletzt und manchmal so erbittert und böse, daß sie das Gefühl hatte, dieser Mann konnte sie nie geliebt haben. Und so war die Zeit gekommen, in der sie lieber auf diese wenigen süßen Augenblicke seines Werbens verzichtete, in denen das Bewußtsein, daß sie als Weib noch anziehend sein konnte, in ihrem Herzen wieder aufflackerte. Darum zog sie ihre ältesten und schlechtesten Kleider an und begrub ihre Träume in den Gartenboden wie die Lilien.

Sie wußte ganz genau, was er über diesen jungen Mann mit seiner gelenkigen Figur sagen würde, und im nächsten Augenblick sagte er es bereits.

»Ob er mir wohl für den Athleten sitzen würde, den ich für das Fleischextraktplakat brauche?«

»Ich bin überzeugt, er wird glücklich sein, wenn du ihn darum bittest«, antwortete sie.

»Glücklich? Warum sollte er glücklich sein?« sagte er. In seiner Stimme war eine gewisse Schärfe. Ein Verdacht stieg in ihm auf. Warum sagte sie das? Niemand war glücklich, wenn er Modell sitzen sollte. Das hatte ihn eine lange Erfahrung gelehrt, wenn er auch wenig Rücksicht darauf nahm, sobald jemand ihm auf Gnade und Ungnade preisgegeben war.

»Sieh mal da hinaus«, sagte sie.

Er stellte das neue Modell bereits im Geist zurecht und sagte nur zerstreut »Äh, was?«, wie stets, wenn er reden hörte, aber viel zu beschäftigt war, um den Sinn aufzunehmen. Laetitia wußte aus Erfahrung, daß es zwecklos war, die Worte zu wiederholen. Solange man sie wiederholte, so daß er wußte, er würde schon erfahren, was man ihm mitteilen wollte, hörte er nicht zu, sondern blieb im Geist mit seinen Bildern beschäftigt. Nur wenn man schwieg, fuhr er aus seinen Träumen empor, aus dem Gefühl, daß er etwas Wichtiges versäumen könnte. Daher schwieg sie auch jetzt, und einen Augenblick später waren die Worte, die er ungehört vorübergehen ließ, ihm ins Bewußtsein gedrungen. Im nächsten Augenblick hatten ihre Worte ihn zu hellem Ärger erregt.

»Was soll ich denn da draußen sehen?« sagte er. Er wollte ihre Andeutung nicht verstehen. Er stellte sich breitbeinig hin und nahm eine abweisende Miene an; er wollte nicht den gleichen Schluß ziehen wie sie.

»Sagen dir's denn deine Augen nicht?« fragte sie. »Sieh nur, wie sie rasch den Kopf wendet, wie sie ihn lachend ansieht, und sieh, wie er auf sie niederschaut.«

»Was für Unsinn du wieder redest, Letty! Was für Romane du dir einbildest!« rief er. »Es soll doch Wilfrid Inglis sein. Ich bin ganz mit ihm einverstanden. Wir waren doch ganz einig darüber; du hast doch selbst zugegeben, daß sie keine bessere Wahl treffen könnte. Übrigens ist sie vor allem noch zu jung, um überhaupt ans Heiraten zu denken, aber wenn es schon einer sein muß, so wollen wir doch um's Himmels willen den Verstand behalten! Sie kann doch kein halbes Dutzend heiraten, denke ich!«

»Nein, sie kann und wird nur einen heiraten, aber sie kann ein ganzes Dutzend durchgehen, ehe sie sich entscheidet.«

Das brachte Roger vollends aus dem Häuschen. Es war schlimm genug gewesen, daß sie sein Bild in der Akademie unter die Decke gehängt hatten. Aber das ging ihm über den Spaß, daß er nach Hause kam, und von seiner Frau, die er bisher für ganz verständig gehalten hatte, solchen Unsinn vernehmen mußte, die doch immerhin und in jedem Fall seine Frau und die Mutter des Kindes da draußen war. Wie immer, wenn er aufgeregt war, begann er beim Reden im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich will das nicht!« rief er. »Ich will das nicht! Wir waren der Meinung, daß sie sich für den jungen Inglis entschieden hat, und das nach genug Hin- und Herzögern. Waren wir dieser Meinung oder nicht? Hast du es mir nicht selber gesagt oder nicht?«

Laetitia nickte. Sie beobachtete ihn.

»Sind wir uns nicht vollkommen darüber einig gewesen, daß er ausgezeichnet für sie paßt? Ich verstehe das nicht. Was bedeutet das alles? Das Haus ist voll von jungen Leuten. Als ich jetzt hereinkam, saß dieser junge Mensch in meinem Lehnstuhl, gerade als ob er ihm gehörte und er sein Leben lang darin gesessen hätte. Er sah nicht einmal auf, als ich hereinkam. Und dann starrte er mich an, als ob ich ein Eindringling gewesen wäre ... ein Fremder in meinem eigenen Haus!«

»Oh, das hat er gewiß nicht getan«, sagte Laetitia in einem raschen Bedürfnis, den jungen Mann zu verteidigen. »Wenn man sonst nichts zu ihren Gunsten sagen kann, diese jungen Burschen von der Marine haben ein vorzügliches Benehmen.«

Aber Roger hatte sich dies nun einmal eingebildet, und was er sich einbildete, war für ihn wirklicher als alle Tatsachen. Und es brachte ihn nur noch mehr auf, daß Laetitia, die gar nicht dabeigewesen war, ihm sagen wollte, er hätte nicht gesehen, was er mit eigenen Augen wahrgenommen hatte!

»Ich weiß wohl, was ich rede,« erwiderte er, »und ich sage dir, es gefällt mir nicht. Sie kommen aus meilenweiter Entfernung. Der da kommt aus Eltringham. Woher wissen sie's nur?«

Laetitia sprach von Barbaras Jugend.

»Und sie ist wirklich ein süßes Geschöpf«, sagte sie sanft. »Ich glaube manchmal, Roger, du weißt gar nicht, wie süß sie ist.«

»Ich weiß es nicht!« rief er. »Ich hab' sie oft genug gemalt! Daß die Leute sie bewundern, ist nur natürlich, aber sie kommen ja in hellen Haufen. Und das sage ich dir, dieses Jahr noch und dann nicht mehr. Ich habe es satt. Sie scheinen zu wissen ... das ist das unerhörte, was ich nicht verstehe. Heute kommt der eine. Dann verschwindet er, ist einfach nicht mehr da, und gerade wenn man glaubt, jetzt wird endlich Ruhe, lungert schon ein anderer mit einem Tennisschläger um den Gartenzaun und muß eiligst einen Tennisball haben, der mich eine halbe Krone gekostet hat, oder er macht sich's im Haus bequem, sitzt in meinem Lieblingssessel, gerade wenn ich müde bin und selbst drinsitzen möchte. Sie rauchen meine Zigarren, und was sie trinken, ist ganz unglaublich! Einmal habe ich einem ein Glas Gerstenwasser angeboten – er dachte nicht daran, es auch nur zu probieren. Und wenn einer zum Essen bleibt, dann ißt er unsere Nußfleischkotelettes, als ob es Sägespäne wären. Ich beobachte sie! Ich kenne den Ausdruck in ihren Gesichtern. Wenn sie bei uns mitessen, dann sehen sie aus, als wären sie in den Hungerstreik getreten und müßten gewaltsam genährt werden!«

Laetitia hätte am liebsten gelacht, aber sie wußte, daß es klüger war, ernst zu bleiben, wenn Roger in dieser Stimmung war. Es mußte in London sehr schlimm gewesen sein. Sie wagte im Augenblick gar nicht darüber mit ihm zu sprechen. So ernst und bedenklich es sein mochte, sie war froh, daß diese andere Sache dazwischengekommen war und ihn ablenkte.

»Aber ist es nicht immer und überall so,« fragte sie, »wo ein junges Mädchen zum erstenmal das Haar hoch steckt und die Leute anfangen, zu bemerken, daß sie da ist?«

Das brachte ihn vollends auf. Also sie unterstützte diese Sache noch! Es war ihm unbegreiflich, wie eine Mutter es zugeben konnte, daß alle Leute derart ihre Tochter besehen kamen, als ob sie zum Verkauf ausgestellt wäre, und jeder Käufer, der Lust hatte, den Handel abschließen könnte. Seine Tochter! Es war einfach unwürdig! Und er sagte und begründete es ausführlich. Er sagte es nicht nur, er brüllte es, während er im Zimmer auf und ab schritt.

»Hast du vergessen,« erinnerte sie ihn, »wie du zum erstenmal nach Kensington kamst, nachdem wir uns bei dem Gartenfest getroffen hatten?«

Nein, das hatte er nicht vergessen. »Aber ich machte dir weder den Hof, noch eine Liebeserklärung, damals nicht.«

»Nein; aber du kamst eben ins Haus, Roger. Genau wie sie es tun. Du wolltest mich eben kennenlernen, sehen, wie ich bin und was ich sagen würde.«

»Du hast ja überhaupt nichts gesagt. Ich habe ja immer geredet.«

»Und wie schnell du dich eben darum in mich verliebt hast!« sagte sie mit einem lieblichen Ausdruck. »Aber höre jetzt, Roger, mit diesem neuen jungen Mann ist es ernst. Begreifst du das nicht? Ich glaubte wirklich, Wilfrid wäre der rechte. Ich weiß, er ist ein bißchen langweilig, aber er ist so ein guter Kerl. Von ihm kann man nicht sagen, daß er heute kommt und morgen wieder verschwindet. Es würde auch eine sehr gute Ehe werden. Sie glaubt es vielleicht jetzt nicht, aber mit Wilfrid würde sie sehr glücklich sein. Und er ist gar nicht so alt.«

Er mußte längst vergessen haben, wie die Laetitia gewesen war, in die er sich seinerzeit verliebt hatte, oder er wäre erstaunt gewesen, sie so weltklug reden zu hören. Auch sie mußte seit langem vergessen haben, wie jene Laetitia gewesen war, oder sie würde selbst darüber erstaunt gewesen sein.

»Du willst doch nicht sagen, daß sie diesen jungen Burschen von der Marine ernst nimmt?«

Dabei drehte er sich um, stand mit weit gespreizten Beinen da und starrte sie an, so überrascht war er.

»Ja, das meine ich«, sagte sie.

»Aber der junge Mensch hat ja keinen Pfennig. Man bekommt in der Marine kein Gehalt, von dem man leben kann. Mit der einen Hand bekommen sie ihren Sold von der Admiralität, und mit der anderen wird er ihnen in Westminster wieder abgenommen. Weil einer Tabak und Rum billiger bekommt, kann er doch noch keine Frau ernähren!«

Keinen Augenblick sagte ihm sein Gewissen: »Man kann auch die Liebe einer Frau nicht mit Tuben von Ölfarbe erhalten, noch sie mit etwas Firnis auffrischen.«

»Sie weiß, wie gut Wilfrid gestellt ist«, fuhr er fort. »Sie ist auf seinem Gut in Harrietsham gewesen. Sie hat doch sicherlich Verstand genug, das Glück zu erkennen, wenn es ihr in den Schoß fällt! Gefällt er ihr denn nicht? Ich dachte, er wäre ihr lieber als alle die anderen, die ich um den Garten habe streichen sehen. Einer von ihnen hat neulich meine Tennisschuhe angehabt; der Teufel soll mich holen, wenn's nicht meine waren!«

Laetitia preßte die Lippen aufeinander. »O ja, sie hat ihn ganz gerne«, sagte sie. »Seine Aufmerksamkeiten schmeicheln ihr. Und ich glaube, wenn er ihr vorige Woche einen Antrag gemacht hätte, sie hätte ihm ihr Jawort gegeben.«

»Was! Willst du damit sagen, daß sie es jetzt nicht mehr tun würde?«

Er konnte es nicht glauben. Er hatte völlig vergessen, was Liebe ist. Die Tafel in seiner Seele, die seinen ersten Eindruck von Laetitia aufgenommen hatte, war längst überstrichen. Sie hatten es beide vergessen. In den schlechten Kleidern, die sie trug, in dem unmöglichen Hut, mit dem ungekämmten Haar, hatte sie selbst das Bild aus dem Gedächtnis verloren. Das wirkliche Gemälde stand noch im Atelier mit zahlreichen anderen Bildern, mit dem Gesicht zur Wand gekehrt. Er hatte es nicht verkauft. Es stand noch da, aber der Staub lag darüber.

»Ist das wirklich dein Ernst, willst du wirklich sagen, daß sie ihn jetzt ausschlagen würde?« wiederholte er.

»Jawohl.«

Er drehte seinen Kopf und warf seine Blicke nach allen Richtungen zugleich, als ob das Leben ihm so unverständlich geworden wäre und so unmöglich erschiene, daß er nicht mehr wußte, wohin er schauen sollte.

»Nun, das nenne ich verrückt!« schrie er.

Sie suchte ihn zu beruhigen, indem sie selbst völlig ruhig sprach. Vielleicht schoß in diesem Augenblick ein Gedanke an ihre eigene ferne Jugend durch ihren Geist, wie der Schatten eines Vogels, der hoch unterm Himmel schwebt, über den Wasserspiegel gleitet.

»Nein, das nicht«, murmelte sie. »Wir wissen wohl, daß es töricht ist, weil wir die Dinge jetzt klarer sehen, aber so verrückt ist es nicht, Roger.«

Er schritt ans Fenster, um sich die beiden noch einmal anzusehen, die lachend und plaudernd am Rasenbeet beieinander standen. Der Anblick ließ ihn die Lage endlich begreifen, aber er war nur um so empörter.

»An allem ist nur dieses moderne Tanzen schuld!« erklärte er. »Das ist es. Früher lauschten die jungen Leute auf sanfte Klaviermusik und dabei blieben sie vernünftig.« Er warf einen bösen Blick auf das Grammophon in der Ecke des Zimmers, das er Barbara zum Geburtstag geschenkt hatte. »Wer zum Teufel kann denn irgendwie vernünftig bleiben, wenn er so ein verrücktes Ding schnarren und kratzen hört?« sagte er.

Ihre Blicke fielen auf das Paket, das von der Schneiderin in Canterbury für sie gekommen war. Aber sie dachte nicht weiter daran, als sie darauf zuging. Sie fühlte nur die Gefahr für Barbaras Grammophon, und instinktiv verteidigte sie es.

»Glaubst du wirklich, daß das Klavier oder das Grammophon damit etwas zu tun haben?« fragte sie. »Jede Zeit hat ihre verschiedenen Musikinstrumente, aber die Gefühle sind die gleichen. Ich glaube manchmal, wir verstehen das Grammophon nur deshalb nicht, weil wir unser Klavier geschlossen haben und nicht mehr darauf spielen.«

Ahnte sie, welche feine und scharfe Kritik sie mit diesen Worten über ihre eigene Ehe aussprach? In Gedanken begann sie mit ihren Fingern, die sich gleichsam an etwas zu erinnern schienen, den verknoteten Bindfaden um das Paket aufzumachen. Und in ihren Augen war eine Art Sehnsucht, als sie wieder zu Roger aufsah.

»Es ist keine so schlechte Erfindung, wenn man es bedenkt. Jedenfalls hat das Grammophon das unglückliche Geschöpf unnötig gemacht, das stundenlang allein sitzen und für die anderen aufspielen mußte.« Der Bindfaden war geöffnet, aber ihre Finger beeilten sich nicht, die Schachtel aus dem Papier zu wickeln. Sie wußte, was darin war. Sie begann den Bindfaden sorgfältig zusammenzurollen, um ihn für künftigen Gebrauch beiseitezulegen.

»Wir müssen dieser Sache jedenfalls ein Ende machen«, sagte Roger. »Ich hielt es für abgemacht, daß sie Wilfrid heiratet. Ich bin entschieden dafür. Es liegt so auf der Hand: ein ernster, tüchtiger Bursch, der es sich sauer werden läßt, und der obendrein noch Vermögen hat. Genügt es ihr denn nicht, daß es kein Mädchen in der Nachbarschaft gibt, die nicht froh wäre, ihn zu kriegen?«

Laetitia schüttelte den Kopf. »Das ist ganz gut für den Anfang«, sagte sie mit einer leisen Erinnerung. »Aber nicht für das Ende. Ich bin überzeugt, sie sieht ein, daß er ein vorzüglicher Ehemann wäre. Aber der Junge da draußen sieht sie ganz anders an. Er ist hübsch. Das siehst du selber. Sonst hättest du nicht gesagt, daß er dir für deinen Athleten sitzen sollte. Du findest ihn auch anziehend. Er hat die Frische der Jugend! Und er spielt gut Tennis, er tanzt gut ...«

Das war mehr, als Roger ertragen konnte. Diese choreographischen Vorzüge zählte sie ihm als Gründe für eine Eheschließung auf! Er hatte nie im Leben getanzt und Tennis gespielt. Er hatte sein Leben lang gearbeitet, und das war es, was man von einem Manne verlangen mußte und konnte.

»Das ist es ja, was ich sage!« schrie er. »Das Tanzen ist an allem schuld!«

»Und er ist lustig,« sagte Laetitia rasch, »mit ihm kann sie lachen. Mit Wilfrid nicht. Der ist nicht leichtfertig genug. Ich weiß, gewiß, das ist sein Vorzug. Er nimmt das Leben ernst. Aber wie kann man erwarten, daß sie das mit achtzehn Jahren schätzen soll? Das Leben ist für sie noch ein Spiel. Sie verlangt nach Sonnenschein. Und dieser Junge ... Ja, ich weiß, die Marine! Gerade die Marine! Wenn für diese Jungen das Leben nicht ein Spiel wäre, dann könnten wir alle auf dem Grund der See liegen.«

»Trotzdem muß der Geschichte ein Ende gemacht werden«, sagte Roger hartnäckig. »Es muß im Keim erstickt werden.«

»Ja, aber wie?«

»Man zeigt ihm, daß er nicht willkommen ist. Das ist doch ganz einfach. Ich kann das besorgen.«

In der Tat konnte das niemand besser als er. Sie wußte das wohl und warnend legte sie die Hand auf seinen Arm.

»Nein, das kannst du nicht, Roger!«

»Warum nicht?«

»Weil du sie ihm damit gerade in die Arme treiben würdest.«

»Ich begreife nicht,« rief er, »daß der junge Mensch nicht den Anstand hat und sieht, daß sie schon mehr oder weniger verlobt ist.«

»Ja, ja: mehr oder weniger.« Ein Lächeln glänzte in ihren Augen auf. »Du hast dich auch nicht abhalten lassen, weil der Pfarrer von St. Mary Abbots mir den Hof machte.«

»Ja, aber der war ein Esel! Der hätte dich nicht glücklich machen können. Das sah ich sofort.«

»Das ändert nichts daran. Die Liebe ist ein offenes Feld, Roger, solange nicht das Plakat ›Fremden ist der Eintritt verboten‹ offiziell angebracht ist.«

Er stand noch am Fenster und sah in den Garten hinaus. Als er diese kleine Sentenz hörte, drehte er sich heftig um und sah sie an.

»Du sprichst ja heute sehr beredt über die Liebe«, sagte er.

Die beiden draußen waren aus dem Blumengarten in den winzigen Obstgarten hinübergegangen, in dem Roger, der stets Obst brauchte, die Pflaumen- und Äpfelbäume so dicht gepflanzt hatte, daß sie gedrängt standen wie Kinder im Zirkus. Sie machten einander den Raum streitig und kämpften mit verschlungenen Ästen um das Licht. Seine Frau konnte die beiden nicht mehr sehen, aber im Geist sah sie sie noch nebeneinanderstehen und lachen.

»Vermutlich haben sie mich daran erinnert«, erwiderte sie. »Sie sind beide noch so jung.«

Er erwiderte, daß Wilfrid nicht älter als fünfunddreißig sei.

Sie wendete sich wieder ihrem Paket zu und befreite die Schachtel aus dem Überzug von braunem Packpapier.

»Ja, ja, ich weiß«, murmelte sie. »Man muß ihr irgendwie die Augen öffnen. Aber wie? Es ist nicht so leicht, ihr unsere Erfahrung zu geben. Wenn wir ihm das Haus verbieten, hat das keinen Zweck. Wir müssen es uns überlegen, Roger. Wir müssen es uns gut überlegen. Glücklich würde sie nicht werden, wenn sie so auf das erste romantische Gefühl hin heiratet. Das nimmt ein Ende. Früher oder später nimmt es ein Ende, und dann sitzt sie mit schmerzendem Herzen da und sehnt sich nach irgend etwas, weiß selber nicht, wonach, und niemand kann es ihr sagen.«

Sie nahm den Deckel von der Schachtel; das neue Kleid lag darin, in Seidenpapier gewickelt.

»Willst du das sehen?« fragte sie, aber ohne jede Begeisterung.

»Was denn?«

»Mein neues Abendkleid. Ich mußte mir eines anschaffen. Wir sind doch nächste Woche zu den Fortescues zum Abendessen eingeladen, und die haben mich nun schon drei Jahre lang immer in dem schwarzen Kleid gesehen.«

Ein scharfer Blick erwachten Interesses blitzte in seinen Augen auf. In seinem ganzen Körper war eine rasche Beweglichkeit, wie wenn ein Frettchen die roten Augen dem Tageslicht abkehrt und im Dunkeln in einen Kaninchenbau späht.

»Hübsch genug, daß du mir darin sitzen kannst?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Erfahrung hatte sie klug gemacht. Und sie war vorsichtig gewesen. »Es ist ganz gewöhnlicher Atlas,« sagte sie, »ein sehr ruhiges Grau.«

»Grau ... Immerhin ... zu Grau kann man einen sehr schönen Hintergrund nehmen. Meine orangefarbene chinesische Draperie mit dem goldenen Drachenmuster würde sehr gut dazu gehen. Das gäbe eine Studie in Orange, und mit dem grauen Kleide darauf könnte es etwas von einer Flamme bekommen.« Es schien so natürlich, daß er ihrer nur als Ergänzung zu einem Hintergrund dachte. Sie sah selbst ein, daß es eine prächtige Studie geben würde, aber während sie das Seidenpapier abnahm, hoffte sie, es würde ein Grau sein, das er nicht brauchen konnte.

Er war herangekommen und stand neben ihr, während sie die Lagen von Seidenpapier entfernte.

Es war gar nicht grau. Sie sahen den Stoff mit einem schwachen Goldschimmer durchleuchten, während sie eine Lage nach der anderen entfernte. Ihre Finger arbeiteten schneller. Sie nahm den letzten Papierstreifen aus der Schachtel. Ihr Herz schlug mit verwirrender Heftigkeit. Da lag irgendein Irrtum vor. Es war gar nicht das graue Kleid. Die Farbe reifenden Korns glühte ihr entgegen. Es mußte ein Irrtum sein. Es war auch gar nicht einfacher Atlas.

Vorsichtig, als ob sie ein neugeborenes Kind aus der Wiege höbe, nahm sie das Kleid auf. Es rauschte und flüsterte in ihren Händen.

»Sieh doch, Roger!« sagte sie atemlos. »Sieh doch, es ist Charmeuse!«


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