Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An einem klaren Octoberabend, kurz vor Sonnenuntergang, langte auf dem Posthofe ein mit zwei Postpferden bespannter Reisewagen an, in welchem sich zwei Herren und eine Dame befanden.

Einer der Herren fragte, ob man hier Nachtquartier erhalten könne. Es wurde bejaht.

Die drei Reisenden verließen den Wagen.

»Zwei Zimmer neben einander,« bestellte der Herr, »zu ebener Erde.«

Zu ebener Erde waren keine Fremdenzimmer da.

Ein junges Mädchen, die Tochter des Posthalters, führte die Fremden die Treppe hinauf.

Der Posthalter war zugleich Gastwirth.

Das Mädchen wies den Fremden zwei Zimmer an, die beisammen lagen und durch eine Thür verbunden waren.

In jedem der beiden Zimmer standen zwei Betten.

»Welches Zimmer wünschen Sie einzunehmen, Fräulein?« fragte einer der beiden Herren die Dame.

»Sie wissen, es ist mir gleich,« erwiderte die Dame.

»So werden wir hier bleiben,« sagte der Herr.

Er meinte das Zimmer, in dem sie sich befanden, in das sie zuerst getreten waren.

Die beiden Zimmer waren einander ganz ähnlich.

»Lassen Sie unsere Koffer hereinbringen,« sagte der Herr zu dem Mädchen.

Die Koffer der Reisenden wurden hinaufgeschafft.

Es waren zwei, ein größerer und ein kleinerer.

Der kleinere gehörte den beiden Herren.

Der größere der Dame. Er wurde in das Zimmer gebracht, das sie für sich einnehmen sollte. Er war schwer, selbst im Verhältnis zu seiner Größe.

Die Herren bestellten bei der Tochter des Posthalters ein gemeinschaftliches Abendessen.

Das Mädchen ließ sie dann allein.

Die drei Fremden hatten in Gegenwart des Mädchens wenig gesprochen; durchaus nichts, aus dem man hätte abnehmen können, in welchem Verhältnisse sie zu einander standen.

Sie waren alle Drei wohlgekleidet.

Der eine der beiden Herren war groß und kräftig gebaut. Er konnte in der Mitte der dreißiger Jahre stehen. Er trug einen schwarzen Vollbart, hatte schwarze lebhafte, durchdringende Augen, eine Adlernase. In seinem Wesen hatte er etwas Befehlendes.

Der andere Herr war klein, zart, hatte etwas Knabenhaftes, man hätte sagen können, Mädchenhaftes. Er schien kaum zwanzig Jahre alt zu sein. Er war blond, hübsch; ein Zug in seinem Gesichte wollte doch nicht für ihn einnehmen, warum nicht, wurde nicht gleich klar.

Die Dame war eine große, schlanke Gestalt, hatte ein feines, etwas blasses Gesicht. Sie war eine ungewöhnlich schöne Erscheinung: die offene, ehrliche, treue Gutmüthigkeit, die in ihrem schönen Antlitze sich aussprach, nahm doppelt für sie ein.

Wie Alle Drei bei ihrer Ankunft wenig mit einander gesprochen hatten, so fand man sie auch später.

Die Wirthstochter war bald nachher wieder bei ihnen erschienen, um mit Hülfe einer Magd die Betten zu überziehen, und sonst die Zimmer zum Nachtquartier einzurichten.

Alle Drei hatten sich in dem Zimmer der beiden Herren befunden.

Die Verbindungsthür hatte offen gestanden.

Die Dame und der kleinere jüngere Herr hatten stumm am Fenster gesessen und in's Freie geblickt.

Der größere Herr mit dem schwarzen Bart spazierte in der Stube auf und ab.

Jene Beiden hatten dann doch einige Worte gewechselt.

Die Sonne ging gerade unter.

»Sehen Sie, wie schön,« sagte die Dame zu dem jungen Herrn, der neben ihr saß.

Sie hatten wirklich einen schönen Anblick.

Die Poststation lag am Fuße eines waldigen Berges, am Eingange einer kleinen Schlucht. Die letzten Sonnenstrahlen leuchteten noch halb in die Schlucht hinein, fielen voll auf den Berg und vergoldeten dessen dichte Waldung. Über den Kronen der Bäume schwamm an dem tiefblauen Himmel rosiges Abendgewölk langsam dahin.

Von dem Fenster aus sah man das Alles, hatte man zugleich den Blick in eine weite Ebene voll Wiesen und Ackerfeld, in deren Hintergrund sich feiner weißer Nebel entwickelte, für die Nacht frische Kühle und für morgen wieder einen sonnigen Tag verkündend.

Der junge Herr antwortete der Dame:

»In der Tat, recht hübsch.«

»Aber es scheint auch recht einsam hier zu sein.«

»Man sieht kein anderes Haus in der Nähe,« gab der Herr zu.

Damit war das Gespräch der Beiden zu Ende, oder unterbrochen.

Die Dame schaute wieder durch das Fenster, der kleine Herr blickte nachdenklich vor sich nieder.

Bald darauf bemerkte die Wirthstochter, wie der größere Herr dem kleinen einen Wink gab.

Der Kleine sah es, obwohl er niederblickte; er erhob das Gesicht und sah fragend zu dem Großen auf.

Dieser zeigte nach der Ausgangsthür des Zimmers.

Der Kleine nickte wie zustimmend.

Der Große verließ schweigend das Zimmer.

Die Dame hatte nichts gesehen. Ihre Blicke waren durch das Fenster in die Abendlandschaft gerichtet.

Die Sonne war untergegangen; in der Schlucht war es dunkel geworden; in der Ebene begann es zu dunkeln. Nur in den Kronen der Bäume oben auf dem Berge war noch das Abendlicht.

Die Dame am Fenster schien in tiefem Nachdenken in die weite Ebene hineinzuschauen.

Die Wirthstochter war noch mit ihrer Arbeit in dem zweiten Zimmer beschäftigt. Sie hatte durch die offene Thür das geheimnißvolle einverständliche Winken der beiden Herren gesehen. Es war ihr aufgefallen. Noch mehr wurde ihre Neugierde geweckt durch das Gespräch, das sich nach der Entfernung des größeren Herrn zwischen dem kleineren und der Dame entspann.

»Sie sind so nachdenklich!« sagte der kleine Herr zu der Dame.

»Ich habe wohl Ursache,« war die Antwort.

»Sie machen sich gewiß unnöthige Sorgen.«

»Wolle Gott es!«

»Meine besten Wünsche begleiten Sie,« fuhr der kleine Herr darauf fort. »Sie sind mir auf dieser Reise eine so liebe Freundin geworden.«

»Freundin,« sagte der junge Herr zu der jungen Dame. Die Wirthstochter horchte hoch auf.

Die Dame drückte dem kleinen Herrn die Hand.

»Die Trennung von Ihnen wird mir recht schwer,« sagte der kleine Herr.

Die Erwiderung der Dame darauf setzte die Wirthstochter in eine solche Verwunderung, daß sie glaubte, falsch gehört zu haben.

Beide sprachen dann leise weiter, so daß die Wirthstochter in dem andern Zimmer nichts mehr verstehen konnte.

Sie war mit ihrer Arbeit fertig und verließ das Zimmer.

Im Gehen hörte sie noch den kleinen Herrn lauter zu der Dame sagen:

»Aber geben wir uns so trüben Gedanken nicht hin. An dem letzten Abend, den wir zusammen verleben, wollen wir vergnügt sein.«

»Wer sind die Reisenden?« fragte unten die Tochter des Wirths und Posthalters ihren Vater.

»Baron Lange aus Kurland, nebst Begleitung, steht in dem Passagierzettel,« war die Antwort.

»Der große Herr wird der Baron sein,« meinte dabei der Posthalter.

»Es muß so sein,« versicherte die Tochter. »Die beiden Andern sind Frauen.«

Der Vater sah sie verwundert an.

»Beide?«

»Beide, Vater. Und der kleine Herr ist die Frau des Barons. Er kam mir gleich verdächtig vor.«

Woher sie ihre Mitwissenschaft habe, fragte sie der Vater.

Sie erzählte, als der kleine Herr zu der Dame gesagt, die Trennung von ihr werde ihm schwer werden, habe die Dame erwidert:

»O, meine liebe Baronin, und ich werde immer mit Liebe Ihrer gedenken.«

»Du hast dich verhört,« meinte der Posthalter.

»Wäre das nicht um so schlimmer, Vater?«

»Aber wozu die Verkleidung?«

»Vornehme Herrschaften haben manchmal allerlei Einfälle.«

Der Sohn des Posthalters kam dazu.

Der Posthalter war Wittwer.

Er hatte zwei Kinder, seine Tochter Anna, die ihm die Wirthschaft führte, und einen jüngeren Sohn, Theodor, einen Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren, der dem Vater im Bureau half, und auf dem Felde und in den Remisen und Ställen nachsah.

Die übrigen Bewohner des Posthofes waren Knechte und Mägde und Postillone, von denen einer zugleich Wagenmeister war.

Der Sohn des Posthalters, oder Postmeisters, wie er titulirt wurde, brachte gleichfalls eine Neuigkeit.

Der Reisende, der nach Anna's Versicherung der Baron Lange sein mußte, hatte das Haus verlassen, auf dem Hofe sich nach allen Seiten umgesehen und war dann nach der Bergschlucht gegangen, an deren Eingang die Poststation lag. Dem Knaben, der auf dem Hofe sich beschäftigte oder auch nicht beschäftigte, war aufgefallen, daß der fremde Herr so angelegentlich nach Allem blickte, und sich dabei noch den Anschein zu geben suchte, als schlendere er nur für nichts und wieder nichts umher. Er war dem Fremden, ohne daß dieser es gewahrte, von weitem gefolgt.

Zwischen dem Posthofe und der Bergschlucht lag zur Seite ein Teich, der besonders zur Pferdeschwemme diente, und dessen Wasser nicht gar sauber war. Nach der Seite des Posthauses hin war sein Ufer mit dichten Weiden bepflanzt, so daß man von dem Hause her das Wasser nicht sehen konnte.

Der Teich hatte die Aufmerksamkeit des Fremden erregt; er war an ihn herangetreten, hatte sich dabei umgeschaut, ob er gesehen werde, und hatte ihn dann, als er sich allein glaubte, wie prüfend und messend umschritten. An dem äußeren Ende hatte er sogar eine Latte, die am Ufer lag, in das Wasser gesteckt, als wenn er dessen Tiefe messen wollte. Dann hatten seine Augen wieder das Posthaus gesucht, als wenn er berechnen wollte, wie weit es entfernt sei.

Darauf war er in die Schlucht gegangen.

In dieser befand sich wieder ein Teich. Es war ein Fischteich, mit klarem und durchsichtigem Wasser.

Der Fremde schien die Umgebung zu prüfen. Außerhalb der Schlucht war von dem Teiche nichts zu sehen; die Bergwände und davor stehendes dichtes Gebüsch verbargen ihn völlig. Dasselbe Buschwerk umgab ihn auch fast auf allen weiteren Seiten, so daß man ihn erst entdeckte, wenn man nahe bei ihm war.

Das waren die Nachrichten, die der Knabe brachte.

»Was hatte er an den Teichen zu thun?« fragte der Knabe.

Der Vater und die Schwester fragten es sich gleichfalls.

Keiner hatte eine Antwort.

»Aber er hat Etwas vor, und ich werde ihm aufpassen,« sagte der Knabe.

Und die Schwester nahm sich dasselbe vor.

Das Mädchen und der Knabe hatten mit richtigem Sinne geahnt.

Karoline Wild war der Name der Dame, die mit dem Baron Lange aus Kurland reiste.

Sie war aus Westpreußen gebürtig. Sie war eine Waise. Ihr Vater war ein kleiner Beamter ohne Vermögen gewesen. Er hatte dem einzigen Kinde, damit sie nach seinem Tode sich eine Existenz verschaffen könne, eine vortreffliche Ausbildung geben lassen. Sie war Erzieherin geworden. Als solche war sie auch zu dem Töchterchen einer adeligen Dame in die Nähe von Danzig gekommen. Das Kind war nach Verlauf eines Jahres gestorben. Die Dame hatte Gefallen an der Erzieherin gefunden und sie bei sich behalten als Gesellschafterin, noch mehr als Freundin.

Karoline Wild war ein treuer, edler, aufopfernder Charakter. Sie hatte sich so bei der Erziehung, nachher bei der Pflege des Kindes bewiesen. Sie bewegte sich ferner so gegenüber der Dame. Diese war kränklich; Karoline Wild blieb ihre treue Pflegerin, bis der Tod sie von ihr trennte.

In dem Testamente der Dame fand sich für Karoline Wild ein Vermächtniß von zweitausend Thalern ausgesetzt; außerdem war ihr eine Menge der feinsten Leinwand und der besten Kleider der Verstorbenen hinterlassen.

Ein Jahr vor dem Tode der alten Dame hatte Karoline Wild sich mit einem jungen Kaufmann in Danzig verlobt.

Reinhard Sommer war gebürtig aus demselben kleinen Städtchen, das die Heimat der Erzieherin war. Nur wenige Jahre älter als diese, war er mit dieser zusammen aufgewachsen, bis man ihn, fünfzehn Jahre alt, in eine Handlung nach Danzig gebracht hatte. Er war ein hübscher Knabe, sie schon als Kind schön. Sie war sinnig und mild; er war feurig, lebhaft, unternehmend. Er war der Beschützer des Mädchens gegen die Rohheiten der andern Kinder; sie hielt ihn von manchem gefährlichen Streiche zurück, trat bittend und begütigend für ihn ein, wenn er zu weit gegangen war.

So war zwischen den Beiden ein Verhältniß herzlicher Zuneigung, inniger Anhänglichkeit entstanden.

Es hatte wohl noch feste Fasern in ihren Herzen, als sie sich nach Verlauf von beinahe zehn Jahren in Danzig wiedersahen.

Karoline Wild war damals zweiundzwanzig Jahre alt, Reinhold Sommer zählte fünfundzwanzig. Sie war Gesellschafterin der adeligen Dame, die auf einem Gute nahe bei der Stadt lebte; er war Commis in einem angesehenen Handlungshause Danzigs. Sie war eine ungewöhnlich schöne jugendliche Erscheinung. Er gehörte zu den schönsten jungen Männern der Danziger Kaufmannschaft.

Die Herzen Beider waren seit ihren Kinderjahren frei geblieben.

War es ein Wunder, daß sie, nachdem sie sich wiedergefunden hatten, sich einander wieder nähern mußten, und dann gar nicht mehr von einander lassen konnten?

Sie verlobten sich.

Freilich waren sie Beide ohne Vermögen. Sie hatte nur ihre gute Station und ihr Salair als Gesellschafterin, was beides sie ihrem Manne nicht einmal zubringen konnte. Er hatte nur sein Gehalt als Commis, wovon sie Beide nicht leben konnten.

Allein er war als tüchtiger Kaufmann bekannt, dem nur die Gelegenheit, vielmehr die Fonds bisher befehlt hatten, um auch ein reicher Kaufmann zu werden. Was ihm so fehlte, sollte sich gerade jetzt finden. In dem Handlungshause, in dem er angestellt war, hatte ein junger reicher Mann aus dem südlichen Deutschland als Volontär gearbeitet. Reinhard Sommer und Albert von Brandeis waren Freunde geworden. Wenige Monate nach seiner Verlobung mit Karoline Wild erhielt Sommer einen Ruf von seinem Freunde, mit einem Geschäftsantheile in sein Geschäft einzutreten, das er nach dem Tode des Vaters übernommen habe. Er nahm an.

Die beiden Verlobten waren die glücklichsten Menschen. Reinhard Sommer war der Compagnon eines großen Handlungshauses; er konnte, er mußte ein reicher, ein angesehener Mann werden; alle Träume und Pläne seines Ehrgeizes mußten sich erfüllen. Er konnte schon in kurzer Frist seine geliebte Braut heimführen, um sie zur Theilhaberin seines Reichthums, seines Ansehens zu machen. Die bescheidene Karoline Wild dachte nur an die baldige Verbindung mit dem Geliebten.

Reinhard Sommer war nach seiner neuen Heimath abgegangen. Das Geschäft, in das er eintrat, war reicher und großartiger, als er es sich gedacht hatte. Seine Briefe an die Braut athmeten nur Liebe und Glück. Liebe und Hoffnung sprachen sich in den Briefen der Braut aus.

Ein halbes Jahr nach seiner Abreise schrieb Sommer an die Verlobte, daß seine Stellung nunmehr eine völlig feste und gesicherte sei, und daß ihrer Verbindung nichts mehr im Wege stehe. Er bat sie, für diese Alles in Danzig zu ordnen, und sodann mit den zu der Trauung erforderlichen Dokumenten zu ihm kommen. Zu der Trauung könne er leider nicht nach Danzig reisen, seine Geschäfte erlaubten seine längere Abwesenheit nicht; sie müßten sich also in ihrem neuen Wohnorte trauen lassen.

Die Begebenheiten, die wir hier erzählten, ereigneten sich zu einer Zeit, wo man noch keine Telegraphen und keine Eisenbahnen kannte, Eilposten nur auf den größeren Verkehrsstraßen bestanden, eine Reise von dem Norden nach dem Süden Deutschlands hin und zurück Monate in Anspruch nahm.

Karoline Wild fügte sich gern dem Verlangen ihres Verlobten. Sie besorgte das Aufgebot in Danzig, ließ sich die zur Trauung erforderlichen Dokumente ausstellen.

Als sie dann den Tag ihrer Abreise dem Verlobten anzeigen wollte, verfiel die Dame, deren Gesellschafterin sie war, plötzlich in eine schwere Krankheit. Karoline konnte ihre Wohlthäterin, ihre Freundin nicht verlassen. Sie hielt bei ihr aus, bis erst nach sechs bis acht Wochen der Tod der alten Dame eintrat. Sie mußte dann weitere vier Wochen warten auf die Eröffnung des Testaments der Dame und auf die Auslieferung ihres Vermächtnisses.

Endlich konnte sie dem Verlobten den Tag ihrer Abreise mittheilen.

Sie reiste ab, ohne seine Antwort abzuwarten. Sie hatten ja Alles brieflich verabredet; er hatte in allen seinen Briefen an sie über den Aufschub der Reise geklagt. Der Posteingang war ein so langsamer.

Sie nahm ihr Vermögen mit. Zweitausend Thaler in Golde, einen großen Koffer voll der feinsten, glänzendsten Leinwand, mit Anderem. Ein paar hundert Thaler, die sie sich gespart, hatte sie noch außerdem. Sie war überglücklich, in die neue Haushaltung das Alles zubringen zu können.

Die zweitausend Thaler trug sie in ihr Korset eingenäht bei sich. Das andere Geld, soweit sie seiner nicht für die Reise bedurfte, hatte sie in dem Koffer mit der Leinwand verwahrt.

Von Danzig bis Berlin reiste sie mit der Eilpost.

Von Berlin wollte sie mit der gewöhnlichen Post zu ihrem Bestimmungsorte fahren. Sie hatte noch an achtzig Meilen; die Post fuhr darüber mehr als vierzehn Tage; eine Eilpostverbindung dahin bestand nicht.

In dem Gasthofe zu Berlin bot sich ihr eine andere Reisegelegenheit dar.

Sie war in einem der besten Gasthöfe abgestiegen. Als allein reisende Dame konnte sie sich da am sichersten fühlen. Sie war am Abend angelangt, hatte sich in den Speisesaal begeben und zog von dem Oberkellner Erkundigungen über die Weiterreise am andern Morgen ein. Unterdeß waren neue Fremde angekommen, ein Herr und eine Dame. Sie besprachen sich gleichfalls mit dem Oberkellner über ihre fernere Reise. Ihr Reiseziel war Stuttgart. Sie wollten mit Extrapost fahren, früh um fünf Uhr am folgenden Morgen. Sie trugen dem Kellner auf, ihnen bei Zeiten die Pferde zu besorgen.

Nach Stuttgart! Nur wenige Meilen von Stuttgart lag, zur Seite von der geraden Heerstraße, das Reiseziel der jungen Dame. Der Kellner sprach darüber mit ihr; mit dem Herrn, dem er die Extrapost bestellen sollte. Man sah sich gegenseitig an. Man schien an einander Gefallen zu finden. Der Herr erklärte, ihm und seiner Frau werde die Gesellschaft des Fräuleins angenehm sein. Er hatte sich in das Fremdenbuch als Baron Lange nebst Frau aus Kurland eingeschrieben. Karoline Wild war erfreut, unter so willkommenem Schutze ihre Reise fortsetzen zu können.

Der Baron trug dem Kellner auf, die Extrapost zu bestellen für den Baron Lange nebst Begleitung.

Die Baronin und Karoline Wild machten noch am Abend nähere Bekanntschaft mit einander. Die Baronin war entzückt von der einfachen, stillen, anspruchslosen Liebenswürdigkeit des Fräuleins. Karoline Wild befreundete sich mit dem heiteren, lebhaften Wesen der jungen und schönen Baronin, die, wenn auch keine besondere Ausbildung, doch Herzlichkeit und Gutmüthigkeit zu besitzen schien.

Der Baron war ernst, still, sprach wenig, bewies aber dem Fräulein eine ausgesuchte Höflichkeit.

Am folgenden Morgen fuhren sie pünktlich um fünf Uhr ab.

Der Wagen war Eigenthum des Barons; es war ein ebenso eleganter als bequemer Reisewagen.

Der Baron Lange hatte von Karoline Wild nur den dritten Theil der baar ausgelegten Extrapostkosten verlangt. Sie war damit einverstanden.

Es war noch nicht ganz hell, als sie in den Wagen stiegen.

Die Baronin war in einen weiten Mantel gehüllt, dessen Capputze ihren Kopf und den größten Theil ihres Gesichts bedeckte.

Karoline Wild, oder wie sie auf der Reise hieß, das Fräulein, hatte nicht besonders darauf geachtet.

Desto mehr wurde sie überrascht, als auf der zweiten Station die Baronin den Mantel abwarf und darunter in Herrenkleidung erschien.

Die Baronin lachte in ihrer munteren Weise über die Verwunderung des Fräuleins.

»Es ist eine Marotte von mir,« sagte sie. »So sehe ich aus wie ein hübscher junger Mensch von achtzehn Jahren, und ich entgehe allem dem Zwange, dem eine Dame, auch wenn sie mit ihrem Manne reist, auf Reisen unterworfen ist.«

Karoline Wild hatte keine Bedenken darüber. Ein Anderes wollte ihr dann aber doch auffallen.

Sie fuhren nur bei Tage. Wegen der nicht immer guten Straße konnten sie täglich im Durchschnitt nicht mehr als zehn bis zwölf Meilen zurücklegen. Sonderbar war es dabei, daß sie ihr Nachtquartier immer nur auf einer einsamen, im Walde oder im Felde gelegenen Poststation nahmen, niemals in einer Stadt oder auch nur in einem Dorfe. Der Baron hatte das stets so einzurichten gewußt. Kamen sie des Abends, wenn auch schon etwas spät, auf einer Station in Stadt oder Dorf an, so hatte er regelmäßig irgend einen Grund für die Weiterfahrt zu der nächsten einsam gelegenen Station. Andererseits blieben sie auf einer solchen, wenn sie auch noch bequem die nächste Stadt hätten erreichen können.

Damit stand ein Anderes in Verbindung.

Regelmäßig verließ der Baron bald nach ihrer Ankunft an die Station des Nachtquartiers die beiden Damen auf eine Viertel- oder halbe Stunde. Dann hatte er nach dem Wagen sehen wollen, ob er in der Remise gut untergebracht sei; dann habe er mit dem Postmeister über die morgige Tour gesprochen; oder er habe auch nur noch eine Promenade gemacht. Gewöhnlich war er bei seiner Rückkehr in tiefen Gedanken, und die Baronin gab sich sichtlich Mühe, ihn durch allerlei Scherze und Neckereien aufzuheitern.

Ein paarmal glaubte das Fräulein auch, des Morgens bei ihrem Erwachen eine dumpfe Schwere in ihrem Kopfe und eine ungewohnte Ermattung in ihren Gliedern zu fühlen. Sie hatte aufgeweckt werden müssen, und sie hatte Mühe gehabt, zur klaren Besinnung zu kommen.

Indeß sie setzte dieß auf die ungewohnte Anstrengung der Reise und achtete mit der Zeit auch auf das Andere nicht sonderlich mehr. Ihre beiden Reisegefährten blieben immer gleich freundlich und höflich gegen sie.

Und doch schwebte Karoline Wild fast in jedem Nachtquartiere ihrer Reise in großer Lebensgefahr.

Der Baron Lange und Frau waren ein Schwindlerpaar, die auf Verbrechen die Welt durchzogen. Er war hauptsächlich falscher Spieler, gelegentlich aber auch Dieb und Räuber und noch mehr. Seine schöne, gewandte und verschmitzte Frau war unter der Maske der Gutmüthigkeit und Einfalt seine würdige Genossin, die ihm Gimpel und Nichtgimpel als Opfer zuführte oder festhielt, an seinen Verbrechen auch wohl unmittelbaren Theil nahm.

So zogen die Beiden von dem einen Ende Europa's zu dem anderen, bald unter diesem, bald unter jenem Namen, immer unter einem aristokratischen.

In Berlin hatte der Baron Unglück gehabt. Er war als reicher russischer Graf aufgetreten, als Abenteurer und falscher Spieler entlarvt worden. In derselben Stunde verließ er seinen Gasthof und kehrte als Baron Lange aus Kurland in einem anderen Hotel ein, um unter diesem Namen früh am folgenden Morgen mit Extrapost zur Aufsuchung neuer und besserer Abenteuer abzureisen. Um sich vor gefährlicher Verfolgung noch mehr zu sichern, mußte seine Frau Herrenkleidung tragen.

Karoline Wild war dem Verbrecherpaare aufgefallen. Ihre äußere Erscheinung zeigte Wohlhabenheit; sie wollte die weite Reise machen; der Kellner, der über ihre Mitreise verhandelte, theilte mit, daß sie einen großen, schweren Reisekoffer bei sich führe.

»Sie muß Geld bei sich führen!« sagten sich die Blicke des Ehepaares.

Und Geld hatten sie doppelt nöthig. Der Baron war auch unter Berliner Gauner gerathen und, anstatt zu rupfen, gerupft worden.

»Wenn wir,« hatte er schon zu seiner Frau gesagt, »nicht bald einen Fang machen, so müssen wir unseren Wagen verkaufen.«

Sein schöner Reisewagen war sein Stolz und gab ihm, wo er mit ihm eintraf, von vornherein ein gewisses Ansehen.

»Sie hat Geld; wir werden ihr Geld haben!« Das war der feste Vorsatz der beiden Verbrecher von dem Momente an, da sie mit Karoline über die gemeinschaftliche Reise verhandelten, das blieb ihr Zweck während dieser Reise.

Aber wie den Zweck erreichen?

Skrupulös waren sie in der Wahl der Mittel oder des Mittels nicht. Karoline Wild hatte kein Mißtrauen, schenkte aber auch ihren Reisegefährten kein volles Vertrauen. Sie theilte ihnen nur mit, daß sie zu ihrem Verlobten reise und ihr Koffer ihre Aussteuer enthalte.

»Aber nicht ihr Geld!« sagten sich die Verbrecher.

Und schon am Morgen des zweiten Reisetages theilte die Baronin ihrem Manne eine Entdeckung mit:

»Sie trägt ihr Geld an ihrem Körper, in das Korset eingenäht.«

»Dann ist es eine große Summe!« war der erste Schluß des Barons.

Sein zweiter war: »Sie wird es mit ihrem Leben vertheidigen!«

Eigentlich waren es nur die Prämissen seines Schlußsatzes:

»So muß sie ihr Leben dafür lassen!«

Und nun machten die Gatten ihre Mordplane.

Schon am ersten Tage hatte Karoline Wild gegen die Baronin den Wunsch ausgesprochen, in den fremden Nachtquartieren nicht zu weit von ihr getrennt zu werden. Sie hatte ja, wie gesagt, nicht das mindeste Mißtrauen gegen ihre Reisegefährten. So ließen sie sich für die Nacht zwei Zimmer anweisen; in dem einen schlief der Baron mit seiner Frau, in dem anderen das Fräulein. Die Verbindungsthür wurde nur in das Schloß gelegt, so daß sie zu jeder Zeit von jeder Seite geöffnet werden konnte. In das Zimmer des Fräuleins wurde ihr Koffer gebracht.

»Sie bekommt,« so war der Plan des Gatten, »einen Schlaftrunk, und wird dann in ihrem Bette erwürgt, am besten mit ihrem eigenen Strumpfbande. Der Leichnam wird sofort aus dem Hause getragen und in der Nähe an irgend einem geeigneten Orte verborgen.«

Der Plan war einfach und entschieden.

Eine Schwierigkeit bot nur der Umstand dar, daß am Abend drei Personen angekommen waren und am Morgen nur zwei wieder abreisen sollten. Indeß, man nahm es nicht zu schwer. Die Baronin wußte Rath.

»Wir fahren ab, wenn es noch dunkel ist, Extrapostpferde müssen sie uns auch in der Nacht geben. Wir Beide steigen zuerst ein, daß man uns sieht; ich schlüpfe dann in einem unbewachten Augenblicke wieder aus, kehre in das Haus zurück, und bin, in Mantel und Hut des Fräuleins, wieder da. So fahren wir zu Dritt wieder ab, wie wir gekommen sind.«

Dreimal machten sie den Versuch, ihren Plan auszuführen.

Das erste Mal war im Fichtelgebirge. Die Station lag einsam, von hohen Bergen umringt; in den Schluchten waren Weiher mit dunklem Wasser; der Baron konnte mit einer langen Stange den Grund nicht erreichen. Das Posthaus lag mit seinen Nebengebäuden offen, ohne jegliche Umzäunung.

»Hier!« sagte der Baron zu seiner Frau. »Eine bessere Gelegenheit finden wir nicht wieder. Wie bringen wir ihr nur, ohne daß sie Argwohn schöpft, den Schlaftrunk bei?«

Karoline Wild kam den Mördern entgegen.

Sie hatte Kopfweh, sie klagte es der Baronin.

»Wünschen Sie ein Glas Glühwein, meine Liebe?«

Das Fräulein war einverstanden.

Der Baron war dienstfertig, wie freilich immer. Er begab sich selbst in die Küche, um die Bereitung des Glühweins zu überwachen, damit man guten Wein nehme. Er trug dann selbst das Glas in das Zimmer. Im Gange goß er Opium hinzu. Ein Opiumfläschchen trug er bei sich.

Das Fräulein trank ohne Arg, verspürte rasch die Wirkung des Trunkes, wurde von der mitleidigen Baronin zu Bette gebracht, war bald tief und fest eingeschlafen.

»Jetzt zur Arbeit!«

Es war zehn Uhr Abends, also noch Zeit genug.

Sie öffneten zuerst die Verbindungsthür zu dem Zimmer des Fräuleins.

Die Schlafende lag vorn im Bett.

»Die Schnur legt sich wie von selbst an,« sagte der Baron.

Die Baronin hatte vorher an Anderes gedacht. Sie suchte nach den Schlüsseln zu dem großen Koffer. Sie fand sie nicht.

»Sie wird sie unter ihrem Kopfkissen haben,« sagte sie zu ihrem Manne.

Der Baron hob vorsichtig den Kopf der Schlafenden auf.

Die beiden Schlüssel, mit einem kleinen Lederriemen zusammengebunden, lagen unter dem Kissen.

Die Baronin nahm sie.

Die Schlafende hatte keine Bewegung gemacht. Sie war wie eine Todte unter den Händen der Verbrecher.

»Ob sie wirklich das Geld unter dem Korset trägt?« sagte die Baronin.

Sie fühlte mit leichter Hand an dem Korset, das die Schlafende nicht abgelegt hatte.

»Das halbe Mieder ist vollgenäht!« flüsterte sie.

Sie hätte fester zufassen, sie hätte lauter sprechen können. Die Schlafende war ohne alle Empfindung.

Die Augen der Verbrecher leuchteten.

»Ich muß noch den Koffer öffnen!« sagte die Baronin.

Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.

Die Schlüssel öffneten leicht.

Die Augen der Frau wurden glänzender. Der ganze große hohe Koffer war voll der feinsten Wäsche, der theuersten Kleider; kostbare Schmucksachen lagen dazwischen. Es waren Geschenke der verstorbenen Freundin des Fräuleins.

Der Baron hatte unterdeß eine Schnur hervorgeholt, womit das Opfer erdrosselt werden sollte.

Die Strumpfbänder der Schlafenden nahm er nicht. Sie hatte sich ihrer Strümpfe nicht entledigt.

»Vorher noch eins!« sagte der vorsichtige Baron, ehe er zum Anlegen der Schnur schritt.

»Wie schaffen wir in der Nacht den Körper aus dem Hause?«

Sie hatten ihre Zimmer eine Treppe hoch angewiesen erhalten. Bei dem vorläufigen Untersuchen des Hauses hatte sich der Baron die Ausgangsthüren desselben gemerkt. Es waren ihrer drei: die gewöhnliche Hauptthür vorn, eine aus der Küche führende Hinterthür, eine Seitenthür aus der Scheune. War eine von ihnen in der Nacht offen? Dies mußte der Baron wissen. Es war eilf Uhr geworden. Im Hause war Alles dunkel und still. Der Baron ging die Treppe hinab. Die Hausthür war verschlossen und der Schlüssel war nirgends zu entdecken. Der Baron trat an die Scheune, aber er kehrte schnell um. Die Knechte schliefen darin; er hörte das Sprechen von dreien oder vieren. Er hätte nur über ihre Leiber zu der Thür gelangen können, die in's Freie führte. Die Küchenthür blieb noch. Der Baron kam ohne Hinderniß in die Küche, er schlich zu der nach außen führenden Thür. Der Schlüssel steckte im Schloß. Der Baron drehte, die Thür öffnete sich. Aber der Baron flog mit einem Satze zurück, als wenn ein wildes Thier auf ihn losspränge. Und in der That wollte so etwas auf ihn anspringen.

Unmittelbar vor der Thür lag ein Hund an der Kette. Unter dem wüthenden Geheul des Thieres schlug der Baron die Thür wieder zu, eilte die Treppe hinauf zu seinem Zimmer zurück.

»Es ist für heute Nacht nichts!« sagte er zu seiner Frau.

Er erzählte ihr.

Sie sprach vom Vergiften des Hundes.

Sie hatte all' das Gold in dem Korset gefühlt, die kostbaren Sachen in dem Koffer gesehen!

Der Baron hatte für heute den Muth verloren.

Der Koffer wurde wieder zugeschlossen, der kleine Schlüsselbund unter das Kopfkissen zurückgebracht, der Mord auf die nächste Nacht verschoben.

Karoline Wild hatte bei ihrem Erwachen am andern Morgen nichts gemerkt, die Schwere in ihrem Kopfe dem Kopfweh des gestrigen Abends zugeschrieben.

Für die nächste Nacht ließ der Baron sich die Zimmer zur ebenen Erde geben. Sie gingen auf den Hof; der Hof war von einer hohen Mauer eingeschlossen, hatte aber eine tiefe Pfütze.

»Hier geht es!« sagte der Baron zu seiner Frau. »Wir lassen die Leiche durch das Fenster, ich steige ihr nach, in zwanzig Schritten bin ich mit ihr an der Pfütze. In frühestens acht bis vierzehn Tagen können sie sie da finden.«

Karoline Wild erhielt wieder ihren Schlaftrunk. Aber noch bevor sie fest schlief, kamen vier bis fünf Fuhrleute, blieben zur Nacht, stellten ihre Frachtwagen gerade vor den Fenstern des Barons und des Fräuleins auf und eine Nachtwache zu den Wagen.

Wiederum war nichts zu machen.

Eine einsame Station, in der an Ausführung des Verbrechens zu denken war, wurde erst wieder gefunden an dem Fuße des waldigen Berges, am Eingange der Schlucht, mit der Front nach der weiten Ebene, dort, wo wir die drei Reisenden beim Beginn unserer Erzählung fanden.

Hier mußte das Verbrechen ausgeführt werden, wenn es nicht ganz aufgegeben werden sollte.

Es war die letzte Station, auf der die Reisenden zusammen waren. Am andern Morgen mußte Karoline Wild sich von ihren Gefährten trennen, um allein durch das Gebirge zu der Fabrikstadt zu fahren, in der ihr Verlobter wohnte und, wie sie glaubte, sie erwartete, während der Baron und seine Frau ihre Reise auf der großen Poststraße nach Stuttgart fortsetzten.

Sie hatten zwei Zimmer neben einander bekommen, wie früher, freilich nicht zu ebener Erde, sondern eine Treppe hoch.

Aber der Baron hatte bald seine Untersuchung angestellt und nicht nur die Pferdeschwemme neben dem Hofe, sondern auch weiter in der Schlucht den Fischteich gefunden, und was die Lage der Zimmer im ersten Stock betraf, so sagte er zu seiner Frau:

»Ich trage die Todte die Treppe hinunter und öffne unten ein Küchenfenster, wenn keine Thür offen ist. Hier muß und soll es geschehen. – Verzehren wir unser Abendbrod!«

Anna, die Tochter des Posthalters, brachte ihnen das Abendessen hinauf.

Sie hatte es in der Stube des Barons angerichtet.

Die Verbindungsthür zu dem Zimmer des Fräuleins stand offen.

Man sah durch sie das Bett des Fräuleins und zur Seite ihren Koffer.

Die Drei verzehrten gemeinsam ihr Abendbrot.

Der Baron war heute zum ersten Male herzlich; früher war er bei aller seiner Herzlichkeit kalt und verschlossen gewesen. Das war wohl seine Natur.

Die Baronin, die bisher fröhlich, gesprächig, die theilnehmende Freundin gewesen war, zeigte sich jetzt still, träumerisch.

Still und in sich gekehrt war auch Karoline Wild; es schien ihr schwer auf dem Herzen zu liegen.

»Ob sie etwas gemerkt hat?« fragten die Augen der Baronin den Gatten.

»Laß du dir nur nichts merken,« gab sein strenger Blick ihr zurück.

»Es thut mir doch recht leid, Fräulein Wild, daß wir uns trennen müssen,« sagte der Baron.

Das Fräulein erwiderte: »Ich werde Ihnen Beiden für Ihre Güte gegen mich stets ein dankbares Andenken bewahren.«

»Mich tröstet,« sagte der Baron, »daß Sie so glücklichen Ereignissen und Verhältnissen entgegengehen.«

Karoline Wild konnte nur mit einem Seufzer antworten.

»Ihr Verlobter kennt den Tag Ihrer Ankunft nicht?« fragte der Baron.

»Er kann mich nur in diesen oder den nächsten Tagen erwarten.«

Die Baronin glaubte auch etwas sagen zu müssen.

»Warum meldeten Sie ihm nicht genau den Tag Ihrer Ankunft, meine Liebe?«

»Ich hätte es erst gestern oder heute gekonnt; der Brief wäre nach mir bei ihm eingetroffen.«

Es war so. Die Briefposten gingen damals langsamer als die Extraposten.

»Es ist Schade, meine Liebe,« sagte die Baronin. »Ihr Verlobter hätte Sie hier abgeholt. Wir hätten die Freude des Wiedersehens mit Ihnen getheilt.«

»Aber wir müssen auf diese Freude trinken!« rief der Baron.

Die Tochter des Wirthes war gerade im Zimmer.

»Mamsell, besorgen Sie uns eine kleine Bowle Glühwein.«

Das Mädchen ging.

Am Tische setzten Sie das Gespräch fort.

»Wann werden Sie morgen bei Ihrem Verlobten eintreffen können?«

»Ich höre, daß ich noch drei Stunden werde fahren müssen.«

»Sie werden einen Wagen von hier nehmen?«

»Es war meine Absicht.«

»Wir wollen schon früh um Fünf morgen fahren, um bei Zeiten in Stuttgart einzutreffen. Es dürfte für Sie wohl noch zu früh sein!«

»Freilich,« sagte das Fräulein. »Ich käme dann schon um acht Uhr an meinem Bestimmungsorte an; ich würde stören.«

»Sie können sich also recht ausschlafen, meine Liebe,« sagte die Baronin.

Das Fräulein antwortete nicht.

Man hörte in dem Augenblicke draußen ein Posthorn blasen.

Der Baron war aufmerksam geworden.

»Eine Extrapost!« sagte er.

»So spät noch?« fragte die Baronin.

Es war halb zehn Uhr.

»Reisende, welche die Nacht durchfahren!« bemerkte der Baron.

Er trat doch an das Fenster.

Er war unruhig geworden. Die Reisenden, die ankamen, konnten auch die Nacht da bleiben wollen.

»Dann wäre alles verloren,« sagten die Blicke des Mörders der Mörderin.

»Rasch die Pferde!« hörte er unten auf dem Hofe eine befehlende Stimme rufen.

Er athmete auf.

Die Tochter des Wirths trug die Bowle Glühwein in das Zimmer.

Ihr Bruder Theodor begleitete sie. Er öffnete ihr die Thür, war ihr auch sonst behülflich, indem sie zugleich den Tisch abräumte. Er war auch wohl neugierig. Es war ihm ja schon bald nach der Ankunft der Fremden Manches an ihnen aufgefallen.

Anna, die Tochter des Wirths, wollte die Bowle auf den Tisch stellen, an dem die Reisenden ihr Abendbrod verzehrt hatten.

Der Tisch stand in der Mitte des Zimmers; sie saßen noch alle Drei daran.

»Tragen Sie es dorthin, bis sie abgeräumt haben,« befahl der Baron dem Mädchen.

Er zeigte auf einen kleinen Tisch, der in der Ecke des Zimmers stand.

Anna trug die Bowle dahin.

Die Baronin begann ein Gespräch mit dem Mädchen.

»Eben kam noch eine Extrapost an?«

»Mit zwei Herren,« antwortete Anna.

»Werden Sie heute Nacht hier bleiben?«

»Nein, sie waren im Gegentheile sehr eilig. Sie wollten sogleich weiter. Da werden die neuen Pferde schon angespannt.«

Der Baron war unterdeß an den kleinen Seitentisch getreten, auf dem die Bowle stand.

Es war dunkel in der Ecke.

Die Augen des neugierigen und argwöhnischen Theodor folgten ihm mit desto schärferer Aufmerksamkeit.

Der Baron schien es zu bemerken, daß er von dem Knaben beobachtet wurde.

Er nahm ein Glas, schenkte es sich zur Hälfte voll, setzte es an die Lippen.

»Der Wein ist gut!« sagte er wie für sich.

»Ein vortrefflicher Glühwein!« rief er dann zu den beiden Damen hin.

Zugleich schenkte er zwei Gläser voll und füllte auch das dritte, aus dem er getrunken hatte.

Alle drei Gläser stellte er auf einen Präsentirteller.

Dann sah er sich rasch nach dem Knaben um, ob er noch beobachtet werde.

Aber der Bursch war gewandt. Er half schon seiner Schwester beim Aufnehmen der Messer und Gabeln.

Der Baron glaubte sich unbemerkt.

Rasch hatte er eine ganz kleine Flasche aus der Brusttasche hervorgeholt. Geräuschlos entpfropfte er sie.

Mehr sah der Knabe nicht.

Seine Schwester war mit dem Abräumen fertig, verließ das Zimmer.

Er mußte ihr folgen.

Im Hinausgehen warf er noch einen Blick nach dem Seitentisch, an dem der Baron stand. Aber er konnte nicht sehen, was dieser machte. Der Baron hatte ihm den Rücken zugewendet.

Draußen an der Thür blieb er dennoch horchend stehen.

Er hörte den Baron sprechen, wieder an dem Tische in der Mitte des Zimmers.

»Dieses Glas, wenn ich bitten darf, Fräulein Wild,« sagte der Baron.

Es war, als wenn sie zuerst ein anderes habe nehmen wollen.

»Ob sie es nimmt?« fragte sich der Knabe.

Er eilte seiner Schwester nach.

»Anna, es ist mir so ängstlich, als müsse es heute Nacht da ein Unglück geben.«

Er erzählte.

»Du mußt nicht zu mißtrauisch sein, Theodor,« verwies sie ihn. »Es war anfangs auch mir Manches aufgefallen. Aber ich gab nachher genau Acht; ich bemerkte nichts weiter.«

Im Zimmer stießen die Drei an.

»Auf ein fröhliches Wiedersehen mit Ihrem Verlobten, Fräulein!«

»Darauf müssen Sie einen tüchtigen Trunk thun, meine Liebe. Sehen Sie, ich mache es auch so.«

Die Baronin machte es so.

Zu einer bösen That hat man Muth nötig. Der edle Wein giebt ihn dazu.

»Auf Ihre baldige Hochzeit, meine Liebe!«

Sie stießen auch darauf an, und sie thaten Alle wieder einen tüchtigen Trunk darauf.

Aber in demselben Augenblicke waren sie alle Drei bleich geworden, und Karoline Wild mußte mit ihrem kreideweißen Gesichte ihr Glas niedersetzen.

Draußen auf dem Hofe war wieder ein Wagen an dem Hause vorgefahren. Es war wieder eine Extrapost mit Reisenden. Der Postillon blies; eine Mannesstimme sprach; zu der Stimme des Mannes gesellte sich die einer Frau. Der Wagen hielt, die Stimmen sprachen fast unmittelbar unter den Fenstern des Zimmers, in dem die drei Reisenden ihren Glühwein tranken. Rund umher war die Stille der Nacht; in dem Posthause schien sich schon Alles zur Ruhe begeben zu haben.

Durch die Stille waren die Stimmen der Sprechenden unten zu erkennen, ihre Worte zu verstehen.

»Das Haus ist verschlossen; nirgends ist Licht,« sagte die Stimme des Mannes unten.

Als Karoline Wild diese Stimme hörte, erbebte ihr ganzer Körper, wie von einem elektrischen Schlage. Sie wollte aufspringen; sie vermochte es nicht.

Da antwortete draußen die Frauenstimme, und es war eine fröhliche Stimme, und sie wurde von Lachen begleitet.

»Und,« sagte die fröhliche, lachende Stimme, »in ein verschlossenes Haus dringen wir nicht, und Licht bringen wir nicht; der Postillon fährt uns weiter und – doch, ich kann den Reim nicht weiter finden, denn ich sehe dich nicht heiter, mein Geliebter, und doch – il faut faire bonne mine à mauvais jeu –«.

Sie lachte laut.

Der Mann aber rief schon an der Hausthür und schlug den Klopfer.

»Heda, aufgemacht! Fremde wollen hier übernachten!«

Das Weinglas war der Hand des Fräuleins entglitten.

Sie war Kreideweiß, einer Leiche ähnlich, in ihren Stuhl zurückgesunken.

Der Baron hatte es nicht gewahrt. Er achtete nur auf das, was unten am Hause geschah.

Ein Fluch fuhr über seine Lippen.

Fremde wollten in dem Hause übernachten. Das brachte Unruhe, Unruhe, die vielleicht bis an den Morgen dauern konnte, die den Mordplan unausführbar machte.

Er sollte sich noch mehr entsetzen.

»Meine Liebe, was ist Ihnen?« rief die Baronin der halb Ohnmächtigen zu.

»Lassen Sie mich sterben!« war die Antwort.

»Thut der Trunk schon seine Wirkung?« flüsterte die Baronin ihrem Manne zu.

»Zum Teufel mit deinen dummen Fragen!« sagte er zurück.

Die Hausthür war aufgemacht. Es waren unten im Hause nur wenige Worte gewechselt.

Schritte kamen die Treppe herauf.

In dem Gange wurde eine Thür geöffnet. Sie lag unmittelbar dem Zimmer gegenüber, in dem der Baron sich mit den beiden Damen befand.

Die neu angekommenen Fremden sollten dort übernachten.

»Es ist Alles vorbei! Wiederum! Und es ist das letzte Mal!«

»Ein junges Ehepaar aus der benachbarten Fabrikstadt. Sie haben heute Hochzeit gemacht.«

»Ah, kennen Sie sie vielleicht?«

»Ei ja! Von der Sache wurde viel gesprochen. Die Braut, oder die junge Frau jetzt, war das reichste und schönste Mädchen in der Stadt. Sie hätte Barone und Grafen heirathen können. Da kam vor einem halben Jahre ein Freund ihres Bruders in das Haus, als so eine Art von Compagnon, wie es hieß. Die junge Dame verliebte sich in ihn. Er war ein bildhübscher Mensch. Die junge Dame war ganz närrisch verliebt in ihn. Es hieß zwar, er habe eine Braut in seiner Heimath, da unten in Preußen. Das machte sie nur noch toller. Sie hatte ihr Leben lang ihren Willen durchsetzen können. Sie wollte es jetzt erstrecht. Ihr Vater und ihr Bruder hatten ihrem Willen nachgeben müssen; sie mußten es auch jetzt, und zuletzt hat sie dann auch den jungen Mann bezwungen. Es soll ihr viele Mühe gekostet haben; aber er bekommt eine Tonne Goldes durch sie, und die Männer –«

Anna wollte wohl mit einem Gemeinplatze gegen die Männer enden, zu denen in einem Falle auch ein unerfahrenes Mädchenherz von sechzehn Jahren sich schon berechtigt hält.

»Jungfer!« rief eine übermüthig befehlende Stimme durch die Thür gegenüber.

Es war die Stimme der Neuvermählten.

Die Wirthstochter wollte zu ihr eilen.

»Noch ein Wort, Mamsell,« hielt die Baronin sie zurück.

»Was wird denn nun mit der Braut in der preußischen Heimath werden?«

»Man solle sie abkaufen, wenn sie sich meldet, hatte die junge Frau gesagt. Sie gehe mit Ihrem Manne auf Reisen.«

Anna wollte gehen. Sie wurde noch einmal aufgehalten.

Der Baron hatte plötzlich einen Gedanken und in demselben Augenblicke einen Entschluß.

»Mamsell,« sagte er, »man kann doch auch in der Nacht Extrapost bekommen?«

»Gewiß,« antwortete Anna, »zu jeder Stunde.«

Die Baronin sah ihren Mann überrascht, erwartungsvoll an.

Der Baron fuhr fort: »So bestellen Sie die Pferde für uns, daß präzise in einer Stunde angespannt ist.«

»Sehr wohl,« sagte Anna.

»Was ist ihm eingefallen?« fragte sich die Baronin.

Anna ging.

»Was hast du vor?« fragte die Baronin ihren Mann.

»Schnell an's Werk!« erwiderte er. »Du wirst es sehen.«

Er kehrte in die Stube des Fräuleins zurück.

Sie lag noch in ihrem tiefen, festen Schlafe. Ihre Gesichtszüge hatten wieder ihren vollen, schönen Ausdruck. Eine stille Trauer lag darüber ausgebreitet.

»Wie schön sie ist!« sagte die Baronin. »Die Arme!«

Sie waren Beide an das Bett der Schlafenden getreten.

»Du hast wohl Mitleid mit ihr?« sagte höhnisch der Baron.

Die Frau antwortete ihm nicht.

»Fassen wir an,« sagte er.

Er war an den schweren Koffer des Fräuleins getreten.

»Der Koffer geht mit uns,« sagte er; »tragen wir ihn in unser Zimmer.«

»Und sie?« sagte die Frau, auf die Schlafende zeigend. »Wo bleibt sie?«

»Ich weiß es noch nicht.«

Sie trugen den Koffer in ihr Zimmer.

»Jetzt weiter.«

Sie kehrten in die Stube des Fräuleins zurück.

Sie traten wieder an das Bett der Schlafenden.

Der Baron zog seine Schnur hervor, die er schon vorhin zu sich gesteckt hatte.

»Halte ihr den Kopf!« sagte er zu seiner Frau.

Die Baronin beugte sich zu der Schlafenden nieder, um ihr den Kopf zu halten.

Das augenblicklich in dem Innern der Frau erwachte Mitleid war schnell genug aus der Brust der Mörderin wieder verschwunden.

Der Baron beugte sich neben seiner Frau über die Schlafende.

Er wollte die Schnur anlegen.

Auf einmal wurde die Schlafende unruhig.

Wenn ein Schlafender scharf und starr angesehen wird, so sieht man unter den geschlossenen Lidern die Pupillen sich hin und her bewegen. Es ist, als wenn die Schärfe und Strenge des Blickes auf die geschlossenen Augen treffe, verletze. Hatte der furchtbare Blick der beiden Mörder die Unglückliche getroffen? Trotz des Schlaftrunkes?

Von den beiden Mördern hatte sie noch keine angerührt.

»Teufel!« fluchte der Baron; »sie hat zu wenig getrunken!«

Er sprach es leise.

»Herzhaft angepackt!« sagte er dann entschlossen zu seiner Frau.

Sie wollten Beide zufassen.

Da warf die Schlafende sich herum, riß weit die Augen auf, schloß sie wieder, wie vor Schreck.

Die Baronin war in Angst zurückgeflogen.

Der Baron warf sich in wilder Wuth auf die Unglückliche.

Die Schlafende öffnete noch einmal die Augen, sah den Mörder über sich, die Mordwuth in seinem Gesichte.

Sie stieß einen lauten, durchdringenden Schrei aus.

Der Mörder warf sich auf Sie, wollte ihr die Kehle zuschnüren.

Karoline Wild hatte in ihrer Todesangst Riesenkräfte gewonnen.

Sie warf den Mörder von sich, daß er taumelte; sie sprang aus dem Bette, flog an die Thür ihrer Stube, die in den Gang führte, fand sie verschlossen, flog weiter in das Zimmer der Mörder, riß hier die nicht verschlossene Gangthür auf, stürzte in den Gang.

Die Mörder hatten sie nicht aufhalten können. Die Baronin war in ihrer Angst selbst geflohen; der Baron kam zu spät.

Aber als Karoline Wild den Gang erreicht hatte, sank sie zusammen.

In der Thür gegenüber, unmittelbar vor ihr, standen ein Mann und eine Frau. Die Frau hielt ein Licht in der Hand, ihre Hand bebte. Der Mann war bleich.

Sie hatten den Schrei der Unglücklichen gehört.

Sie hatten wissen müssen, was das war. Wie sie in ihre Thür traten, sahen sie die Unglückliche in den Gang stürzen.

Karoline Wild erkannte ihren Verlobten.

Der Neuvermählte erkannte die verlassene, verrathene Braut.

»Was ist das?« fragte die junge Frau.

»Eine unglückliche Wahnsinnige, meine Gnädige!« sagte der Baron Lange.

Er war seinem Opfer gefolgt.

Karoline Wild lag ohne Besinnung am Boden.

Der Baron hob sie auf, trug sie in das Zimmer zurück.

»Ach, das war entsetzlich!« sagte die junge Frau.

Ihr Gatte hatte keine Antwort.

Er folgte ihr mechanisch in das Brautgemach.

Was sich in den Zimmern der Mörder und ihres Opfers weiter begab – die späteren gerichtlichen Verhandlungen haben es uns aufbewahrt; aber die entsetzlichen Details dieses gemeinen Raubmordes mögen mit ihrer Rohheit und Grausamkeit den Kriminalakten verbleiben.

Nach einer halben Stunde war der Baron Lange unten auf den Hof getreten. Er fand dort den alten Postillon, der den Wagenmeister machte.

»Ist mein Wagen noch nicht angespannt?« fragte ihn der Baron.

»Sie hatten erst nach einer Stunde fahren wollen,« antwortete der Mann.

»Könnten Sie nicht das Anspannen beschleunigen lassen?« bat der Baron.

»Es soll geschehen.«

Der alte Mann ging zu der Remise, in welcher der Wagen des Barons stand.

Die Remise war ganz hinten rechts auf dem Hofe.

Der Baron überzeugte sich mit einem schnellen Blick, daß Niemand weiter auf dem Hofe war.

Er eilte in das Haus zurück, war nach anderthalb Minuten wieder da.

Er trug seinen weiten Reisemantel, und unter diesem einen Gegenstand, den man nicht unterscheiden konnte.

Er ging links um das Haus herum, dort, wo ein Weg in die Schlucht führte.

Hinten in der Remise stand der alte Wagenmeister unter der offenen Thür. Er sah einen Menschen im Mantel um das Haus gehen. Er konnte ihn nicht erkennen; es war Mitternacht, und am Hause brannten keine Laternen. Er dachte sich wohl, es sei der Baron, der in der stillen, klaren Octobernacht bis zur Abfahrt des Wagens eine Promenade um das Haus mache; aber er kümmerte sich weiter nicht darum.

Nach zehn Minuten war der Baron wieder da.

In demselben Augenblicke fuhr der angespannte Wagen aus der Remise an der Hausthür vor.

Der Baron ging langsam und ruhig in das Haus, als wenn er wirklich nur einen Spaziergang gemacht habe.

In dem Wagen war nur der Postillon, der ihn aus der Remise gefahren hatte, und der ihn weiter fahren sollte bis zur nächsten Station.

Unten im Hause auf dem Hausflur stand der Wagenmeister.

Er fragte den Baron, ob die Koffer von oben geholt werden sollten.

Die Reisenden waren mit zwei Koffern angekommen, dem großen der ermordeten Karoline Wild, einem kleineren des Barons.

Er möge ihm folgen und einen Knecht zum Tragen der Koffer mitbringen, sagte der Baron dem Wagenmeister.

Auch seine Rechnung möge er mit hinaufbringen, rief ihm der Baron noch nach.

Er erstieg dann die Treppe.

Oben horchte er an der Thür des Zimmers des jungen Ehepaares; es war still darin.

Er trat in sein eigenes Zimmer.

Seine Frau stand darin reisefertig.

»Nichts vorgefallen?« fragte er sie.

»Nichts!« antwortete sie.

Sie war aufgeregt; sie konnte kaum sprechen.

Dem Baron folgten auf dem Fuße der Wagenmeister und der Postillon seines Wagens.

»Hier!« zeigte der Baron ihnen die beiden Koffer.

Sie nahmen Beide den großen Koffer; der stärkere Postillon trug zugleich den kleineren mit der andern Hand.

Sie gingen die Treppe hinunter.

In der Thür begegnete ihnen die Wirthstochter Anna. Sie brachte die Rechnung.

Der Baron zog seine Börse, sie zu bezahlen.

Das Mädchen sah sich unterdeß im Zimmer um.

»Ich sehe ja die Dame nicht, die mit Ihnen kam,« sagte sie.

Sie sagte es zu der Baronin.

Dem Baron fiel vor Schreck ein Geldstück aus der Hand. – Welche Antwort wird seine Frau geben? Er hatte nicht Zeit gehabt, mit ihr zu sprechen. Die Frau hatte schon ihre Geistesgegenwart wieder.

»Das Fräulein,« sagte sie, »war etwas unwohl geworden. Sie hat sich auf ihr Bett gelegt, um bis zur Abfahrt auszuruhen.«

Das Mädchen fragte nicht ferner.

Der Baron hatte das Geld für die Rechnung auf den Tisch gezählt.

Das Mädchen zählte die Summe nach, fand sie richtig, strich das Geld ein, sagte ihren Dank, blieb stehen, um höflich die abreisende Herrschaft nach unten, an den Wagen zu geleiten.

»Zu allen Teufeln!« fluchte der Baron in sich hinein.

Ging das Mädchen nicht, so sah sie, daß keine Dame in den Wagen stieg. Wo war die fehlende Dame, das Fräulein, die angekommen war? Die Mörder waren verloren.

Wie das Mädchen entfernen?

Die Baronin war wieder vollständig Herrin über sich selbst.

»Ach, liebe Mamsell,« bat sie, »bringen Sie mir doch geschwind ein frisches Glas Wasser herauf. Mir ist auch nicht recht wohl.«

»Auf der Stelle!« sagte das Mädchen.

Sie eilte fort.

»Jetzt rasch hinunter!« sagte die Baronin zu ihrem Manne. »Du allein. Ich warte hier auf das Glas Wasser. Wenn sie es bringt, sage ich, du seist mit dem Fräulein schon voraus. Es darf dich draußen nur niemand sehen.«

Er wußte keinen besseren Rath.

Er verließ leise das Zimmer, schlich leise die Treppe hinunter.

Was Anna zu tun hatte, war auf den Morgen zu verschieben.

Gegen halb sieben Uhr am anderen Morgen ging die Sonne auf. Sie ging klar auf über leichtem, luftigem Gewölk. Sie stand bald hell und warm am Himmel, versprach einen der schönsten Octobertage.

Bald nach sieben Uhr begab sich Anna, die Wirthstocher, mit einer Magd zu den Zimmern, in denen der Baron Lange mit seiner Begleitung logirt hatte. Die Zimmer sollten gereinigt, zur Aufnahme neuer Gäste wieder hergerichtet werden. Anna putzte die Möbel ab. Die Magd zog von den Betten die Bettwäsche.

Anna war in der Stube, welche der Baron und seine Frau bewohnt hatten; hier waren die Betten unberührt.

Die Magd war in der Stube des Fräuleins.

»Mamsell Anna!« rief das Madchen auf einmal.

»Was gibt es, Christine?«

»Bitte, kommen Sie einmal hierher.«

Die Magd sprach in einem so besonderen Tone.

Anna ging zu ihr in das andere Zimmer.

Die Magd stand mit bleichem Gesichte vor dem Bette.

»Es ist ja Blut darin,« sagte sie.

»Blut, Mädchen?«

Die Mamsell war selbst blaß geworden.

Sie sah nach.

Es war Blut im Bett; nur zwei Tropfen, noch frisch, angetrocknet schon, aber noch glänzend. Sie waren am Kopfkissen.

»Das Fräulein wird Nasenbluten gehabt haben; sie war unwohl.«

Anna sagte es. Sie wollte es auch glauben; es war etwas in ihr, daß sie es nicht recht konnte.

Sie sprach nicht weiter darüber.

Drüben in dem Zimmer des jungen Ehepaares wurde geklingelt.

Anna begab sich hin.

Das Ehepaar war auf.

Der junge Mann ging nachdenklich im Zimmer auf und ab.

Die Frau saß auf dem Sopha und befahl kurz: »Kaffee!«

Anna wollte wieder gehen.

»Ein Wort, Mamsell!« rief die Dame.

Anna stand.

»Ist die Wahnsinnige mit abgereist?«

»Eine Wahnsinnige, Madame?«

»Nun ja! Die uns gerade gegenüber logirte oder logirt! Das war ein greulicher Lärm heute Nacht. Die Person schrie, wie, wie – nun ja, wie eine Wahnsinnige!«

Der Tochter des Wirthes wollten die Glieder schwer werden, wie Blei.

Sie sagte nur, die drei Fremden, die gegenüber logirt hätten, seien abgereist.

»Alle Drei?« fragte sie dann aber sich selbst.

»Das Blut? Der Schrei?«

Das junge Ehepaar hatte seinen Kaffee getrunken, bestellte die Extrapostpferde zur Weiterreise, schaute in den schönen, warmen Morgen hinaus.

»Machen wir noch einen kleinen Spaziergang?« sagte die junge Frau. »Die Sonne scheint so warm. Deine Kopfschmerzen werden vergehen.«

Der junge Mann hatte keine Einwendung.

Er hatte still am Fenster gestanden, bleich, in tiefen Gedanken.

Die Frau hatte besorgte Blicke für ihn, mißtrauische fast.

Sie verließen das Haus.

»Wohin?« fragte der Mann draußen.

Es schien ihm Alles gleichgiltig zu sein. Er folgte ihr willenlos.

Sie führte ihn in die Schlucht.

»Die Sonne scheint dort so freundlich in die Zweige der Bäume,« sagte sie.

Er blickte nicht auf.

Sie hing sich an seinen Arm.

»Liebst Du mich, Reinhard?«

Konnte er Ja sagen?

Er hatte sich ehrgeizig und leichtsinnig dem Leichtsinn, der Gefallsucht, dem Eigensinn verkauft; nicht bloß sich, auch die treue Jugendgeliebte.

Sie hatte er in der Nacht wiedergesehen, als eine Wahnsinnige.

Wahnsinnig durch ihn? Durch seinen Anblick?

Konnte er lügen: Ja ich liebe dich?

Er schwieg.

Sie wollte aufbrausen.

»Hast du mich belogen? Schwurst du mir nicht deine Liebe?«

Mit einem furchtbaren Aufschrei riß er sich von ihr los.

Sie hatten den Teich in der Schlucht erreicht.

Sie gingen an seinem klaren und durchsichtigen Wasser entlang.

Die Morgensonne schien klar hierauf, hinein.

Auf seiner Oberfläche schwamm ein menschlicher Körper, eine Leiche, eine Frauengestalt, in einem schwarzseidenen Kleide, mit einem schönen, jugendlichen, schneeweißen Gesichte, mit einer Schnur um den Hals.

»Karoline!« schrie Reinhard Sommer auf.

»Die Wahnsinnige!« rief die junge Frau.

Er wollte sich zu der Verrathenen in den Teich stürzen.

Die Frau umklammerte ihn, rief um Hülfe.

Vom Posthause her kam Hülfe.

Reinhard Sommer wurde vor dem Selbstmord bewahrt.

Aber seine Frau kehrte mit einem Wahnsinnigen von der kaum begonnenen Hochzeitsreise in die Heimath zurück.

Im Posthause war kein Zweifel mehr über den Mord.

»Kurierpferde!« rief der Postmeister, dessen Haus nicht als eine Räuber- und Mördergrube gelten durfte.

Er fand die Mörder noch in Stuttgart, bei ihnen das geraubte Gut.

Sie konnten nicht lange läugnen.

Sie wurden gehängt.

Reinhard Sommer genas nicht wieder, er wurde in ein Irrenhaus gebracht.

Seine Frau ließ sich von dem Irren scheiden und nahm nach einem Jahre einen anderen Mann.


 << zurück