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Was ist Kunst?

Wir stehen dieser großen Welt Auge in Auge gegenüber, und mannigfach sind unsre Beziehungen zu ihr. Eine derselben ist die Notwendigkeit zu leben: wir müssen den Boden beackern, uns Nahrung suchen, uns kleiden, und zu allem muß uns die Natur den Stoff liefern. Da wir unausgesetzt bemüht sein müssen, unsre Bedürfnisse zu befriedigen, sind wir in beständiger Berührung mit der Natur. So halten Hunger und Durst und all unsre physischen Bedürfnisse die stete Beziehung zu dieser großen Welt aufrecht.

Aber wir haben auch einen Geist, und dieser Geist sucht sich seine eigene Nahrung. Auch er hat seine Bedürfnisse. Er muß den Sinn der Dinge finden. Er steht einer Vielfältigkeit von Tatsachen gegenüber und ist verwirrt, wenn er kein einheitliches Prinzip finden kann, das die Verschiedenartigkeit der Dinge vereinfacht. Der Mensch ist so veranlagt, daß er sich nicht mit Tatsachen begnügen kann, sondern gewisse Gesetze finden muß, die ihm die Last der bloßen Zahl und Menge erleichtern.

Doch es ist noch ein drittes Ich in mir neben dem physischen und geistigen, das seelische Ich. Dies Ich hat seine Neigungen und Abneigungen und sucht etwas, das sein Bedürfnis nach Liebe erfüllt. Dies seelische Ich gehört der Sphäre an, wo wir frei sind von aller Notwendigkeit, wo die Bedürfnisse des Körpers und des Geistes keinen Einfluß haben, wo nach Nutzen oder Zweck nicht gefragt wird. Dies seelische Ich ist das Höchste im Menschen. Es hat seine eigenen persönlichen Beziehungen zu der großen Welt und sucht persönliche Befriedigung in ihr.

Die Welt der Naturwissenschaft ist nicht eine Welt der Wirklichkeit, sondern eine abstrakte Welt der Kräfte. Wir können sie uns mit Hilfe unsres Verstandes zunutze machen, aber wir können sie nicht mit unsrer Seele erfassen. Sie gleicht einer Schar von Handwerkern, die, wenn sie auch Dinge für uns als persönliche Wesen herstellen, doch bloße Schatten für uns sind.

Aber es gibt noch eine andre Welt, die Wirklichkeit für uns hat. Wir sehen sie, wir fühlen sie, wir nehmen mit all unsern Empfindungen an ihr teil. Doch wir können sie nicht erklären und messen, und daher bleibt sie uns ewig geheimnisvoll. Wir können nur in freudigem Erkennen sagen: »Da bist du ja.«

Dies ist die Welt, von der die Naturwissenschaft sich abwendet, und in der die Kunst ihren Sitz hat. Und wenn es uns gelingt, die Frage, was Kunst ist, zu beantworten, so werden wir auch wissen, was für eine Welt es ist, mit der die Kunst so nahe verwandt ist.

Es ist an sich keine wichtige Frage. Denn die Kunst wächst wie das Leben selbst aus eigenem Antrieb, und der Mensch freut sich an ihr, ohne daß er sich genau klar macht, was sie ist. Und wir könnten diese Frage ruhig im Untergrunde des Bewußtseins schlummern lassen, wo alles Lebendige im Dunkel gehegt und genährt wird.

Aber wir leben in einem Zeitalter, wo unsre Welt um und um gekehrt und alles, was auf dem Grunde verborgen lag, an die Oberfläche gezerrt wird. Selbst den Vorgang des Lebens, der ganz unbewußt ist, bringen wir unter das Seziermesser der Wissenschaft, – auf Kosten des Lebens selbst, das wir durch unsre Untersuchung in ein totes Museumsexemplar verwandeln.

Die Frage »Was ist Kunst?« ist oft aufgeworfen und auf verschiedene Weise beantwortet worden. Solche Erörterungen bringen immer etwas von bewußter Absicht in ein Gebiet hinein, wo sowohl das Schaffen wie das Genießen spontan und nur halb bewußt ist. Sie gehen darauf aus, unser Kunsturteil mit ganz bestimmten Maßstäben zu versehen. Und so hören wir heutzutage Kunstrichter nach selbstgefertigten Regeln ihr vernichtendes Urteil fällen über das, was seit Jahrhunderten als groß und unsterblich anerkannt wurde.

Diese meteorologische Störung in der Sphäre der Kunstkritik, die ihren Ursprung im Abendlande hat, ist auch an unsre Küste nach Bengalen gekommen und trübt unsern klaren Himmel mit Nebel und Wolken. Auch wir haben angefangen, uns zu fragen, ob Schöpfungen der Kunst nicht danach beurteilt werden sollten, entweder wie weit sie geeignet sind allgemein verstanden zu werden, oder was für eine Lebensphilosophie sie enthalten, oder wieviel sie zur Lösung der großen Zeitprobleme beitragen, oder ob sie etwas zum Ausdruck bringen, was dem Geist des Volkes, dem der Dichter angehört, eigentümlich ist. Wenn also die Menschen allen Ernstes dabei sind, für die Kunst Normen und Maßstäbe aufzustellen, die gar nicht zu ihrem Wesen gehören, wenn man sozusagen die Herrlichkeit eines Flusses von dem Gesichtspunkt des Kanals aus beurteilt, können wir die Frage nicht auf sich beruhen lassen, sondern müssen uns in die Debatte einmischen.

Sollten wir zunächst versuchen, den Begriff »Kunst« zu definieren? Aber wenn man lebendige Dinge zu definieren sucht, so heißt dies im Grunde, daß man sein Gesichtsfeld einengt, um deutlicher sehen zu können. Und Deutlichkeit ist nicht ohne weiteres die einzige oder wichtigste Seite bei der Wahrheit. Die Blendlaterne gibt uns ein deutliches, aber nicht ein vollständiges Bild. Wenn wir ein Rad in Bewegung kennen lernen sollen, so macht es nichts, wenn wir die Speichen nicht zählen können. Wenn es nicht auf die Genauigkeit seiner Form, sondern auf die Schnelligkeit seiner Bewegung ankommt, so müssen wir uns mit einem etwas undeutlichen Bilde des Rades begnügen. Lebendige Dinge sind eng verwachsen mit ihrer Umgebung und ihre Wurzeln reichen oft tief hinab in den Boden. Wir können in unserm Erkenntniseifer die Wurzeln und Zweige eines Baumes abhauen und ihn in einen Holzklotz verwandeln, der sich leichter von Klasse zu Klasse rollen und in einem Lehrbuch darstellen läßt. Aber man kann doch nicht sagen, daß solch ein Holzklotz, weil er nackt und deutlich vor aller Augen liegt, vom Baum als Ganzem ein richtigeres Bild gäbe.

Daher will ich nicht versuchen, den Begriff der Kunst zu definieren, sondern ich will nach dem Grunde ihres Daseins fragen und herauszufinden suchen, ob sie um irgendeines sozialen Zweckes willen da ist, oder um uns ästhetischen Genuß zu verschaffen, oder ob sie entstanden ist aus dem Bedürfnis, unser eigenes Wesen zum Ausdruck zu bringen.

Man hat sich lange um das Wort »L'art pour l'art« gestritten, das bei einem Teil der abendländischen Kritiker in Mißkredit gekommen ist. Es ist ein Zeichen, daß das asketische Ideal des puritanischen Zeitalters wiederkehrt, wo Genuß als Selbstzweck für sündhaft gehalten wurde. Aber jeder Puritanismus ist eine Reaktion. Er kann die Wahrheit nicht mit unbefangenem Auge und daher nicht in ihrer wahren Gestalt sehen. Wenn der Genuß die unmittelbare Berührung mit dem Leben verliert und in der Welt seiner künstlich und mühsam ausgearbeiteten Konventionen immer wählerischer und phantastischer wird, dann kommt der Ruf nach Entsagung, die das Glück selbst als eine Schlinge des Verderbens von sich weist. Ich will mich nicht auf die Geschichte der modernen Kunst einlassen, ich fühle mich hierzu durchaus nicht kompetent, doch ich kann als allgemeine Wahrheit behaupten: wenn der Mensch seinen Trieb nach Freude zu unterdrücken sucht und ihn in einen bloßen Trieb nach Erkenntnis oder Wohltun umwandelt, so muß der Grund darin liegen, daß seine Freudefähigkeit ihre natürliche Frische und Gesundheit verloren hat.

Die Ästhetiker im alten Indien trugen kein Bedenken zu sagen, daß Freude, selbstlose Freude, die Seele der Dichtkunst sei. Aber das Wort »Freude« muß richtig verstanden werden. Wenn wir es analysieren, so zeigt uns sein Spektrum eine unendliche Reihe von Streifen, deren Farbe und Intensität je nach den verschiedenen Welten unendlich verschieden ist. Die Welt der Kunst enthält Elemente, die ganz offenbar nur ihr angehören und Strahlen aussenden, die ihre besondere Leuchtkraft und Eigentümlichkeit haben. Es ist unsre Pflicht, sie zu unterscheiden und ihrem Ursprung und Wachstum nachzugehen.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen ist der, daß das Tier fast ganz in den Schranken seiner Bedürfnisse eingeschlossen ist, da der größte Teil seiner Tätigkeit zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung der Gattung nötig ist. Es hat, wie der Kleinhändler, keinen großen Gewinn auf dem Markt des Lebens, sondern die Hauptmasse seiner Einnahme muß als Zins auf die Bank gezahlt werden. Es braucht den größten Teil seiner Mittel nur, um sein Dasein zu fristen. Aber der Mensch ist auf dem Markte des Lebens ein Großkaufmann. Er verdient sehr viel mehr, als er unbedingt ausgeben muß. Daher hat das Leben des Menschen ein ungeheures Übermaß von Reichtum, das ihm die Freiheit gibt, Verantwortung und Nutzen in weitem Maße außer acht zu lassen. An den Bereich seiner Bedürfnisse schließen sich noch weite Gebiete, deren Gegenstände ihm Selbstzweck sind.

Die Tiere brauchen bestimmte Kenntnisse, die sie für ihre Lebenszwecke anwenden müssen. Aber damit begnügen sie sich auch. Sie müssen ihre Umgebung kennen, um Obdach und Nahrung finden zu können, sie müssen die Eigentümlichkeiten bestimmter Dinge kennen, um sich Wohnungen bauen zu können, die Anzeichen der verschiedenen Jahreszeiten, um sich dem Wechsel anpassen zu können. Auch der Mensch braucht bestimmte Kenntnisse, um leben zu können. Aber der Mensch hat einen Überschuß, von dem er stolz behaupten kann: das Wissen ist um des Wissens willen da. Dies Wissen gewährt ihm reine Freude, denn es ist Freiheit. Dieser Überschuß ist der Fonds, von dem seine Wissenschaft und Philosophie lebt.

Wiederum hat auch das Tier ein gewisses Maß von Altruismus: den Altruismus der Elternschaft, den Altruismus der Herde und des Bienenstocks. Dieser Altruismus ist unbedingt nötig zur Erhaltung der Gattung. Aber der Mensch hat mehr. Zwar muß auch er gut sein, weil es für die Gattung nötig ist, aber er geht weit darüber hinaus. Seine Güte ist nicht eine magere Kost, die nur gerade genügt, um sein sittliches Dasein kümmerlich zu fristen. Er kann mit vollem Recht sagen, daß er das Gute um des Guten willen tut. Und auf diesem Reichtum an Güte, – die die Ehrlichkeit nicht darum schätzt, weil sie die beste Politik ist, sondern weil sie mehr wert ist als Politik und es sich leisten kann, aller Politik Trotz zu bieten – auf diesen Reichtum an Güte gründet sich die Sittlichkeit des Menschen.

Auch die Idee »L'art pour l'art« hat ihren Ursprung in dieser Region des Überflusses. Wir wollen daher versuchen festzustellen, welche Tätigkeit es ist, aus deren Überschuß die Kunst entsprießt.

Für den Menschen wie für die Tiere ist es ein Bedürfnis, ihre Gefühle der Lust und Unlust, der Furcht, des Zorns und der Liebe zum Ausdruck zu bringen. Bei den Tieren gehen diese Gefühlsausdrücke wenig über die Grenzen der Nützlichkeit hinaus. Aber wenn sie auch beim Menschen noch in ihrem ursprünglichen Zweck ihre Wurzel haben, so sind sie doch aus ihrem Boden hoch in die Luft emporgewachsen und breiten ihre Zweige nach allen Richtungen weit in den unendlichen Himmel. Der Mensch hat einen Vorrat an Gefühlskraft, den er für seine Selbsterhaltung nicht verbraucht. Dieser Überschuß sucht seinen Ausfluß in der Kunstschöpfung, denn die Kultur des Menschen baut sich auf seinem Überfluß auf.

Der Krieger begnügt sich nicht mit dem Kampf, zu dem ihn die Notwendigkeit zwingt, er hat auch das Bedürfnis, seinem gesteigerten Kriegerbewußtsein durch Musik und Schmuck Ausdruck zu geben, was nicht nur nicht notwendig, sondern unter Umständen geradezu selbstmörderisch ist. Ein Mensch von starker Religiosität verehrt seine Gottheit nicht nur mit aller Andacht, sondern sein religiöses Gefühl verlangt nach Ausdruck in der Pracht des Tempels und in dem reichen Zeremoniell des Gottesdienstes. Wenn in unserm Herzen ein Gefühl erregt wird, das weit hinausgeht über das, was der Gegenstand, der es hervorbrachte, in sich aufnehmen kann, so schlagen seine Wogen wieder auf uns zurück und erwecken unser Bewußtsein von uns selbst. Wenn wir arm sind, ist unsre ganze Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, auf die Gegenstände, die wir zur Stillung unsres Bedürfnisses erwerben müssen. Aber wenn unser Reichtum weit größer ist als unsre Bedürfnisse, so fällt sein Licht auf uns zurück, und wir haben das frohlockende Gefühl, daß wir reich sind. Daher kommt es, daß von allen Geschöpfen nur der Mensch sich selbst kennt, weil sein Erkenntnistrieb sich draußen nicht ausgibt und so zu ihm selbst zurückkehrt. Er fühlt seine Persönlichkeit intensiver als andere Geschöpfe, weil seine Fähigkeit zu fühlen durch die Gegenstände außer ihm nicht erschöpft wird. Dies Bewußtsein seiner Persönlichkeit will sich zum Ausdruck bringen. Daher offenbart der Mensch in der Kunst sich selbst und nicht die Gegenstände. Diese haben ihren Platz in wissenschaftlichen Lehrbüchern, wo er selbst sich ganz verbergen muß.

Ich weiß, mancher wird Anstoß daran nehmen, wenn ich das Wort Persönlichkeit gebrauche, das einen so weiten Sinn hat. Solche unbestimmten Wörter können Begriffe nicht nur verschiedenen Umfangs, sondern auch verschiedener Art umschließen. Sie sind wie Regenmäntel, die in der Halle hinter der Haustür hängen und von zerstreuten Besuchern, die kein Eigentumsrecht an sie haben, weggenommen werden können.

Als Wissender ist der Mensch noch nicht völlig er selbst, durch sein bloßes Wissen offenbart er noch nicht sein Wesen. Aber als Persönlichkeit ist er ein Organismus, der von Natur die Macht hat, sich die Dinge aus seiner Umgebung auszusuchen und sich zu eigen zu machen. Er hat seine Anziehungs- und Abstoßungskraft, durch die er nicht nur Dinge um sich her anhäuft, sondern auch sein Selbst hervorbringt. Die hauptsächlichsten schöpferischen Kräfte, welche die Dinge in unser lebendiges Selbst umwandeln, sind Gefühlskräfte. Ein religiöser Mensch ist als solcher eine Persönlichkeit, aber er ist es nicht als bloßer Theologe. Sein Gefühl für das Göttliche ist schöpferisch. Aber sein bloßes Wissen um das Göttliche läßt sich nicht in sein eigenes Wesen umwandeln, weil ihm der schöpferische Funke des Gefühls fehlt.

Wir wollen versuchen, uns klarzumachen, worin diese Persönlichkeit besteht und welcher Art ihre Beziehungen zur äußeren Welt sind. Diese Welt erscheint uns als eine Einheit, und nicht als ein bloßes Bündel unsichtbarer Kräfte. Dies verdankt sie, wie jeder weiß, zum großen Teil unsern eigenen Sinnen und unserm eigenen Geiste. Diese Welt der Erscheinungen ist die Welt des Menschen. Sie erhält ihre charakteristischen Züge in bezug auf Gestalt, Farbe und Bewegung durch den Umfang und die Qualitäten unsrer Wahrnehmung. Sie ist das, was unsre beschränkten Sinne eigens für uns erworben, aufgebaut und umgrenzt haben. Nicht nur die physischen und chemischen Kräfte, sondern auch die Wahrnehmungskräfte des Menschen sind die in ihr wirksamen Faktoren, denn es ist eine Welt des Menschen und nicht eine abstrakte Welt der Physik oder Metaphysik.

Diese Welt, die durch die Form unsrer Wahrnehmung ihre Gestalt erhält, ist doch erst die unvollkommene Welt unsrer Sinne und unsres Verstandes. Sie kehrt als Gast bei uns ein, aber nicht als Verwandter. Erst im Bereich unsres Gefühls machen wir sie uns ganz zu eigen. Wenn unsre Liebe und unser Haß, unsre Freude und unser Schmerz, unsre Furcht und unser Staunen beständig auf sie wirken, wird sie ein Teil unsrer Persönlichkeit. Sie wächst und wandelt sich, wie wir wachsen und uns wandeln. Wir sind groß oder klein in dem Maße, wie wir sie uns einverleiben. Wenn diese Welt verschwände, so würde unsre Persönlichkeit ihren ganzen Inhalt verlieren.

Unsre Empfindungen sind die Magensäfte, die diese Welt der Erscheinungen in die innere Welt der Gefühle umwandeln. Doch auch diese äußere Welt hat ihre besonderen Säfte, die ihre besonderen Eigenschaften haben, kraft deren sie unser Gefühlsleben anregen. Eine Dichtung enthält solche Säfte. Sie bringt uns Vorstellungen, die durch Gefühle Leben erhalten haben und die unsre Natur als Lebenssubstanz aufnehmen kann.

Bloße Mitteilung von Tatsachen ist nicht Literatur, denn die bloßen Tatsachen hängen nicht mit unserm innern Leben zusammen. Wenn man uns immer die Tatsachen wiederholte, daß die Sonne rund, das Wasser durchsichtig und das Feuer heiß ist, so wäre dies unerträglich. Aber eine Schilderung der Schönheit des Sonnenaufgangs verliert nie ihr Interesse für uns, denn hier ist es nicht die Tatsache, sondern das Erlebnis des Sonnenaufgangs, was der Gegenstand unsres dauernden Interesses ist.

Die Upanischaden lehren, daß wir den Reichtum lieben nicht um des Reichtums willen, sondern um unsrer selbst willen. Das heißt: wir fühlen uns selbst in unserm Reichtum, und daher lieben wir ihn. Die Dinge, die unsre Gefühle erregen, erregen unser Selbst-Gefühl. Es ist, wie wenn wir die Harfensaite berühren: ist die Berührung zu schwach, so spüren wir nichts anderes als die Berührung selbst; aber wenn sie stark ist, so kehrt sie in Tönen zu uns zurück und erhöht unser Bewußtsein.

Es gibt die Welt der Naturwissenschaft. Aus ihr ist alles Persönliche sorgfältig ausgeschieden. Hier sind unsre Gefühle nicht am Platze. Aber zu der großen weiten Welt der Wirklichkeit stehen wir in persönlicher Beziehung. Wir müssen sie nicht nur erkennen und dann beiseite lassen, sondern wir müssen sie fühlen, denn indem wir sie fühlen, fühlen wir uns selbst.

Aber wie können wir unsre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, die wir nur durch unser Gefühl kennen? Ein Naturwissenschaftler kann das, was er gelernt hat, durch Analyse und Experiment bekannt machen. Aber was ein Künstler zu sagen hat, kann er nicht einfach durch lehrhafte Auseinandersetzung ausdrücken. Um zu sagen, was ich von der Rose weiß, genügt die einfachste Sprache, aber ganz anders ist es, wenn ich sagen will, was ich bei der Rose empfinde. Dies hat nichts mit äußeren Tatsachen oder Naturgesetzen zu tun, sondern ist eine Sache des Schönheitssinnes, der nur durch den Schönheitssinn wahrgenommen werden kann. Daher sagen unsre alten Meister, daß der Dichter Worte brauchen muß, die ihren eigenen Duft und ihre eigene Farbe haben, die nicht nur reden, sondern malen und singen. Denn Bilder und Lieder sind keine bloßen Tatsachen, sie sind persönliche Erlebnisse. Sie sind nicht nur sie selbst, sondern drücken auch unser Selbst aus. Sie lassen sich nicht analysieren und haben unmittelbaren Zugang zu unserm Herzen.

Wir müssen allerdings zugeben, daß der Mensch auch in der Welt des Nützlichen seine Persönlichkeit offenbart. Aber hier ist Selbstoffenbarung nicht sein erster und wesentlicher Zweck. Im Alltagsleben, wo wir zumeist durch unsre Gewohnheiten bestimmt werden, sind wir sparsam damit, denn dort ist unser Seelenbewußtsein im Zustand der Ebbe; es hat eben Fülle genug, um in den Rinnen seiner Gewohnheit dahinzugleiten. Aber wenn unser Herz in Liebe oder in einem andern großen Gefühl voll erwacht, dann hat unsre Persönlichkeit ihre Flutzeit. Dann möchte sie ihr innerstes Wesen offenbaren, – nur um der Offenbarung willen. Dann kommt die Kunst, und wir vergessen die Forderungen der Notdurft und die Vorteile der Nützlichkeit, – dann suchen die Türme unsres Tempels die Sterne zu küssen und die Töne unsrer Musik die Tiefe des Unaussprechlichen zu ergründen.

Die Energien des Menschen, die in zwei getrennten Bahnen, der des Nutzens und der der Selbstoffenbarung, nebeneinander herlaufen, haben immer das Bestreben, sich zu treffen und zu vereinen. Um unsre Gebrauchsgegenstände lagert sich nach und nach eine ganze Schicht von Gefühlen, die die Kunst einladen, sie zu offenbaren. Und so tut sich im verzierten Schwert des Kriegers sein Stolz und seine Liebe kund, und im prunkenden Weinkelch die Kameradschaftlichkeit festlicher Gelage.

In der Regel zeichnet sich das Bureau des Rechtsanwalts nicht gerade durch Schönheit aus, und das ist begreiflich. Aber in einer Stadt, wo die Menschen stolz sind auf ihr Bürgertum, müssen die öffentlichen Gebäude durch ihre Bauart diesen Stolz zum Ausdruck bringen. Als der Sitz der britischen Regierung von Kalkutta nach Delhi verlegt und dies die Hauptstadt wurde, beratschlagte man über den Baustil, den die neuen Gebäude haben sollten. Einige waren für den indischen Stil der Mongolenzeit – den Stil, der aus der Vereinigung des mongolischen und des indischen Geistes entsprungen war. Man übersah dabei die Tatsache, daß jede echte Kunst ihren Ursprung im Gefühl hat. Sowohl das mongolische Delhi wie das mongolische Agra bringen in ihren Bauten menschliche Persönlichkeit zum Ausdruck. Die Mongolenkaiser waren Menschen, nicht bloße Verwaltungsbeamte. Sie lebten und starben, liebten und kämpften in Indien. Das Andenken an ihre Herrschaft lebt nicht in Trümmern von Fabriken und Amtsgebäuden, sondern in unsterblichen Werken der Kunst, nicht nur der Baukunst, sondern auch der Malerei, der Musik, des Kunsthandwerks in Stein und Metall und der Webekunst. Aber die britische Regierung in Indien hat nichts Persönliches. Sie ist amtlich und daher abstrakt. Sie hat nichts in der wahren Sprache der Kunst auszudrücken. Denn Gesetz, mechanische Tüchtigkeit und Ausbeutung gestaltet sich nicht zu steinernen Heldengedichten. Lord Lytton Edward Robert Bulwer-Lytton, Sohn des Dichters Edward Bulwer und selbst Dichter, 1876-80 Vizekönig von Indien., der zu seinem Unglück mit mehr Phantasie ausgestattet war als ein indischer Vizekönig braucht, versuchte eine der mongolischen Staatsfeierlichkeiten, die Durbar pers. durbâr oder darbâr, Audienz, öffentlicher Empfang der mongolischen Fürsten.-Zeremonie, nachzumachen. Aber solche Staatsfeierlichkeiten sind Kunstwerke. Sie haben ihren natürlichen Ursprung in der wechselseitigen persönlichen Beziehung zwischen dem Volk und seinem Monarchen. Wenn sie nachgemacht werden, tragen sie alle Anzeichen der Unechtheit.

Wie sich Zweckmäßigkeit und Gefühl in verschiedenen Formen zum Ausdruck bringen, sehen wir, wenn wir die Kleidung des Mannes mit der der Frau vergleichen. Der Mann vermeidet im allgemeinen alles Überflüssige, was nur als Schmuck dient. Die Frau dagegen wählt von Natur das Dekorative, nicht nur in ihrer Kleidung, sondern auch in ihrem Benehmen und in ihrer ganzen Lebensart. Sie muß schön und harmonisch sein, um das zu offenbaren, was sie in Wahrheit ist, denn sie ist durch die Aufgabe, die sie in dieser Welt hat, konkreter und persönlicher als der Mann. Sie will nicht nach ihrem Nutzen gewertet werden, sondern nach der Freude, die sie gibt. Daher ist sie immer darauf bedacht, nicht ihren Beruf, sondern ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.

Da nun der Ausdruck der Persönlichkeit und nicht der irgendeiner abstrakten oder analysierbaren Sache auch das Hauptziel der Kunst ist, so bedient sie sich mit Notwendigkeit der Sprache der Malerei und Musik. Dies hat uns zu der falschen Annahme geführt, daß die Hervorbringung von Schönheit das Ziel der Kunst sei. Doch die Schönheit ist für die Kunst nichts weiter als ein Mittel, sie ist nicht ihr ganzer und letzter Sinn.

Infolgedessen hat man oft die Frage erörtert, ob nicht die Form mehr als der Stoff das wesentliche Element der Kunst sei. Mit solchen Erörterungen kommt man ebensowenig zum Ziel, als wollte man ein bodenloses Faß mit Wasser füllen. Denn man geht dabei von der Vorstellung aus, daß die Schönheit das letzte Ziel der Kunst sei, und da der Stoff an sich nicht die Eigenschaft der Schönheit haben kann, fragt man sich, ob nicht die Form der wesentliche Faktor der Kunst sei.

Aber auf dem Wege der Analyse werden wir das wahre Wesen der Kunst nie entdecken. Denn das wahre Prinzip der Kunst ist das Prinzip der Einheit. Wenn wir den Nährwert gewisser Speisen wissen wollen, so müssen wir die Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen, untersuchen; aber ihr Geschmackswert besteht in ihrer Einheit und läßt sich nicht analysieren. Sowohl Stoff wie Form sind Abstraktionen, die wir vornehmen; der Stoff für sich genommen fällt der naturwissenschaftlichen Betrachtung zu, die Form als solche fällt unter die Gesetze der Ästhetik. Aber wenn sie unlösbar eins sind, finden sie die Gesetze ihrer Harmonie in unsrer Persönlichkeit, die ein organischer Komplex von Stoff und Form, Gedanken und Dingen, Motiven und Handlungen ist.

Daher sehen wir, daß alle abstrakten Ideen in der wahren Kunst nicht am Platze sind; um Zutritt zu gewinnen, müssen sie persönliche Gestalt annehmen. So kommt es, daß die Dichtkunst Worte zu wählen sucht, die voll von Leben sind, Worte, die nicht nur der bloßen Mitteilung dienen und durch beständigen Gebrauch abgegriffen sind, sondern in unserm Herzen Heimatrecht haben. Zum Beispiel ist das deutsche Wort »Bewußtsein« noch nicht aus seinem scholastischen Verpuppungszustand zum Schmetterlingsdasein vorgedrungen, daher kommt es in der Poesie selten vor, während das ihm entsprechende indische Wort cetana lebendige Kraft hat und in der Dichtkunst ganz heimisch ist. Dagegen ist das deutsche Wort »Gefühl« von Leben durchblutet, aber das bengalische anubhûti findet in der Dichtung keinen Zutritt, weil es nur Sinn, aber keinen Duft hat. Und so gibt es auch naturwissenschaftliche und philosophische Wahrheiten, die Farbe und Geschmack des Lebens gewonnen haben, und andere, die abstrakt und unpersönlich geblieben sind. Solange sie dies sind, müssen sie wie ungekochte Gemüse beim Festmahl der Kunst draußen bleiben. Solange die Geschichte sich die Naturwissenschaft zum Vorbild nimmt und sich in Abstraktionen bewegt, bleibt sie außerhalb der Domäne der Literatur. Aber wenn sie Begebenheiten darstellt, stellt sie sich dem Epos an die Seite. Denn die Darstellung von Begebenheiten bringt uns die Zeit, in der sie sich zutrugen, persönlich nahe. Durch sie wird jene Zeit für uns lebendig; wir fühlen ihren Herzschlag.

Die Welt und des Menschen Persönlichkeit stehen sich Antlitz in Antlitz gegenüber wie Freunde, die ihre innersten Geheimnisse austauschen. Die Welt fragt den innern Menschen: »Freund, siehst du mich? liebst du mich? – nicht als einen, der dir Nahrung und Genuß verschafft, nicht als einen, dessen Gesetze du entdeckt hast, sondern als persönliches Wesen?«

Der Künstler antwortet: »Ja, ich sehe dich, ich kenne und liebe dich, – nicht weil ich deiner bedarf, nicht weil ich deine Gesetze zu meinen eigenen Machtzwecken brauchen will. Ich kenne die Kräfte, die in dir wirken und treiben und die zu Macht führen, aber das ist es nicht. Ich sehe und liebe dich da, wo du mir gleich bist.«

Aber wie können wir wissen, daß der Künstler dieses Welt-Ich erkannt und von Angesicht zu Angesicht geschaut hat?

Wenn wir jemand zum erstenmal begegnen, der noch nicht unser Freund ist, so bemerken wir zahllose unwesentliche Züge, die beim ersten Blick unsre Aufmerksamkeit anziehen; und in dem Gewirr der verschiedenen Einzelheiten verlieren wir den, der unser Freund werden sollte.

Als unser Schiff an der japanischen Küste landete, befand sich unter den Passagieren ein Japaner, der von Rangoon in die Heimat zurückkehrte, während wir andern zum erstenmal in unserm Leben diese Küste betraten. Es war ein großer Unterschied in der Art, wie wir Ausschau hielten. Wir sahen jede kleine Besonderheit, und unzählige bedeutungslose Dinge zogen unsre Aufmerksamkeit an. Aber der Japaner tauchte sogleich in die Persönlichkeit, in die Seele des Landes ein, wo seine eigene Seele Befriedigung fand. Er sah weniger Dinge als wir, aber was er sah, war die Seele Japans. Zu ihr konnte man nicht gelangen, indem man eine möglichst große Masse von Einzelheiten ins Auge faßte, sondern durch etwas Unsichtbares, das tiefer lag. Weil wir all jene unzähligen Dinge sahen, sahen wir Japan nicht besser als er, im Gegenteil, die Dinge verbauten uns das eigentliche Japan.

Wenn wir jemand, der nicht Künstler ist, bitten, irgendeinen besonderen Baum zu zeichnen, so versucht er, jede Einzelheit genau wiederzugeben, aus Furcht, die Eigentümlichkeit könne sonst verloren gehen; er vergißt, daß die Eigentümlichkeit des Baumes nicht seine Persönlichkeit ist. Doch wenn der wahre Künstler kommt, so kümmert er sich nicht um die Einzelheiten und geht auf das, was wesentlich und charakteristisch für den Baum ist.

Auch unser Verstand sucht für die Vielheit der Dinge ein inneres, einheitliches Prinzip; er sucht sich von den Einzelheiten zu befreien und in den Kern der Dinge einzudringen, wo sie eins sind. Aber der Unterschied ist der: der Naturwissenschaftler sucht ein unpersönliches Einheitsprinzip, das sich auf alle Dinge anwenden läßt. Er zerstört zum Beispiel den menschlichen Leib, der etwas Individuelles ist, um der Physiologie willen, die unpersönlich und allgemein ist.

Aber der Künstler erkennt das Eigenartige, das Individuelle, das im Kern des Universalen ist. Wenn er den Baum ansieht, so sieht er im Baum das Einzigartige, nicht das allgemein Typische wie der Botaniker, der alles in Klassen einteilt. Es ist die Aufgabe des Künstlers, die Eigenart dieses einen Baumes darzustellen. Wie macht er das? Nicht indem er die besondere Eigentümlichkeit aufweist, die der Mißklang der Eigenart ist, sondern die Seele, die Persönlichkeit des Baumes, die Harmonie ist. Daher muß er den Zusammenklang dieses einen Dinges mit allen Dingen ringsum zum Ausdruck bringen.

Die Größe und Schönheit der orientalischen, besonders der japanischen und chinesischen Kunst besteht darin, daß die Künstler diese Seele der Dinge erkannt haben und an sie glauben. Das Abendland glaubt wohl an die Seele des Menschen, aber es glaubt nicht wirklich, daß das Weltall eine Seele hat. Doch dies ist der Glaube des Morgenlandes, und alles, was der Osten der Menschheit an geistigem Gut gebracht hat, ist von dieser Idee erfüllt. Daher haben wir Bewohner des Ostens nicht das Bedürfnis, auf Einzelheiten Nachdruck zu legen, denn das Wesentliche ist für uns die Weltseele, über die unsre Weisen nachgesonnen und die unsre Künstler zum Ausdruck gebracht haben.

Weil wir im Osten den Glauben an diese Weltseele haben, wissen wir, daß Wahrheit, Macht und Schönheit da zu finden sind, wo Schlichtheit ist, wo der innere Blick nicht durch Außendinge gehemmt wird. Daher haben all unsre Weisen versucht, ihr Leben einfach und rein zu gestalten, weil sie so in einer Wahrheit leben, die, wenn auch unsichtbar, doch wirklicher ist als das, was durch Umfang und Zahl sich aufdrängt.

Wenn wir sagen, daß die Kunst es nur mit persönlichen Wahrheiten zu tun hat, so wollen wir damit nicht die philosophischen Ideen ausschließen, die scheinbar abstrakt sind. Sie sind ganz heimisch in unsrer indischen Dichtung, da sie mit allen Fasern unsres persönlichen Wesens verbunden sind. Ich möchte hier ein Beispiel zur Erklärung geben. Das Folgende ist die Übersetzung eines indischen Liedes, das eine Dichterin des Mittelalters gedichtet hat und das das Leben besingt.

Ich grüße das Leben, das wie das keimende Saatkorn
Mit dem einen Arm hinauf in das Licht, mit dem andern hinab in das Dunkel greift;
Das Leben, das eins ist in seiner äußern Form und in seinem innern Saft;
Das Leben, das immer wieder emportaucht und immer wieder entschwindet.
Ich grüße das Leben, das kommt, und das Leben, das scheidet;
Ich grüße das Leben, das sich offenbart, und das in Verborgenheit schlummert;
Ich grüße das Leben, das wie der Berg in reglosem Schweigen gebannt ist,
Und das Leben, das wie ein Feuermeer auftobt;
Das Leben, das zart ist wie ein Lotus, und das Leben, das hart ist wie Donnerkeil.
Ich grüße das Leben des Geistes, um das Licht und Dunkel sich streiten.
Ich grüße das Leben, das seine Heimstatt gefunden, und das Leben, das draußen in der Fremde irrt;
Das Leben, das freudejauchzend dahintanzt, und das Leben, das leidmüde seine Straße schleicht;
Das ewig schaukelnde Leben, das die Welt zur Ruhe wiegt,
Das tiefe, stille Leben, das hervorbricht in brausenden Wogen.

Diese Idee vom Leben ist keine bloße logische Abstraktion; sie ist der Dichterin ebensosehr lebendige Wirklichkeit wie die Luft dem Vogel, der sie bei jedem Flügelschlag fühlt. Die Frau hat das Geheimnis des Lebens in ihrem Kinde tiefer gespürt, als der Mann es je gekonnt. Diese Frauennatur in der Dichterin hat gefühlt, wie überall in der Welt das Leben sich regt. Sie hat seine Unendlichkeit erkannt – nicht auf dem Wege verstandesmäßiger Überlegung, sondern durch die Erleuchtung ihres Gefühls. Daher wird dieselbe Idee, die für den, dessen Lebensgefühl auf eine enge Sphäre beschränkt ist, bloße Abstraktion bleibt, für einen Menschen mit weitem Lebensgefühl leuchtend klare Wirklichkeit. Wir hören oft, daß die Europäer den indischen Geist als metaphysisch bezeichnen, weil er immer bereit ist, sich ins Unendliche aufzuschwingen. Aber man muß dabei bedenken, daß das Unendliche für Indien mehr ist als ein Gegenstand philosophischer Spekulation; es ist uns ebensosehr Wirklichkeit wie das Sonnenlicht. Wir können ohne es nicht leben, wir müssen es sehen und fühlen und unserm Leben einverleiben. Daher begegnen wir ihm immer wieder in der Literatur und in der Symbolik unsres Gottesdienstes. Der Dichter der Upanischad sagt: »Auch nicht das leiseste Sichregen von Leben wäre möglich, wenn nicht der Raum von unendlicher Freude erfüllt wäre Taittirîya-Upani?ad 2, 7, 1..« Diese Allgegenwart des Unendlichen war ebenso wirklich für ihn wie die Erde unter seinen Füßen, ja sie war es noch mehr. Ein Lied eines indischen Dichters aus dem 15. Jahrhundert Kabîr, einer der Begründer der neueren indischen Mystik, Sohn eines armen muhammedanischen Webers in Benares, lebte von etwa 1440 bis 1518. Ein Schüler Râmânandas, verkündete er seine Religion der Gottesliebe, in der indische und muhammedanische Vorstellungen zusammenflossen, wurde von beiden Lagern als Ketzer verfolgt und schließlich 1495 aus Benares verbannt. Seine Lieder wurden aus schriftlichen Quellen und mündlicher Überlieferung von Kshiti Mohan Sen, einem Lehrer an Tagores Schule, gesammelt und in vier Bänden herausgegeben. Danach hat der Dichter selbst eine Auswahl ins Englische übertragen: Songs of Kabir. Translated by Rabindranath Tagore. London 1915. Kabir pflegt seine Lieder zu zeichnen, indem er am Anfang der letzten Strophe seinen Namen nennt (vgl. S. 89). – Die angeführte Stelle aus XVII. p. 62 f. gibt diesem Gefühl Ausdruck:

Dort wechseln Leben und Tod in rhythmischem Spiel,
Dort sprudelt Entzücken und strahlt der Raum von Licht,
Dort ertönt die Luft von Musik, dem Liebeschor dreier Welten,
Dort brennen Millionen Lampen von Sonnen und Monden,
Dort schlägt die Trommel und schwingt sich die Liebe im Spiel,
Dort erklingen Lieder der Minne, und Licht strömt in Schauern herab.

Unsre indische Dichtung ist zum größten Teil religiös, weil Gott für uns kein ferner Gott ist. Er ist uns ebenso nahe in unserm Heim wie in unsern Tempeln. Wir fühlen seine Nähe in allen menschlichen Beziehungen der Liebe und Freundschaft, und bei unsern Festen ist er der Ehrengast. In der Blütenpracht des Frühlings, in den Gewitterschauern des Sommers, in der Früchtefülle des Herbstes sehen wir den Saum seines Mantels und hören seine Tritte. Wo immer wir wahrhaft verehren, verehren wir Ihn; wo immer wir wahrhaft lieben, lieben wir Ihn. Im Weibe, das gut ist, fühlen wir Ihn; im Mann, der wahr ist, erkennen wir Ihn; in unsern Kindern wird er immer wieder geboren, Er, das Ewige Kind. Daher sind religiöse Lieder unsre Liebeslieder, und unsre häuslichen Erlebnisse wie die Geburt eines Sohnes oder die Einkehr der Tochter aus dem Hause des Gatten ins Haus der Eltern und ihr erneutes Scheiden haben in der Dichtung symbolische Bedeutung erhalten.

So erstreckt sich das Gebiet der Dichtkunst bis in die Sphäre, die in geheimnisvolles Dunkel gehüllt ist, und gibt ihr Licht und Sprache. Es gewinnt immer mehr Raum, wie der menschliche Geist auf dem Gebiete der Wahrheit. Es greift nicht nur in die Geschichte, in die Naturwissenschaft und Philosophie über, sondern auch in unser soziales Leben, in dem Maße, wie sich unser Bewußtsein weitet und unsre Umgebung liebend und verstehend umfaßt. In der klassischen Literatur der alten Zeit gab es nur Heilige, Könige und Helden. Sie warf ihr Licht nicht auf die Menschen, die im Dunkel liebten und litten. Aber wie das Licht des menschlichen Geistes seinen Schein über einen immer größeren Raum wirft und in verborgene Winkel dringt, so geht auch die Kunst über ihre Schranken hinaus und dehnt ihre Grenzen in unerforschte Gebiete aus. So verkündet die Kunst des Menschen Siegeszug über die Welt, indem sie Symbole von Schönheit aufrichtet an Orten, wo sonst keine Stimme ertönt und keine Farbe leuchtet. Sie webt ihm sein Banner, unter dem er vorwärtsschreitet im Kampf gegen Leere und Trägheit und weit und breit in Gottes Schöpfung die Rechte des Lebens geltend macht. Selbst der Geist der Wüste hat seine Verwandtschaft mit ihm anerkannt, und die einsamen Pyramiden stehen da als Denkmäler des erhabenen Schweigens, in dem sich die Natur und der menschliche Geist begegneten. Das Dunkel der Höhlen hat der Menschenseele seine Stille gegeben und ist dafür heimlich mit dem Kranz der Kunst gekrönt. Glocken läuten in Tempeln, in Dörfern und volkreichen Städten und verkünden, daß das Unendliche dem Menschen keine bloße Leere ist. Dies Sichausbreiten der menschlichen Persönlichkeit hat keine Grenze, und selbst die Märkte und Fabriken unsrer Zeit, selbst die Gefängnisse, in die man Verbrecher einsperrt, und die Schulen, in die man Kinder einsperrt, werden durch die Berührung der Kunst gemildert und verlieren etwas von ihrer unerbittlichen Lebensfeindlichkeit. Denn des Menschen Persönlichkeit ist immer bestrebt, allem, wozu sie nähere Beziehung hat, den Stempel ihres Geistes aufzudrücken. Und die Kunst ist der grüne Pflanzenwuchs, der zeigt, wie weit der Mensch sich die Wüste zu eigen gemacht hat.

Wir haben schon gesagt, daß überall, wo die Beziehung unsres Herzens zur Welt über das Notwendige hinausgeht, Kunst geboren wird. Mit andern Worten: wo unsre Persönlichkeit ihren Reichtum fühlt, entfaltet sie sich in Schönheit. Was wir für unsre Bedürfnisse brauchen, wird ganz verbraucht und hinterläßt keine Spur. Was über sie hinausgeht, nimmt Gestalt an. Bloße Nützlichkeit gleicht der Hitze, sie ist dunkel. Wenn sie über sich hinausgeht, wird sie weiß und leuchtend, dann hat sie ihren Ausdruck gefunden.

Nehmen wir zum Beispiel unsre Freude am Essen. Sie ist bald erschöpft, sie gibt uns keine Ahnung von dem Unendlichen. Daher hat sie, obwohl sie allgemeiner und weiter verbreitet ist als irgendeine andre Leidenschaft, im Reich der Kunst keinen Zutritt. Da geht es ihr wie dem Einwanderer an der amerikanischen Küste, wenn er mit leerem Beutel kommt.

In unserm Leben haben wir eine endliche Seite, wo wir uns mit jedem Schritt ganz ausgeben, und wir haben eine andre Seite, wo unser Streben, unsre Freude und unsre Opfer unendlich sind. Diese unendliche Seite des Menschen offenbart sich in Symbolen, die etwas von dem Wesen der Unsterblichkeit haben. In ihnen sucht sie Vollendung zum Ausdruck zu bringen. Daher verschmäht sie alles, was nichtig und schwach und widersinnig ist. Sie erbaut sich zum Wohnsitz ein Paradies und wählt dazu nur solche Baustoffe, die die Vergänglichkeit des Irdischen abgestreift haben.

Denn die Menschen sind Kinder des Lichts. Sobald sie sich ganz erkennen, fühlen sie ihre Unsterblichkeit. Und in dem Maße, wie sie sie fühlen, dehnen sie das Reich der Unsterblichkeit auf jedes Gebiet des menschlichen Lebens aus.

Und das ist nun der Beruf der Kunst: die wahre Welt des Menschen, die lebendige Welt der Wahrheit und Schönheit, aufzubauen.

Der Mensch ist ganz er selbst, wo er seine Unendlichkeit fühlt, wo er göttlich ist, und das Göttliche ist das Schöpferische in ihm. Daher ist er schöpferisch, sobald er zu seinem wahren Wesen gelangt. Er kann wahrhaft in seiner eigenen Schöpfung leben, indem er aus Gottes Welt seine eigene Welt macht. Das ist in Wahrheit sein eigener Himmel, der Himmel zur Vollendung gestalteter Ideen, mit denen er sich umgibt; wo seine Kinder geboren werden, wo sie lernen, wie sie leben und sterben, lieben und kämpfen müssen, wo sie lernen, daß das Wirkliche nicht nur das äußerlich Sichtbare ist und daß es andre Reichtümer gibt als die Schätze der Erde. Wenn der Mensch nur die Stimme hören könnte, die aus dem Herzen seiner eigenen Schöpfung aufsteigt, würde er dieselbe Botschaft vernehmen, die in alter Zeit der indische Weise verkündete:

»Hört auf mich, ihr Kinder des Unsterblichen, ihr Bewohner der himmlischen Welten, ich habe den Höchsten erkannt, der als Licht von jenseits der Finsternis kommt S. Sâdhanâ S. 28. (Der Anfang ?gveda 10, 113, 1.)

Ja, es ist der Höchste, der sich dem Menschen offenbart hat und durch den dieses ganze Weltall für ihn mit persönlichem Leben erfüllt ist. Daher sind Indiens Pilgerstätten dort, wo unser Herz in der Vereinigung von Strom und Meer oder im ewigen Schnee der Bergesspitzen oder in der Einsamkeit des Seegestades etwas von dem Wesen des Unendlichen spürt. Dort hat der Mensch in seinen Bildnissen und Tempeln dies Wort hinterlassen: »Hört auf mich, ich habe den Höchsten erkannt.« Erforschen können wir ihn nicht, nicht in den Dingen dieser Welt, noch in ihren Gesetzen; doch wo der Himmel blau ist und das Gras grün, wo die Blume ihre Schönheit und die Frucht ihren Wohlgeschmack spendet, wo nicht nur der Wille zur Erhaltung der Gattung, sondern Freude am Leben und Liebe zu allen Wesen, Mitgefühl und Selbstverleugnung herrscht, dort offenbart sich uns der Unendliche. Dort prasseln nicht nur Tatsachen auf uns nieder, sondern wir fühlen, wie das Band persönlicher Verwandtschaft unsre Herzen ewig mit dieser Welt verbindet. Und dies ist Wirklichkeit, ist Wahrheit, die wir uns zu eigen gemacht haben, Wahrheit, die ewig eins mit dem Höchsten ist. Diese Welt, deren Seele sehnsüchtig nach Ausdruck sucht in dem endlosen Rhythmus ihrer Linien und Farben, Musik und Bewegung, in leisem Flüstern und heimlichen Winken und all den Versuchen, das Unaussprechliche ahnen zu lassen, – diese Welt findet ihre Harmonie in dem unaufhörlichen Verlangen des menschlichen Herzens, in seinen eigenen Schöpfungen den Höchsten zu offenbaren.

Dieses Verlangen macht uns verschwenderisch mit allem, was wir haben. Solange wir Reichtümer ansammeln, legen wir uns Rechenschaft ab von jedem Pfennig; wir rechnen genau und handeln sorgfältig. Aber sobald wir unserm Reichtum Ausdruck geben wollen, kennen wir keine Schranken mehr. Ja, niemand unter uns hat Reichtümer genug, um das, was wir unter Reichtum verstehen, voll zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir versuchen, unser Leben gegen den Angriff des Feindes zu schützen, sind wir vorsichtig in unsern Bewegungen. Aber wenn wir uns getrieben fühlen, unsrer persönlichen Tapferkeit Ausdruck zu geben, so nehmen wir freiwillig Gefahren auf uns, wenn es uns auch das Leben kostet. Im Alltagsleben sind wir vorsichtig mit unsern Ausgaben, aber bei festlichen Gelegenheiten, wenn wir unsre Freude ausdrücken, sind wir so verschwenderisch, daß wir selbst über unsre Mittel hinaus gehen. Denn wenn wir uns unsrer eigenen Persönlichkeit intensiv bewußt sind, haben wir kein Auge mehr für die Tyrannei der Tatsachen. Wir sind maßvoll und zurückhaltend dem Menschen gegenüber, mit dem uns nur Klugheitsinteresse verbindet. Aber wir fühlen, daß alles, was wir haben und geben können, für die noch nicht genug ist, die wir lieben. Der Dichter sagt zu der Geliebten: »Mir ist, als sei ich vom Anfang meines Daseins an in den Anblick deiner Schönheit versunken gewesen, als hätte ich dich seit Jahrtausenden in meinen Armen gehalten, und doch ist meine Sehnsucht noch nicht gestillt.« »Die Steine möchten in Zärtlichkeit schmelzen, wenn der Saum deines Mantels sie streift.« Er fühlt, daß »seine Augen wie Vögel ausfliegen möchten, um die Geliebte zu sehen.« Vom Standpunkt der Vernunft aus sind dies Übertreibungen, aber vom Standpunkt des Herzens aus, das von den Schranken der Tatsachen befreit ist, sind sie wahr.

Ist es nicht ebenso in Gottes Schöpfung? Dort sind Kraft und Stoff auch bloße Tatsachen; sie können gemessen und gewogen werden, und es wird genau Buch über sie geführt. Allein die Schönheit ist keine bloße Tatsache; sie läßt sich nicht verrechnen, sie läßt sich nicht auf ihren Wert abschätzen und verzeichnen. Sie ist Ausdruck. Tatsachen sind die Becher, die den Wein halten, er verdeckt und überrinnt sie. Die Schönheit ist unendlich in ihren Kundgebungen und überschwänglich in ihrer Sprache. Und nur die Seele, nicht die Wissenschaft, kann diese Sprache verstehen. Sie singt wie jener Dichter: »Mir ist, als sei ich vom Anfang meines Daseins an in den Anblick deiner Schönheit versunken gewesen, als hätte ich dich seit Jahrtausenden in meinen Armen gehalten, und doch ist meine Sehnsucht noch nicht gestillt.«

So sehen wir, daß unsre Welt des Ausdrucks der Welt der Tatsachen nicht genau entspricht, da die Persönlichkeit nach allen Richtungen über die Tatsachen hinausgeht. Sie ist sich ihrer Unendlichkeit bewußt und schafft aus ihrem Überfluß heraus, und da in der Kunst die Dinge nach ihrem Ewigkeitswert gemessen werden, verlieren die, die im gewöhnlichen Leben wichtig sind, ihre Wirklichkeit, sobald sie auf das Piedestal der Kunst erhoben werden. Der Zeitungsbericht von irgendeinem häuslichen Ereignis im Leben eines Geschäftsmagnaten ruft vielleicht in der Gesellschaft große Aufregung hervor, doch im Reich der Kunst verliert er alle seine Bedeutung. Wenn er dort durch irgendeinen grausamen Zufall neben Keats' »Ode auf eine griechische Urne« geriete, müßte er in Scham sein Gesicht verbergen.

Und doch könnte dasselbe Ereignis, wenn es in seiner Tiefe erfaßt und seiner konventionellen Oberflächlichkeit entkleidet würde, noch eher einen Platz in der Kunst finden als die Unterhandlungen über eine große chinesische Geldanleihe oder die Niederlage der britischen Diplomatie in der Türkei. Ein bloßes Familienereignis, die Eifersuchtstat eines Gatten, wie Shakespeare sie in einer seiner Tragödien schildert, hat im Reich der Kunst größeren Wert als die Kastenordnung in Manus Gesetzbuch Die älteste erhaltene Kodifizierung der indischen Rechtssatzungen und Sitten; berühmtes Lehrgedicht, das unter dem Namen Manu's, des mythischen Vaters des Menschengeschlechts, geht. oder das Gesetz, das den Bewohner des einen Weltteils hindert, auf einem andern menschlich behandelt zu werden. Denn wenn Tatsachen nichts als die Glieder einer Kette von Tatsachen sind, weist die Kunst sie zurück.

Wenn jedoch solche Gesetze und Verordnungen, wie ich sie eben erwähnte, uns in ihrer Anwendung auf einen bestimmten Menschen gezeigt werden, wenn wir die ganze Ungerechtigkeit und Grausamkeit und das ganze Elend, das sie im Gefolge haben, sehen, dann werden sie ein Gegenstand für die Kunst. Die Anordnung einer großen Schlacht mag eine wichtige Tatsache sein, aber für den Zweck der Kunst ist sie unbrauchbar. Aber was diese Schlacht einem einzelnen Soldaten bringt, der von seinen Lieben losgerissen, auf Lebenszeit verkrüppelt wird, das hat für die Kunst, die es mit der lebendigen Wirklichkeit zu tun hat, den höchsten Wert.

Des Menschen soziale Welt gleicht einem Nebelsternsystem; sie besteht zum größten Teile aus abstrakten Begriffen wie: Gesellschaft, Staat, Nation, Handel, Politik und Krieg. Im dichten Nebel dieser Begriffe ist der Mensch verborgen und die Wahrheit verwischt. Die ganz unbestimmte Idee des Krieges allein schon verdeckt unserm Blick eine Menge von Elend und trübt unsern Wirklichkeitssinn. Die Nation ist schuld an Verbrechen, die uns entsetzen würden, wenn man einen Augenblick den Nebel um sie verscheuchen könnte. Die Idee Gesellschaft hat zahllose Formen von Sklaverei geschaffen, die wir nur dulden, weil sie unser Gefühl für die menschliche Persönlichkeit abgestumpft hat. Und im Namen der Religion konnten Taten verübt werden, für die die Hölle selbst nicht Strafen genug haben kann, weil sie fast den ganzen fühlenden Leib der Menschheit mit einer gefühllos machenden Kruste von Glaubensbekenntnissen und Dogmen überzogen hat. Überall in der Menschenwelt leidet die Gottheit darunter, daß die lebendige Wirklichkeit des Menschen unter der Last von Abstraktionen erstickt wird. In unsern Schulen verbirgt der Begriff Klasse die Individualität der Kinder, sie werden nur Schüler. Wir empfinden es gar nicht mehr, wenn wir sehen, wie das Leben der Kinder in der Klasse erdrückt wird, wie Blumen, die man in einem Buch preßt. In der Regierung hat die Bureaukratie es nur mit Klassenbegriffen und nicht mit Menschen zu tun, und so verübt sie unbedenklich Grausamkeiten im großen. Sobald wir einen wissenschaftlichen Grundsatz wie den der »natürlichen Auslese« als Wahrheit anerkennen, verwandelt er sofort die ganze Welt der menschlichen Persönlichkeit in eine trostlose Wüste von Abstraktionen, wo alle Dinge furchtbar einfach werden, weil sie ihres Lebensgeheimnisses beraubt sind.

Auf diesen weiten Nebelstrecken erschafft die Kunst ihre Sterne. Durch sie erkennen wir uns als Kinder des Unsterblichen und als Erben der himmlischen Welten.

Was ist es, das dem Menschen trotz der unleugbaren Tatsache des Todes doch die Gewißheit der Unsterblichkeit gibt? Es ist weder seine physische noch seine geistige Organisation. Es ist jene innere Einheit, jenes letzte Geheimnis in ihm, das aus dem Zentrum seiner Welt nach allen Seiten ausstrahlt, das in seinem Körper und in seinem Geiste ist und doch über beide hinausgeht, das sich durch alle Dinge, die ihm gehören, offenbart und doch etwas anderes ist als sie; das seine Gegenwart füllt und die Ufer seiner Vergangenheit und Zukunft überflutet. Es ist die Persönlichkeit des Menschen, die sich ihrer unerschöpflichen Fülle bewußt ist, die den scheinbaren Widerspruch in sich trägt, daß sie mehr ist als sie selbst, mehr als von ihr sichtbar und erkennbar ist. Und dies Unendlichkeitsbewußtsein im Menschen strebt immer nach unvergänglichem Ausdruck und sucht sich die ganze Welt zu eigen zu machen. Die Werke der Kunst sind Grüße, die die menschliche Seele dem Höchsten als Antwort sendet, wenn er sich uns durch die dunkle Welt von Tatsachen hindurch in einer Welt unendlicher Schönheit offenbart.


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