Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV. Wie ordnen wir unser Leben?

71.

Der Weg, auf dem wir zum Menschen gekommen sind, der Entwicklungsgang, aus dem wir ihn haben hervorgehen sehen, hat uns für die Ansicht von seiner Bestimmung, von den Aufgaben seines Erdendaseins, von selbst auf einen andern Standpunkt gestellt, als der christlich-kirchliche war. Uns ist der Mensch nicht aus der Hand Gottes hervorgegangen, sondern aus den Tiefen der Natur emporgestiegen. Sein erster Zustand war kein paradiesischer, vielmehr ein nahezu thierischer. Freilich hat er auch für uns nicht gleich bei den ersten Schritten den Fall gethan, der ihn des Paradieses verlustig machte. Er hat nicht hoch angefangen, um unmittelbar hernach tief zu sinken; sondern er hat sehr niedrig angefangen, um sich von da aus zwar äußerst langsam, doch allmählig immer höher zu heben. Dadurch allein tritt er auch unter das Naturgesetz der Entwicklung, dem ihn die christliche Weltanschauung gleich von vorne herein entzieht.

Des Menschen Anfänge sind, wie wir jetzt wissen, so niedrig gewesen, daß die biblische Urgeschichte selbst den aus dem Paradiese gejagten noch zu hoch stellt. Sie läßt ihn den Acker bauen; aber so weit war der vom Uraffen abgezweigte Urmensch noch lange nicht. In den Pelzröcken liegt eine richtigere Ahnung; aber ach, kein Gott machte sie ihm, sondern er mußte die Ungethüme selbst bekämpfen und erlegen, denen er sie abziehen wollte. Als hungernden Jäger, als düstern Höhlenbewohner, ja als Kannibalen und Menschenfresser finden wir den Menschen auf der ersten Strecke seiner Entwicklungsbahn. Von Pflanzenkost nahm er zu seinem Bären oder Nashorn-Fleisch und Mark was ihm Baum und Strauch an Früchten, die Erde an eßbaren Wurzeln von selber bot. Bis er Ziege, Schaf und Rind als Hausthiere an sich gewöhnen, einen Fleck Landes mit Brodfrucht anbauen, bis er Feuer anmachen und daran sein Fleisch braten, die Fruchtkörner zerreiben und die gekneteten gleichfalls mittelst des Feuers genießbarer machen lernte, wie viele Jahrtausende mögen darüber hingegangen sein.

Doch so elend wir uns auch die Zustände des Urmenschen zu deuten haben mögen, eine Eigenschaft wenigstens dürfen wir bei ihm voraussetzen, die ihm weiter helfen konnte: die Geselligkeit. Gesellig leben im Naturstande außer andern höhern Thieren insbesondre auch jene, die wir oben als des Menschen nächste Stammverwandte kennen gelernt haben. Nun hilft allerdings den Thieren die Geselligkeit nicht weiter; sie fördert sie im Aufsuchen der Nahrung und in der Abwehr von Feinden, aber im übrigen läßt sie dieselben wie sie waren. Bei derjenigen Thierfamilie dagegen, die sich zum Menschen fortentwickeln sollte, traf die Geselligkeit mit einer Bildsamkeit sowohl der äußern Gliedmaßen als insbesondre der Stimmorgane und des Gehirns zusammen, in deren Vereine sie auf höhere Ergebnisse hinwirken konnte.

Wie wir bei der Massenbildung im Gebiete der noch unbelebten Natur Kräfte der Anziehung von denen der Abstoßung, centripetale von centrifugalen Strebungen unterscheiden, so tritt uns auch bei der gesellschaftlichen Verbindung unter belebten Wesen dieselbe Doppelrichtung entgegen. Die Abstoßungskraft liegt in dem Eigenwillen der mehreren, die sich verbinden sollen, von denen das eine da, das andre dort hinaus will, oft zwei oder mehrere sich um denselben Gegenstand, z. B. ein Stück Nahrung, streiten, wozu noch kommt, was nicht nur vor Helena, wie der Dichter meint, sondern schon vor Eva, d. h. in der vormenschlichen Thierwelt, eine Hauptursache des Krieges war, der Zank um das Weib. Anziehend dagegen, centripetal, wirkt von innen heraus der gesellige Trieb, und in derselben Richtung, gleichsam als Druck von außen herein die Noth, die Anfechtung durch feindliche Mächte der elementarischen wie der lebendigen Natur. Beim Menschen mußte das letztere Motiv um so stärker wirken, je schwächer insbesondre den furchtbaren Raubthieren gegenüber seine leibliche Ausstattung, je mehr nur durch vereinte Kräfte zu hoffen war, etwas gegen sie auszurichten.

Und wie sonst, so sehen wir auch hier aus dem Ringen der Kräfte das Gesetz hervortreten. Schon unter den Thieren – und je höher herauf, desto mehr – ist kein Individuum dem andern vollkommen gleich, weder an Ausbildung des Körpers, noch an Tüchtigkeit der Leistung. Darauf, nebst dem Altersunterschied, beruht es, daß bei Thierheerden ein stärkstes, klügstes u. s. f. Individuum sich als leitendes an die Spitze stellt. So nahe dem Thierischen wir uns nun auch eine erste Menschenheerde denken mögen, bald muß sich doch der Unterschied ergeben haben, daß einer nach außen in der Abwehr der Feinde beherzter, oder nach innen, den Genossen der Heerde gegenüber, verträglicher war als der andre. Damit sehen wir aber bereits in ihren halbthierischen Anfängen zwei Eigenschaften angelegt, die uns weiterhin als zwei menschliche Cardinaltugenden erscheinen: die Tapferkeit und die Gerechtigkeit, Und wo sie einmal sind, da kann es nicht fehlen, daß sich bald auch die zwei andern, Beharrlichkeit nämlich und Besonnenheit, von ihnen abzweigen werden. Zugleich erkennen wir aber auch, wie nur in der Gesellschaft sich moralische Eigenschaften entwickeln können.

Nicht alle Mitglieder des Vereins haben diese Tugenden; aber zum Gedeihen des Vereins sollten sie dieselben haben, zum mindesten die entgegengesetzten Fehler nicht haben. Wo diese, namentlich im Verhalten der Gesellschaftsglieder untereinander, vorwalten, überhand nehmen, da ist die Gesellschaft mit Auflösung, mit dem Untergang bedroht. Hier sehen wir in eine Geschichte langwieriger wilder Kämpfe hinein, während deren in den einzelnen Menschenhorden viel gefrevelt, viel gelitten, aber auch viel gelernt worden ist. Man machte in allen Formen, in unzähligen Wiederholungen die Erfahrung, was dabei herauskomme, wenn in einer Menschengesellschaft kein Mitglied seines Lebens, seines erkämpften Beutestücks, weiterhin seines Eigenthums, sicher ist, wenn im Verhältnis der Geschlechter nichts dem rohen Begehren Schranken setzt. Aus der theuer und blutig erkauften Erfahrung dessen, was verderblich und was zuträglich sei, gehen unter den Völkerstämmen allmählig erst Gebräuche, dann Gesetze, endlich eine sittliche Pflichtenlehre hervor.

72.

Es sind uns verschiedene Zusammenstellungen solcher Urgesetze aus arischen wie aus semitischen Völkerkreisen aufbehalten; am nächsten liegt uns eine, die zwar nicht aus der ältesten, doch aus sehr alter Zeit stammt, der sogenannte mosaische Dekalog. Außer den Vorschriften, die sich auf die jüdische Religion beziehen, besteht er meistens aus Rechtssatzungen: nicht zu tödten, zu stehlen, die Ehe nicht zu brechen. Hier sind gewisse Handlungen verboten, welche die Gesellschaft durch Strafen, die sie darauf setzt, zwar nicht verhindern, aber doch seltener machen kann. Die Vorschrift, Vater und Mutter zu ehren, die wir gleichfalls unter jenen Gesetzen finden, geht höher hinauf, sie war nicht ebenso durch Strafandrohung zu stützen, weßwegen es der Gesetzgeber durch Verheißung einer göttlichen Belohnung versucht. Ganz über das Rechtsgebiet hinaus und in's Innere der Gesinnung hinein greifen die beiden merkwürdigen Anhangsgebote, die das Gelüstenlassen nach dem Weib oder Gute des Nächsten untersagen. Hier zeigt sich bereits die Erfahrung, daß, um gewisse äußere Handlungen zu verhüten, das sicherste Mittel ist, ihre Quellen im Gemüthe des Menschen zu verstopfen.

Auf die zwei Fragen: wie sind dergleichen Gesetze an die Menschen gekommen? und woher kommt ihnen ihre Gültigkeit? gibt die Legende überall eine und dieselbe Antwort: sie sind von Gott gegeben, und darum für die Menschen unbedingt verbindlich. Die Bibel beschreibt ausführlich die Scene, wie Jehova auf dem Sinai unter Donner und Blitz die Gesetztafeln dem Führer des Volks Israel eingehändigt habe; ebenso berufen sich später die sogenannten Propheten bei ihren Mahnungen auf unmittelbar göttlichen Befehl; und endlich trägt Jesus den Evangelien zufolge seine Lehre gestützt auf seine messianische Würde, auf sein ganz besonders inniges Verhältniß zu seinem himmlischen Vater vor. Auf unsrem Standpunkte sind diese mythischen Stützen hinfällig geworden; für uns haben jene Vorschriften nur so viel Auctorität als sie in sich selber tragen.

Die angeführten Gesetze des Dekalogs begreifen wir als hervorgegangen aus dem erfahrungsmäßig erkannten Bedürfniß der menschlichen Gesellschaft, und darin liegt für uns auch der Grund ihrer unerschütterten Verbindlichkeit. Dennoch läßt sich bei diesem Tausche ein Verlust nicht ganz verkennen: der göttliche Ursprung ertheilte den Gesetzen Heiligkeit, unsre Ansicht von ihrer Entstehung scheint ihnen nur Nützlichkeit, höchstens äußere Nothwendigkeit zuzugestehen. Ganz ersetzt wäre ihnen die Heiligkeit nur, wenn sich auch ihre innere Nothwendigkeit, ihr Hervorgang nicht blos aus dem geselligen Bedürfniß, sondern aus der Natur oder dem Wesen des Menschen einsehen ließe.

Wenn Jesus seinen Jüngern die Vorschrift gab: Was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen – so hat diese Vorschrift für den gläubigen Christen, vermöge der göttlichen Würde der Person Jesu, unmittelbar göttliche Auctorität. Für uns umgekehrt beruht die Auctorität, die auch wir noch jener Person zugestehen, darauf, daß sie mehr dergleichen Vorschriften gegeben, dergleichen Gedanken ausgesprochen hat, denen wir unsre Zustimmung nicht versagen können. Wobei es für den Werth dieser Gedanken keinen Unterschied macht, ob Jesus dieselben ganz seinem eigenen Geist und Herzen, oder irgend einer Ueberlieferung verdankte; wie insbesondre an der hier in Rede stehenden Sittenregel der Einfluß einer Zeit nicht zu verkennen ist, da sich, in Folge der römischen Weltherrschaft, selbst unter dem particularistischen Judenvolke der Gesichtskreis in's allgemein Menschliche hin zu erweitern begann.

Jesus war kein Philosoph, und so hat er auch diesen Spruch, wie so manchen andern, nicht weiter begründet. Aber der Spruch hat etwas Philosophisches in sich selbst. Er beruft sich nicht auf ein göttliches Gebot, sondern bleibt, um für das menschliche Handeln eine Norm zu finden, auf dem Boden der menschlichen Natur (und doch nicht des blos äußern Bedürfnisses) stehen. Das aber eben ist von jeher der Standpunkt der Philosophie gewesen.

73.

Als die vornehmsten praktischen Philosophen können wir in der alten Welt die Stoiker, in der neuern Kant betrachten. Der oberste moralische Grundsatz der Stoiker war, der Natur gemäß zu leben. Fragte man: welcher Natur? so antwortete der eine: der menschlichen; ein anderer: der allgemeinen, oder der Weltordnung. Die menschliche Natur aber ist auf die Herrschaft der Vernunft über die Triebe eingerichtet; darum schrieb der philosophische Kaiser, bei dem vernunftbegabten Wesen heiße naturgemäß handeln so viel als vernunftgemäß handeln. Da ferner dieselbe Vernunft, die in dem Menschen herrschen soll, nach stoischer Lehre als das göttliche Princip durch die ganze Welt geht, so handelt der Mensch, der seiner Vernunft gemäß handelt, zugleich der allgemeinen Weltvernunft gemäß. Da er sich endlich vermöge dieser Vernunft als Theil der Welt, insbesondre als Glied der großen Gemeinschaft vernünftiger Wesen in derselben weiß, so erkennt er sich für verpflichtet, nicht sich allein, sondern dem gemeinen Besten zu leben.

Kant stellt als Grundsatz der praktischen Vernunft den Satz auf: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Er will sagen, so oft wir zu handeln im Begriffe stehen, sollen wir uns erst den Grundsatz klar machen, nach dem wir handeln wollen, und uns dann fragen, wie es werden müßte, wenn alle andern Menschen nach dem gleichen Grundsatze verfahren wollten. Nicht, wie uns die Welt gefallen würde, die dann herauskäme; unsre Neigung oder Abneigung soll dabei außer dem Spiele bleiben; sondern ob überhaupt etwas mit sich Zusammenstimmendes herauskommen könnte. Er gebraucht das Beispiel eines Depositum, das einer nach dem Absterben des Deponenten und bei der Gewißheit, daß kein Beweismittel gegen ihn vorhanden sei, Lust haben könnte, für sich zu behalten. Da hatte er sich also nach Kant den Grundsatz klar zu machen, nach dem er zu handeln sich versucht fühlt: nämlich, daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. So wie er sich aber dieß als allgemein befolgten Grundsatz denkt, so muß er auch bemerken, daß derselbe sich selbst aufhebt; denn niemand würde dann mehr Lust haben, ein Depositum zu machen. Man sieht, Kant will über das: Was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen u. s. f. noch hinaus, denn dieses bringt die Neigung in's Spiel; während Kant die Vernunft zur Selbstgesetzgeberin machen will, deren Probe ist, daß aus ihren Vorschriften nichts folgt das sich selbst widerspricht.

Nicht mit Unrecht indessen erinnert Schopenhauer, ein moralischer Imperativ dürfe nicht aus abstrakten Begriffen zusammengesponnen, sondern müsse an einen wirklichen realen Trieb der menschlichen Natur angeknüpft werden. Neben dem Egoismus (und der Bosheit, die wir indeß wohl besser dem Egoismus als Extrem oder Ausartung unterordnen) findet aber Schopenhauer im Menschen als Triebfeder zu Handlungen noch das Mitleid, und eben dieses ist für ihn die ausschließliche Quelle des sittlichen Handelns. Dürfen wir das Mitleid etwas weiter als Mitgefühl fassen, so haben wir jenes Princip des Wohlwollens, das im vorigen Jahrhundert besonders von Schottischen Moralisten dem der Selbstliebe entgegengestellt wurde. Daß wir es aber im Sinne Schopenhauers selbst so fassen dürfen, zeigt sich in der Art, wie er die aus der Quelle des Mitleids fließenden Handlungen eintheilt. Er unterscheidet nämlich solche Handlungen, in denen sich (negativ) der Wille zeigt, niemand zu beschädigen, oder Handlungen der Gerechtigkeit, von solchen, in denen sich der (positive) Wille bekundet, andern zu helfen, oder Handlungen der Menschenliebe.

Bei solcher Ableitung erhält Schopenhauer natürlich nur Pflichten gegen andre Menschen, und sucht ausführlich darzuthun, daß es Pflichten des Menschen gegen sich selbst, die Kant noch gelten ließ, nicht geben könne. Er mag im Einzelnen vielfach Recht haben: ganz jedoch scheint mir seine Beweisführung nicht durchzulangen. Nehmen wir z. B. einen jungen Menschen, der sich ausbilden soll; wird für den das Mitleiden die Triebfeder abgeben können, fleißig zu sein? Nennen wir es, wie gesagt, Mitgefühl, und fassen es als Rücksicht auf die Gesellschaft, deren brauchbares Mitglied er künftig werden soll: so will ja gerade Schopenhauer als sittliche Triebfeder nur gelten lassen, was sich im wirklichen Leben als solche erweist; daß aber bei einem jungen Menschen die Pflicht gegen die Gesellschaft das Motiv zu Fleiß und Bildungseifer abgebe, trifft sicherlich nur ausnahmsweise zu. Selbst die Rücksicht auf seine Eltern, denen sein Fleiß und Fortschreiten Freude, das Gegentheil Kummer machen würde, mag sich wohl nebenbei geltend machen; aber die eigentliche Triebfeder ist sie nicht. Diese ist immer nur der Trieb seiner geistigen Kräfte, sich zu entfalten und zu üben. Wollte man sagen, das sei dann nichts Sittliches, weil etwas lediglich Egoistisches, so wäre dagegen Folgendes zu bedenken. Neben der intellectuellen und moralischen Anlage fühlt der junge Mensch in sich auch andre, sinnliche Kräfte, die wie jene nach Bethätigung und Entfaltung streben, und das mit einer Gewalt und Heftigkeit, wie sie jener höhere Trieb nicht aufzubieten hat. Wenn er nun gleichwohl diesen sinnlichen Trieben nur insoweit Spielraum gibt, als sie der Entfaltung der höhern Kräfte nicht in den Weg treten, so werden wir dieß ein sittliches Handeln nennen müssen, das sich aus dem Mitleid nicht ableiten läßt, überhaupt nicht als ein sittliches Verhalten des Menschen zu andern, sondern zu sich selbst erscheint.

74.

Alles sittliche Handeln des Menschen, möchte ich sagen, ist ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der Gattung. Diese, für's Erste, in sich selbst zu verwirklichen, sich, den Einzelnen, dem Begriff und der Bestimmung der Menschheit gemäß zu machen und zu erhalten, ist der Inbegriff der Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Die in sich gleiche Gattung aber, für's Zweite, auch in allen andern thatsächlich anzuerkennen und zu fördern, ist der Inbegriff unsrer Pflichten gegen Andere: wobei das Negative, keinen in seiner Gleichberechtigung zu beeinträchtigen, und das Positive, jedem nach Möglichkeit hülfreich zu sein, oder Rechts- und Liebespflichten, zu unterscheiden sind.

Nach den engeren oder weiteren Kreisen, welche die Menschheit um uns zieht, werden sich dann diese Nächstenpflichten noch weiter gliedern, indem sie sich nach demjenigen näher bestimmen, was wir jedem dieser Kreise verdanken. In dem engsten, aber auch innigsten derselben, der Familie, haben wir zu unterhalten und weiterzugeben was wir von ihr empfangen haben: liebevolle Lebenspflege und Erziehung zur Menschlichkeit. Dem Staate verdanken wir den festen Boden für unsre Existenz, Sicherheit für Leben und Besitz, und mittelst der Schule unsre Tüchtigkeit für das menschliche Gemeinleben; für seinen Bestand und sein Gedeihen hat jedes seiner Mitglieder alles zu thun, was seine Stellung in der Gesellschaft ihm möglich macht. Von der Nation haben wir die Sprache und die ganze Bildung empfangen, die mit der Sprache und Literatur zusammenhängt: Nationalität und Sprache bilden das innerste Band des Staates, nationale Sitte auch die Grundlage des Familienlebens; für sie sollen wir bereit sein, unsre beste Kraft, im Nothfall unser Leben, daran zu setzen. Aber in unsrer Nation haben wir nur ein Glied am Leibe der Menschheit zu erkennen, an dem wir auch kein andres Glied, keine andre Nation, verstümmelt oder verkümmert wünschen dürfen, da nur in der harmonischen Entfaltung ihrer sämmtlichen Glieder sie als Ganzes gedeihen kann; wie hinwiederum ihr Gepräge auch an jedem einzelnen Menschen, er mag einer Nation angehören, welcher er will, anzuerkennen und zu achten ist.

Auf der andern Seite bestimmen sich die Pflichten des Menschen verschieden je nach der Stellung in der menschlichen Gemeinschaft, die er einnimmt; es gibt neben den allgemein menschlichen auch besondre Berufs- und Standespflichten. Der Stand ist für den Einzelnen in manchen Fällen gegeben; während der Beruf meistens Sache der freien Wahl, und diese Gegenstand sittlicher Bestimmung ist. Wähle denjenigen Beruf, lautet hier die Vorschrift, worin du, nach Maßgabe deiner eigenthümlichen Begabung, dem Gemeinwohl die besten Dienste leisten und zugleich für dich selbst die meiste Befriedigung finden kannst.

Unter dieser Befriedigung ist zunächst die innerliche verstanden, die für jedes lebende Wesen darin liegt, wenn es dem Begriffe seiner Gattung in der individuellen Gestalt, die sie in ihm gewonnen, entsprechend sich entwickelt und bethätigt; für das sittliche Wesen oder den Menschen liegt auch das einzig Wahre an demjenigen darin, was man noch immer äußerst roh als Lohn der Tugend oder Frömmigkeit zu bezeichnen pflegt. Diesen sogenannten Lohn setzt man denn auch insgemein mit dem, wofür er lohnen soll, in ein so äußerliches Verhältniß, daß man einen Gott nöthig hat, um beides in Verbindung zu bringen, ja aus dieser Nothwendigkeit wohl gar das Dasein eines Gottes zu beweisen sucht: auf unsrem Standpunkt ist von dem sittlichen Handeln sein Reflex im Empfinden oder die Glückseligkeit von selbst so unabtrennbar, daß derselbe durch äußere Umstände höchstens verschieden gefärbt, nimmermehr aber in seinem Glückseligkeitswerthe aufgehoben werden kann.

Verhält sich im sittlichen Handeln der Mensch zu der Idee seiner Gattung, die er theils in sich selbst zu verwirklichen sucht, theils in allen andern anerkennt und zu fördern bestrebt ist, so verhält er sich in der Religion zur Idee des Universum, der letzten Quelle alles Seins und Lebens überhaupt. Insofern mag man sagen, daß die Religion über der Moral stehe, weil sie aus einer noch tieferen Quelle strömt, in einen noch ursprünglicheren Grund zurückgeht.

Vergiß in keinem Augenblick, daß du Mensch und kein bloßes Naturwesen bist; in keinem Augenblick, daß alle andern gleichfalls Menschen, d. h., bei aller individuellen Verschiedenheit, dasselbe was du, mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen wie du, sind – das ist der Inbegriff aller Moral.

Vergiß in keinem Augenblick, daß du und Alles was du in dir und um dich her wahrnimmst, was dir und andern widerfährt, kein zusammenhangloses Bruchstück, kein wildes Chaos von Atomen oder Zufällen ist, sondern daß es alles nach ewigen Gesetzen aus dem Einen Urquell alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten hervorgeht – das ist der Inbegriff der Religion.

Daß du Mensch bist – was heißt aber das? wie bestimmen wir den Menschen, und zwar so, daß wir nicht leere Begriffe aus der Luft haschen, sondern die Ergebnisse wirklicher Erfahrung in eine bestimmte Vorstellung zusammenfassen?

75.

»Das wichtigste allgemeine Resultat,« sagt Moriz Wagner, »welches die vergleichende Geologie und Paläontologie« – und, können wir hinzufügen, die Naturwissenschaft überhaupt – »uns offenbaren, ist das in der Natur waltende große Gesetz des Fortschritts. Von den ältesten Zeiten der Erdgeschichte, welche Spuren von organischem Leben hinterlassen haben, bis zu der jetzigen Schöpfung ist dieser stetige Fortschritt in dem Auftreten höher organisirter Wesen als die Vergangenheit zeigte eine durch die Erfahrung festgestellte Thatsache; und diese Thatsache ist vielleicht die tröstlichste aller Wahrheiten, welche die Wissenschaft jemals gefunden hat. In diesem der Natur inwohnenden Streben nach einer rastlos fortschreitenden Verbesserung und Veredlung ihrer organischen Formen mag auch der beste Beweis ihrer Göttlichkeit liegen; ein großes und schönes Wort,« setzt Wagner hinzu, »dem freilich der Naturforscher einen wesentlich andern Sinn gibt als der Priester einer sogenannten Offenbarungsreligion.«

In dieser aufsteigenden Bewegung des Lebens nun ist auch der Mensch begriffen, und zwar in der Art, daß in ihm die organische Bildungskraft auf unsrem Planeten (vorläufig, sagen manche Naturforscher; das lassen wir billig dahingestellt) ihren Höhepunkt erreicht hat. Da sie nicht weiter über sich gehen kann, will sie in sich gehen. Sich in sich reflectiren ist ein ganz guter Ausdruck von Hegel gewesen. Empfunden hat sich die Natur schon im Thier; aber sie will sich auch erkennen.

An dieser Stelle hat der Trieb und die Thätigkeit des Menschen, die Natur zu erforschen und zu begreifen, den Anknüpfungspunkt, den wir oben im Christenthum vermißten. Der Mensch arbeitet in seinem eigensten Berufe, wenn ihm keines ihrer Wesen zu gering erscheint, seinen Bau und seine Lebensart zu untersuchen, aber auch kein Gestirn zu entfernt, um es in den Bereich seiner Beobachtung zu ziehen, seine Bahnen und Bewegungen zu berechnen. Auf christlichem Standpunkt ist das so gut wie das Trachten nach irdischen Gütern Verschwendung von Zeit und Kraft, die ausschließlich dem Streben nach dem Heil der Seele gewidmet sein sollen; es war schon auf dem Uebergang zu einer neuen Zeit, als der Dichter des Messias von der schönen Aufgabe sang, »den großen Gedanken der Schöpfung« – und zwar der Schöpfung von »Mutter Natur« – »noch einmal zu denken.«

Im Menschen hat die Natur nicht blos überhaupt aufwärts, sie hat über sich selbst hinaus gewollt. Er soll also nicht blos wieder nur ein Thier, er soll mehr und etwas besseres sein. Der Beweis, daß er es soll, ist, daß er es kann. Die sinnlichen Bestrebungen und Genüsse sind schon in der Thierwelt voll entfaltet und erschöpft, um ihretwillen ist der Mensch nicht da; wie überhaupt kein Wesen um desjenigen willen da ist, was schon auf frühern Lebensstufen gegeben war, sondern um dessen willen, was in ihm neu errungen worden ist. So soll der Mensch das Animalische in ihm mit dem Höheren das in ihm angelegt ist, mit den Fähigkeiten die ihn vom Thier unterscheiden, durchdringen und beherrschen. Auch der rohe grausame Kampf um's Dasein war bereits im Thierreiche sattsam losgelassen. Der Mensch kann ihn gleichfalls nicht ganz vermeiden, sofern er noch ein Naturwesen ist; aber er soll ihn nach Maßgabe seiner höhern Anlagen zu veredeln, und seinesgleichen gegenüber insbesondere durch das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Verpflichtung der Gattung zu mildern wissen. Das wilde ungestüme Wesen der Natur soll in der Menschheit zur Ruhe kommen; sie soll gleichsam das placidum caput sein, das der Virgil'sche Neptun aus den empörten Wogen hebt, um sie zu stillen. Der Mensch kann und soll die Natur nicht blos erkennen, sondern auch beherrschen. Und zwar die Natur außer ihm, so weit sein Vermögen reicht, wie das Natürliche in ihm selbst. Hier findet ebenfalls wieder ein höchst bedeutendes und reiches Gebiet der menschlichen Thätigkeit die Stelle und die Weihe, die ihm das Christenthum versagte. Nicht blos der Erfinder der Buchdruckerkunst, die ja doch unter anderem auch der Verbreitung der Bibel Vorschub gethan, sondern auch die Männer, die den Dampfwagen auf Eisenschienen, den Gedanken und das Wort an Metalldrähten dahinfliegen lehrten – Teufelswerke nach der ganz folgerichtigen Ansicht unsrer Frommen – sind auf unsrem Standpunkte Mitarbeiter am Reiche Gottes. Die Technik und die Industrie fördern wohl den Luxus, der übrigens ein relativer Begriff ist, aber weiterhin die Humanität.

Noch eines möchte ich hier hinzufügen. Der Mensch soll die Natur um sich her beherrschen, aber nicht als Wütherich, als Tyrann, sondern als Mensch. Ein Theil der Natur, deren Kräfte er sich dienstbar macht, besteht aus empfindenden Wesen. Das Thier ist grausam gegen das Thier, weil es wohl seinen eigenen Hunger oder Zorn sehr stark empfindet, von dem Schmerz aber, den es durch seine Behandlung dem andern macht, keine ebenso deutliche Vorstellung hat. Diese deutliche Vorstellung hat der Mensch oder kann sie doch haben. Er weiß, daß das Thier so gut ein empfindendes Wesen ist wie er. Dabei ist er wohl überzeugt – und unsres Erachtens nicht mit Unrecht – daß er, um seine Stellung in der Welt zu behaupten, nicht umhin kann, manchen Thieren Schmerz zu bereiten. Die einen muß er zu vertilgen suchen, weil sie ihm gefährlich oder lästig sind; andre tödten, weil er ihr Fleisch zur Ernährung, ihr Fell zur Bekleidung u. s. f. braucht; noch andre unterjochen und vielfach anstrengen, weil er ihrer Hülfe bei seinem Verkehr, seinen Arbeiten nicht entbehren kann. Aber als ein Wesen, das den Schmerz, den das Thier dabei leidet, kennt und als Mitgefühl in sich nachbilden kann, soll er jenes alles über das Thier in einer Art zu verhängen suchen, die mit dem wenigsten Schmerz verbunden sei. Also bei den einen die Tödtung so kurz wie möglich, bei den andern den Dienst so erträglich wie möglich machen. Verletzung dieser Pflichten rächt sich am Menschen schwer, indem sie sein Gefühl abstumpft. Die Criminalgeschichte zeigt uns, wie viele Menschenquäler und Mörder vorher Thierquäler gewesen sind. Wie eine Nation durchschnittlich die Thiere behandelt, ist ein Hauptmaßstab ihres Humanitätswerths. Die romanischen Völker bestehen diese Probe bekanntlich sehr schlecht; wir Deutsche noch lange nicht gut genug. Der Buddhismus hat hierin mehr gethan als das Christenthum, und Schopenhauer mehr als sämmtliche alte und neuere Philosophen. Die warme Sympathie mit der empfindenden Natur, die durch alle seine Schriften geht, ist eine der erfreulichsten Seiten von Schopenhauers zwar durchweg geistvollem, doch vielfach ungesundem und unersprießlichem Philosophiren.

76.

Beherrschen, sagten wir, soll der Mensch die Natur in sich wie außer sich. Die Natur im Menschen ist seine Sinnlichkeit. Sie soll er beherrschen, nicht abtödten wollen, so gewiß die Natur mit ihm über sich, aber nicht aus sich hinausgeschritten ist.

Sinnlichkeit nennen wir diejenige Einrichtung eines Wesens, kraft deren es äußere Reize empfindet, und durch diese Empfindungen zu Thätigkeiten bestimmt wird. Je höher ein Thier steht, desto weniger folgt bei ihm die Handlung unmittelbar auf jeden einzelnen Reiz. Das höhere Thier erinnert sich, was es auf einen ähnlichen Reiz hin früher gethan hat und was darauf erfolgt ist, und darnach richtet es sein jetziges Verhalten ein. Hierauf gründet sich die Erziehungsfähigkeit der Thiere. Wenn dem Hunde, dem Pferde, auf eine Handlung hin, wozu ein gewisser Reiz sie veranlaßt, eine Zeit lang regelmäßig Schmerz verursacht wird, so werden sie mit der Zeit, wenn auch der Reiz wieder an sie herantritt, doch die Handlung unterlassen. Aber auch wilde Thiere machen, wie schon oben erwähnt worden, Erfahrungen und nutzen sie. Zweimal läßt sich der Fuchs, der Marder, selten in die Falle locken, der er einmal mit Noth entronnen ist. Das Thier erinnert sich, stellt verschiedene Fälle zusammen und richtet sich darnach; aber einen allgemeinen Grundsatz, einen wirklichen Gedanken, weiß es daraus nicht zu bilden. Wie es zwar auch die Gattung, die Art kennt, der es angehört, der Tauber kein Huhn für eine Taube halten wird, ohne daß er doch zur Bildung des Gattungsbegriffs: Taube, fähig wäre.

Daß er die Fähigkeit hiezu mittelst der Sprache in sich ausgebildet hat, gibt dem Menschen auch in praktischer Hinsicht einen ungeheuren Vorsprung vor dem Thier. Durch den Reiz des Augenblicks sich unmittelbar zum Handeln bestimmen zu lassen, steht ihm begreiflich am schlechtesten an. Vergleicht er den einzelnen Fall mit früheren, und richtet sich nach den dabei gemachten Erfahrungen, so hat er sich wenigstens dem höhern Thiere gleichgestellt. Erst wenn er sich aus den Erfahrungen einen Grundsatz abgezogen, diesen als Gedanken sich zur Vorstellung gebracht hat, und nun darnach sein Handeln bestimmt, hat er sich auf die Höhe der Menschheit gehoben. Ein roher Bauernjunge oder Arbeiter ist auf den leichtesten Schlag oder auch nur ein mißfälliges Wort des andern alsbald mit einem Messerstich bei der Hand; er ist nicht besser als ein Thier, und zwar ein sehr unedles Thier. Ein andrer erinnert sich bei ähnlicher Reizung, wie das Stechen schon den und jenen in's Zuchthaus gebracht hat: so unterläßt er es, und ist damit wenigstens so gut wie ein wohlgezogener Hund oder ein gewitzigter Fuchs. Ein dritter hat über die Sache nachgedacht, er hat sich den Grundsatz gebildet oder von der Schule her behalten, daß das Leben des Menschen dem Menschen heilig sein soll: dieser erst verhält sich wie ein Mensch, ihm wird es aber auch nicht einfallen, nach dem Messer zu greifen. Ein so mächtiger Schutz gegen die Gewalt der Sinnlichkeit ist für den Menschen die Denkkraft.

Die Idee der Gattung wirkt als Empfindung auch im Thiere, wie sie im Menschen wirkt; aber nur der Mensch hat sie zugleich als Gedanken im Bewußtsein. Das Mitgefühl der Gattung verhindert das Raubthier nicht, andre seiner Art zu zerreißen, den Kater nicht, gelegentlich seine eigenen Jungen aufzufressen; wie es die Menschen nicht hindert, sich untereinander zu morden. Freilich das Bewußtsein der Gattung hindert sie daran gleichfalls nicht; wenn wir bei jedem Menschen, der fähig ist, den Gattungsbegriff: Mensch, zu bilden, und uns wie sich selbst darunter zu begreifen, immer unsres Lebens sicher wären, so stünde es gut. Aber es gibt verschiedene Arten, diesen Begriff zu denken, und eben darauf kommt es an, den Menschen dahin zu bringen, daß er ihn auf die rechte Weise denkt. Zunächst ist es nur ein Name, ein leerer Wortschall, der keinerlei Wirkung haben kann. Er muß erst mit seinem ganzen Inhalte erfüllt werden, um wirksam zu sein. Im Gattungsbegriff des Menschen liegt seine schon erwähnte Stellung auf der Höhe der Natur, seine Fähigkeit, dem sinnlichen Reize durch Vergleichen und Denken zu widerstehen. Weiter aber liegt die Zusammengehörigkeit der Menschengattung darin, nicht blos so, wie auch jede Thiergattung zusammengehört, durch Abstammung und Gleichheit der organischen Einrichtung; sondern so, daß nur durch Zusammenwirkung von Menschen der Mensch zum Menschen wird, die Menschengattung in ganz andrem Sinn als irgend eine Thiergattung eine solidarisch verbundene Gemeinschaft bildet. Nur mit Hülfe des Menschen hat sich der Mensch über die Natur erhoben; nur so weit er die andern als ihm gleiche Wesen anerkennt und behandelt, die Ordnungen der Familie, des Staats u. s. f. achtet, kann er sich auf seiner Höhe erhalten und weiter fördern. Dabei ist es von höchster Wichtigkeit, daß dieses Erkennen in das lebendige Gefühl zurückgebildet, die so gewonnene sittliche Haltung dem Menschen zur andern Natur werde. Im Verhältniß zu sich selbst soll ihm die Menschenwürde, im Verhältniß zu Andern das Mitgefühl in seinen verschiedenen Abstufungen zum gewohnten habitus werden; jeder Verstoß gegen das eine oder andre aber im Gewissen als sittliche Rüge zum Anklang kommen.

Auf die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens haben wir uns hiebei nicht einzulassen. Die vermeintlich indifferente Wahlfreiheit ist von jeder Philosophie, die des Namens werth war, immer als ein leeres Phantom erkannt worden; die sittliche Werthbestimmung der menschlichen Handlungen und Gesinnungen aber bleibt von jener Frage unberührt.

77.

Unter den sinnlichen Reizen ist der geschlechtliche einer der stärksten; weßwegen man unter Sinnlichkeit nicht selten geradezu dasjenige versteht, was im Menschen mit diesem Triebe zusammenhängt. Zu ihm verhielt sich bekanntlich das Alterthum anders als die neuere christliche Zeit. Es betrachtete und behandelte denselben mit einer Unbefangenheit, die uns bisweilen Schamlosigkeit dünken will. Es nahm für ihn das vollste Recht des Daseins und des Wirkens in Anspruch. In den alten Religionen namentlich Vorderasiens finden wir diese Richtung mitunter in ungeheuerlichen Gestalten und Gebräuchen ausgeprägt. Die Griechen wußten während ihrer bessern Zeit dieselbe wenigstens in die Formen des menschlich Schönen zurückzuführen; während die Römer, nach anfänglich größerer Strenge, in der Folge mit den Schätzen des überwundenen Asiens auch alle Wildheit dortigen Sinnentaumels in ihre Hauptstadt verpflanzten. Die Juden hielt ihr Religionshaß gegen ihre syrischen Nachbarn auch von deren Ausschweifung ab; indeß Ehe und Kinderzeugung bei ihnen in Ehren standen. Aber wehren konnten sie dem allgemeinen Sittenverderben, das gegen das Ende der römischen Republik und mit dem Anfang des Kaiserreichs über die alte Welt hereinbrach, und worin die Entartung der geschlechtlichen Verhältnisse eine Hauptrolle spielte, nicht.

Die Menschen waren mit Genüssen aller Art übersättigt; es überkam sie ein Uebelbefinden, eine Stimmung ging durch die Welt, wie es im west-östlichen Divan heißt:

Perser nennen's bidamag buden,
Deutsche sagen Katzenjammer.

Man hatte sich in der Sinnlichkeit übernommen; jetzt fing man an, sich an ihr zu ekeln, sie zu verabscheuen. Da und dort im römischen Weltreiche traten dualistische Ideen und ascetische Richtungen zu Tage. Schon bei den sogenannten Neupythagoreern ist eine Abkehr von der Sinnenwelt zu bemerken; jetzt trat selbst unter dem ehe- und kinderfrohen Judenvolke die Secte der Essener auf, die in ihrer strengern Observanz die Ehe, sammt Fleisch- und Weingenuß verwarfen.

Auch in die Anfänge des Christenthums, dessen Zusammenhang mit dem Essenismus eine eben so unabweisliche wie unerweisliche Voraussetzung bleibt, sehen wir diese Richtung hineinspielen. In dem Apostel Paulus, ja in Jesus selbst, ist insbesondere auch in Bezug auf das Verhältniß der beiden Geschlechter ein ascetischer Zug nicht zu verkennen. Der Heidenapostel läßt die Ehe nur als das geringere Uebel der wilden Brunst gegenüber gelten; während er das ehelose Leben für das einzige hält, worin man Gott ganz und ungetheilt dienen könne. Von der Ansicht, urtheilt sein aufrichtiger Verehrer Baur, daß die Ehe nicht blos ein natürliches, sondern auch ein sittliches Verhältniß sei, war der Apostel weit entfernt. Und auf dem gleichen Standpunkt erscheint auch Jesus, bei aller Milde gegen Sünderinnen wie gegen Sünder, vornehmlich in dem Geheimspruch von solchen, die um des Himmelreichs willen sich selber verschnitten haben. Entschieden jedenfalls ist in der kirchlichen Ansicht vom Menschen die Sinnlichkeit in der Bedeutung, wie wir hier von ihr reden, etwas das eigentlich nicht sein sollte, das erst durch den Sündenfall in die Welt gekommen ist. Im Paradiese sollte das erste Menschenpaar der althebräischen Erzählung nach zwar auch schon fruchtbar sein und sich mehren; aber, meinten die christlichen Kirchenväter, ohne sinnliche Begierde und Lust; wobei begreiflich die Menschheit ausgestorben wäre, wie sie verhungern würde, wenn essen nicht wohl und hungern weh thäte.

Im Gegentheil liegen jene sinnlichen Regungen in der normalen Einrichtung der menschlichen Natur, weil sie überhaupt in den Gesetzen des animalischen Lebens, dem der Mensch angehört, begriffen sind. Nur sollen sie bei'm Menschen nicht wie bei'm Thiere das Ganze der Erregung ausmachen, sondern menschlich veredelt sein. Schon das ästhetische Moment, der Schönheitssinn, der dabei nach dem Maße der Bildung des einzelnen Menschen in's Spiel kommt, ist eines dieser veredelnden Momente. Aber es ist für sich noch nicht genug. In keinem Volke war der Schönheitssinn, gerade auch in Betreff des Verhältnisses der Geschlechter, entwickelter als bei den Griechen, und doch ist es bei ihnen zuletzt auf's äußerste entartet. Es fehlte an dem gemüthlich-sittlichen Momente, wie es in der Ehe sich entfalten soll. Von der griechischen Ehe sind uns aus der Heroenzeit ein paar schöne dichterische Bilder überliefert; aber gerade während der Zeit der politischen und Culturblüthe dieses Volkes tritt die fast orientalisch abgeschlossene Ehefrau gegen die gebildete Hetäre zurück. Bei den Römern galt die Matrone Anfangs mehr; aber die Härte des römischen Wesens zeigte sich auch in diesem Verhältniß, und so ging es denn in der spätern Zeit zur äußersten Zügellosigkeit auseinander.

Ob es das Christenthum oder das Germanenthum gewesen, das die Ehe gemüthlich veredelt und dadurch dem Verhältniß der Geschlechter die höhere sittliche Weihe gegeben hat, darüber wird gestritten. Daß mit dem Eintreten des Christenthums in den sich ihm zuwendenden heidnischen Kreisen die Ueberwucherung des Sinnlichen weggeschnitten, und das eheliche Verhältnis, überhaupt das häusliche Leben inniger geworden, liegt geschichtlich vor; alsbald jedoch stellte sich auch das ascetische Wesen ein, und heuchlerische Scheinheiligkeit blieb nicht lange aus. Der gesunde germanische Geist hatte lange Zeit und die Unterstützung durch die antike Denkweise im Humanismus nöthig, ehe er in der Reformation wenigstens die Ascese abzuwerfen im Stande war; ohne jedoch, weil die verkehrte Grundanschauung vom Sinnlichen blieb, sich der Heuchelei und des Muckerthums gründlich entledigen zu können.

Die Monogamie fand das Christenthum in dem Kreise seiner ersten Verbreitung fast allenthalben, namentlich auch bei den germanischen Völkern, vor; und dieselbe hat sich seitdem der Polygamie gegenüber, die der Islam von Neuem in Schwung brachte, dadurch als die höhere Form erwiesen, daß die polygamischen Völkerschaften, selbst nach vielversprechenden Anläufen, sich doch schließlich durchaus auf untergeordneten Culturstufen festgehalten sahen. Nur gegenseitig können sich die beiden Geschlechter zur Humanität erziehen; diese Gegenseitigkeit aber erfordert eine Gleichstellung, wie sie zwar auch in der Monogamie noch nicht von selbst gegeben, in der Polygamie aber schlechterdings unmöglich ist, die auch der sittlichen Erziehung der Kinder unübersteigliche Hindernisse in den Weg legt. Der Vielweiberei haftet durchaus etwas Thierisches an: die Grundlage alles wahrhaft menschlichen Zusammenlebens wird immer der heilige Cirkel bleiben, den Mann, Frau und Kind, gleichsam das sittliche Universum im Kleinen, die unmittelbarste Gegenwart des Göttlichen in der Menschenwelt, mit einander bilden.

Dem unter den Juden seiner Zeit herrschend gewordenen Mißbrauche gegenüber, wornach der Ehemann seine Frau ganz willkürlich fortschicken konnte, stellte sich Jesus als Idealist auf die Seite des andern Extrems, indem er das eheliche Band, mit alleiniger Ausnahme des von der einen Seite begangenen Ehebruchs, für moralisch unauflöslich erklärte. Allein die Ehescheidungsfrage ist eine so verwickelte praktische Aufgabe, daß sie sich nur aus reicher Erfahrung, nicht aus dem bloßen, wenn auch noch so hoch gestimmten Gefühl oder einem allgemeinen Grundsatz heraus lösen läßt. Auch macht sich der Unterschied der Zeiten und der Bildungsstufen der Völker, auf den sich Jesus für die Erschwerung der Ehescheidung berief, ebenso wieder in umgekehrtem Sinne geltend. Zu dem Ehebruch, der als Scheidungsgrund für rohere Zeiten und Verhältnisse genügen mochte, haben sich mit dem Fortschreiten der Bildung eine Menge feinerer Differenzen gesellt, die eine gedeihliche Fortsetzung des ehelichen Zusammenlebens ebenso unmöglich machen können wie jener. Die Aufgabe der Ehegesetzgebung ist nur durch ein Compromiß zu lösen. Es gilt, einerseits der Willkür zu wehren, die Ehe als Sache nicht blos des sinnlichen Begehrens oder ästhetischen Wohlgefallens, sondern eines vernünftigen Wollens, einer sittlichen Verpflichtung, aufrecht zu erhalten, insbesondre auch um der Kinder willen, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die jedesmalige Sachlage wesentlich verändert; ohne doch andrerseits, sobald längerer Erfahrung und einsichtiger Prüfung die Unmöglichkeit ersprießlichen Zusammenlebens zweier Gatten sich herausgestellt hat, die Lösung des Bandes allzusehr zu erschweren.

78.

Doch wir müssen, nach diesen allgemeinen ethischen Betrachtungen, uns des realen Grundes erinnern, auf welchem alle sittlichen Verhältnisse sich entwickeln.

Nach einem Gesetze, das wir durch die ganze Natur gehen sehen, besondert sich die menschliche Gattung in Racen, wie sie sich weiterhin, im Anschluß an die Gliederung der Erdoberfläche und den Gang der Geschichte, in Stämme und Nationen zusammenthut. Die Abtheilungen sind nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen: bald sind kleinere Häuflein zu größeren Massen zusammengeronnen, bald haben sich größere Ganze in kleinere Gruppen aufgelöst. Ebensowenig sind die räumlichen Verhältnisse unverändert geblieben: bald sind die Stämme in ganz andre Länder übergewandert, bald haben sie wenigstens ihre Grenzen gegen einander verrückt. Mit der Zeit haben Meere, Gebirge, Wüsten oder Steppen, sich doch immer mehr als bleibende Scheidewände geltend gemacht, innerhalb deren sich dann die Völker jedes mit eigener Sprache und Sitte eingerichtet haben. Schlechthin fest indeß stehen auch diese Grenzen nicht, zumal sie keineswegs überall scharf gezogen sind; es findet, auch nachdem die Massen im Großen zur Ruhe gekommen, doch im Kleinen ein beständiges Drängen und Schieben, Uebergreifen und Abwehren statt.

Die ganze bisherige Geschichte besteht in nichts andrem als in der innern Entwicklung dieser Stämme, ihrer Reibung und Mischung, der Unterjochung des einen durch den andern, endlich vieler durch einen; weiterhin in dem Zerfall dieser großen Monarchien und abermaliger Bildung kleinerer Staaten; das alles begleitet von beständiger Umgestaltung der Sitten und Einrichtungen, Vermehrung der Kenntnisse und Fertigkeiten, Verfeinerung der Bildung und Empfindung; Fortschritte, die jedoch nicht selten theils durch allmählige Rückgänge, theils auch durch plötzliche Rückfälle unterbrochen sind. Dabei sehen wir den Gesichtskreis der Menschheit sich stufenweise erweitern, sehen gerade durch die härtesten und gewaltsamsten jener Veränderungen, die Versuche zu Universalmonarchien, zwar viel Einzelglück und Wohlstand gestört, aber doch den Fortschritt der Gattung wesentlich gefördert.

Im vorigen Jahrhundert war bei den Stimmführern der Geistesbildung und Gesittung niemand übler angeschrieben als ein Eroberer; der gottlose Dichter der Pucelle und der gottselige Sänger der Messiade wetteiferten darin, ihrem Abscheu gegen diese Blutmenschen Ausdruck zu geben; und wenn der erstere selbst dem großen Friedrich seine Kriege um Schlesien nicht verzieh, so vergaß der andre ganz, daß wir ohne des großen Alexander Einfall in Asien schwerlich ein Christenthum haben würden. Uns hat seitdem eine tiefere Geschichtsbetrachtung gelehrt, daß es der Entwicklungstrieb der Völker und der Menschheit ist, der durch die persönlichen Triebfedern, den Ehrgeiz, die Herrschsucht jener Individuen hindurch wirkt, und sich nur in den einzelnen nach ihrer persönlichen und nationalen Eigenthümlichkeit verschieden gestaltet; wornach sich dann die Werthverschiedenheit zwischen ihnen bestimmt. Doch welcher Unterschied des intellectuellen und moralischen Werthes und ebenso der kriegerischen und politischen Bedeutung auch zwischen einem Alexander und einem Attila, einem Cäsar und Napoleon stattfinden möge: weltgeschichtliche Hebel bleiben sie allesammt; wir können uns die Entwicklung der Menschheit, den Fortschritt ihrer Cultur, ohne ihr Eingreifen nicht denken.

Sofern das Mittel des Eroberers der Krieg, und eben dieses eherne Werkzeug es ist, das den Völkern so blutige Wunden schlägt, so hat sich in unsern Zeiten der humane Eifer geradezu gegen den Krieg gewendet. Man erklärt ihn für schlechthin verwerflich, bildet Vereine, hält Versammlungen, um auf seine völlige Abschaffung hinzuwirken. Warum agitirt man nicht auch für Abschaffung der Gewitter? muß ich hier immer wieder fragen. Das eine ist nicht blos so wenig möglich, sondern, wie die Dinge nun einmal liegen, auch so wenig wünschenswerth wie das andre. Wie sich in den Wolken immer Electricität ansammeln wird, so wird sich in den Völkern immer von Zeit zu Zeit Kriegsstoff ansammeln. Niemals werden die Nationen und Staaten der Erde ganz so gegen einander abgegrenzt und abgewogen sein, wie es ihren Bedürfnissen oder Ansprüchen für immer gemäß ist; und ebenso werden im Innern der einzelnen Staaten bisweilen Verschiebungen, Hemmungen, Stockungen eintreten, die in die Länge unerträglich sind. Bei'm Parteienkampf innerhalb desselben Volkes läßt sich in den meisten Fällen durch friedliche Verständigung helfen; zwischen zwei Völkern mögen sich untergeordnete Punkte durch freigewählte Schiedsgerichte schlichten lassen; im Streit über Lebens- und Machtfragen dagegen werden sie sich vielleicht eine Zeit lang zu vertragen suchen, in der Regel jedoch wird der Vertrag nur ein Waffenstillstand sein, bis das eine für sich oder durch Bundesgenossen sich so stark glaubt, um losbrechen zu können. Die ultima ratio der Völker wie sonst der Fürsten werden auch ferner die Kanonen sein.

Ich sage: sonst der Fürsten. Denn darauf ist ja in allewege hinzuwirken, und es macht sich auch mehr und mehr von selbst, daß ehrgeizige Fürstenwillkür immer weniger im Stande sein wird, für sich Kriege anzufangen. Napoleon III. hätte den letzten Krieg nicht erklärt, wenn er nicht sein unruhiges und eitles Volk hinter sich gewußt, ja sich von demselben gedrängt gefühlt hatte; und König Wilhelm hatte dem Krieg auszuweichen gesucht, wenn er sich nicht bewußt gewesen wäre, mit der Aufnahme desselben nach dem Sinn und aus dem Herzen des braven deutschen Volkes zu handeln. Dießmal war die Annahme des Kriegs von deutscher Seite ein rein rationeller Act: wäre Kant selbst Minister des Königs von Preußen gewesen, er hätte ihm nicht anders rächen können. Das setzt aber schon von der andern Seite Leidenschaft und Unvernunft voraus, und an dieser wird es, so lange Menschen Menschen bleiben, bei Völkern wie bei einzelnen niemals fehlen. Die Kriege werden seltener werden, aber aufhören werden sie nicht.

Von den Rednern und Rednerinnen des famosen Lausanner Friedenscongresses war wohl kaum vorauszusetzen, daß sie horazische Oden auswendig wissen; sonst hätte man sie an den Vers von der Wuth des grimmigen Leuen erinnern können, wovon der Menschenbildner Prometheus ein Stück dem Herzen des Menschen zugesetzt habe. Indeß die Theorie des Nachbars Carl Vogt, der sie ohne Zweifel zustimmen, mußte sie zu dem gleichen Ergebniß führen. Stammt der Mensch, wenn auch als der höchste geläutertste Sprößling, aus dem Thierreich her, so ist er von Hause aus ein irrationelles Wesen; es wird, bei allen Fortschritten von Vernunft und Wissenschaft, doch die Natur, Begierde und Zorn, immer eine große Gewalt über ihn behalten; und – wissen Sie, meine Damen und Herren, wann Sie es dahin bringen werden, daß die Menschheit ihre Streitigkeiten nur noch durch friedliche Uebereinkunft schlichten wird? An dem gleichen Tage, wo Sie die Einrichtung treffen, daß dieselbe Menschheit fortan nur noch durch vernünftige Gespräche sich fortpflanzt.

79.

Waren in früheren Zeiten die Kriege vorzugsweise durch das Streben einzelner Völker und ihrer Beherrscher veranlaßt, andre Völker zu unterjochen und auszubeuten, die eigene Gewalt über ihren natürlichen Bereich hinüber auszudehnen: so ist in der neuesten Zeit, wenn wir von den Eroberungskriegen europäischer Nationen in fremden Welttheilen absehen, die häufigste Kriegsursache das Verlangen der Völker, ihre natürlichen und nationalen Grenzen zu gewinnen, d. h. entweder, wo ein Volk derselben Sprache in verschiedene Staaten zertheilt ist, diese Schranken niederzuwerfen, oder, wo Stücke dieses gleichsprachigen Stammes von andersredenden Völkern zu ihrem Staate geschlagen sind, diese zurückzugewinnen. Das ist das sogenannte Nationalitätsprincip, das in diesem Jahrhundert, ursprünglich als Reaction gegen das Weltherrschaftsstreben des ersten Napoleon in Thätigkeit getreten, während der beiden letzten Jahrzehnte erst unter dem bald wieder zurückgezogenen Schutze des dritten Napoleon Italien, dann im Kampfe gegen ihn Deutschland umgestaltet hat.

Wenn nun wir Deutsche dieses Princip mit voller Zustimmung begrüßt und uns angeeignet haben, ohne daß wir doch gemeint wären, es bis in seine äußersten Konsequenzen durchzusetzen; wenn wir also, zufrieden, unsrem Volks- und Reichskörper eine Ausdehnung gegeben zu haben, die ihn nicht blos lebens-, sondern auch widerstandsfähig und stark macht, an ein gewaltsames Wiederfordern der deutschen Gebiete der Schweiz, oder der russischen Ostseeprovinzen, ja selbst der deutschen Provinzen Oesterreichs, nicht denken: sehen wir neben uns, im Zusammenhang eben mit jenen falschen Friedenspredigten, eine Lehre emporwachsen, die von einem Nationalitätsprincip nichts mehr wissen will, der eine gewisse Staats- und Gesellschaftsform über die nationale Zusammengehörigkeit geht. Die großen Nationalstaaten sollen sich in Haufen verbündeter kleiner Socialdemokratien auflösen, zwischen denen alsdann die Verschiedenheit der Sprache und Nationalität keine trennende Schranke, keinen Anlaß zum Hader mehr abgeben würde.

Das nennt sich wohl auch Kosmopolitismus, gebärdet sich als ein Aufsteigen von dem beschränkten nationalen zu dem universalen Standpunkte der Menschheit. Aber wir wissen: bei jeder Appellation muß der Instanzenzug eingehalten werden. Die mittlere Instanz zwischen dem Einzelnen und der Menschheit aber ist die Nation. Wer von seiner Nation nichts wissen will, der wird damit nicht Kosmopolit, sondern bleibt Egoist. Zum Menschheitsgefühl rankt man sich nur am Nationalgefühl empor. Die Völker mit ihren Eigenthümlichkeiten sind die gottgewollten, d. h. die naturgemäßen Formen, in denen die Menschheit sich zum Dasein bringt, von denen kein Verständiger absehen, kein Braver sich abziehen darf. Unter den Schäden, an denen das Volk der Vereinigten Staaten Nordamerikas krankt, ist einer der tiefsten der Mangel des nationalen Charakters. Auch unsre europäischen Nationen sind Mischvölker: in Deutschland, Frankreich, England haben sich celtische, germanische, romanische, slavische Bestandtheile vielfach übereinandergeschoben und bunt durcheinandergemengt. Aber schließlich haben sie sich doch durchdrungen, sich im Hauptkörper der Nationen (gewisse Grenzstriche abgerechnet) zu einem neuen Producte, eben der jetzigen Nationalität jener Völker, neutralisirt. In den Vereinigten Staaten hingegen brodelt und gährt der Kessel, in Folge unaufhörlichen Zuschüttens neuer Ingredienzien, immer fort; die Mischung bleibt ein Gemisch und wird kein lebendiges Ganze. Das Interesse an dem gemeinsamen Staate kann das nationale nicht ersetzen; es hat, wie thatsächlich vorliegt, nicht die Kraft, die Einzelnen aus der Enge ihrer Selbstsucht, ihrer Geldjagd, zu idealen Bestrebungen zu erheben; wo kein Nationalgefühl ist, da ist auch kein Gemüth.

Wir haben nicht vergessen, daß auch unsern großen Geistern im vorigen Jahrhundert, einem Lessing, Goethe, Schiller, die nationalen Grenzen mitunter zu enge waren. Wie sie sich als Weltbürger, nicht als deutsche Reichsbürger, geschweige denn als Sachsen oder Schwaben, fühlten, so war es ihnen auch zu wenig, nur im Sinne eines Volkes zu denken und zu dichten; Klopstock mit seiner Begeisterung für deutsche Nationalität und Sprache stand fast wie ein Sonderling da. Dennoch wußte Schiller wohl, und sprach es mit der ganzen Wucht seiner tüchtigen Gesinnung aus, daß der Einzelne »an das theure Vaterland sich anzuschließen« habe, weil nur »hier die starken Wurzeln seiner Kraft seien«; und ebenso finden sich bei den beiden andern großen Männern der Aeußerungen genug, welche dafür zeugen, daß bei ihnen der Kosmopolitismus den Patriotismus keineswegs ausschloß. Dann aber, worin bestand ihr Kosmopolitismus? Sie umfaßten in ihrem Mitgefühle die ganze Menschheit, sie wünschten ihre Ideen von schöner Sittlichkeit und vernünftiger Freiheit nach und nach bei allen Völkern verwirklicht zu sehen. Was hingegen wollen die jetzigen Prediger der Völkerverbrüderung? Sie wollen vor allem Ausgleichung der materiellen Bedingungen des menschlichen Daseins, der Mittel zum Leben und zum Genuß; das Geistige steht in zweiter Linie und soll hauptsächlich jene Mittel zum Genusse beschaffen helfen; auch hierin arbeitet man auf eine Ausgleichung, auf ein leidiges Mittelmaß hin, dem gegenüber das Höhere mit Gleichgültigkeit, wo nicht mit Mißtrauen, angesehen wird. Nein, auf Goethe und Schiller darf sich diese Sorte von Weltbürgern nicht berufen.

Mit wem sie Hand in Hand gehen, das sind, wie längst thatsächlich vor Augen liegt, nur jene, die, sie mögen in Deutsch- oder Welschland, in England oder Amerika wohnen, ihre Heimath im Vatican haben. Sie wollen den nationalen Staat nicht, weil er ihren universalen Priesterstaat beschränkt; wie jene andern ihn nicht wollen, weil er ihrem Individualstaate, dem Auseinandergehen der Menschheit in schwach organisirte und lose verknüpfte kleine Demokratien, im Wege steht. Wenn die Ultramontanen, nicht selten unter scheinbarer Anrufung politischer Freiheitsrechte, doch nur auf Geistesknechtung hinarbeiten, so ist auch bei den Internationalen, gerade durch die Obenanstellung des Individuums mit seinen materiellen Bedürfnissen und Anforderungen, das höhere geistige Interesse in Gefahr. Einzig in ihrer natürlichen nationalen Gliederung vermag die Menschheit dem Ziel ihrer Bestimmung näher zu kommen; wer diese Gliederung verschmäht, wer ohne Pietät für das Nationale ist, den dürfen wir durch ein hic niger est bezeichnen, ob er die schwarze Kappe oder die rothe Mütze trage.

80.

Was die verschiedenen Staatsformen betrifft, so darf man wohl dermalen als die bei uns in Deutschland vorherrschende Ansicht die betrachten, daß an sich zwar die beste Staatsform die Republik, diese jedoch in Anbetracht der Umstände und Verhältnisse vor der Hand für die europäischen Großstaaten noch nicht an der Zeit, bis auf Weiteres mithin und auf einen nicht genau festzustellenden Termin mit der so leidlich wie möglich zu gestaltenden Monarchie vorlieb zu nehmen sei. Dieß ist immerhin schon ein Fortschritt der Einsicht in Vergleichung mit der Zeit vor 24 Jahren, wo eine zahlreiche Partei unter uns die Monarchie als überwundenen Standpunkt betrachtete, und geradewegs auf die Republik lossteuern zu können meinte.

Die Frage indeß, welches an sich die beste Staatsverfassung sei, bleibt immer schief gestellt. Sie gleicht der Frage, welches die beste Kleidung sei; einer Frage, die sich ohne Rücksicht auf Klima und Jahreszeit einer-, auf Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand andrerseits gar nicht beantworten läßt. Eine absolut beste Staatsform gibt es nicht, weil die Staatsform wesentlich etwas relatives ist. Die Republik kann für die Vereinigten Staaten in den unermeßlichen Räumen Nordamerika's, denen von keinem Nachbar, höchstens von den Parteien im eigenen Innern Gefahr droht, sie kann für die Schweiz in ihren Bergen, deren Neutralität überdieß durch das eigene Interesse der Nachbarstaaten garantirt ist, vortrefflich, und darum doch für Deutschland, eingeklemmt zwischen dem umsichgreifenden Rußland und dem stets unruhigen, jetzt noch dazu rachebrütenden Frankreich, verderblich sein.

Sofern jedoch die Meinung ungefähr dahin geht, zu wissen, welche von den verschiedenen Staatsformen der Würde, oder, um besser, d.h. unvorgreiflicher zu reden, der Natur und Bestimmung des Menschen am gemäßesten sei, so fehlt auch in diesem Sinne viel, daß die Frage schon zu Gunsten der Republik entschieden wäre. Geschichte und Erfahrung lehren uns bis jetzt keineswegs, daß die Menschheit in republikanischen Staaten ihrer Bestimmung (und das kann doch nur heißen, der harmonischen Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten) näher gefördert oder sicherer entgegenschreitend erschiene als in monarchischen. Daß die Republiken des Alterthums hier gar nicht in Betracht kommen, ist anerkannt, sofern sie vermöge der sie bedingenden Sclaverei vielmehr sehr ausschließende Aristokratien waren. In den mittleren Zeiten tritt uns die Republik nur in kleineren Gemeinwesen, hauptsächlich Städten und Stadtgebieten, und abermals, wenn auch ohne eigentliche Sclaverei, meistens in höchst aristokratischen Formen, entgegen. In der neuesten Zeit erscheint sie theils vorübergehend, wie namentlich in Frankreich als Durchgangspunkt gewaltsamer politischer Krisen; als bleibende Einrichtung im größten Maßstab in Nordamerika, im kleineren in der Schweiz.

Gewisse Vorzüge haben nun allerdings diese beiden Republiken, die einzigen festbegründeten, augenscheinlich mit einander gemein. Vor allem den, der dieser Staatsform auch ganz besonders die Gunst der Menge erworben hat: bei geringer Belastung der Staatsbürger den meistens günstigen Stand der Finanzen. Dann das nicht blos passive, sondern active, thätig mitbestimmende Verhältniß des Bürgers zur Regierung. Damit hängt der freiere Spielraum zusammen, der überhaupt dem Einzelnen für seine Thätigkeit und sein Belieben gelassen ist. Doch dieß hat auch unmittelbar seine Schattenseite, indem es zugleich der politischen Wühlerei Thür und Thor öffnet, den Staat in fortwährender Gährung erhält und auf die schiefe Ebene stellt, auf der er beinahe unvermeidlich zu immer roherer Demokratie, jedenfalls der schlechtesten aller Staatsformen, heruntergleitet.

Während wir nun aber die Theilnahme des Staatsbürgers an der Regierung und die freiere Bewegung, so weit sie mit der Festigkeit des Staates verträglich ist, auch in die Monarchie einzuführen nicht verzweifeln, vermissen wir in den beiden genannten Republiken dasjenige Gedeihen der höhern geistigen Interessen, wie wir es in dem monarchischen Deutschland und beziehungsweise auch in England finden. Nicht als ob es an Schulen, an höhern wie niedern Lehranstalten, und zwar zum Theil recht wohl ausgestatteten und eingerichteten, fehlte. Aber wir vermissen die höhern Resultate. In der Schweiz sind ja doch die tonangebenden Cantone deutsch, in den Vereinigten Staaten nächst dem englischen gleichfalls das deutsche Element als das herrschende zu betrachten: und dennoch fehlt viel, daß Wissenschaft und Kunst in der Schweiz oder in Nordamerika diejenige selbstständige Blüthe entwickelt hätten, die sie in Deutschland oder England zeigen. Die Schweiz hat gar keine eigene klassische Literatur, sondern geht hierin geradezu bei uns zu Gaste; wie sie die Lehrstellen an ihren Hochschulen noch immer vorzugsweise mit Deutschen oder in Deutschland Gebildeten besetzen muß. In ähnlichem Verhältniß steht die nordamerikanische Literatur zur englischen, und so weit dieß nicht der Fall ist, sehen wir sowohl die Wissenschaft wie den Unterricht in Nordamerika vor Allem auf das Exacte und Praktische, auf Brauchbarkeit und Nützlichkeit gestellt. Mit Einem Worte: uns Deutsche spricht aus der Geistesbildung in diesen Republiken etwas Banausisches, etwas grob-Realistisches und prosaisch-Nüchternes an; auf ihren Boden versetzt, fehlt uns die feinste geistige Lebensluft, die wir in unsrer Heimath geathmet hatten; während wir überdieß in Nordamerika die Luft durch eine Fäulniß innerhalb der tonangebenden Klassen verpestet finden, deren gleichen in Europa nur in seinen verwahrlosesten Theilen anzutreffen ist. Da wir nun aber zu erkennen glauben, daß diese Mängel, neben dem Fehlen der Nationalität, mit dem Wesen der republikanischen Staatsform in innerem Zusammenhange stehen, so sind wir weit entfernt, dieser ohne Weiteres den Preis vor der monarchischen zuzuerkennen.

81.

So viel ist gewiß: einfacher, verständlicher ist die Einrichtung einer Republik, selbst einer großen, als die einer wohlorganisirten Monarchie. Die schweizerische Bundesverfassung, der einzelnen Cantonalverfassungen zu geschweigen, verhält sich zur englischen wie eine Bachmühle zu einer Dampfmaschine, wie ein Walzer oder ein Lied zu einer Fuge oder Symphonie. In der Monarchie ist etwas Räthselhaftes, ja etwas scheinbar Absurdes; doch gerade darin liegt das Geheimniß ihres Vorzugs. Jedes Mysterium erscheint absurd, und doch ist nichts Tieferes, weder Leben noch Kunst noch Staat, ohne Mysterium.

Daß der blinde Zufall der Geburt ein Individuum über alle andern erheben, es zur bestimmenden Macht über die Schicksale von Millionen machen, daß dieser Eine, trotz möglicherweise beschränkter Geisteskräfte oder verkehrten Charakters, der Herr, und so viele bessere und intelligentere als er seine Unterthanen heißen, seine Familie, seine Kinder hoch über allen andern Menschenkindern stehen sollen, – dieß verkehrt, empörend, mit der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen unvereinbar zu finden, dazu braucht es nicht viel Verstand; weßwegen derlei Redensarten auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Plattheit gebildet haben. Mehr Geduld, mehr Selbstverleugnung, tieferes Eindringen und schärferen Blick erfordert es, zu ermessen, wie gerade in dieser Stellung eines Einzelnen mit seiner Familie auf einer Höhe, wo der Streit der Interessen und Parteien ihn nicht erreicht, wo er jedem Zweifel an seiner Befugniß, jedem Wechsel außer dem natürlichen, den der Tod herbeigeführt, entnommen, aber auch in diesem Falle ohne Wahl und Kampf durch den gleichfalls natürlich vorherbestimmten Nachfolger ersetzt ist – es liegt weniger auf der Oberfläche, sage ich wie eben hierauf die Stärke, der Segen, der unvergleichliche Vorzug der Monarchie beruht. Und doch ist es nur diese Einrichtung, welche den Staat vor den Erschütterungen und Verderbnissen bewahrt, die von dem alle paar Jahre wiederkehrenden Wechsel des oder der höchsten Staatsbeamten unzertrennlich sind. Das Treiben bei den nordamerikanischen Präsidentenwahlen insbesondere, die unvermeidliche Bestechung, die Nothwendigkeit, die Helfershelfer nachher durch Stellen zu belohnen, und dann bei ihrer Amtsführung durch die Finger zu sehen, die daraus fließende Käuflichkeit und Corruption gerade in den regierenden Kreisen, alle diese tiefliegenden Schäden der gepriesenen Musterrepublik sind während der letzten Jahre wiederholt so grell zu Tage getreten, daß dadurch der Eifer deutscher Klubredner, Publicisten und Poeten, ihre politischen und gar auch sittlichen Ideale jenseits des atlantischen Oceans zu suchen, doch einigermaßen abgekühlt worden ist.

Nach solchen über den Kanal zu schauen, ist zwar gleichfalls nicht das Rechte; doch können wir von den Engländern immerhin noch mehr und Besseres lernen als von den Amerikanern. Insbesondere eine richtigere Schätzung dessen, was ein Volk an einer angestammten Monarchie und Dynastie besitzt. Man konnte sich in den letzten Jahren etwas erschreckt und um die politische Gesundheit Englands beunruhigt finden durch die republikanische Agitation, die sich dort entwickelte; denn daß die Republik finis Britanniae wäre, kann keinem auch nur halbwegs Verständigen entgehen. Aber siehe, da erkrankt der Prinz von Wales lebensgefährlich, und obwohl die Nation an der Persönlichkeit und dem Wandel des Thronfolgers Manches auszusetzen hatte, steigt doch die allgemeine Theilnahme bis zu einer solchen Höhe, daß selbst jene republikanischen Wühler sich veranlaßt finden, eine Beileidsadresse an die Königin in Scene zu setzen. Welcher gesunde politische Instinct im englischen Volke! Wie dürfen um denselben die Franzosen es beneiden, die ihre Dynastie mit pietätsloser Hast ausgewurzelt haben, und nun zwischen Despotismus und Anarchie nicht leben und nicht sterben können. Und wie dürfen wir Deutschen uns glücklich preisen, daß in Folge der Thaten und Ereignisse der letzten Jahre die Dynastie der Hohenzollern auch über die preußischen Grenzen hinaus in allen deutschen Landen, allen deutschen Herzen, tiefe unaustilgbare Wurzeln geschlagen hat.

Daß die Monarchie sich mit republikanischen Institutionen zu umgeben habe, ist eine französische Phrase, über die wir hoffentlich hinaus sind; auch den Parlamentarismus als Panier aufzupflanzen, heißt noch nach einem ausländischen Ideale blicken: aus dem Charakter des deutschen Volkes vielmehr und den Verhältnissen des deutschen Reiches sollen und werden sich, im Zusammenwirken von Regierung und Nation, die Einrichtungen entwickeln, welche geeignet sind, die Stärke des Zusammenhalts mit der Freiheit der Bewegung, das geistige und sittliche mit dem materiellen Gedeihen zu vereinigen.

82.

Ich bin ein Bürgerlicher, und bin stolz darauf es zu sein. Der Bürgerstand, man mag von beiden Seiten her reden und spotten so viel man will, bleibt doch immer der Kern des Volks, der Herd seiner Sitte, nicht allein Mehrer seines Wohlstandes, sondern auch Pfleger von Wissenschaft und Kunst. Der Bürgerliche, der sich zu ehren meint, wenn er die Erhebung in den Adelsstand nachsucht oder gar erkauft, schändet sich in meinen Augen; und selbst wenn ein verdienter Mann aus dem Bürgerstande die ihm als Belohnung gebotene Standeserhöhung dankbar annimmt, zucke ich die Achseln als über eine mitleidswerthe Schwäche.

Dabei bin ich indeß weit entfernt, ein Feind des Adels zu sein, oder seine Abschaffung für wünschenswerth zu halten. Wer es mit der Monarchie aufrichtig meint, darf das nicht. Was ein Thron über einer nivellirten Gesellschaft bedeutet, haben wir wiederholt in Frankreich gesehen. Umgekehrt, was ein rechter Adel zu leisten vermag nach beiden Seiten hin, als Wahrer der Volksfreiheiten wie als Stütze einer gesetzlichen Königsmacht, sehen wir noch heute in England. In den organischen Bau einer constitutionellen Monarchie gehört ein tüchtiger Adel als unentbehrliches Glied herein, und es kann sich nicht darum handeln, ihn hinauszuwerfen, sondern nur, ihm seine rechte Stellung anzuweisen. Diese beruht in erster Linie auf großem Grundbesitz, und die Gesetzgebung muß es dem Adel – wie freilich auch dem hochbegüterten Bürgerlichen – möglich machen, diesen Besitz innerhalb gewisser Schranken unzersplittert zu erhalten. Ebenso hat ihm die Verfassung, an der Seite der Großindustrie und so zu sagen der Großintelligenz, einen verhaltnißmäßigen Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten zu gewähren; und wenn z. B. der preußische Adel diesen ihm gewährten Einfluß im Herrenhause bis jetzt keineswegs zum Besten des Staates verwendet hat, so ist der Fehler eben der, daß die Vertretung des Adels in jener Körperschaft noch zu wenig, durch Vertreter der Industrie und der Intelligenz gekreuzt ist.

Daß dafür die jüngern Söhne des Adels auf die hohem Stellen im Militär, der Diplomatie und selbst der Regierung ein fast ausschließliches Vorrecht hatten, sahen wir bisher besonders in Preußen, und sahen es mit Mißbilligung. Hier verlangen wir durchaus freie Concurrenz, und zwar ebenso im Interesse des Staats, wie als Recht sämmtlicher Staatsbürger. Daß eben in den letzten Jahren Angehörige des Adelsstandes die Angelegenheiten Deutschlands im Kabinet wie im Felde in so ausgezeichneter Art verwaltet, und dadurch sich und ihrem Stande den unvergänglichen Dank der Nation verdient haben, darf uns in unsrem Verlangen nicht irre machen. Bürgerliche hätten es ohne Zweifel auch gekonnt, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten. Talente werden in allen Ständen geboren, und sie bilden sich aus, wenn man ihnen Laufbahnen eröffnet. Canning war der Sohn eines Weinhändlers, Robert Peel eines Baumwollenspinners, Nelson eines Pfarrers: und bei uns Deutschen ist Scharnhorst ein Bürgers-, der alte Derfflinger, wenn auch nicht selbst ein Schneider, doch ein Bauernsohn gewesen. Und auf der andern Seite, wie viel wäre zu erzählen von unfähigen Generalen und ungeschickten Diplomaten, die ihren Commandostab oder ihr Portefeuille einzig ihrem Adel verdankten! Schon im Jahre 1807 ertheilte ein preußisches Gesetz jedem Edelmann die Befugniß, ohne Nachtheil seines Standes bürgerliche Gewerbe zu treiben; es war dies ein Versuch, die Vorurtheile des deutschen Adels durch englische Staatsweisheit zu curiren, von dem man nur gar zu bald wieder abgekommen ist.

Indessen sind es nicht diese Reste von Adelsvorrechten, auch nicht der Andrang des vierten Standes von unten allein, wodurch der bürgerliche Mittelstand sich im Augenblick in einer bedenklichen Lage befindet. Es ist eine Krisis in ihm selbst, herbeigeführt durch die veränderten Erwerbs- und Lebensverhältnisse der Zeit. Von jeher und bis in die Mitte dieses Jahrhunderts herein sahen wir den Bürgerstand begründet auf langsam sichern Erwerb an der einen, Einfachheit und haushälterischen Sinn an der andern Seite. Der Handwerker, der Kaufmann, wie der Beamte oder Gelehrte, ließ sich die anhaltende Arbeit um mäßigen Ertrag nicht verdrießen, zufrieden, wenn er nach Jahrzehnten des Fleißes und der Sparsamkeit es dahin gebracht hatte, seine Kinder erzogen und ausgestattet, wohl auch noch etwas zurückgelegt zu haben, dessen sie sich nach seinem Tode als Erbtheils erfreuen mochten. Diese gute altbürgerliche Art jedoch hat längst angefangen, weder den Wünschen noch den Bedürfnissen mehr zu genügen. Die Wünsche vieler Angehörigen unsres Standes sind durch die Beispiele schnellster und beinahe müheloser Bereicherung Einzelner auf dem Wege sogenannter Speculation und des daran sich knüpfenden Luxus krankhaft gesteigert worden. Aber auch für die Bedürfnisse bürgerlicher Familien reicht die bisherige Erwerbsart bei aller Sparsamkeit immer weniger aus. Das Handwerk nährt kaum noch seinen Mann; wodurch ein Theil der Meister sich veranlaßt findet, zum fabrikmäßigen Betrieb aufzusteigen, ein andrer zum Verhältniß des Fabrikarbeiters sich herabgedrückt sieht. Der Kaufmann, dem sein Geschäft, der Rentner, dem sein Kapital zu wenig abwirft, versucht sein Glück im Börsenspiel. Am übelsten ist der Beamte daran, dessen Besoldung, trotz aller Aufbesserungen, immer weniger zum anständigen Unterhalt seiner Familie ausreicht. Hier ist gründliche Hülfe von Seiten des Staates nöthig, dessen Wohl mit der Integrität seines Beamtenstandes aufs äußerste gefährdet ist; wogegen indeß der Beamte seinerseits sich und den Seinigen anständige Einfachheit und Enthaltung von allem Modetand zur Pflicht machen soll. Gegen den Strom der Zeitverhältnisse zu schwimmen, ist weder rathsam noch auch nur möglich, jeder soll von ihnen Notiz nehmen und ihnen gerecht zu werden suchen; nur fortreißen sollen wir uns von dem Strome nicht lassen, sollen den Boden der Grundsätze, worauf wir bisher feststanden, nicht verlieren. Predigten gegen den Luxus sind zu allen Zeiten ein unfruchtbares Geschäft gewesen; hier aber steht Hannibal vor den Thoren in Gestalt eines vierten Standes, der, lange nur ein Anhängsel des dritten, sich nun selbstständig zusammengefaßt hat, und den dritten, wie die ganze bisherige Staats- und Gesellschaftsordnung, gewaltsam zu sprengen Miene macht.

83.

Unliebsam, wenn auch an dieser Stelle unvermeidlich, ist es, von dem sogenannten vierten Stande zu reden, weil man damit den ungesundesten Fleck der jetzigen Gesellschaft berührt. Und bekanntlich ist jede Wunde oder Krankheit um so schwieriger zu behandeln, je mehr sie bereits durch verkehrte Behandlung verschlimmert ist. Daß letzteres mit der sogenannten Arbeiterfrage der Fall sei, wird nicht bestritten werden können. An und für sich wäre schon zu helfen, wenn der Patient sich helfen lassen, oder auch in der rechten Art sich selbst helfen wollte. Aber ihm haben Quacksalber, und zwar vorzugsweise französische Quacksalber, das tollste Zeug in den Kopf gesetzt. Man sollte denken, die socialistische Beule, die in Frankreich seit Jahrzehnten herangeschwollen, habe sich in den Gräueln der Pariser Commune jetzt gründlich entleert; in den Flammen des Stadthauses und des Louvre sei der Gesellschaft aller Länder hell genug gezeigt, wohin gewisse Grundsätze führen; die Theilnehmer dieser Gesinnungen in Deutschland insbesondre müssen theils beschämt theils entmuthigt sein. Aber nichts weniger als das. In Versammlungen, in Tagblättern, in unsrem Reichstage selbst erfrecht man sich, zu billigen, ja zu preisen, was jeder gesunde Menschen- und Bürgersinn verabscheut, und damit zu zeigen, wozu man selbst unter Umständen fähig wäre. Dabei spricht sich nicht allein gegen den Besitz der herkömmliche Neid, sondern selbst gegen Kunst und Wissenschaft als Luxusbestrebungen des Besitzes der roheste Haß aus. Hier haben wir die Hunnen und Vandalen unsrer modernen Cultur, um so gefährlicher als die alten, da sie uns nicht von außen kommen, sondern in unsrer eigenen Mitte stehen.

Bekennen wir vor allem: es ist von der einen Seite viel gefehlt, insbesondre viel unterlassen worden; man hat menschliche Kräfte mitunter rücksichtslos ausgebeutet, ohne weder für das leibliche noch für das sittliche Gedeihen des Arbeiters gehörige Sorge zu tragen. Es sind hierauf wackere Männer aufgestanden, die den Arbeitern Anweisung zu friedlicher Selbsthülfe gaben; wohlgesinnte Fabrikherrn sind ihnen durch Anweisung von Wohnungen, Einrichtung von Kosthäusern, Förderung von Kranken- und Sterbecassen hülfreich entgegengekommen; bereits sehen wir in gewerbreichen Städten auch gemeinnützige Gesellschaften sich bilden, die sich insbesondere die Errichtung von Arbeiterwohnungen zur Aufgabe machen. Aber den wahren Propheten sind die falschen gegenüber getreten, und haben, wie dieß zu gehen pflegt, unter der Menge mehr Anhang gefunden. Schlagwörter, wie das von dem Kriege zwischen Kapital und Arbeit, Spott- und Schmähreden gegen die gehaßte Bourgeoisie, wie wenn sie ein abgeschlossener Stand und nicht dem intelligenten und fleißigen Arbeiter jeden Tag zum Eintritt offen wäre, sprechen sich so leicht nach, und werden so selten genauer untersucht. Eine auswärtige Gesellschaft, die nichts Geringeres als eine Umkehrung aller bestehenden socialen Verhältnisse sich vorgesetzt hat, spinnt ihre Fäden durch alle Länder, hetzt unsre Arbeiter und bildet ihre ursprünglich zu gegenseitiger Hülfleistung gegründeten Vereine zu Rüstkammern des Widerstandes gegen die Arbeitgeber um. Die an allen Enden und Orten, ganz besonders auch in der Hauptstadt des neuen deutschen Reichs, stets von neuem ausbrechenden Arbeiterstrikes sind ein Stück von Anarchie mitten im Staate, von Krieg im Frieden, von ungescheut am hellen Tage sich durchführender Verschwörung, deren ungestörte Fortdauer der Regierung und Gesetzgebung, die ihnen that- und willenlos zuschauen, nicht zur Ehre gereicht.

Man kann freilich zunächst zu den Arbeitgebern sagen: helfet euch selbst, ihr habt es in der Hand. Thut euch in ebenso feste Vereinigungen zusammen wie die Arbeiter, stellet ihrer Weigerung, zu euren Preisen für euch zu arbeiten, die Weigerung, sie zu den ihrigen für euch arbeiten zu lassen, entgegen, lasset euch im Nothfall Arbeitskräfte aus fremden Ländern kommen, und dann die Widersetzlichen zusehen, wer es am längsten aushält. Allein von Anderem abgesehen, bis diese bethörten, fanatisirten Massen sich werden besonnen haben, wird mittlerweile die Wohlfahrt fast aller Kreise der bürgerlichen Gesellschaft empfindlich geschädigt, nicht selten Gewerbsthätigkeit und Wohlstand ganzer Städte und Gegenden zerstört sein. Die so plötzlich eingetretene und immer noch im Zunehmen begriffene Steigerung der Preise aller Lebensbedürfnisse, von den Wohnungen angefangen, hat zu einer ihrer Hauptursachen die maßlosen Forderungen der Arbeiter an die Meister. Man sollte denken, die Arbeiter müßten bemerken, daß sie damit zugleich sich selbst das Leben vertheuern; doch über ihren nächsten Zweck: für so wenig Arbeit als möglich so viel Lohn als möglich! sehen diese Menschen nicht hinaus. Und jedes Zugeständniß steigert nur die Ansprüche. Erst ward in England für zehn-, dann für neunstündige Arbeitszeit agitirt; nun diese in einigen Geschäftszweigen durchgesetzt ist, bereits für achtstündige: man kann sich denken, wie weiter, wenn nicht zeitig ein Riegel vorgeschoben wird. Jetzt, wo, um den gesteigerten Anforderungen der Zeit zu genügen, auf Comptoir, Amts- und Studirzimmer die Arbeitsstunden verlängert werden müssen! Was Schiedsgerichte, aus Mitgliedern beider Parteien zusammengesetzt, das Streitige zu schlichten und das Billige zu vereinbaren, bei solcher Stimmung der einen Partei für Aussichten haben, läßt sich leicht ermessen.

Wahrhaftig, Aufforderung genug für die neue deutsche Staatsgewalt, ihres Amtes zu warten und zuzusehen, daß das gemeine Wesen nicht Schaden nehme. Freilich zu ihrer Entschuldigung ist zu sagen: der bestehenden Gesetzgebung gegenüber wird sie einen schweren Stand haben. Man hat sich bereits zu viel vergeben. Irre ich nicht, so war es der alte Volksmann Harkort, der kürzlich die Arbeiter erinnerte, man habe ihnen das Coalitionsrecht nicht ohne allerlei Bedenken gewährt; sie mögen sorgen, daß man es nicht bereuen müsse. Wenn Gesellen und Fabrikarbeiter Vereinigungen schließen, um günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erwirken, und wenn sie zu diesem Zwecke sich zu Einstellung der Arbeit bis zur Gewährung ihrer Forderungen verabreden, so sind sie kraft der Gewerbe-Ordnung des norddeutschen Bundes, jetzt des deutschen Reiches, in ihrem Rechte. Der Staat kann ein Einschreiten jetzt nur noch darauf begründen, wenn die Arbeiter ihre Genossen durch Zwang oder Drohung zum Eintritt in ihre Verbindungen und zur Ausführung ihrer Abmachungen zu bestimmen suchen. Aber welche gehässige und schwer durchzuführende Polizeimanns-Rolle sich der Staat damit aufgebürdet hat, liegt am Tage. Ob auf dem Wege, die sinkenden Arbeiter wegen dolosen Contractbruchs zu verfolgen, wie neulich angedeutet worden, mehr auszurichten sei, muß sich zeigen. Auch das Hereinwirken einer auswärtigen Gesellschaft mit notorisch staatsumwälzenden Bestrebungen sollte so gut wie den Jesuiten gegenüber eine Handhabe bieten. Aber ich weiß nicht, niemand will anpacken. Die einen, und das sind leider die einflußreichsten, wollen den vierten Stand als Schreckbild für den dritten nicht von der Hand lassen; andere, die sich am lautesten machen, fürchten für ihre Popularität; manche sind wirklich von den Schlagwörtern bethört, welche die zum großen Theil höchst zweideutigen Anwälte der Arbeitersache im Munde führen. Mir ist nur so viel gewiß, daß die Staatsgewalt, wenn sie hier regelnd einschreitet, eine Pflicht nicht nur gegen den dritten, sondern auch gegen den vierten Stand selbst erfüllt, indem sie dessen berechtigte Ansprüche von dem Zusammenhang mit Bestrebungen befreit, die, wer es mit Bildung und Gesittung redlich meint, stets auf Tod und Leben wird bekämpfen müssen.

84.

Denn im Hintergrunde der Arbeiterbewegung stehen dieselben Menschen, welche nicht nur, einer frühern Auseinandersetzung zufolge, in den nationalen, sondern vor allem auch in den Unterschieden des Besitzes Schranken sehen, deren Wegräumung sie sich im vermeintlichen Interesse des Fortschritts zur Aufgabe machen. Das Privateigenthum soll, wenn nicht ganz aufgehoben, doch, namentlich mittelst der Abschaffung des Erbrechts, wesentlich beschränkt werden.

Nun aber ist das erbliche Eigenthum eine Grundlage der Familie: seine Sicherheit bedrohen heißt die Axt an die Wurzel der Familie, und damit an die Wurzel des Staats und der Gesellschaft legen. Oben kein fester nationaler Staat, unten keine auf erblichen Besitz wohlbegründete Familie mehr: was bleibt da übrig als der Flugsand politischer Atome, souveräner Individuen, die sich beliebig zu kleinen möglichst lose verbundenen Gemeinschaften zusammenthun? Wo wäre aber da irgend ein Halt oder Bestand, wie müßte jeder Luftzug den Sand durcheinanderjagen, bis Platzregen von oben ihn niedergeschlagen oder weggeschwemmt, und dadurch neue feste Bildungen möglich gemacht hätten.

Das Eigenthum ist eine unentbehrliche Grundlage der Sittlichkeit wie der Cultur. Es ist Ertrag der Arbeit wie Sporn zur Arbeit. Dazu gehört aber, daß es erblich sei. Ohne das würde der Erwerb in rohe Genußsucht ausarten. Der Erwerbende würde in der Reget vorziehen, das Erworbene bei Lebzeiten zu verprassen, wenn es nach seinem Tode in den Besitz einer ihm gleichgültigen Masse übergehen sollte. Und gerade auch die Ungleichheit des Besitzes, die der Socialismus austilgen möchte, ist etwas für den Bildungsfortschritt der Menschheit unentbehrliches. Ohne Reichthum, ohne Ueberfluß, giebt es weder Wissenschaft noch Kunst, weil ohne sie zur Ausbildung beider die Muße, für die Verwerthung ihrer Erzeugnisse die Mittel fehlen würden.

Doch, wenn auch der Besitz ausgeglichen wäre, so macht dem einebnenden Sinne der Socialdemokratie noch die Ungleichheit der Arbeitskraft, der Begabung zu schaffen. Zur Ausgleichung der ersteren zwar liegen schon ganz hübsche Versuche von Seiten der gepriesenen englischen Gewerkvereine vor. Kann einer gleich mehr arbeiten als ein anderer, und möchte es auch wohl, so darf er es nicht. »Ihr seid streng verwarnt,« heißt es in den Gesetzen des Gewerkvereins der Backsteinmaurer zu Bradford in Bezug auf die Handlanger, »daß ihr euch nicht doppelt anstrenget und andere veranlaßt dasselbe zu thun, um den Herrn ein Lächeln abzugewinnen.« Ebenso legt das Statut der Sandsteinmaurer in Manchester jedem Arbeiter, »dem es zu schnell von der Hand geht, und der nicht warten kann bis andre fertig sind,« mit der Wiederholung steigende Geldbußen auf.

Was aber die Begabung anbelangt, so wird man sich der Theorie erinnern, die noch vor wenigen Jahren im Schwange ging, und auch von übrigens anständigen Schriftstellern, die sich nur von den trüben Gewässern der Tagesmeinung mehr als billig fortreißen ließen, wiederholt wurde: die Menschheit werde fortan nicht mehr wie bisher durch einzelne hervorragende Männer geleitet sein, das Talent wie die Einsicht werde immer mehr Gemeingut der Massen werden, diese sich selbst zu berathen und weiter zu fördern wissen. Dürfte man erst einmal vor keinem Reichen mehr den Hut ziehen, auch um die Obrigkeiten als kündbar angestellte Diener des souveränen Volks sich nur noch so viel kümmern als man gerade möchte, so fehlte nur noch, daß man auch vor keinem großen Geiste mehr Respekt zu haben brauchte. Dann wäre die allgemeine Duzbrüderschaft in Hemdärmeln fertig, das Ziel und der Höhepunkt der Culturgeschichte glücklich erstiegen.

Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben einen bösen Strich durch diese demokratische Rechnung gemacht. Nachdem allerdings die Goethe, die Humboldt, vorerst ausgestorben scheinen, sind jetzt die Bismarck, die Moltke aufgetreten, deren Größe um so weniger zu verleugnen steht, als sie auf dem Gebiete der handgreiflichen äußern Thatsachen hervortritt. Da müssen nun auch die steifnackigsten und borstigsten unter jenen Gesellen sich bequemen, ein wenig aufwärts zu blicken, um die erhabenen Gestalten wenigstens bis zum Knie in Sicht zu bekommen. Nein, die Geschichte wird fortfahren, eine gute Aristokratin, obwohl mit volksfreundlichen Gesinnungen, zu sein; die Massen, in immer weitern Kreisen unterrichtet und gebildet, werden doch auch fernerhin zwar treiben und drängen, oder auch stützen und Nachdruck geben, und dadurch bis zu einem gewissen Punkte wohlthätig wirken; führen und leiten aber werden immer nur einzelne überlegene Geister können; das Hegel'sche Wort, daß »an der Spitze der welthistorischen Handlungen Individuen stehen als die das Substanzielle verwirklichenden Subjektivitäten,« wird seine Wahrheit behalten, und auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer Masse von Kärrnern zu thun geben.

85.

Was der römische Dichter von Homer sagt: qui nil molitur inepte, können wir in politischer Hinsicht von den Engländern sagen. Ihr praktischer Takt, ihr geschichtlicher Sinn, der sie vor Ueberstürzung und Sprüngen bewahrt, verdienen unsre Bewunderung, und noch mehr unsre Nacheiferung. Bei den Franzosen hat die Phrase, bei uns Deutschen das Ideal, die aus der Luft, nicht aus der Wirklichkeit gegriffene Abstraction, eine viel größere, und in der That gefährliche Gewalt. Eine Bill auf Abschaffung der Todesstrafe im englischen Unterhause ist so eben wieder mit 167 gegen 54 Stimmen durchgefallen; in deutschen Ständekammern haben dergleichen Anträge schon mehr als einmal glänzende der Einstimmigkeit nahe kommende Majoritäten gehabt. Für das Stimmrecht zu den Parlamentswahlen setzt man dort von Zeit zu Zeit den Census herunter; aber ihn aufheben zu wollen, fällt keinem englischen Staatsmann ein.

Es ist ein großer Staatsmann, der ihn bei uns in Deutschland aufgehoben hat; aber ob die Einführung des allgemeinen Stimmrechts einst von der Geschichte zu den Titeln seiner Größe wird gerechnet werden, muß ich bezweifeln. Fürst Bismarck ist nichts weniger als ein Idealist, aber von erregbarem Naturell. Die Maßregel war ein Trumpf, den er gegen den Mittelstand ausspielte, der ihm in dem aus Censuswahlen hervorgegangenen preußischen Landtage während der Conflictsjahre das Leben so sauer gemacht hatte. Sein Unwille begreift sich, da er sich so hartnäckig die Mittel zu einem Unternehmen verweigert sah, das er zum Gedeihen Deutschlands unerläßlich wußte; aber auch die Weigerung der Volksvertretung begreift sich, da sie in die Pläne des Ministers nicht eingeweiht war, und vielleicht auch eingeweiht dieselben zu kühn gefunden haben würde. Nach den ungeheuren Erfolgen seiner Politik hat sich längst gezeigt, daß der Reichskanzler bei dem aus mittelbaren Wahlen hervorgehenden preußischen Landtage so wenig mehr Widerstand zu befahren hat als bei dem mit allgemeinem Stimmrecht gewählten Reichstag, daß also insofern die Maßregel überflüssig war. Allerdings haben sich auch die übeln Folgen, die man von ihr befürchten mochte, bis jetzt nicht in dem erwarteten Maße eingestellt. Der Einfluß der Regierung auf die vielen unselbstständigen Wähler ist kaum merklich gewachsen; auch das demokratische Element hat wenig gewonnen; den Hauptvortheil haben auch dießmal, wie jedesmal wo die Staatsgewalt Fehler macht, die Klerikalen gezogen; wie auch Niemand größere und ungetheiltere Freude über diese Einrichtung zeigt als sie. In katholischen Gegenden werden seitdem die intelligenten Stadtbewohner von dem durch seine Geistlichen commandirten Landvolke kläglich überstimmt; ein gutes Theil des sogenannten Centrums im Reichstag haben wir dem allgemeinen Stimmrecht zu verdanken. Ob es aber dabei bleiben, ob nicht insbesondre Zeiten kommen werden, wo das social-demokratische Lager im Reichstag sich verstärken und in seiner Coalition mit den Klerikalen der Regierung böse Schwierigkeiten bereiten wird, das läßt sich zur Zeit noch nicht ermessen.

Von den möglichen Folgen abgesehen jedoch kann ich die Maßregel an sich weder gerecht noch politisch finden. Die politischen Rechte, die der Staat den Einzelnen gewährt, sollen im Verhältniß stehen zu den Leistungen, die er von ihnen empfängt. Nun sagt man wohl: für den deutschen Staat muß jeder einzelne deutsche Mann sein Leben einsetzen, folglich muß er auch seinen Stimmzettel in die Wahlurne werfen dürfen; der allgemeinen Wehrpflicht auf der einen Seite entspricht das allgemeine Stimmrecht auf der andern. Allein so unmittelbar hängt das doch nicht zusammen. Sein wehrmännisches Eintreten für den Staat vergilt dieser dem Einzelnen zunächst dadurch, daß er ihn und die Seinigen an dem Schutze für Leben und Besitz, an dem öffentlichen Unterricht, an der Anwartschaft auf Gemeinde- und Staatsämter gleich allen andern theilnehmen läßt. Außerdem aber ist das persönliche Eintreten zum Kriegsdienste nur eine der Leistungen, die der Staat für sich in Anspruch nimmt. Eine andre nicht minder wichtige ist der Beitrag, den der Bürger durch Entrichtung von Abgaben für den Bestand des Staates leistet. Durch das Mehrgewicht dieser finanziellen Leistungen erwirbt der Besitzende um so mehr einen Anspruch auf eine Verstärkung seines politischen Gewichts, als gerade in seinem Besitze die sicherste Bürgschaft liegt, daß er sein Stimmrecht nicht leicht mißbrauchen wird. In dem Vermögen des Wohlhabenden hat der Staat gleichsam ein Unterpfand dafür in Händen, daß der Besitzer desselben seine Stimme keinem Candidaten geben wird, der durch maßloses Auftreten den Staat und seine Ordnungen in Gefahr bringen könnte; wodurch er ja sein Unterpfand zu verlieren fürchten müßte. Eine ähnliche Garantie fehlt dem Staate bei dem Besitzlosen, der beim Umsturz eher zu gewinnen hofft, auf keinen Fall viel zu verlieren hat.

Endlich aber und hauptsächlich ist es schief, wenn man immer nur von Wahlrecht redet, als ob es nur ein Recht, und nicht zugleich eine politische Function wäre, die der Staat dem Einzelnen austrägt. Ein Auftrag aber wird ertheilt nur nach Maßgabe der Befähigung. Diese Befähigung besteht hier in einem gewissen Maße von Urteilsfähigkeit, von Einsicht in das was geschehen soll. Geschehen soll die Wahl eines Mannes, der mit andern für eine gewisse Zeit das Thun der Regierenden zu controliren, wohl auch mitbestimmend auf dieses Thun einzuwirken hat. Wer aber dazu fähig sei, kann keiner wissen, der nicht auch von den dermaligen Bedürfnissen der Staatsgesellschaft, der er angehört, eine Vorstellung hat. Wie unendlich verschieden nun der Helligkeitsgrad dieser Vorstellung unter den Staatsangehörigen ist, von ihrer gänzlichen Abwesenheit durch instinctartige Ahnung hindurch bis zur vollen Klarheit des Verständnisses, bedarf keiner Ausführung. Aber ebensowenig, daß dieser Abstufung, wenn es sich einrichten ließe, die Abstufung des Stimmrechts entsprechen müßte. Weil sich die erstere aber nicht genau abmessen läßt, daraus folgt nicht, daß man die Abmessung ganz unterlassen dürfe. Eine Prüfungscommission können wir allerdings nicht vor die Stimmurne setzen; wir müssen uns an die ungefähren Merkmale halten, die zu Tage liegen. Da dürfen wir durchschnittlich annehmen, daß der Besitzende besser unterrichtet, vielseitiger gebildet sei als der Besitzlose; was von dem fachmäßig Gebildeten, d. h. dem Beamten, Gelehrten, Künstler, sich von selbst versteht. Hier haben wir also mindestens zwei Klassen von Wählern, wovon der Staat, wenn er dem Angehörigen der einen eine ganze Stimme anvertraut, dem Angehörigen der andern nur etwa 1/6 oder 1/10 anvertrauen, mithin, falls er nicht mit Stuart Mill das sogenannte Pluralvotum vorzieht, eine abgestufte Wahlordnung einführen wird. In Deutschland wäre eine solche nur wiederherzustellen; für die Einzelkammern besteht sie ja zum Theil noch: aber das ist der Unsegen der Uebereilung, daß der falsche Schritt, einmal gethan, sich so schwer zurückthun läßt.

Gleichsam als Hemmschuh gegen allzuschnelles Bergabrennen des Staatswagens hat man dem allgemeinen Stimmrecht die Diätenlosigkeit der Abgeordneten beigegeben; eine für die durchschnittlich immer noch ärmlichen Vermögensverhältnisse in Deutschland drückende und wohl schwerlich haltbare Einrichtung: und dennoch würde ich, wenn ich im Reichstage säße, beharrlich gegen ihre Abschaffung stimmen. Theils um dem Ueberhandnehmen des Elements: Bebel-Liebknecht, in der Versammlung einen Riegel vorzuschieben; theils weil ich mir auf den Grund dieser Einrichtung ein Compromiß möglich denke. Nämlich, daß der Reichstag der Regierung einen Theil des allgemeinen Stimmrechts zurückgäbe, d. h. in die Wiederaufrichtung eines wenn auch noch so mäßigen Census willigte, und von dieser dagegen die gleichfalls nur nach dem dringendsten Bedürfniß zu bemessenden Diäten zugestanden erhielte.

86.

Unter die Zeichen der Gewalt anmaßlicher Schlagwörter und Mode gewordener Vorurtheile rechne ich, wie schon angedeutet, auch die Agitation gegen die Todesstrafe, die wir bei jeder Gelegenheit wieder aufgenommen sehen. Man hat die Todesstrafe längst sowohl gemildert als beschränkt: man hat ihr die Verschärfungen abgethan; man bestraft eine Menge Vergehen und selbst Verbrechen, worauf sonst Todesstrafe stand, mit kürzerem oder längerem Gefängniß. Man möge sie noch weiter beschränken, vor Allem den Hinrichtungsact durchaus auf einen geschlossenen Raum, und die Verhängung auf vorsätzlichen vorbedachten Mord. Sie aber auch hier aufheben zu wollen, halte ich für ein Verbrechen gegen die Gesellschaft, und in einer Zeit wie die jetzige geradezu für Wahnsinn.

Die Ideen, die jetzt eine zahlreiche und keck umgreifende Klasse der Gesellschaft durchdrungen haben, sind ein üppiges Mistbeet insbesondre für den Raubmord. Wer den Besitz des Andern als ein Unrecht betrachtet, den Besitzenden als einen, durch den ihm Unrecht geschehen und fortwährend geschehe, haßt, der wird sich leicht das Recht zuerkennen, im Interesse der Ausgleichung ihm seinen Besitz, und im Fall er denselben nicht gutwillig gibt, auch das Leben zu nehmen. Man braucht nur einen Blick in die Zeitungen zu werfen; jede Woche findet man einen Fall dieser Art.

Ich führe nur Einen an, der das Verhältniß besonders anschaulich zeichnet. Im August 1869 befand sich in dem friedlichen Renchthalbade Antogast ein Fabrikant aus Freiburg. Von einem einsamen Spaziergange kehrte er nicht heim, und wurde sofort im Walde ermordet und beraubt gefunden. Wenige Tage darnach wird in einem schlechten Hause in Straßburg ein Mensch wegen Unfugs festgenommen. Man findet bei ihm die bereits steckbrieflich ausgeschriebene Uhr sammt Kette des Ermordeten. Es war ein Schuster aus Würtemberg, und er gestand, in Gesellschaft eines andern den Mord verübt zu haben. Sie haben sich in Kehl mit Waffen versehen und sich mit dem festen Vorsatz in die Renchbäder begeben, »den ersten, der ihnen begegne und bei dem Geld zu vermuthen sei, zu ermorden und zu berauben«! Es seien ihnen vor ihrem nachmaligen Opfer zwei Personen, ein Frauenzimmer und ein Geistlicher, begegnet, die sie jedoch gehen lassen, weil dieselben nicht darnach ausgesehen, Geld zu besitzen. Der andre Thäter war entkommen; jenen verurtheilte das Gericht zum Tode, aber der Großherzog von Baden begnadigte ihn. Ich habe den Großherzog Friedrich von jeher als trefflichen Landesherrn, wie als wahrhaft deutschen Fürsten, den einzigen, der bei'm Zutritt zu unsrem neuen Reiche nicht mit der Schiller'schen Isabella zu sprechen gehabt hätte:

Der Noth gehorchend, nicht dem eignen Trieb –

einem solchen Fürsten war von jeher meine tiefste Verehrung, meine wärmste Zuneigung gewidmet; aber diesen Gnadenact habe ich bedauert. Hier, glaube ich, hat sein mildes Herz, seine ängstliche Gewissenhaftigkeit ihn, indem er den Verbrecher schonen wollte, zu einem Unrecht gegen die Gesellschaft verleitet, zu deren Schutze der Fürst doch vor allen Dingen berufen ist. Dieser ist er in einem solchen Falle die Statuirung eines Exempels, die Aufrichtung eines weithin sichtbaren Schreckbildes für die Schlechten schuldig, das ihnen zeige, daß nicht schrankenlose Begier, sondern das Recht das letzte Wort in der Welt hat. Daß ein solches Schreckbild das lebenslängliche Gefängniß nicht ist, dem jeder Verbrecher zu entspringen hofft, bedarf keiner weitern Ausführung.

Es kann mir nicht unbekannt sein, daß sich jetzt auch die Mehrheit der Rechtsgelehrten auf Juristentagen und bei andern Gelegenheiten für die Abschaffung der Todesstrafe auszusprechen pflegt. Allein ich habe die Dreistigkeit, mir dadurch nicht imponiren zu lassen. Am wenigsten durch ihre Berufung auf die angebliche statistische Thatsache, daß in diesem oder jenem Lande mit der Abschaffung der Todesstrafe die Zahl der Verbrechen sich vermindert habe. Denn hier wird doch gar zu augenscheinlich dem Schooskinde zugeschrieben, was das Ergebniß anderer gleichzeitig mitwirkender Factoren, wie Verbesserung des Jugendunterrichts, der Polizei, Zunahme des allgemeinen Wohlstands, ist, die mehr als nur gutmachen, was die Abschaffung der Todesstrafe für sich schlimm machen würde. Aber ebensowenig kann das augenblickliche Mehrheitsvotum der Juristen als Gutachten von Sachverständigen für mich bestimmend sein. Der Juristenstand hat in dem starken Contingent, das die Advocatur zu demselben stellt, immer eine Seite, von der er den Einflüssen der sogenannten öffentlichen Meinung, d. h. aber in unzähligen Fällen des eben herrschenden Vorurtheils, mehr als wünschenswerth zugänglich ist. Außerdem aber pflegen Techniker, wie man längst weiß, so tief in den Dingen ihres Fachs zu stecken, daß sie selten darüber stehen. Das müßten sie aber in diesem Falle: die Frage der Todesstrafe ist in letzter Beziehung nicht Sache der Juristen, sondern der Staatsmänner. Bei dem leitenden Staatsmann in Deutschland ist die Angelegenheit in guten Händen: er wird die Todesstrafe aufrecht erhalten; aber sein Kaiser wird die Verurtheilten – begnadigen. Womit uns abermals nicht geholfen wäre!

87.

Was das Verhältniß des Staats zur Kirche betrifft, so werden wir von unsrer Seite natürlich mit dem lebhaftesten Antheil dem Thun der Männer folgen, die sich jetzt die Regelung desselben im Sinne des öffentlichen Wohls und der Geistesfreiheit zur Aufgabe gemacht haben; wobei wir insbesondre nur wünschen können, es möge die starke und feste Hand des deutschen Reichskanzlers nicht durch Einmischung schwächerer Hände gehemmt werden.

Für uns selbst indessen begehren wir von diesen Bewegungen vorerst mehr nicht als Diogenes von dem großen Alexander. Nämlich nur so viel, daß uns der Kirchenschatten fortan, nicht mehr im Wege sei. Ich meine, daß wir nicht langer durch die Verhältnisse uns genöthigt sehen möchten, uns irgendwie mit der Kirche zu befassen. Hiezu würde unter Andrem die allgemeine Einführung der Civiltrauung gehören (der freilich höchsten Ortes bis jetzt unüberwindliche Vorurtheile entgegen zu stehen scheinen). Ueberhaupt, daß die Frage an den Staatsbürger nicht mehr die wäre, welcher, sondern ob er einer kirchlichen Gemeinschaft angehöre und angehören wolle. Wenn der große König in seinen Staaten für jeden Einzelnen die Freiheit proclamirte, nach seiner Façon selig zu werden, so würde er zwar vielleicht große, aber gewiß keine zornigen Augen gemacht haben, hätte ihm einer aus dem Volke, den er übrigens als Ehrenmann kannte, zur Antwort gegeben: Entschuldigen Majestät, ich will aber gar nicht selig werden. Denn darüber täusche man sich doch nicht, daß jener Ausspruch in seinem Sinne nur so viel hieß: in meinen Staaten mag jeder auf seine Hand ein Narr sein, so lange seine Narrheit dem Staatswohl nicht zu nahe tritt. Daß bis jetzt und noch auf langehin die Mehrheit der Menschen einer Kirche bedarf, verkennen wir keinen Augenblick; ob es damit bis zum Ende der menschlichen Dinge so bleiben werde, betrachten wir als eine offene Frage; die Meinung aber, daß auch jeder Einzelne schlechterdings einer Kirche angehören, und wem die alte nicht mehr taugt, der eine neue haben müsse, die halten wir für ein Vorurtheil. Aus dieser Meinung geht all das Stümpern an der alten Kirche, alle diese Flickereien der sogenannten Vermittlungstheologie hervor. Zu Lessing's Zeiten hieß es Offenbarung und Vernunft, was man vereinigen wollte; in unsern Tagen schwatzen sie von der Aufgabe, die sie sich gesetzt, »die Weltcultur mit der christlichen Frömmigkeit zu versöhnen.« Aber das Unternehmen ist heute nicht im mindesten vernünftiger oder ausführbarer geworden, als es zu Lessing's Zeiten gewesen ist. Es bleibt dabei: wenn der alte Glaube absurd war, so ist es der modernisirte, der des Protestantenvereins und der Jenenser Erklärer, doppelt und dreifach. Der alte Kirchenglaube widersprach doch nur der Vernunft, sich selbst widersprach er nicht; der neue widerspricht sich selbst in allen Theilen, wie könnte er da mit der Vernunft stimmen?

Am folgerichtigsten verfahren noch die sogenannten freien Gemeinden, die sich ganz außerhalb der dogmatischen Ueberlieferung auf den Boden des vernünftigen Denkens, der Naturwissenschaft und Geschichte, stellen. Das ist allerdings ein fester Grund, aber kein Boden für eine Religionsgesellschaft. Ich habe mehreren Gottesdiensten der freien Gemeinde in Berlin beigewohnt, und sie entsetzlich trocken und unerquicklich gefunden. Ich lechzte ordentlich nach irgend einer Anspielung auf die biblische Legende oder den christlichen Festkalender, um doch nur etwas für Phantasie und Gemüth zu bekommen; aber das Labsal wurde mir nicht geboten. Nein, auf diesem Wege geht es auch nicht. Nachdem man den Kirchenbau abgetragen, nun auf der kahlen nothdürftig geebneten Stelle eine Erbauungsstunde zu halten, ist trübselig bis zum Schauerlichen. Entweder ganz oder gar nicht. Die Stiftung solcher Gemeinden geht auch in der Regel mehr von Geistlichen aus, die, mit den herrschenden Kirchen zerfallen, sich doch noch einen geistlichen Wirkungskreis erhalten möchten, als von dem Bedürfniß der Laien, die, wenn sie sich dem Standpunkt ihrer Kirche entfremdet finden, lieber einfach sich von deren Gottesdienste zurückziehen. Und je mehr der Staat in diesem Stücke seine Stellung begreift, desto weniger werden sie ferner veranlaßt sein, über dieses negative Verhalten hinauszugehen. Wir unsrerseits – ich meine diejenigen Wir, als deren Wortführer ich mich in diesem ganzen Schriftstücke betrachte – finden uns in der Stellung, die wir der Kirche gegenüber genommen haben, zwar, wie gesagt, dadurch noch belästigt, daß wir, vornehmlich bei gewissen liturgischen Handlungen, überhaupt noch mit ihr zu thun haben müssen; aber das Bedürfniß einer andern, einer halben oder ganzen Vernunftkirche, empfinden wir so wenig, daß wir in eine solche selbst dann nicht eintreten würden, wenn der Staat ihr freigebig alle Rechte der alten Kirchen gewähren wollte.

88.

Als ob man sich nur in einer Kirche sammeln, nur in einer Predigt erbauen könnte! In einer Zeit und bei einem Bildungsstande, wo so viele andre und ergiebigere Quellen der geistigen Anregung und sittlichen Kräftigung fließen, warum festhalten an einer veralteten ausgelebten Form? Am Ende ist es doch nur die liebe Gewohnheit. Man kann sich die Stelle nicht leer denken, wo man von jeher etwas hat stehen sehen. Der Sonntag muß doch Sonntag bleiben, und am Sonntag geht man in die Kirche. Wie gleich Anfangs erinnert, wir wollen mit Niemanden streiten, »sehe jeder wie er's treibe«; wir wollen nur noch andeuten, wie wir es treiben, schon lange Jahre her getrieben haben. Neben unsrem Berufe – denn wir gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs blos Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbtreibende und Gutsbesitzer; auch das weibliche Geschlecht ist unter uns nicht unvertreten; und noch einmal, wie schon gesagt, wir sind unsrer nicht wenige, sondern viele Tausende und nicht die schlechtesten in allen Landen – neben unsrem Berufe, sage ich, und dem Leben in der Familie und mit den Freunden, suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit: wir haben während der letzten Jahre lebendigen Antheil genommen und jeder in seiner Art mitgewirkt an dem großen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staats, und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unsrer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Nachdenken über dasjenige, was den Völkern wie den Einzelnen zum Heil oder zum Verderben gereicht, gibt ja dieser Krieg unerschöpflichen Stoff; an sittlichen Lehren war nie eine Zeit reicher als die letzten Jahre. Dem Verständniß dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volksthümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsre Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hülfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den Schriften unsrer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unsrer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüth, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt.

»So leben wir, so wandeln wir beglückt.«

Man wendet ein, das sei doch immer nur eine Auskunft für Gelehrte, mindestens Gebildete; für den schlichten Mann aus dem Volke sei das viele Lesen und Studiren nicht. Ihm fehle dazu die Zeit und das Verständniß. Unsre Dichter insbesondre seien ihm zu hoch. Für ihn sei die Bibel, die verstehe er.

Verstehe er? die Bibel? Wie viele Theologen verstehen sie denn? wollen sie verstehen? Ja, man meint die Bibel zu verstehen, weil man gewohnt ist, sie nicht zu verstehen. Auch trägt der heutige Leser sicher ebensoviel Erbauliches in sie hinein als er aus ihr entnimmt. Von Büchern wie die Offenbarung Johannis und die meisten Propheten des Alten Testaments gar nicht zu reden; aber man soll doch ja nicht meinen, daß Lessings Nathan oder Goethe's Hermann und Dorothea schwerer zu verstehen seien und weniger »Heilswahrheiten«, weniger auch goldene Sprüche enthalten, als ein paulinischer Brief oder eine johanneische Christusrede. Nicht als sollte die Bibel aus der Schule oder irgend einem aus der Hand genommen werden, dem sie noch vorzugsweise Erbauung gewährt. Die Meinung ist nur, diese Schrifterbauung werde um so fruchtbarer, moralisch ergiebiger werden, je mehr sie nach und nach durch die Erbauung aus den besten Stücken unsrer Nationalliteratur gekreuzt wird. Und eben wenn künftig auch unsre Bauernkinder in der Dorfschule weniger mit palästinischer Geographie und Judengeschichte, mit unverständlichen Glaubenssätzen und unverdaulichen Sprüchen geplagt werden, wird um so mehr Zeit übrig bleiben, sie zur Theilnahme an dem geistigen Leben des eigenen Volks, zum Mitschöpfen aus seinen so reichen Culturquellen heranzubilden.

Doch ich sprach vorhin von den Werken unsrer großen Dichter und Musiker und der Nahrung für Geist und Gemüth, die wir aus ihnen ziehen können. Zwar hat die Kunst in allen ihren Zweigen den Beruf, die im Gewirre der Erscheinungen sich erhaltende, aus dem Widerstreit der Kräfte sich wiederherstellende Harmonie des Universum, die uns im unendlichen Ganzen unübersehbar ist, im beschränkten Rahmen uns anschauen oder doch ahnen zu lassen. Daher die innige Verbindung, worin wir von jeher bei allen Völkern die Kunst mit der Religion finden. Auch die großen Schöpfungen der bildenden Künste wirken in diesem Sinne religiös. Am unmittelbarsten jedoch dringen mit solcher Wirkung Poesie und Musik in unser Inneres ein, und hierüber eben hätte ich noch ein besonderes Wörtlein auf dem Herzen. Es soll aber keine Anweisung sein, wie man die Meister der einen lesen, die der andern hören soll; ich will Niemands Empfindungsweise meistern; man möge mir nur erlauben, zu sagen, wie ich sie gehört und gelesen, was ich dabei empfunden und gedacht habe. Sollte ich darüber vielleicht redseliger werden, als bei dieser Gelegenheit passend gefunden wird, so möge der Leser es mir zu gute halten; wessen das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Nur dessen sei er vorher noch versichert, daß, was er demnächst lesen wird, nicht etwa aus älteren Aufzeichnungen besteht, die ich hier einschalte, sondern daß es für den gegenwärtigen Zweck und für diese Stelle geschrieben ist.


 << zurück weiter >>