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Eine Malerarbeit

Wir saßen am Kamin, Männer und Frauen, eine behagliche Plaudergesellschaft. Der Mensch gab wie immer den besten Unterhaltungsstoff, und endlich waren wir bei einem abwesenden Bekannten angelangt, der aus Mißfallen an seiner übrigens frei gewählten Gattin sein Familienleben fast eigensinnig zu zerstören schien. Es wurde hin und wider gesprochen und Partei genommen: »Mit der ist nicht zu leben,« riefen einige, »man kann's ihm nicht verdenken!«

Der bisher schweigsame Hausarzt, der sich erst seit einigen Jahren in unserem Städtchen niedergelassen, räusperte sich und nahm eine Prise. »Man muß sein Leben aus dem Holze schnitzen, das man hat,« sagte er, »und damit basta!«

»Wenn's aber nichts taugt?« wurde dagegen gesprochen.

»Und wenn es krumm und knorrig wäre!« erwiderte er.

»Doktor,« rief die jugendliche Hausfrau, »ich merke schon, dahinter steckt wieder eine Geschichte, aber die Contes moraux sind aus der Mode gekommen.«

»Nun,« versetzte er, »Sie wissen, wir Ärzte liegen oft im Streite mit dieser Göttin.«

»Laßt unsern Doktor erzählen,« entschied eine junge Dame. »Wenn's nur eine Geschichte ist; es kommt auf die Moral nicht an!«

»Erst ein paar Scheite noch in den Kamin!« sagte der Doktor. »So! – und nun – ich weiß nicht, ob einer der verehrten Anwesenden den kleinen Maler Edde Brunken kennt?«

Die meisten aus der Gesellschaft hatten wohl von ihm gehört, auch einzelne seiner Bilder gesehen, persönlich kannten sie ihn nicht. Nur einer sagte: »Ich habe ihn lange nicht gesehen, aber wir sind aus derselben Stadt gebürtig. Obgleich gänzlich verkrüppelt, hatte ich keinen tolleren Kameraden als ihn. Er war der Sohn eines Seekapitäns, und manches Mal bin ich mit dem kleinen Teufel auf seines Vaters Brigg umhergeklettert; ich seh ihn noch, wie er gleich einem Klümpchen Unglück oben in dem Takelwerke hing.«

»Den also meine ich,« fuhr der Doktor fort, »auch als ich ihn kennen lernte, obgleich ein Mann an die Dreißig, galt er noch immer für einen ziemlich wilden Burschen; es war so recht ein Stückchen der erbarmungslosen Mutter Natur, ein solches Temperament auf dieses Körperchen zu pfropfen. Aber er besaß jenen hülfreichen Freund, den Humor, mit dem er schließlich alles überwand. Dagegen war ihm, vielleicht weil er die körperlichen Hemmnisse stets nur jenseit der äußersten Grenze respektiert hatte, weniger jener schlagfertige Spott eigen, der sich sonst fast bei allen auszubilden pflegt, welche mit der Natur in Zwiespalt leben. Zuweilen, wenn sein Herz ins Spiel kam – und dieser Muskel war bei ihm sehr stark vertreten –, ließ er sich zu einem für seine äußere Erscheinung bedenklichen Pathos hinreißen und konnte dadurch einem wohlgewachsenen Gegner die gefährlichsten Blößen geben.

Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich ihn kennen.

Wir saßen eines Abends, eine bunte Gesellschaft von Künstlern, jungen Juristen und Regierungsbeamten, in einem Kaffeehause, und wie gewöhnlich bildeten Politik und soziale Fragen das Thema des Gespräches. An meiner Seite saß der mir damals noch wenig bekannte kleine Maler, ihm gegenüber ein Regierungsassessor, ein junger Mann mit einer Brille und einem blonden Fuchskopf, den ich mitunter in dem gastfreien Hause meines Onkels gesehen hatte. Dieser – er ist seitdem übrigens mein Vetter geworden – schien auf die eifrigen Verhandlungen der andern nur wie auf eine Art Komödie herabzusehen, die ihn in einem müßigen Augenblick unterhalten durfte. Im Laufe des Gespräches kam man auf den Paß- und Reisezwang, vermöge dessen die jungen Handwerker noch immer als präsumtiv verdächtige Subjekte von einem Polizeiamt an das andere geschickt würden, und es erhob sich ein lebhafter Sturm dagegen. Als auch mein kleiner Nachbar seine sittliche Entrüstung in gleichem Sinne kund gegeben, bemerkte der Assessor, nachdem er ihn erst eine Weile durch seine Brillengläser fixiert hatte: »Aber, soviel ich weiß, Herr Brunken,« – und er sprach den Namen, als fasse er ihn mit einer Zange an – »sind die Kunstmaler diesem Zwange nicht unterworfen.«

Der Kleine sah mit einem raschen Blick zu ihm auf. »Wenn Sie damit mein Interesse zur Sache bezeichnen wollen,« erwiderte er, und seine Stimme wurde scharf, »so bin ich in der Lage, Ihnen mitzuteilen, daß ich ein ganzes Jahr als Stubenmalergeselle gewandert bin.«

»Das wäre,« meinte der andere, »da sprechen Sie denn freilich aus Erfahrung.«

Aber der Kleine war noch nicht zur Ruhe. Indem er sich in seiner ganzen nicht eben beträchtlichen Höhe aufrichtete, fiel er in sein schwunghaftes Pathos, wobei ihm die Stimme ins Falsett überschlug. So sprach er von verletzter Menschenwürde und dergleichen erhabenen Dingen.

Was half es ihm, daß er die Wahrheit sprach! Der Assessor behielt ruhig seine Hände in den Hosentaschen und betrachtete den kleinen aufgeregten Mann ihm gegenüber, als ob er etwas höchst Amüsantes vor sich habe. – »So,« sagte er endlich, nachdem jener sich erschöpft auf seinen Platz gesetzt hatte, »Herr Brunken, halten Sie so viel auf Menschenwürde?«

Die Sache war weit genug gediehen; der kleine Maler, indem ihm der Atem mühsam aus der Brust hervorkeuchte, erwiderte mit einem Worte, das selbst der Assessor nicht kaltblütig zu hören vermochte, und am andern Morgen gab es ein Pistolenduell, bei dem ich selbstverständlich als Arzt zugegen war. Trotz der geringeren Schußfläche, die er zu bieten hatte, wurde der Maler in der linken Schulter verwundet, und da die übrigens ungefährliche Verletzung eine sorgfältige ärztliche Behandlung nötig machte, so wurden wir dadurch näher mit einander bekannt und bald befreundet. Noch während seiner Genesung, wo ich darauf denken mußte, seinen ungeduldigen Arbeitstrieb zu zügeln, hatte ich ihn in das Haus meines Onkels eingeführt, mit dessen einziger Tochter Gertrud ich vetterlich und kameradschaftlich aufgewachsen war.

Der Onkel, der es liebte, sich mit jungen Leuten zu umgeben, lernte bald den Menschen wie den Künstler in meinem Freunde schätzen, und es dauerte nicht lange, so saß Gertrud vor seiner Staffelei und ließ ihr blondes Köpfchen von ihm auf die Leinwand bringen. Sie war eine heitere Natur, dazu nur eben über die Kinderschuhe hinaus, und so kamen die beiden in den wiederholten Sitzungen bald auf einen Neckfuß, der für das Mädchen zwar nur eine harmlose Unterhaltung, für das reizbare Temperament meines Freundes aber, wie ich bald bemerkte, nicht ohne tiefere Folgen war. Ich sagte ihr wohl einmal: »Laß unsern Künstler nur nicht zu tief in deine leichtfertigen Augen gucken!« Dann lachte sie mich aus, oder sie sagte: »Aber du bist äußerst komisch!« und begann eins ihrer Schelmenlieder zu trällern, mit denen sie im Hause treppab und -auf zu fliegen liebte.

So stand die Sache, als mein Onkel eines Tags in der schönen Junizeit auf Gertruds Antrieb eine Wald- und Bergpartie veranstaltete, zu der ich außer andern auch unsern Maler einzuladen hatte. – Als ich am Tage vorher in sein Zimmer trat, fand ich ihn arbeitend vor seiner Staffelei; aber sie war vor den Spiegel gerückt, wo des einfallenden Lichtes wegen augenscheinlich ein schlechter Platz zum Malen war, und wo ich sie nie zuvor gesehen hatte. »Laß dich nicht stören!« rief ich ihm zu.

»Nur – ein paar Striche noch!« erwiderte er, und sein Atem ging keuchend aus der Brust hervor, wie es in Aufregung oder Anstrengung bei ihm zu geschehen pflegte. Unter dem Malen bog er den Kopf zur Seite und blickte eine Weile gegenüber in den Spiegel und gleich danach auf eine Statuette der Venus von Milo, die seitwärts auf einem Tischchen stand. Dann, mit einem kurzen scharfen Lachen, das wie ein Hohn aus der Tiefe des gebrechlichen Leibes hervorbrach, ließ er wiederum den Pinsel eifrig auf der Leinwand arbeiten. Ich sah eine Weile zu, dann aber fragte ich: »Was zum Henker treibst denn du da?«

»Ich, Verehrtester? – Ich arbeite in Kontrasten.«

»Das ist eine schlechte Kunst.«

»Es ist gar keine Kunst,« erwiderte er, indem er den Malstock aus den Boden stützte und den Körper wie erschlafft in sich zusammensinken ließ. »Keine Spur von Kunst, Arnold, eitel nichtswürdige Abschrift der Natur. Das kleine borstige Ungeheuer dort im Spiegel ist in seiner Art ebenso vollkommen, wie die Göttliche ohne Arme neben ihm. Mein Gehirn vermag weder hier noch dort etwas hinzuzutun.«

Ich war aufgestanden und hinter seinen Stuhl getreten. Ein kleines, aber fast vollendetes Bild in kräftigen Farben stand auf der Staffelei. Es war eine sonnige Parkpartie in altfranzösischem Gartenstil; aus dem freien Platze im Vordergründe erhob sich aus einem blühenden Rosengebüsch die Statue der Venus; ihr zu Füßen, zu ihr emporschauend, stand in zierlicher Rokokokleidung die Gestalt eines verkrüppelten Mannes, in der ich, unerachtet der struppige Vollbart hier rasiert und das Haar des unbedeckten Hauptes mit Puder bestreut war, sogleich den Maler selbst erkannte. Die langen Finger der beiden Hände, welche aus breiten Spitzenmanschetten hervorsahen, hatten sich um die goldene Krücke eines Bambusrohrs gelegt, auf welche der kleine Mann im veilchenfarbenen Wams sich mühselig zu stützen schien. Er hatte augenscheinlich zuvor auf der Bank geruht, welche im Schatten der hohen Buchenhecke der Statue gegenüberstand; denn das dreieckige Hütchen lag noch dort. Weshalb er aber jetzt in die heiße Sonne hinausgetreten war und so finster zu dem Antlitz der Liebesgöttin emporblickte, wurde erst verständlich, wenn man im Mittelgrunde des Bildes den sonnigen Laubgang hinabsah, durch den sich im traulichsten Behagen ein Liebespaar entfernte. Der Kavalier zeigte nur den Rücken und die eine lebhaft gestikulierende Hand, das zierliche Puderköpfchen des Dämchens aber, das an seinem Arme hing, war zurückgewandt und schaute übermütig lachend nach dem Krüppel, an dem sie soeben vorübergegangen sein mochten. Ich hätte fast den Namen meines Mühmchens ausgerufen, aber die Ähnlichkeit, ob absichtlich oder zufällig, war doch nur eine flüchtige.

Mein kleiner Freund hatte mich gespannten Blickes angesehen, während ich dies seltsame Bild betrachtete. »Du hast ihr Arme gegeben,« bemerkte ich endlich, um nur etwas zu sagen, indem ich auf die Gestalt der Venus zeigte.

»Freilich,« versetzte er hastig, »schöne hülfreiche Arme, und sie hilft auch jedem, nur nicht solchen Kreaturen, deren eine dort zu ihren Füßen kriecht.«

»Für wen«, unterbrach ich ihn, »hast du denn eigentlich dieses Bild gemalt?«

»Nur eine Studie zur Selbsterkenntnis, Verehrtester.«

»Freilich,« sagte ich, »einige Selbstkenntnis ist darin. Du hast sehr wohl gewußt, daß du etwas besitzest, das selbst der Königin der Schönheit fehlt, zu der du dort so mißvergnügt hinaufschaust.«

Er sah mich fragend an.

»Du hast in der Tat,« fuhr ich fort, »unerachtet du dir sonst eben nicht geschmeichelt, deine ohnehin nicht übeln Augen in das beste Licht zu sehen gewußt.«

Mein kleiner Freund lächelte. »Meinst du?« fragte er. »Aber was nützen mir die Augen?«

»Nun, ich weiß nicht; aber sie haben schon manchem genützt.« – Wir sprachen weiter in dieses Thema hinein, und es gelang mir nach und nach, das Antlitz meines Freundes aufzuhellen. Als ich dann mit meinem Auftrage zum Vorschein kam, war er sogleich bereit, die Partie mitzumachen. Nur wie beiläufig fragte er noch: »Ist auch der Assessor eingeladen?« Und ich antwortete: »Ohne Zweifel; aber Brunken, der hat ja keine Augen, wenigstens nur so etwas wie eine Andeutung davon, und im übrigen, ihr versteht es ja vortrefflich, ohne alle Berührung um einander herum zu gehen.«

Mein Freund lächelte wieder; ich glaube sogar, er zupfte sich die Krawatte zurecht und warf dabei verstohlen einen Blick in den gegenüber hängenden Spiegel.

 

Am andern Tage leuchtete der hellste Sonnenschein. Zu Leiterwagen, in denen man sich auf langen Brettern gegenübersaß, ging es die erste Meile durch den Wald; alle Altersklassen waren vertreten, Gertrud hatte sogar ein ganzes Rudel Kinder mit zu verpacken gewußt. Unter der Direktion des lebenslustigen Onkels ging dergleichen immer vortrefflich, und so war denn auch heute alles guter Dinge, und die Drosseln im Tannicht sangen nicht heller als das junge Volk auf den Leiterwagen. Zumal mein kleiner Brunken war heiterer, als ich ihn lange gesehen; wenn die andern schwiegen, sang er mit seiner starken, aber freilich etwas scharfen Tenorstimme holländische Volkslieder, die er von der Antwerpener Akademie mitgebracht hatte. Er war in solchen Dingen unerschöpflich. Endlich langte man in einem Dorfe unterhalb des Gebirges an, von wo aus es zu Fuße nach der Teufelskanzel hinaufgehen sollte, einem breiten Felsenvorsprung, zu dem ein ziemlich steiler Weg etwa eine Stunde lang durch niedriges Gebüsch hinaufführte. Die Sonne brannte, und da ich das Bergsteigen unter solchen Umständen für meinen Freund nicht rätlich hielt, so bestieg er eines unserer Wagenpferde, einen alten mageren Urhengst, und, diesen Reiter in der Mitte, zog nun die lustige Schar in der Bergschlucht aufwärts; zwei Bauerburschen folgten mit wohlgepackten Körben, die ein gutes Frühstück am Ziele alles Mühsals verhießen.

Aber wer konnte so lange dursten! Aus der Mitte des Weges wurde Halt kommandiert; die Mädchen schenkten Wein, alles trank, und auch dem Maler wurde von Gertrud ein großer Humpen hinaufgereicht. – Man mußte es sehen, wie die kleine Gestalt mit dem rauhen, mächtigen Kopf auf der hochbeinigen Mähre huckte, wie er das Glas emporhob, daß die Sonne durch den roten Wein funkelte, und mit den scharfen schwarzen Augen danach hinblinzte. »Flüssiger Rubin!« rief er. »Auf das Wohl aller schönen Erdenkinder!« Und dabei goß er den roten Wein hinab.

»Seht da, der Herr des Gebirges!« rief Gertrud.

»Nur der Kobold, schöne Dame!« entgegnete der Maler und setzte seinem Hengst die Fersen in die Weichen.

»Rübezahl, Rübezahl!« schrien die Kinder, und lachend setzte sich der Zug aufs neue in Bewegung. Endlich war die Teufelskanzel erreicht. Sie war nicht unbefugt, diesen Namen zu führen; lotrecht schoß der Fels über hundert Klafter in die Tiefe, wo sich unten im Sonnenglanz die lachendste Landschaft ausbreitete. Durch grüne Wiesen, an Dörfern und Wäldern vorbei, floß in vielen Krümmungen ein glänzender Strom, dessen Rauschen in der Mittagsstille zu uns heraufklang, und drüber her, in gleicher Höhe mit uns, standen die Lerchen flügelschlagend in der Luft und mischten ihren Gesang in die Musik der Wellen. Wer dessen noch fähig war, der mußte hier von Lebens- und Liebeslust bestürmt werden. Brunken, dessen Mähre einem der Bauerburschen zur Obhut übergeben war, stand neben mir und starrte wie verzaubert in die Tiefe.

»Arnold,« sagte er und drückte mir die Hand, »das Leben ist doch schön!«

Nach dem Frühstück stieg der Assessor mit einigen anderen Herren auf einem Umwege den Berg hinab, um eine von unten herauf schimmernde Marmorader zu untersuchen; die übrigen blieben noch auf der Lagerstelle; Brunken und ich schlenderten in den Wald hinein. Während ich mich hier an einer freien Stelle ins Moos warf, befiel ihn die Kletterlust seiner Jugend; ich sah ihn über mir an einer jungen Buche wie eine große Spinne von Ast zu Ast hinaufrücken, und nicht lange, so schaukelte er sich im höchsten Wipfel und sang laut über den Wald hinaus. Er war schon mitten in seinem holländischen Lieblingsliede: »Ick see din Bild in de Fonteyn«, oder wie es in der seltsamen Sprache heißen mag, als er plötzlich verstummte. Statt dessen hörte ich Kindergeplauder durch die Bäume, und bald sah ich auch Gertrud mit der ganzen Schar heranziehen. Auf meine Einladung lagerte sich alles neben mir auf die weichen Moospolster, und die Kinder riefen: »Geschichten erzählen!«

»Was denn erzählen?« fragte Gertrud.

Und die einen wollten von Schneewittchen hören, die andern vom dummen Hansel, bis sich endlich alles in der Geschichte von dem Ungeheuer und der weißen Rose vereinigte. Aber Gertrud kannte die Geschichte nicht. Da, während sie aufs neue die Titel ihres Märchenschatzes auskramte, schwang sich plötzlich Freund Brunken von einem Baumast zur Erde. »Die Geschichte«, sagte er, noch stoßweise mit dem Atem kämpfend, »ist meine Domäne, schöne Dame, ich bitte um die Erlaubnis, sie zu erzählen.« Dann, unter dem Händeklatschen der Kinder, verbeugte er sich tief vor dem jungen Mädchen.

»Und wie, Meister Brunkenius,« sagte diese, »der Sie so unverhofft wie eine reife Frucht vom Baume fallen, wie kommen Sie zu einer solchen Domäne?«

»Ich«, versetzte der Maler, »bin mit dieser Geschichte aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr andern großen Menschenkinder.« Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen.

Gertrud sagte: »Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respekt ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab.«

Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: »Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntnis, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose, und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm – wie das schon eher in solchem Fall geschehen – wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer und holt sich die Prinzessin.«

Gertrud unterbrach den Erzähler. »War es denn wirklich so schlimm, Meister Brunkenius?« sagte sie. »Wie sah denn das Ungeheuer aus?«

»Entsetzlich sah es aus!«

»Aber wie denn entsetzlich?«

»Ich weiß nicht; meine Mutter, die mir die Geschichte erzählte, hat es mir nie beschreiben wollen. Aber sahen Sie denn nie ein Ungeheuer, Fräulein Gertrud?«

Sie lächelte. »Was reden Sie doch!«

»Ich weiß wohl, was ich rede, besinnen Sie sich nur!« Und dabei stützte er den borstigen Kopf in seine ausgespreizten Finger, als wolle er sich von ihr betrachten lassen.

Das Mädchen errötete. »Erzählen Sie doch weiter!« sagte sie, und »Weiter, weiter!« riefen die Kinder, indem sie näher zu ihm herankrochen.

Er warf einen Blick auf die kleine Gesellschaft.

»Ja so,« sagte er, »ihr seid auch noch da. So hört denn!« – Und nun begann er seine Szenen auszupinseln: »Es war eine unabsehbare Wildnis, die sie durchwanderten. Immer höher wucherten Ginster und Heidekraut, aber kein Vogel sang, und keine Biene summte; die seidenen Schuhe der Prinzessin zerrissen an den harten Wurzeln, mit denen der Boden übersponnen war. Totenstill lag es über der Steppe, nur dort aus der Ferne, wo eben die Sonne glutrot hinter der schwarzen Heide hinabgesunken war, kam es jetzt herangefahren; das war aber der Nachtwind, der sich aufgemacht hatte, er riß der Prinzessin die weiße Rose aus ihrem blonden Haar und wehte sie fort in die Nacht, die hinter ihnen heraufstieg. Einen Augenblick stand sie still und schloß ihre schönen blauen Augen, und als das Ungeheuer seinen ungestalteten Kopf nach ihr umwandte, sah es nur die langen schwarzen Wimpern auf ihren zarten Wangen liegen. Da streckte es seine Tatze aus und zupfte damit an ihrem weißen Kleide. – Machen Sie nicht so entsetzte Augen, Fräulein Gertrud! Das arme Ungeheuer hatte ja nichts als seine Tatzen. – Aber freilich, als die Prinzessin aufsah, da schauderte sie und grub, wie sie zu tun pflegte, mit ihren weißen Zähnchen in die Lippe, daß sie blutete.«

Die Kinder sahen alle auf Gertrud; denn, wie sie mir später vorplauderten, hatten sie gemeint, daß die Prinzessin mit jedem Zuge ihrer jungen Freundin ähnlicher würde. Auch schien der Erzähler, obgleich er vor sich in das Moos blickte, seine Worte nur an sie zu richten. »Das«, fuhr er fort, »erbarmte das Ungeheuer, und es wollte ihr ein tröstliches Wort zusprechen; denn ihr wißt wohl, es war selbst nur ein armer verwünschter Prinz. Aber der Laut, der aus seiner Kehle fuhr, war so heiser, als hätte die schwarze Wildnis selbst das Geheul ausgestoßen. Da fiel die Prinzessin vor ihm in die Kniee und sah ihn mit entsetzten Augen an, und das Ungeheuer stieß abermals ein Geheul aus, weit grausenhafter als vorhin; denn es war der Schrei einer armen Seele, die nach Erlösung ringt. Es fühlte die innere Wohlgestalt und den edlen Klang der Stimme, die eigentlich sein eigen waren, aber es suchte vergebens die abschreckende Hülle zu sprengen, die alles in bösem Zauberbann verschloß.«

Der Erzähler hielt erschöpft inne, eine unheimliche Erregung brannte in seinen Augen.

»Brunken,« sagte ich, »besinne dich! Ist das ein Kindermärchen, was du da erzählst?«

»Es gilt wenigstens dafür!« erwiderte er.

Aber ehe wir Zeit fanden, unser Gespräch fortzusetzen, bemerkte ich, daß Gertrud aufgestanden war und zwischen den Bäumen fortging. Ich sprang auf. »Erzähle den Kindern deine Geschichte zu Ende!« sagte ich und folgte dem Mädchen, die schon hinter dem niederhängenden Gezweig verschwunden war. Auch fand ich sie bald; in einer kleinen Lichtung sah ich sie am Boden liegen, ihr Gesichtchen in das Moos gedrückt; ich hörte, wie sie wimmernd vor sich hin sprach: »Was fang ich an, was fang ich an!« – Als ich hinzutrat und ihren Arm berührte, sprang sie auf und schüttelte die erhobenen Hände, ganz wie ein verzweifeltes Kind.

»Gerte, was ist?« fragte ich.

»O Gott,« rief sie, ohne von ihrem kindlichen Gebaren abzulassen, »er liebt mich; o, es ist ganz gewiß, daß er mich liebt!«

»Wer denn? Ist denn das so fürchterlich?«

Sie antwortete nicht, sondern sah mich nur mit großen hülflosen Augen an. Da ich aber Miene machte, fortzugehen, ergriff sie meine Hand. »Bleib, Arnold! Ich will's dir ja sagen, hab doch nur Geduld!«

»Nun, so sprich, Gertrud.«

Aber sie schlug die Hände vors Gesicht: »Nein, ich kann's nicht!« rief sie.

»Weshalb nicht? Bin ich nicht dein alter Kamerad?«

»Arnold – ich schäme mich. – Nein, bleib, geh nicht, ich ersticke sonst daran.«

»Nun, Gertrud, wer ist es denn, der dich so erschrecken kann?«

Sie sah mich eine Weile unentschlossen an, dann mit einer raschen Bewegung zu mir tretend, brachte sie den Mund dicht an mein Ohr und rief mit einem Ton des Abscheues: »Der Bucklige!«

»Mein armer Freund!« Ich wußte weiter nichts zu sagen, obgleich es mir seit der letzten halben Stunde nichts Neues war, was ich erfuhr.

Gertrud nickte. »Er hat so gute Augen!« sagte sie. »O, ich weiß es ja, es ist so schlecht von mir!« und dabei fing sie bitterlich zu weinen an.

Nachdem ich sie etwas beruhigt hatte, bat ich sie, noch ein paar Augenblicke hier zu verweilen; ich wollte, ehe sie dorthin zurückkehrte, den kleinen Maler aus dem Kinderkreise zu entfernen suchen. Gertrud war damit einverstanden. Als ich aber kaum ein paar Schritte in die Bäume hinein getan hatte, sah ich nicht weit von mir eine arme gebrechliche Gestalt an einen Baum gelehnt.

»Brunken,« rief ich, »was machst du hier?«

»Nicht eben viel,« erwiderte er, »die Kleine da hat mir das Ende meiner Ungeheuergeschichte erzählt; eigentlich freilich hat sie es wohl nur dir erzählen wollen, aber ich habe scharfe Ohren.« Dann ergriff er meine Hand, »Arnold,« sagte er, und seine Stimme klang auf einen Augenblick fast weich, »es ist ein schwer Exempel; meine Seele und meine Kunst verlangen nach der Schönheit, aber die langfingerige Affenhand des Buckligen darf sie nicht berühren.«

In solchem Augenblick vermag ein anderer nicht viel; was wir noch gesprochen, dessen erinnere ich mich nicht mehr; ebenso wenig, wie der Rest des Tages verlief. Nur das weiß ich noch, daß bei der Rückfahrt der unglückselige Assessor neben Gertrud auf der Leiterbank und Brunken den beiden gegenüber zu sitzen kam. Er hatte während einer ganzen Stunde hinlänglich Gelegenheit, sich das Herz voll Gift und Leidenschaft zu trinken; denn auch mir entging es nicht, daß jene beiden nicht ungern neben einander saßen, wie ich es denn auch gestehen muß, daß sie später durch den Segen der Kirche so fest als möglich mit einander verbunden worden sind.

Als wir in der Stadt und vor meines Onkels Hause angekommen waren, sprang Brunken vom Wagen und rannte, ohne einem von uns ein »Gute Nacht« geboten zu haben, die Straße hinab; sein kleiner Radmantel, den er umgebunden hatte, schwebte wie ein Dach über den dünnen Beinen.

»Heisa! Freu dich, Christel!« hörte ich einen Jungen einem alten Weibe zurufen, das sich mit einem Korb voll Wäsche über die Straße schleppte. »Die Schildkröten laufen herum, heute nacht gibt's Regen!« Und beide schlugen ein schallendes Gelächter auf.

Nachdem ich die sämtlichen Damen und Kinder hatte vom Wagen herabheben helfen, nahm ich von meinen Verwandten Abschied und ging in Brunkens Wohnung. Aber ich erfuhr nur, daß er dort gewesen und sogleich, ohne Bescheid zurückzulassen, wieder fortgegangen sei. Nicht besser ging es mir ein paar Tage darauf; es hieß, Brunken habe sagen lassen, er sei auf den Dörfern in der Umgegend, um dort Studien zu machen; einiges Gerät und Farben zum Aquarellmalen hatte er sich nachkommen lassen. Nach etwa vier Wochen erhielt ich aber einen Brief von ihm aus einer größeren Stadt des mittleren Deutschlands, worin er mir erzählte, daß er dort seinen bleibenden Aufenthalt nehmen werde; der Brief enthielt zugleich die Bitte, ihm seine Habseligkeiten dorthin nachzuschicken. Ich besorgte das alles, und seitdem verging eine lange Zeit, während welcher jede Beziehung zwischen uns aufgehört hatte.

 

Es mochte vier Jahre später sein, als ich auf einer größeren Reise eines Vormittags auch in jene Stadt gelangte. Von dem Wirt des Gasthofes, in dem ich abgetreten war, erfuhr ich, daß mein Freund in einem kleinen Landhause vor der Stadt wohne. Als ich mich dann nach dem Wege dahin erkundigte, meinte er, der Pflegesohn des Herrn Professor sei vor einer halben Stunde hier vorbeigegangen und werde bald zurückkommen. »Wenn's gefällig,« setzte er hinzu, »könnten Sie ja mit dem jungen Herrn hinausgehen.«

Ich machte große Augen. »Pflegesohn, Herr Wirt? – Ich spreche von dem Maler Brunken.«

»Ohne Zweifel, mein Herr,« erwiderte dieser, »der Herr Professor sind mir wohl bekannt; sie haben zu Anfang ihres hiesigen Aufenthalts ein Vierteljahr in meinem Hotel zu Mittag gespeist.«

Ich gab mich zufrieden und ging auf mein Zimmer, um mich umzukleiden. Es dauerte auch nicht lange, so wurde angeklopft, und auf mein »Herein« trat ein kräftiger, fast untersetzter junger Mann von etwa neunzehn Jahren in das Zimmer. »Herr Doktor Arnold?« sagte er, indem er mich begrüßte.

Ich betrachtete ihn näher. Auf seinen breiten Schultern erhob sich ein kleiner blasser Kopf, in dessen tief liegenden Augen ein eigener, fast melancholischer Reiz lag. »Sie wollen die Güte haben,« entgegnete ich, »mich zu meinem Freunde zu führen?«

»Es wird meinem Lehrer eine große Freude sein,« erwiderte er, »er hat mir oft von Ihnen gesprochen.«

»Sie sind auch Maler?« fragte ich.

»Ich suche es zu werden,« versetzte er.

Wir gingen nun zusammen fort. Unterwegs erzählte mir mein junger Begleiter, der auf meine Fragen bescheiden, aber ohne Gesprächigkeit antwortete, daß er seinen ersten Unterricht von Brunken erhalten, mit dem er sogleich das derzeit von diesem erkaufte Haus bezogen habe. Aus seinen Äußerungen mußte ich entnehmen, daß er dort seine eigentliche Heimat finde; denn er war auch jetzt nach einem dreijährigen Besuch der Akademie dahin zurückgekehrt.

Unter solchen Gesprächen hatten wir bald die Stadt im Rücken und gingen nun im Schatten einer langen Lindenallee, an deren beiden Seiten sich eine Reihe von zum Teil prächtigen Landhäusern entlang zog. Nach kurzer Zeit bogen wir in eine Seitenstraße, wo die Architektur bescheidenere Formen anzunehmen begann; und hier, auf der Terrasse eines einstöckigen Hauses, erblickte ich die groteske Gestalt meines trefflichen Freundes. Er stand in der vollen Mittagssonne und beschattete die Augen mit der Hand; das mächtige Haupt war noch wie einst mit dem braunen, struppigen Vollbart geziert; aber als wir die Tür des Gartengitters öffneten, sah ich, daß er frisch und kräftig ausschaute, wie ich ihn nie gekannt.

»Wen bringst du mir da, mein Sohn Paul?« rief er uns entgegen, während wir um einen kleinen Rasen herum dem Hause zugingen.

Paul lächelte. »Keinen Fremden, denke ich!«

Und schon war Brunken die Stufen in den Garten hinabgekommen und hatte meine beiden Hände ergriffen. »Nein, keinen Fremden!« rief er. »Bei allen Göttern, die den Wanderer beschützen! Sei mir tausendmal gesegnet, Arnold, daß du endlich bei mir einkehrst!«

Ich konnte nicht zu Worte kommen; denn schon war er wieder die Stufen hinauf und rief durch die offene Flügeltür ins Haus: »Martha, Marie, wo steckt ihr denn?« Und dabei schlug ihm die Stimme in seine höchste Fistel über; aber dennoch klang es schön und herzerquickend; und herzerquickend war auch das, was auf seinen Ruf erschien; zuerst wie ein Vogel herangeflogen, ein schlankes, etwa vierzehnjähriges Mädchen; und dann, ihr ruhig folgend, eine ältere Frau mit den schönen Augen meines Freundes, aber ohne die Gebrechen seines Körpers.

»Dies«, sagte Brunken, indem er ihre Hand ergriff, »ist meine liebe Schwester Martha; wir hausen hier zusammen; den Paul hast du dir schon selber aufgefischt; aber diese meine Nichte muß ich dir noch vorstellen; es ist ein junges, törichtes Geschöpf, das den hehren Namen Maria noch keineswegs verdient hat.« Und dabei zupfte er die kleine Schöne ein paarmal derb an ihren braunen Flechten. »Nicht wahr,« fuhr er zu mir gewendet fort, »du trittst hier in ein kinderreiches Haus! Und sind sie auch nicht so ganz mein eigen, so hab ich doch ein gutes Teil an ihnen.«

Er mußte inne halten, der Atem fing ihm endlich an zu fehlen. Und es brauchte auch keiner weiteren Auseinandersetzung; das Mädchen hatte die Arme auf dem Rücken zusammengeschränkt und sah mit den glücklichsten Augen in das gerötete Antlitz des kleinen aufgeregten Oheims.

»Aber Edde?« bemerkte jetzt die Schwester, indem sie fragend von ihm zu mir herüberblickte.

Er hatte sie sogleich verstanden. »Ja so, wer das ist?« rief er. »Den kennt ihr alle; das ist der Arnold, der Doktor; er kommt grade, da die Rosen blühen; und nun soll es auf der Villa Brunken ein paar seelenfrohe Tage geben!«

Und in der Tat, heiter war es auf der Villa Brunken. Nach dem herzlichsten Willkommen saß ich bald unter diesen lieben Menschen an einer wohl gedeckten Mittagstafel in dem freundlichen Gartensaal, dessen Flügeltüren auf die Terrasse hinaus geöffnet blieben; und während wir plauderten und genossen, wehten von Zeit zu Zeit die vorbeiziehenden Sommerlüfte eine ganze Wolke von Rosenduft zu uns herein. – Nachher verstand es sich von selbst, daß ich zur Mittagsruhe in ein kühles Gastzimmerchen verwiesen wurde, das man bei Kündigung der Freundschaft mir auferlegte, mindestens für drei Tage als meine Wohnung anzusehen.

Ich mußte schon nachgeben; und während ich nach der auf der Eisenbahn verwachten Nacht einen erquicklichen Schlaf tat, war Paul zur Stadt gewesen und hatte mein Gepäck aus dem Gasthof herüberschaffen lassen.

Als ich mit Brunken wieder in den Gartensaal trat, wo uns Frau Martha am Kaffeetisch erwartete, klopfte er mich leise auf den Arm und zeigte nach der Terrasse hinaus, zu der auch jetzt die Türen offenstanden. Dort, wo jetzt schon der Schatten des Nachmittags vorgerückt war, wurde augenscheinlich eine Zeichenstunde gegeben. Das hübsche schlanke Mädchen saß eifrig mit dem Bleistift arbeitend an einem Tischchen, während Paul, an ihren Stuhl gelehnt, der kleinen regsamen Hand aufmerksam mit den Augen folgte.

»Nun sieh mir einer diese Hexe!« rief Brunken, »mir läuft sie immer aus der Schule; und seit der Paul da ist, wird Tag für Tag gezeichnet. Versteht er's denn wirklich schon besser als ich?«

Der junge Mann errötete; Marie aber sagte, ohne aufzublicken: »Paul ist so hübsch geduldig, Onkel!«

Brunken drohte mit dem Finger. »Ich muß wohl eifersüchtig werden!« sagte er, und dabei warf er einen Blick des innigsten Behagens auf das junge Menschenpaar.

Nach dem Kaffee lustwandelte ich mit Brunken in seinem Garten, der sich in beträchtliche Tiefe hinter dem Wohnhause erstreckte. Nachdem wir den Duft der Rebenblüte in einem Glashause eingesogen, auch eine Weile von einem Anberge aus nach der Stadt hinübergesehen hatten, von wo das Glockenläuten des morgenden Sonntags zu uns herüberwehte, ließen wir uns schließlich in einer kühlen Laube nieder. Ich bot meinem Freunde eine Zigarre, die er wie immer verschmähte, und zündete mir dann selbst einen Stengel dieses edlen Krautes an. So begannen wir von der vergangenen gemeinsam verlebten Zeit zu plaudern und kamen endlich auch an jenen Abend, wo er uns auf Nimmerwiederkehr entflohen war. Ich sprach darüber mein Bedauern aus; aber Brunken schüttelte, wie er zum Zeichen der Verneinung zu tun pflegte, seinen langen Finger vor der Nase. »Halt, Doktor,« sagte er, »das war eine Heil bringende Nacht!« '

»So erzähle!« versetzte ich. »Was hast du damals denn getrieben?«

»Kennst du die Fabel aus Campes Kinderbibliothek: Es war einmal ein dicker, fetter Mops?«

»Freilich, der Mops bellte den Mond an.«

»Ich habe auch den Mond angebellt, oder, unbildlich gesprochen, ich habe mit dem Herrgott gescholten, daß er mich so ungeschickt nach seinem Ebenbild erschaffen. – Es war damals ein toller Lebensdrang in mir, und dazu dies Gemengsel von Gliedmaßen, vor dem die Mädel sich graueln wie vor einer Kreuzspinne; Verehrtester, das ist keine Bagatelle!«

»Aber«, unterbrach ich ihn, »wo war denn der Schauplatz dieses Dramas?«

Mein kleiner Freund legte beide Hände in die Seite und sah mich mit dem Ausdruck einer tragikomischen Verzweiflung an. »Ich war über Feld gerannt,« sagte er, »immer grad zu, durch Korn und Dorn, über Wälle und Gräben; endlich saß ich am Rande einer Trinkgrube. Wie ich später erfuhr, war einige Stunden vorher ein junger Bursche daraus aufgefischt, der in dem schwarzen Wässerchen dort unten die Not des Lebens und nebenbei sich selber zu ertränken versucht hatte. Der Mond schien hell; ich konnte alles um mich her betrachten. Das Gras an meiner Seite war noch mit schwarzem Schlamm überzogen; mitten darin stand ein grober Lederschuh, naß und besudelt. Ich glaube noch jetzt, daß dieser Schuh mich damals über Wasser gehalten hat; denn auch ich war schon dem bösen Zauber verfallen, der in solch einsamen Gewässern spuken geht. Es war nicht düster dort; ein Stern nach dem andern drang aus der Tiefe, und immer mehr, je länger ich hinstarrte. Mich überfiel jenes nichtswürdige Mitleid mit dem lieben Ich; und schon dachte ich: ›Versuch es einmal mit der Welt dort unten; Verlust ist keinenfalls dabei‹ –; da traf mein Blick auf jenen groben Schuh, und, gesegnet sei er, er fing an, mir Rätsel aufzugeben. Erstens, es gehörte doch ein zweiter noch dazu; wo mochte sein Kamerade sein? Und dann, er konnte doch nicht allein hieher gegangen sein; wo wanderte sein Herr jetzt mit dem zweiten Schuh? – Unter mir in den Binsen saß freilich ein großer Frosch mit seiner ganzen Gesellschaft und suchte mir die Geschichte vorzusingen. Ich merkte wohl, daß sie von allem Bescheid wußten. Aber du weißt, ich bin immer ein schlechter Linguiste gewesen; ich verstand die Kerle nicht. Doch wie nun alles in der Welt zu Ende geht, so ging auch diese Nacht dahin; der Morgenwind fuhr über die Felder und weckte alle Kreaturen; und als die ersten Lerchen aufstiegen, erschien auch die Sonne am Horizonte und beleuchtete mich in all meiner Unsauberkeit; ich konnte es nun deutlich an meinen Kleidern nachbuchstabieren, daß ich nicht bloß durch Hecken und Dornen, sondern auch durch Sümpfe und Gräben hieher gelangt sein mußte. Es schauderte mich ein wenig, ich weiß nicht mehr, ob vor Kälte oder Scham, und ich machte mich daran, die Spuren meiner Torheit nach Möglichkeit zu vertilgen. Dann stieg ich auf den Wall des Grundstücks, um eine vernünftige Landstraße zu erspähen; und nachdem ich nicht nur diese, sondern zu Ende derselben auch ein Dorf unter grünen Bäumen entdeckt hatte, marschierte ich bald zwischen wohlnumerierten Chausseesteinen, wie ein verständiger Mann, der die Kühle der ersten Frühe zu seiner Wanderung benutzt.

In dem Dorfe, das ich dann erreichte, war eben das Tagesleben angebrochen; ich hörte in den Gehöften die Leute zu ihren Pferden reden, die zur Heufuhr an die Wagen gespannt wurden. Mitten in der Dorfstraße, in dem Gärtchen vor seinem Hause, stand ein ältlicher Mann und rauchte behaglich seine Morgenpfeife, in dem ich sogleich den Schulmeister des Dorfes erkannte. Auf meinen ›Guten Morgen‹ erhielt ich freundliche Erwiderung und auf meine Frage, wo ich hier ein Frühstück bekommen könne, die Einladung, ins Haus zu treten und mit ihm und seiner Frau den Morgenkaffee einzunehmen. Das tat ich denn, und da die Frau nicht weniger zutraulich war, so saßen wir drei bald im schönsten Plaudern neben einander.

Das erste, was ich erfuhr, war die Geschichte jenes Schuhes, bei der mein gütiger Wirt selbst in gewisser Weise beteiligt war. – Als eines Stubenmalers Sohn hielt er die väterliche Kunst noch so weit in Ehren, daß er seinen Schülern wöchentlich eine Stunde Zeichenunterricht erteilte. Er verdiente damit, wie er meinte, freilich weder bei Eltern noch Kindern besonderen Dank; nur der Sohn eines wohlhabenden Bauern, welcher dem Schulhause gegenüber wohnte, hatte soviel Geschick und Eifer gezeigt, daß er bald nicht nur allerlei Dinge, die der Lehrer ihm vorgelegt, nach der Natur gezeichnet, sondern auch zu Hause und auf eigene Hand alles abkonterfeit hatte, was ihm grade in den Weg gekommen. – So weit war alles leidlich gut gegangen, wenn auch der alte Bauer bisweilen über die ›dumme Kritzelei‹ gescholten hatte. ›Da mußte das Unglück‹, erzählte der Lehrer weiter, ›meinen jüngsten Bruder, welcher bei dem Beruf unseres Vaters geblieben ist, auf ein paar Wochen zum Besuch hieher führen. Er versteht ein wenig mehr, als was zum bloßen Handwerk gehört, und pflegt auch in seinen Mußestunden allerlei Blättchen mit Wasserfarben anzufertigen. Ein paar Zeichnungen des Knaben, die ich ihm zeigte, erregten seine Teilnahme, und so dauerte es nicht bis in den dritten Tag, daß die beiden die dicksten Freunde waren. Jeden Abend haben sie hier am Tisch gesessen zu zeichnen und zu pinseln, und da mein Bruder dem Jungen einen Teil seiner Farben zum Geschenk machte, so setzte dieser das Geschäft nach dessen Abreise fort. Seitdem war nichts mit ihm anzufangen, und endlich erklärte er rund heraus, er wolle Maler werden. Sie können sich den Lärm denken; der Vater, der außer ihm nur eine verheiratete Tochter hat, hatte sich immer der starken Gliedmaßen seines Sohnes gerühmt. Nun wurde er konfirmiert und sollte mit an die Feldarbeit; aber er wollte nicht. Manches Mal hat der Alte ihn mit der Peitsche drüben aus dem Walde geholt, wo er irgend einen schönen Baum zu Papier brachte, und ihm seinen Zeichenkram vor der Nase entzwei gerissen. Aber es half alles nichts; ich redete vergebens zum Frieden; der Junge mit seinen Knochen sollte Bauer werden, der Alte wollte nicht für Fremde so viele Acker Heide urbar gemacht haben. Endlich, vorgestern Nachmittag beim Heufahren, wurde dem Faß der Boden ausgestoßen. Der arme Bursche vergaß unseres Herrgotts Gebote und sprang in die Trinkgrube; zum Glück waren seines Vaters Leute in der Nähe, die ihn noch eben zu rechter Zeit herausholten. Mich selbst und meine Zeichenstunden‹, so schloß der Schullehrer seinen Bericht, ›wird diese Geschichte auf lange um allen Kredit gebracht haben.‹

Er stand auf und holte sich eine neue Pfeife aus der Ecke; ich blieb nachdenklich sitzen. – Was hatte denn mich an jenes Wässerchen hinausgelockt? Die solide Desperation des armen Jungen versetzte mich in die tiefste Beschämung. So viel stand fest, ich mußte ihn kennen lernen; vielleicht daß ich ihm helfen konnte.

›Schulmeister,‹ sagte ich endlich, ›ich bin krank gewesen, es würde mir gut tun, ein paar Wochen auf dem Lande zu leben. Könntet Ihr mir wohl Quartier geben?‹

Daß ich ein Maler sei und allerlei für meine Mappen einzusammeln gedachte, verschwieg ich wohlweislich noch; und so war denn auch bald, ›wenn ich nur fürlieb nehmen wollte,‹ ein Kämmerchen bei den kinderlosen Leuten für mich bereit. Freilich ließ ich mit einigen Kleidungsstücken auch mein Aquarellkästchen aus der Stadt kommen; aber das blieb vorläufig in dem Reisesack verborgen; auf meinen ersten Streifereien behalf ich mich mit dem Bleistift, womit ich denn noch am selben Nachmittage die Trinkgrube mit dem rettenden Lederschuh zum dankbaren Gedächtnis in mein Taschenbuch eintrug. Am Abend wagte ich mich unter die Dorfleute und endlich auch zu dem alten Kunstfeinde gegenüber, der rauchend in der großen Torfahrt seines Hauses stand. Ich begann ein Gespräch über den Stand der Ernte, ging dann auf die neue Steuer über, schimpfte etwas Weniges auf die Regierung, und so wurden wir bald bekannt. Es ist ein alter knorriger Kerl; du sollst ihn nachher in meiner Mappe sehen, worin er ohne Wissen und Willen hat Platz nehmen müssen. Von dem Sohne sah ich nichts und hütete mich auch wohl, seiner zu erwähnen. – Am Abend darauf, nachdem ich den Tag im nahen Walde in Gesellschaft gehöriger Butterschnitte der Frau Schulmeisterin verbracht hatte, war ich wieder zur Stelle, und ebenso am dritten und am vierten Abend; der Alte schien diesmal in einer nachdenklichen Stimmung; er saß ohne seine Pfeife auf dem Stein vor seinem Hause und antwortete kaum auf meine noch so wohl überlegten Gesprächseinleitungen.

›Wer weiß,‹ dachte ich endlich; ›vielleicht ist's just der rechte Augenblick.‹ So fragte ich ihn denn gradezu nach seinem Sohn. ›Ist er nicht zu Hause?‹ fügte ich hinzu. ›Ich habe ja noch nichts von ihm gesehen.‹

Da brach's hervor; mit der geballten Faust drohte er nach dem Schulhause hinüber: ›Der Haselant mit seinen hergelaufenen Faxen!‹ rief er. Und nun klagte er mir seine Not, während zwischendurch immer Flüche auf den armen Schulmeister fielen. ›Der hätte die Prügel haben sollen, die der Junge gekriegt hat; denn bei dem hat's nichts geholfen.‹

›Was macht Euer Sohn denn jetzt?‹ fragte ich.

Der Alte schob die Pudelmütze übers Ohr. ›Das ist ein wunderlich Spiel,‹ versetzte er, ›seit er die Dummheit da begangen, ist er mir wie ausgewechselt. Als ich ihn gefragt habe: ›Was willst du denn nun eigentlich, Paul?‹, hat er geantwortet: ›Was Ihr wollt, Vater, mir gilt's gleich!‹ – Aber gesprochen hat er kein Wort, und nach dem Abendbrote geht er auf seine Kammer; ob er dort schläft oder wacht, ich weiß es nicht. Seht – dies Wesen will mir ebenso wenig gefallen. Was meint Ihr, wenn Ihr einmal ein vernünftig Wort mit ihm zu reden suchtet? Ihr könntet mir einen rechten Dienst erweisen; ich selbst verstehe die Worte nicht so zu setzen?

Der Mann sah erwartungsvoll zu mir auf; die Sorge um sein Kind stand leserlich in seinen harten Zügen.

›Aber‹, erwiderte ich, ›wenn er nun wieder von seiner Malerei beginnt?‹

›Solch dummes Zeug müßt Ihr ihm eben auszureden suchen!‹

›Aber weshalb denn sollte er nicht Maler werden?‹

›Weshalb? – Er hat eine volle Hufe; er braucht brotlose Künste nicht zu treiben.‹

Ich wagte einen kühnen Schritt. Als ich meine Wohnung verließ, hatte ich in dem Gedanken, sofort in die weite Welt zu laufen, meine paar Kassenscheine in mein Taschenbuch gesteckt. Jetzt zog ich es hervor und schlug es vor dem Alten auf.

›Was soll's?‹ sagte er, ›das ist ein Päckchen Fünfzigtalerscheine?‹

›»Das‹, erwiderte ich, ›ist mit der brotlosen Kunst verdient?‹

›Wie meint Ihr das?‹

›Ich meine, daß diese dreihundert Taler der halbe Preis meines letzten Bildes sind; denn ich bin eben auch nur ein Maler?‹

Der Alte sah mich fast erschrocken an. ›Ihr?‹ sagte er; ›da wäre ich ja an den Rechten gekommen! Im übrigen‹, setzte er hinzu, indem er mich mitleidig von oben bis unten musterte, ›ist das ein ander Ding; mein Junge hat gesunde Gliedmaßen?‹

›Nun, gute Nacht, Nachbar!‹ sagte ich und machte Miene, fortzugehen.

Aber er rief mich zurück. ›Auf ein Wort noch, Herr Brunken?‹ begann er wieder, ›dreihundert Taler sagtet Ihr? Und nur die Hälfte? Wie lange macht Ihr denn an solch einem Bild? – Wird wohl langsame Arbeit sein?‹

Als ich ihn über dieses Bedenken beruhigt hatte, stützte er erst den Kopf in die Hand; dann zog er seine Pfeife aus der Tasche, schlug Feuer und rauchte eine ganze Weile eifrig, aber schweigsam fort. Hierauf folgte eine lange Auseinandersetzung zwischen uns; der Alte meinte, der Junge sei für den Acker da, und ich meinte, der Acker sei für den Jungen da; endlich, als ich ihm auch noch die pausbackige Nachkommenschaft seiner im Dorf verheirateten Tochter zu Gutserben designiert hatte, erhielt ich die Erlaubnis, nach meinem Guthalten mit seinem Sohne zu sprechen. ›Nun macht's, wie Ihr könnt?‹ schloß der Alte diese Verhandlung; ›und damit hopp und holla! Ich führ selbst in die Grube, wenn ich dem Jungen sein tot Gesicht noch länger ansehen sollte?‹

Eine Stunde später, während welcher die Arbeiter vom Felde zurückgekehrt waren, stand ich vor dem Schulhause und blickte nach des Nachbars Garten hinüber, wo trotz des Johannisabends noch eine Nachtigall in den Holunderbüschen schlug. Da verstummte mit einem Mal der Vogelgesang; statt dessen hörte ich Kinderstimmen, und bald sah ich auch ein paar Knaben und ein kleines Mädchen durch die Gartenpforte auf den Weg hinaus rennen. Draußen blieben sie stehen und wiesen mit den Fingern auf kleine Papierblättchen, von denen jedes mehrere in Händen hatte; dann gingen sie wieder eine Strecke fort und setzten sich unweit unter einen Zaun am Wege, wo es an ein neues Zeigen und Beschauen ging.

Ich konnte den Zusammenhang dieses Vorganges leicht erraten; und richtig, als ich zu ihnen gegangen, sah ich, daß es lauter bunte Bilderchen waren. ›Wer hat euch die geschenkt?‹ fragte ich.

Sie glotzten mich scheu von der Seite an; nur das kleine Mädchen antwortete endlich auf meine wiederholte Frage: ›Paul Werner!‹

Ich sah mir die Sachen an. Es war ungeschicktes Zeug aus allen vier Naturreichen; eine Kuh, die mit dem Schwanze sich die Bremsen wegpeitscht; ein alter Felsblock; ein Bienenstand mit einem Hund davor und dergleichen mehr; aber aus allem blickte in kleinen Zügen, was ich selber nie so ganz besessen, jenes instinktive Verständnis der Natur; es war alles, so unbehilflich es auch war, dennoch, ich möchte sagen, über das Zufällige hinausgehoben.

Du weißt, der Mensch ist nun einmal eine Kanaille; – und so begann sich denn auch in mir ein ganz lebenskräftiger Neid gegen diesen Bauerburschen zu regen. Da ich mich aber mit Naturdämonen schon hinlänglich behaftet fühlte, so entschloß ich mich kurz, diesen neuen Kameraden sofort in der Geburt zu ersticken.

Zum Glück hatte ich einige blanke Münzen bei mir, mit denen es mir bei den Knaben sofort gelang, ihnen einige der Blätter abzuhandeln. Nachdem mir beim Nachhausekommen auch der Schulmeister bestätigt hatte, daß die Bilder von der Hand seines jungen Schülers seien, verbarg ich für diesen Abend die eroberten Schätze in meinem Skizzenbuch.

Am andern Morgen trat ich früh mit der Sonne meine gewöhnliche Wanderung an. Als ich an der Kirchhofsmauer entlang ging, sah ich jenseit derselben einen jungen Mann auf einem Grabe sitzen. Während ich durch das Kreuz der Kirchhofspforte trat, wandte er den Kopf zu mir, und ich sah nun zum ersten Mal in jenes blasse Antlitz mit den tief liegenden Augen, welche das Wesen der Dinge einzusaugen scheinen; mit einem Wort, ich sah den Jungen, in dessen aufstrebender Kunst ich jetzt fast mehr lebe als in meiner eigenen. Aber während ich auf ihn zuging, stand er auf und entfernte sich nach der andern Seite des Kirchhofs; er überschritt den Fahrweg jenseit desselben und entschwand meinen Augen zwischen den Bäumen eines anliegenden Gehölzes. Ich ging zu dem Rasenhügel, den er soeben verlassen, und da ich hier auf dem Grabsteine den Familiennamen unseres Nachbarn las, so wußte ich auch, daß ich Paul Werner auf dem Grabe seiner Mutter gesehen hatte. Jetzt machte ich lange Beine; du weißt, daß ich diese Fähigkeit besaß, die mir auch bis jetzt noch nicht abhanden gekommen ist. Als ich meinen Flüchtling drüben auf dem Fußsteige des Wäldchens wieder zu Gesicht bekommen hatte, rief ich ihm schon von weitem meinen ›Guten Morgen‹ nach. Er blickte um, erwiderte meinen Gruß und ging dann nur um so schneller vorwärts.

Ich strengte also noch einmal meine Lungen an. ›Paul Werner!‹ rief ich. ›Warte, ich habe mit dir zu reden!‹

Jetzt blieb er stehen. ›Ich kenne Sie nicht, Herr,‹ sagte er; – übrigens, dank seinem alten Schulmeister, in reinem Hochdeutsch.

›Aber ich möchte dich kennen lernen,‹ erwiderte ich.

›Mich?‹ fragte er befremdet.

›Dich, Paul!‹ versetzte ich, ›denn ich höre, du willst Maler werden.‹

›Ich will kein Maler werden, Herr.‹

›Aber der Schulmeister sagt es doch.‹

Er schüttelte den Kopf. ›Das ist vorbei,‹ sagte er.

Ich nahm nun die erhandelten Bilderchen aus meinem Skizzenbuch. ›Sind das deine Malereien?‹ fragte ich.

Er nickte.

›Wie hast du denn das zu Stande gebracht?‹

›Ich habe es so gesehen,‹ erwiderte er.

›Recht so!‹ rief ich. ›Und es ist auch so; es ist nur seltsam, daß nicht auch die andern – fast hätte ich gesagt: wir andern – es so sehen.‹

Er blickte mich fragend an, er verstand das nicht. Aber ich schrie ihm zu: ›Und du willst kein Maler werden, Junge? Was in aller Welt denn sonst?‹

Eine Weile zupfte er schweigend an seinen Fingern; dann sagte er: ›Ich werde ein Bauer, wie mein Vater.‹

›Und doch, Paul,‹ begann ich noch einmal, ›hast du nicht leben wollen, weil du nicht malen durftest.‹

Eine jähe Röte schoß über das blasse Antlitz. ›Weshalb sagen Sie mir das?‹ sagte er zitternd.

›Weil ich dir helfen möchte, Paul,‹ erwiderte ich; ›denn bei den Toten ist nun einmal keine Hülfe.‹

Er schlug langsam die Augen zu mir auf und blickte mich fast angstvoll an. ›Ich suche einen tüchtigen Schüler‹ fuhr ich fort. ›Was meinst du, willst du es mit mir versuchen?‹ Dabei gab ich ihm das Skizzenbüchlein aufgeschlagen in die Hand.

Es war doch, als wenn es plötzlich in den dunkeln Augen blitzte; wie auf eine Offenbarung schaute er auf die kleine Aquarellskizze. – Und doch, sage ich dir, ist die Zeit nicht fern, daß meine Augen ebenso an seinen Blättern haften werden; denn er ist einer von jenen, nach deren Tode man noch die Papierschnitzel aus dem Kehricht sammelt, auf welchen ihre Hand einmal gekritzelt hat.«

Mein Freund war aufgestanden und stützte sich mit beiden Händen auf den vor uns stehenden Gartentisch; auch in seinen Augen blitzte es jetzt von Liebe und Begeisterung.

»Doch«, fuhr er fort, »damals war er noch ein Bauerbursche und konnte sich nicht satt staunen an meinem Machwerk. – Was soll ich dir das lange noch erzählen! Als ich ihm alles, was ich beabsichtigte und was ich tags zuvor mit seinem Vater verhandelt, mitgeteilt hatte, da habe ich ihn wie einen Trunkenen heimgeführt; denn wir gingen gradeswegs zum alten Werner. Und nachdem ich diesem noch einmal eine Stunde lang tüchtig Stand gehalten, war endlich alles, so wie ich es wünschte, abgemacht.

Mein alter Schulmeister staunte nicht schlecht, als ich nach dem Frühstück Farben und Palette auspackte und nun mit beiden Beinen als ein fix und fertiger Maler vor ihn hinsprang, und gar als er von der Bekehrung seines Widersachers hörte. ›Da käme ich ja auch wohl wieder zu Ehren!‹ rief er lachend. – Und wirklich, die Versöhnung der beiden langjährigen Nachbarn war denn noch die Krone meines Werkes. Freilich, als dabei der Schulmeister so etwas wie einen Triumphton anstimmen wollte, fuhr der Bauer auf: ›Red't nicht so viel, Schulmeister! Es könnt mir leid werden!‹ Und seitdem genossen wir weislich unsern Sieg im stillen.

Schon am ersten Morgen hatte ich beschlossen, der Verfolgung des Dämon Amor durch rasche Flucht ein Ziel zu setzen. Nun schrieb ich meiner Schwester, die seit kurzem Witwe war, und schlug ihr vor, mit mir hieher zu ziehen; und als ihre Zustimmung nach einigen Tagen erfolgte, so war das Fundament dieses wackeren Hauses damit gelegt.

Noch acht Tage blieb ich in dem Dorfe und streifte mit meinem neuen Schüler, der nun plötzlich in reiner Lebensluft atmete, plaudernd und arbeitend durch Berg und Wald. Ich wurde mit jedem Tag gesunder; die freie Luft, das derbe praktische Leben um mich her taten mir wohl. Hier war einmal eine Welt ohne jene betörende Liebe; die Mädchen heirateten, je nachdem, eine ganze, halbe oder viertel Hufe; die respektiven Besitzer gingen mit in den Kauf – scheußliche Kerle, sag ich dir, mitunter. Mein Bauer war auch mit einem solchen Schwiegersohn versehen; der Mensch war überdies ein Trunkenbold.

Am letzten Abend meiner dortigen Sommerfrische kam die Frau, die übrigens nichts mit ihrem Bruder Paul gemein hat, zu dem Hause ihres Vaters, wo ich mit diesem auf den großen Steinen vor der Torfahrt saß. Sie hatte eines ihrer Kinder auf dem Arm, bei dessen Entstehung auch nicht die Grazien geholfen, dem sie aber doch mit mütterlichem Behagen das Näschen mit der Schürze schneuzte. – Die Frau stellte sich grade vor den Alten hin. ›Vater,‹ sagte sie, ›'s ist nicht mehr zum Aushalten!‹

Der Alte blieb ruhig sitzen, tat einen Zug aus seiner Pfeife und fragte: ›Wo steckt's denn schon wieder einmal?‹

›Wo es steckt?‹ rief das Weib; ›der Kerl ist alle Tage dick und voll!‹

›Sonst nichts?‹ meinte der Alte. ›Das haben wir schon allzeit gewußt.‹

›Macht keinen Spaß, Vater; das paßt sich nicht dazu!‹

›Ei was,‹ rief der Bauer, indem er aufstand und ins Haus ging. ›Du mußt ihn eben schleißen; ich hab's dir vorhergesagt; 's hat alles sein End in der Welt!‹

Ich fiel über diese Worte in einen Abgrund der Betrachtung. Wem denn, als mir selber, lag die Verpflichtung näher, meine eigene werte Person zu schleißen? – Freilich, wenn es vollbracht war, ich konnte keine Hufe dabei gewinnen; wenigstens keine irdische zu zehntausend Talern Steuerwert. Aber dennoch! – Und am Ende, war denn das Körperchen wirklich so übel? Hatte es mir nicht schon einen wesentlichen Dienst geleistet? Ich dachte an die Prügel des armen Paul. Hätte mein Vater mich nicht unzweifelhaft zum Schiffsmaat geprügelt, wenn ich mit solchen Gliedmaßen auf die Welt gekommen wäre?

Als ich aus der Tiefe dieser Schlußfolgerungen auftauchte, sah ich das Weib schon wieder ruhig plaudernd bei einer Nachbarin stehen, und auch der Alte saß wieder, seine Pfeife schmauchend, neben mir. ›Was simuliert Ihr denn, Herr Brunken?‹ sagte er, als ich mit der Hand mir die Gedanken aus den Augen wischte.

›Ich simuliere,‹ erwiderte ich, ›Vater Werner, man soll sein Leben aus dem Holze schnitzen, das man hat.‹

›Da habt Ihr wacker recht,‹ sagte der Alte und nickte dazu ein paarmal derb mit seinem harten Kopfe. – Und siehst du, Arnold,« so schloß Freund Brunken seine Erzählung, »diese gute Lehre, die ich zuletzt noch auf den Weg bekam, habe ich festgehalten; ich würde mich jetzt ohne Gefahr sogar den schönen Augen deines Mühmchens aussetzen können.«

»Vielleicht um so mehr,« versetzte ich, »wenn du erfährst, daß sie inzwischen deinen Freund, den Assessor, geheiratet hat.«

Er stutzte doch einen Augenblick. »Ich lasse ihr Glück wünschen,« sagte er dann, »möge sie es nie vermissen! Denn, nichts für ungut, dein Herr Vetter gehört denn doch zu jener Sorte – nun, wir kennen sie sattsam; verderben wir uns die gute Stunde nicht!«

Ich lachte.

»Gehen wir lieber einmal in meine Werkstatt, die du noch nicht gesehen hast,« fuhr er fort, »dort kann ich dir auch die Illustration zu meiner Geschichte zeigen.«

Und so schleuderten wir durch den blühenden Garten nach dem Hause zurück und betraten bald im oberen Stockwerk ein geräumiges Zimmer mit der ganzen Ausstattung eines rüstigen Malerlebens. Als Brunken die grünen Fenstervorhänge zurückgezogen hatte, entwickelte sich eine reiche Bilderschau; aber er faßte meinen Arm. »Das nachher,« sagte er und führte mich vor ein kleines Bild, das seitwärts auf einer Staffelei lehnte.

Es war fast dasselbe wie jene bittere Karikatur seines eigenen Lebens, an der ich ihn einst so eifrig hatte arbeiten sehen; derselbe sonnige Park und im Vordergrunde, aus dem blühenden Rosengebüsch emporsteigend, die Statue der Venus; nur die Stellung der Figuren war eine andere. Das junge Paar, das sich früher mit übermütigem Lachen in dem Laubgange entfernt hatte, sah man jetzt in harmloser Weltvergessenheit zu den Füßen der huldreichen Göttin. Das Mädchen, wie ruhig atmend hingestreckt, lehnte ihr Köpfchen an das Postament, während der jugendliche Kavalier, welcher dem Beschauer jetzt ebenfalls sein Antlitz zeigte, damit beschäftigt war, eine rote Rose in ihrem Haar zu befestigen, die er augenscheinlich eben frisch vom Strauch gebrochen hatte. – Im Hintergrunde des Bildes aber, in bescheidener Ferne, so daß sie nur bei genauerer Betrachtung bemerkt wurde, saß auf einer Bank die Gestalt meines Freundes. Bequem in die Ecke gelehnt, die Krücke seines Stöckleins unterm Kinn, schaute er unverkennbar in heiterer Behaglichkeit den Spielen zu, die bei dem warmen Sonnenschein unseres Herrgotts Geziefer vor ihm in den Lüften aufführten.

»Nun, Arnold?« fragte Brunken, der während meiner langen Betrachtung des Bildes neben mir gestanden.

Ich drückte ihm die Hand. »Da ist Friede,« sagte ich.

»Du siehst,« versetzte er, »es galt nur die Kleinigkeit, das liebe Ich aus dem Vorder- in den Hintergrund zu praktizieren. – Ihr groß gewachsenen Menschen versteht es freilich nicht, was für Arbeit dem kleinen Kerl die kurze Strecke Wegs gekostet hat.«

Als ich noch einmal auf das Bild blickte, sah ich auch jetzt wieder eine Ähnlichkeit, aber eine andere als in der ersten Auflage desselben. »Du bist auch hier meinem Mühmchen untreu geworden,« sagte ich lachend; »und wenn vor vier Jahren, da er noch den Laubgang hinabwandelte, der Kavalier sich umgesehen hätte, so würde auch er uns wohl ein anderes Gesicht gezeigt haben.«

»Hast du mich richtig ertappt, Doktor?« rief mein kleiner Freund.

»Paul und Marie!« sagte ich leise.

Brunken lächelte. »Still, Arnold! Du siehst, ich habe noch immer meine Träume. Möge das Leben einst deutlicher reden als das Bild!«.

Noch drei heitere Tage verweilte ich auf der Villa Brunken; dann reiste ich ab und besorgte meine Übersiedelung in diese wohllöbliche Stadt. – In den zwei Jahren, die seitdem verflossen, haben Brunken und ich uns nicht wieder vergessen; nach seinen letzten Briefen muß ich annehmen, daß seine selbstlosen Hoffnungen einer frohen Ernte entgegengehen.«

 

Der Arzt schwieg, und es trat eine kurze Stille ein. Dann aber rief die Hausfrau: »Doktor, Ihr Freund war ja nicht verheiratet. Wie paßt denn das auf unsern Fall?«

»Glauben Sie,« erwiderte der Doktor, indem er wieder eine Prise nahm, »daß man sich selber leichter schleißt als seine Frau? – Unter Umständen können Sie recht haben.«


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