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Der Zusammenschluß deutscher Dichter zu Genossenschaften und Schulen, der von der Fruchtbringenden Gesellschaft bis zum Göttinger Hain dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ein besonderes Kennzeichen gegeben hatte, schien durch das Auftreten der großen selbstsicheren Künstlerpersönlichkeiten im Zeitalter Friedrichs des Großen überwunden zu sein. Klopstock und Lessing, Goethe und Schiller haben es weit von sich gewiesen, eine dichterische Schule aufzusuchen oder selber eine zu gründen. Der Starke war am mächtigsten allein. Aber mit dem neunzehnten Jahrhundert ist der alte Drang, sich mit Gleichgesinnten zu einem Bund zu vereinigen, wieder erwacht. Und die Romantiker, die Schwaben, die Jungdeutschen, die politischen Lyriker und Pamphletisten in den Jahrzehnten der regsten Debatte, die Angehörigen des Berliner Tunnels, die von der königlichen Gunst bestrahlten Münchener Sänger fühlten sich wieder als zusammengehörige Glieder einer Sondergruppe oder bildeten, wie es zeitweilig auch in Dresden, in Hamburg und anderwärts geschah, umgrenzte Salons oder Klubs.

Mustert man jedoch die Angehörigen all dieser Verbindungen, so findet man neben vielen Vergessenen oder solchen, deren Andenken jetzt schon erblaßt, günstigsten Falles solche, die wir bei der Wertschätzung in die zweite oder dritte Reihe stellen werden. Von den größten Dichtkünstlern des Jahrhunderts, von solchen, denen man nach menschlichem Ermessen jahrhundertelangen Nachruhm voraussagen darf, hat keiner solch ein Gruppenleben ertragen können. Kleist und Grillparzer, Hebbel und Ludwig, Heine und Annette von Droste, Keller, Richard Wagner, Nietzsche, Conrad Ferdinand Meyer sind einsam ihres Weges gegangen, nicht gehoben durch wechselseitige Empfehlung, nicht von hilfsbereiter Kritik oder Reklame getragen. Das sind zugleich, mit alleiniger Ausnahme von Heine und Nietzsche, diejenigen, die am härtesten um ihre Anerkennung haben ringen, jahrzehntelange Gleichgültigkeit haben verwinden müssen.

Solch ein Einsamer und lange Mißkannter war auch der aufrechte Mann, dessen Werke in diesen Bänden vereinigt sind, Theodor Storm. Wir dürfen ihn nicht zu den stärksten dichterischen Genien des Jahrhunderts gesellen; dazu fehlt ihm zu sehr die rüstige Entwicklung, der Drang in die Weite und Größe der Welt, der Erobererwille, der Mut, über sich hinaus zu gelangen, selbst auf die Gefahr des Mißlingens. Er hat sich als den letzten deutschen Lyriker bezeichnet, aber nie den Ehrgeiz gehabt, auf dem kleinsten Gebiet der Erste, der Pfadsucher zu sein. Wo jedoch das unbeirrte Verantwortlichkeitsgefühl des wahren Künstlers gewürdigt wird, da wird man ihn zu allen Zeiten rühmen.

Solche Überzeugungstreue, die immer vorbildlich bleiben wird, war nur einem charakterstarken Manne möglich. Denn Storms dichterische Entwicklungszeit fiel in die unseligsten Jahrzehnte des literarischen und theatralischen Treibens in Deutschland. Es ist die Zeit, in der man trotz Immermanns und Dingelstedts Reformen auf der Bühne nicht die Carlos-Tragödie als Ganzes erleben, sondern Devrient als Prosa deklamieren hören wollte, wo die Oper wie ein Konzert in Nummern zerfiel, wo Bellini und Donizetti herrschten und man der Jenny Lind oder Henriette Sontag die Pferde ausspannte. Eine Masse freundlicher Talente hatte man sich zu Modepoeten auserkoren, deren süße Salonpoesie ohne Goldschnitt nicht zu denken war. Auf dem Tisch der guten Stube lag das unerläßliche illustrierte Werk. Und die vielbändigen Romane, die man sich aus Leihbibliotheken holte oder in den Familienblättern las, waren Häufungen von unerhört spannenden oder von trivial empfindsamen und philiströsen Ereignissen. Dickens war manchen noch zu vornehm, aber für Alexandre Dumas und Eugène Sue, Friederike Bremer und Emilie Flygare-Carlén, Luise Mühlbach und Eugenie Marlitt, Hackländer und später Samarow entzückte man sich.

 

In solcher Zeit mit einer kleinen Sammlung von Gedichten und ein paar stillen Novellen aufzutreten und aller Nichtbeachtung oder Verkennung zum Trotz sich treu zu bleiben, dazu gehörte ein starkes bewußtes Künstlertum. Und wie dieses sich bei Storm entwickelt hat, sei hier in schnellem Überblick mitgeteilt.

 

Aus nordfriesischem Stamm ist Storm hervorgegangen; er ist in Husum, der kleinen Stadt am Wattenmeer südöstlich von Föhr und Sylt, geboren. Das war einst ein gar nicht unbedeutender Handelsplatz gewesen; aber zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die Stadt eingeschlafen. Wenn es sich auch noch ganz behaglich und auskömmlich dort lebte, so schien die Zeit doch still zu stehn. Die geschäftliche Korrespondenz war nicht ausgedehnter als im siebzehnten Jahrhundert, wenige Schiffe und ein paarmal in der Woche die Postkutsche vermittelten den Verkehr mit der Außenwelt.

Storm hat seine Vaterstadt einmal in einem Gedicht, wo es ihm auf einen sentimental-elegischen Gesamteindruck ankam, als die graue Stadt am Meer bezeichnet, und dieses Wort wird ihm nun unaufhörlich, besonders von solchen, die den freundlichen Ort gar nicht kennen, nachgesprochen. Die Stadt ist gar nicht so grau, sondern sieht recht munter aus, besonders im Frühling und Sommer, wenn alles in grünenden, blühenden Gärten liegt und auch die Singvögel nicht fehlen.

Husum war zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch reich an Erinnerungen. Die schöne alte Kirche hatte man zwar 1807 brutal niedergerissen; die wertvollen Kunstschätze waren verstreut und zum großen Teil verloren. Aber viele alte Giebelbauten, das St. Jürgen-Stift, der Schützenhof, das Schloß mit seiner Galerie alter herzoglicher und königlicher Porträts, standen noch da. Wohlhabende Ahnen hatten die geräumigen, wohnlichen Häuser und die stillen, tiefen Grabkammern gebaut, in die nun ein Geschlecht nach dem andern einzog. Neben die Honoratioren stellte sich ein ehrsames Handwerk. Jeder kannte den andern. Nach Feierabend saß man bei milder Jahreszeit im Freien auf den Beischlägen vor den Häusern und grüßte die Vorübergehenden, bald vertraulich, bald respektvoll, wie es der Stand verlangte. Und wenn dann die Sonne ins Meer gesunken, die kreischenden Schwalben in ihre Nester geschlüpft waren, die Betglocke geschlagen hatte, dann suchte man zu frühem Schlummer die Stube auf. Ein Licht nach dem andern erlosch, Straßenbeleuchtung gab es nicht, hie und da ging wohl noch einer mit der Laterne über die Gasse, und bald lag alles in tiefem Dunkel. Und doch war es eine kampfbereite Einwohnerschaft. Das ganze Land ringsum war dem Meer abgerungen, und das unzähmbare Element fraß unablässig an den Deichen. Zur Herbstzeit konnte die Flut leicht eindringen und die halbe Stadt unter Wasser setzen. Dann galt es jedes Haus zu verteidigen und durch Schotten zu sichern. Aber das waren doch nur vereinzelte bewegte Momente im Gleichmaß des Daseins. Im ganzen verlief das Leben des kleinen Ortes ohne dramatischen Reiz; und es gehörte schon ein tiefer Dichterblick dazu, auch hier ein Stück Poesie zu entdecken, das ja keiner menschlichen Gemeinschaft fehlt.

Dort ist Hans Theodor Woldsen Storm am 14. September 1817 geboren. Die elterlichen Verhältnisse waren in einer Hinsicht denen Goethes zu vergleichen: das väterliche Geschlecht war zugewandert, das mütterliche war eine seit Generationen fest angesiedelte, mit hoch und niedrig eng verknüpfte stadtsässige Familie. Der Vater, der weithin geehrte Advokat Johann Casimir Storm, körperlich klein und schwächlich, war ein zäher, oft eigensinniger, ganz humorloser Mann, der es bei voller Geistesfrische auf fünfundachtzig Jahre gebracht hat, ein norddeutsch strenger Pflichterfüller, der sich äußerlich barsch gab, um von der Innigkeit seines Gemüts nicht übermannt zu werden, ein rechtes Familienoberhaupt, ein Schützer und Rater, der seine Söhne, wie alt sie auch waren, stets noch in strenger ehrenfester Erziehung hielt. Die Mutter aber, Lucie geb. Woldsen, war mild und hatte die hellen heitern Augen der Friesentöchter; höhere geistige Begabung hat sie wohl nicht gehabt, aber sie war verständig und ein wenig kunstsinnig.

Man lebte in gesichertem Wohlstand und in festen Bräuchen, die man für die einzig richtigen hielt, weil man keine andern kannte. Unter sich und mit Kleinbürgern und Bauern sprach man noch vielfach Plattdeutsch und unterhielt sich von häuslichen und städtischen Dingen. Von der Religion war so wenig die Rede wie von den großen Welthändeln oder von der Kunst. In ruhigem Kreislauf rollte das Jahr ab. Man wußte, wann man die Wintervorräte einzulegen hatte, wann jede Haus- und Gartenarbeit zu tun war; so pünktlich wie jede Mahlzeit, besonders die liebe nachmittägliche Teestunde verlief, so pünktlich traf man auch die umständlichen Vorbereitungen für die fälligen Familienfeste und die ergiebigen Schmäuse und buk die Kuchen nach alten Hausrezepten. Es war schon seit alters so hergegangen. In den gemütlichen Stuben hatten sich vor Jahrzehnten in gleicher Weise die versammelt, die nun draußen auf dem Friedhof ruhten. Drum gehörten diese lieben Verstorbenen in den Familienkreis mit hinein. Grad wenn man zum frohen Lebensgenuß versammelt war, sprach man besonders gern von ihnen und erzählte freundliche oder drollige Geschichten, als ob sie noch lebten. Daraus erwuchs das schöne starke Familiengefühl und eine Gesamterinnerung, die fünf Generationen umfaßte. Jeder konnte sein Teil dazu beitragen; und nicht nur die Menschen, auch jedes Stück des Hausrats erzählte seine Geschichte.

Das alles sog der Knabe, der diese Erinnerungen später dichterisch verklärt der Welt wiedergeben sollte, aufmerkend und sinnend in sich ein und bewahrte es so treu im Gedächtnis, daß er sein ganzes Leben davon zehren konnte. Denn überall, wohin ihn seine Kinderschritte führten, fand er die Bestätigung jener anheimelnden Geschichten. In Urgroßmutters Garten, wo es so sonneneinsam war, wo auf den Rabatten hinter den schmalen Buchsbaumstrichen im Spätherbst noch die altmodischen Blumen blühten, da war die ehrwürdige schöne Frau, als sie jung gewesen, mit ihren Altersgenossen gepudert und bebändert einhergewandelt. Und stieg der Knabe zum Dachboden hinauf, so standen da in der Polterkammer noch alte Rokokomöbel, in deren Schubkasten es nach Potpourri und trocknem Waldmeister roch und zwischen Spitzenärmeln, Hauben und Fächern vergilbte Briefe und Poesiebücher lagen. Da zu kramen und sich ganz in die alte Zeit zurückzuträumen!

Aber von diesen Dachböden der Häuser und Speicher aus richtete sich der Blick des Knaben auch zum ersten Mal über das Weichbild der kleinen Stadt hinaus zu der unaufdringlich spröden Schönheit des Landes hin, von der der Eingeborene keine Kenntnis nimmt und die der flüchtige Besucher nicht gewahrt, die erst der Dichter uns erschlossen hat. Es ist eine sehnsuchterweckende Landschaft. Am ersten findet das Auge westwärts Ruhepunkte; denn aus dem glitzernden Wattenmeer, dessen Brausen man Tag und Nacht in der Stadt hört, taucht hie und da eine Hallig auf. Aber nach Norden hin erstreckt sich unabsehbar, erst am Horizont von Wald begrenzt, die Marsch, wo zwischen den Fennen sich die schmalen Wasserstriche hinziehen, ab und an von Graften umgeben eine Hauberg sich zeigt, und wo die tiefe feierliche Stille an Sommerabenden nur durch das Brüllen der Rinder, das Schreien der Kiebitze und den Chor der Frösche, der Marschensänger, unterbrochen wird. Landeinwärts dann die baumlose Geest, in der Julischwüle ganz von Bienen, Faltern und Heuschrecken überschwärmt, später in der Blütezeit des Heidekrautes in Duft gebettet, bis sie dann von der fahlen Novembersonne beleuchtet in dunkler ungeheurer Einsamkeit daliegt.

Lud längs der Marsch der Deich zu ruhig gemessenen Spaziergängen ein, so wurde die Heide für den heranwachsenden Knaben ein rechtes Gebiet für Streifereien und Entdeckungen. Dort hat er sich als kräftiger, lustiger und wanderfroher Bursch bewährt, wenn er sich auch nie so ganz jugendlich in unreifen Torheiten und Eseleien ergangen hat. Ein wenig von dem späteren gezügelten alten Herrn scheint schon in dem Knaben gesteckt zu haben, trotz der früh entwickelten Sinnlichkeit, die er irrig auf einen Einschlag polnischen Geblüts zurückführte. –

Das waren die Zustände, in die Theodor Storm hineingeboren war; an alledem hatte er keinerlei Verdienst. Fragt sich nur, was er aus dem Geschenk des Lebens zu machen wußte.

In der Schule hat er sich nicht mit Ruhm bedeckt, trotzdem, oder eben weil er volle sechzehn Jahre die Bänke hat drücken müssen. Erst gab es fünf Jahre Klippschule bei Mutter Amberg; dann saß er neun Jahre in den vier Klassen der Husumer Gelehrtenschule. Seine lebhafte Phantasie, seine von bequemen Träumereien abgelenkte Aufmerksamkeit machten ihn zu einem mittelmäßigen Schüler. Sprachbegabung hatte er gar nicht; sich etwas gedächtnismäßig einzuprägen, ist ihm schwer gefallen; und so recht arbeiten hat der reizbare, ungeduldige Knabe und Jüngling nie, der Mann nur schwer gelernt. Ein anderer hätte sich nun vielleicht in reicher Lektüre Ersatz geschafft. Storm tat auch das nicht. Was hätte er auch lesen sollen? Außer Schiller, außer Spindlers Romanen, einigen Kalendern und dergleichen, die er wirklich verschlang, ist ihm nichts in die Hände gekommen. Und das war bei seiner Anlage ein Glück. Literarisch ganz ungebildet, aber auch unverbildet ist er in die Welt hinausgegangen. Statt zu lesen, liebte er in der Dämmerstunde seeltagend sich mit seinen Erinnerungen zu beschäftigen, mit Kameraden Geschichten auszutauschen und noch lieber sich erzählen zu lassen, etwa von Lena Wies, die mit so unverbrauchten Worten, mit der gesättigten Bildlichkeit des Plattdeutschen von Geisterwesen, von Märchenprinzessinnen und von Lust und Leid der Menschen zu berichten wußte. Wenn Storm später die Mehrzahl seiner Novellen andern als Erzählung in den Mund legte, so war das kein Nachäffen einer literarischen Mode, sondern Nachhall bester Jugendtage: so mußten rechte Geschichten vom Mund zum Ohr dringen.

Da es in Husum Sitte war, nach dem Durchmarsch durch die Gelehrtenschule noch die Prima eines auswärtigen Gymnasiums zu besuchen, so wurde der junge Storm von Ostern 1835 bis Ostern 1837 auf das Katharineum in Lübeck gegeben, das damals unter Friedrich Jacob als Direktor und Johannes Classen als oberstem Lehrer des Griechischen und Lateinischen glänzende Jahre erlebte. Hier in der alten Hansestadt ging ihm eine neue Welt auf. Solch ein Unterricht hatte schon eine aufrüttelndere Kraft als der in Husum. Aber der künftige Dichter gewann für seine Zwecke doch noch mehr außerhalb der Schule. Geibel freilich war schon zur Universität gegangen; ihn bekam er nur während der Ferien gelegentlich zu sehen. Aber Ferdinand Röse, der zweifellos begabte, nur später ganz verbummelte, schon damals als Magister Antonius Wanst bezeichnet Philosoph, Poet und Kritiker, nahm sich des jungen Husumers an, dessen »mildes, liebes, kindliches Gemüt« ihm gefiel. Er gewöhnte den Jüngeren, der schon allerlei selbstverfertigte Reimereien aus seiner Vaterstadt mitgebracht hatte, daran, eine strenge, gerechte, offene Kritik zu ertragen. Er las ihm auch das Beste, was es in deutscher Dichtung gab, vor; und was Storm an literarischer Jugendbildung gewonnen hat, dankte er durchweg Röse. Goethes Faust und Heines Buch der Lieder standen obenan; Uhland und Eichendorff kamen hinzu. Und nun trat die unausbleibliche Folge ein, daß sich in den nächsten Jahren ungerufen alle diese Paten bei seinen eignen lyrischen Gedichten einstellten und ihnen ihre Geschenke in die Wiege legten. Storm hat später mit Recht Anerkennung seiner Originalität fordern und noch an seinem siebzigsten Geburtstag im Hinblick auf jene frühen Vorbilder sagen dürfen: »Ich wurde ihr Schüler, niemals ihr Nachahmer.« In Lübeck aber war es zunächst doch anders. Es gibt noch ein ganzes Heft voll von seiner Primanerlyrik. Da klingt es durch einander, wie wenn Schiller, Matthisson, Bürger, Hölty, Blumauer, Uhland hineinredeten; und oft bläst er ganz lustig auf Eichendorffs Waldhorn. Aber das alles war ja nur ein Flügelprüfen; die Sachen sind bis auf wenige Proben nie gedruckt worden.

Als Storm Ostern 1837 Kiel, die Landesuniversität der Herzogtümer, bezog, stand es für ihn fest, Jurisprudenz zu studieren, weil man nach seiner Meinung dies Studium ohne besondere Neigung wählen könne. Und er hat es nie bereut. Freilich mit rechten Enttäuschungen fingen seine akademischen Lehrjahre an. Er wurde Konkneipant des Korps Holsatia und fühlte sich zum äußersten angewidert von dem dortigen Treiben. Als er ein Vierteljahr in Kiel gewesen, klagte er sich einmal in seinem Tagebuch aus. Er hatte sich den deutschen Studenten etwa so vorgestellt, wie Moritz von Schwind ihn gezeichnet hatte; »ein Gemisch von ritterlicher Galanterie, traulicher Heiterkeit, Begeisterung für seinen freien Stand, Geist und Herz und Gefühl für alles Schöne« hatte er erwartet. Und statt dessen fand er bei den Lebenslustigen Mensuren, Kneipereien, Gemeinheiten in der Unterhaltung und bei den Arbeitsamen nichts als Einfältigkeit. Wenn er nun auch schon vier Jahre später quer über diesen ganzen Erguß die Worte »Dummes Zeug« schrieb, so blieb doch die ungünstige Vorstellung von der akademischen Jugend bei ihm haften und drang in seine Novellen ein: »Auf der Universität« und »Der Herr Etatsrat«.

So folgte er denn willig, als ihn Röse nach einem Jahr aufforderte, mit nach Berlin zu kommen. Anderthalb Jahre ist Storm dort geblieben; aber das waren erst recht verlorene Semester. Sieht man von einigen künstlerischen Eindrücken, dem Besuch Dresdens und seiner Galerie, dem Spiel Seydelmanns im Berliner Königlichen Schauspielhaus, ab, so war der Gewinn gering. Röse war auf die Dauer ein übler Mentor; und in einem dramatisch-dilettantischen Klub, dem Storm beitrat, dem Teatro alla Scala, machte er grade das behaglich mit, was ihm die Kommilitonen an seiner Heimatsuniversität verleidet hatte.

Erst als er im Herbst 1839 nach Kiel zurückgekehrt war und dort bis 1843 blieb, ging es bergauf mit ihm. Es mag sein, daß in den vorhergehenden Jahren auch allerlei seelisch-körperliche Krisen ihm zugesetzt hatten. Wir sind über diese Dinge nicht eingehend unterrichtet und brauchen sie nicht zu wissen. Genug, daß die außergewöhnlich starke zurückgedämmte Sinnlichkeit des Studenten in der aufgetanen akademischen Ungebundenheit ihr Recht verlangte. Ein zierliches Nähmädchen in Kiel taucht auf, das Storm später in den Schlußkapiteln der Novelle »Auf der Universität« vor Augen gehabt hat. Mit einer Emma K. aus Föhr ging er eine übereilte Verlobung ein, die eiligst wieder gelöst werden mußte. Besonders aber ist er allen Ernstes in ein zwölfjähriges Kind verliebt gewesen und hat in einem höchst unnaiven, poetisch stilisierten Gebaren jahrelang um sie geworben. Sie hieß Berta von Buchau und war noch gar nicht imstande, seine Gefühle zu erwidern. Er muß wohl in dieses reizvoll unentwickelte Geschöpf aus seiner Traumwelt heraus allerlei Vollkommenheiten hineingedichtet haben, die dann vor der Wirklichkeit nicht standhielten. Für ihn persönlich aber mag diese Seelenerfahrung doch wohl künstlerisch wertvoll gewesen sein. Denn zum ersten Mal bescherte ihm das Leben hier eine Leidenschaft, von der er sich unmittelbar durch eine ganze Fülle von Liedern befreien mußte. Sie sind, wie das einseitige Liebesverhältnis selbst, zum Teil etwas erkünstelt und gequält, zum Teil aber ungemein zierlich. In unsrer Ausgabe ist fast die ganze Reihe von der »Bettlerliebe« bis »Du schläfst« nebst manchen Gedichten der Nachlese Berta von Buchau gewidmet, die dann in den ersten Szenen von »Immensee« und »Von Jenseit des Meeres« wieder auftritt.

Aber dieser zweite Kieler Aufenthalt hat für Storm noch eine ganz andere Bedeutung gehabt, als den Ertrag einiger Liebeslieder, die er obendrein bald überbieten sollte. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben nämlich hat er dort auf der Universität jahrelang mit einem Menschen zusammen gelebt, der ihm geistig weit überlegen war. Das war der junge Theodor Mommsen, der mit seinem Bruder Tycho in Kiel studierte. Storm hat in den Jahren, die auf die Studienzeit folgten, gern an den belebten Kieler Kreis, zu dem noch einige Freunde gehörten, zurückgedacht. Alle neuen geistigen Erscheinungen wurden da in schnellem Gedankenaustausch besprochen; und Storm, der bei seinen geringen äußeren Erlebnissen genötigt war, mit dem Pfunde zu wuchern, hat lange von dieser Anregung gezehrt. Aber im letzten Grunde war ihm ein so beschwingter Lebensrhythmus, wie der Theodor Mommsens, so eine beständige Anfeuerung auf die Dauer nicht erträglich. Er ist bald und gern wieder in seine Kleinstadt zurückgegangen, wo er den Ton und das Tempo des geistigen Verkehrs angab.

In Kiel dürfte der Anstoß zu allen Unternehmungen Theodor Mommsen zufallen. Die Freunde machten dort an Mörikes »Maler Nolten« und an seinen kürzlich erst erschienenen Gedichten eine erstaunliche Entdeckung; für Storm war damit ein großes Vorbild gefunden. Von poetischen wie historischen Interessen geleitet begannen sie sodann Märchen und Geistergeschichten des Landes zu sammeln, die sie später Müllenhoff für seine schöne Ausgabe der Schleswig-Holsteinischen Sagen überließen. Auch zu dieser Fundgrube ist Storm lebenslänglich immer wieder zurückgekehrt. Hauptsächlich aber hielt die Freunde eines in Atem: wagemutig legten Storm und die Brüder Mommsen das, was die Muse ihnen in den Universitätsjahren beschert hatte, der Öffentlichkeit vor. Und ein Kieler Verleger, Schwers, gab 1843 das »Liederbuch dreier Freunde« in Druck. Drei Teile sind es: ein Buch bunten Inhalts, ein Buch Liebeslyrik, ein Buch Gelegenheitsgedichte; an jedem waren die Freunde gemeinsam beteiligt. Viel Eindruck hat das Sammelwerk nicht gemacht. Aber wo es besprochen wurde, war das einhellige und richtige Urteil der Zeitgenossen dies, daß Theodor Mommsen hier die führende und treibende Kraft war. Er zeigte von den dreien die ausgeprägtesten Züge. Die Träumerei früherer Tage und, von einigen Rückfällen abgesehen, den Weltschmerz hatte er völlig überwunden und kehrte sich polemisch und satirisch den Forderungen des Tages zu. Daß er das mit Heinrich Heines Wendungen, seinem Geistreichtum um jeden Preis, mit seiner witzigen Umdeutung von Zitaten und seinen spaßigen Reimen tat, war eine Mode, die viele damals mitmachten. Neben ihm erschien Bruder Tycho wie ein unkräftiger romantischer Träumer. Und auch Storm hatte noch kaum eigene Töne gefunden. Lyrik und Novelle, die er später so rein von einander zu sondern strebte, erschienen hier noch mit einander verbunden in seltsamen Mischformen, in gefühlvollen Halberzählungen, in denen romantische Wanderer und Fahrende auftraten. Märchen dazwischen. Und dann die Menge der Verse an Berta von Buchau, in denen sich nach Heines Beispiel der munter weiterlebende junge Poet gelegentlich mit gebrochenem Herzen zur Schau stellte. Man kann zwar schon hier einige Vorzüge des späteren Lyrikers Storm wahrnehmen, sein Streben nach Kürze, sein Heimatgefühl, für das er nur noch keine Heimatfärbung hatte, und die Fähigkeit, ein angeschlagenes Motiv zart verklingen und verebben zu lassen, wie es später in der Musik Johannes Brahms so ergreifend vermochte. Man kann auch schon eine leise Entwicklung spüren: aus dem wahllosen Hin und Her der verschiedenartigsten Ausdrucksformen hatte ihn Heines beherrschende Macht herausgerissen; jetzt aber war er drauf und dran, mit Mörikes Hülfe auch Heine zu überwinden. Das war noch immer keine Selbständigkeit. Aber die feine Kunst des schwäbischen Dichters, sein Aufhorchen auf Träume und Ahnungen, sein Einsinken in stillen weltfernen Naturgenuß, sein Verlangen nach der Ruhe des Hauses, das alles wies Storm die Wege. Mochte es noch so eng und anregungslos sein in der kleinen Vaterstadt am Meer: für diesen werdenden, jetzt übrigens schon sechsundzwanzigjährigen Dichter, wie er nun einmal veranlagt war, bedeutete die Ungestörtheit, das langsame Gleichmaß des Lebens mehr als alle bunte Anregung der großen Welt.

 

So kehrte er heim und wurde im Februar 1843 Rechtsanwalt in Husum. Seine juristische Tätigkeit, die anfangs nicht groß war und auch keine namhaften Einkünfte abwarf, fesselte ihn nicht sehr. Die Aktenarbeit hat er eigentlich stets nur mit Seufzen und der Versicherung, daß sie ihn sehr anstrenge, verrichtet. Und doch hat er später, ebenso wie Gottfried Keller, den Segen des Amtes und der zwangsweisen Ablenkung von allzu ausschließlicher Phantasietätigkeit dankbar erkannt.

Lieb und anheimelnd war ihm natürlich die Stadt und ihre Umgebung, mit der herben Nordseeluft. Und daß er nun wieder in befreundeten Häusern zwanglos einsprechen durfte und die ganze alte Verwandtschaft wieder um sich hatte, war nach seinem Sinn. Einzig mit dem hartköpfigen Vater war das Verhältnis nicht immer ungetrübt. Da erlebte er Züge von Friesentrotz, die spät noch in seinen Altersnovellen nachklangen. So treu der Vater sorgte, die herrische Art, wie er es tat, sagte dem Sohne nicht immer zu. Und auf der andern Seite konnte wieder der Alte, der ganz und gar der Gegenwart hingegeben war, das sinnige Wesen und die beredten Weichmütigkeiten des Jüngeren nicht leicht ertragen.

Seinem Kunstsinn tat Storm ein bescheidenes Genüge, indem er schon bald nach seiner Rückkehr sich einen kleinen Gesangverein gründete. Im übrigen aber war er in der Wahl seines Umgangs vorsichtig. Am 18. August 1846 schrieb er einmal: »Ich bin der rücksichtsloseste Geistesaristokrat, den es geben kann, und werde mich durch keine Schwäche oder schwache Gutmütigkeit dazu bringen lassen, mit Leuten Umgang zu halten, die geistig nicht zu mir gehören.« Vor allem zu seiner Gefühlswelt gestattete er nur wenigen Zugang. Die Folge war natürlich, daß er, besonders in den ersten Jahren, recht einsam lebte, bisweilen verdrossen in sein »Gedankendasein« eingesponnen und wohl, infolge des Mangels an äußerer Abwechslung, allzusehr mit sich selbst beschäftigt. Als Dichter mag er dadurch gewonnen haben; er mag durch das Hin- und Herwenden immer derselben Probleme tief in die »Rätsel des Menschenherzens« eingedrungen sein. Aber umgänglicher wurde er dadurch nicht, und er erschwerte sich und andern vielfach das Dasein.

Das zeigte sich besonders, als er den Bund schloß, der nun mit einem Mal sein Seelenleben in stärkste Erregung bringen und seine immer noch gefesselte Kunst losbinden sollte. Im Januar 1844 verlobte er sich mit seiner Base Constanze Esmarch aus Segeberg. Die äußeren Vorgänge der Werbung und Zusage hat er getreu in der Novelle »Unter dem Tannenbaum« geschildert. Das bräutliche Verhältnis ist durchaus nicht immer harmonisch verlaufen; es hat viel zu lange, mehr als zwei und ein halbes Jahr, gedauert; wir erleben es in den Brautbriefen mit, die bisweilen von einer peinvollen Erregtheit und ungeduldigen Auseinandersetzungen, bisweilen von der genußreichen Melancholie der Jugend erfüllt sind.

Wie wenig gelang es ihm, sich bei diesem ersten tiefen Erlebnis mit der Wirklichkeit abzufinden! Wie viel korrigierte er an der geduldigen Braut herum! Wenn seine Dichtung, besonders seine reifste Novellistik, von hier aus vielleicht ihre höchste Bereicherung, Seelenkenntnis und Unbefangenheit in der Beurteilung menschlicher Dinge gewann, so hat Constanze diese Erfahrungen mit Opfern bezahlt. Er grübelte und grübelte, selbst in Briefen an Freunde: warum so manche Ehen an Innigkeit abnähmen, ob man jung freien solle, ob an dem platonisch-schillerischen Geheimnis der Reminiszenz nicht doch etwas Wahres sei, und vieles mehr.

Storms Liebe war ohne Zweifel innig und heiß verlangend, aber auch oft hart und unwirsch. Volle Gefügigkeit verlangte er von der Braut. Er wollte sie fördern und lenken; dafür aber sollte sie all ihre kleinen harmlosen Freuden und Albernheiten aufgeben. Es ist, als habe er unbewußt die Absicht gehabt, eine seiner späteren zarten Novellengestalten aus ihr zu machen, sie ganz ins Poetische und Holde zu stilisieren. Man findet dergleichen bei Phantasiemenschen so oft, mögen sie Künstler sein oder nicht: weil sie gewohnt sind, daß die Gestalten ihrer Einbildungskraft sich nach Belieben modeln lassen, erwarten sie den gleichen Gehorsam auch von lebenden Wesen. Storm war auch mit den Briefen seiner Braut meist unzufrieden und nörgelte an ihnen herum. Er verlangte von Constanze mehr Ausdruck ihrer Gefühle, überhaupt empfindungsvolle Worte, keine Tagesberichte. Und so hat er bei aller guten Absicht, die er immer wieder darlegte und verteidigte, die Ärmste vielfältig gepeinigt. Er selbst sah es in späteren Jahren ein: »Was bin ich für ein Esel gewesen, wie habe ich dich gequält, und mit welcher süßen, mädchenhaften Geduld hast du das getragen! ... Du hast damals und später noch mehr durch mich gelitten, aber deine Liebe und dein mildes Herz haben alles überwinden helfen.« Es gehörte wirklich die ganze Liebefähigkeit einer schmiegsamen Frauenseele dazu, um diese jahrelange Kritik zu ertragen.

Auch die junge Ehe, die am 15. September 1846 geschlossen wurde, verlief durchaus nicht in gleichmäßiger Beruhigung; und man würde diesem Dichter, der stets Wert darauf gelegt hat, daß all seine Werke aus Erlebnissen hervorgegangen seien, einen schlechten Dienst erweisen, wollte man diese Wirrnisse übersehen. Zwei selbstbewußte Temperamente stießen in dieser Ehe bisweilen hart auf einander; und erst nach Jahren ist ein volles Einleben und dann freilich eine liebgewordene Gewohnheit und ein großes Glück ihnen zuteil geworden. Und nun verlangen auch die vorhin mitgeteilten Briefworte »Du hast ... später (nämlich nicht als Braut, sondern als Gattin) noch mehr durch mich gelitten« ihre Deutung.

Storm war sehr sinnlich veranlagt. Diese von ihm selbst zugestandene eingeborene Eigenschaft, die wir als die tiefste Quelle seiner Kunst zu achten und zu ehren haben, hat doch rein menschlich ihm und andern manches Leid verursacht. Constanze hat gegen seine drängende Leidenschaft sich schon als Braut wehren müssen und sie auch als Gattin nicht voll erwidern können. Und nun trat in das Haus der jungen Eheleute ein blutjunges Ding hinein, Doris Jensen, eine Verwandte, die als dreizehnjähriges Mädchen schon den Dichter geliebt hatte. Sie war nicht schön, im Gegenteil, mit den Jahren wurde sie ein geradezu häßliches Geschöpf; nur die zarten Hände blieben immer ausdrucksvoll. Aber sie hatte das, was diesen Dichter immer wieder wehrlos machte: kaum entfaltete Jugend, schmiegsame Hingabe und eine demütig abwartende Treue. Und er, der im Anfang seiner Verlobungszeit sittenrichterlich streng geschrieben hatte: »Würde ich mit meinen scharfen Augen in Wirklichkeit auch nur die geringste Neigung für einen andern bei meiner Geliebten entdecken, so würde ich mit meiner bekannten Rücksichtslosigkeit augenblicklich das Verhältnis zerbrechen, meine Braut verlassen, meine Frau verstoßen«, er erlag völlig der flehenden Anbetung, die ihm Doris Jensen widmete. Wozu das verschweigen? Woher hätte er die Seelenkunde für seine Ehenovellen und für manche seiner leidenschaftlich erregten Lieder gewinnen sollen, wenn nicht aus solchen Quellen? Man frevelt ja an einem Menschen, sei er Künstler oder nicht, und man frevelt an der Natur und der Größe und dem Ernst des Lebens, wenn man gartenläublich zu vertuschen sucht, daß der Mensch nur durch eigenes Leid wissend werden kann für das Leid der Welt.

Constanze hat sich in diesen Kämpfen groß und tapfer gezeigt. Sie wollte das leidenschaftliche Mädchen als Freundin zu sich aufnehmen. Es ging nicht. Und erst als Doris Jensen das Haus wieder verlassen hatte, kam des Dichters Eheleben in ruhigere Entwicklung. Storm aber dankt diesen beiden Frauen das Tiefste seiner Liebeslyrik. In unsrer Ausgabe umfaßt mit ganz geringen Einschaltungen der Zyklus »Constanze« die Lieder von »Wer je gelebt in Liebesarmen« bis zu den Nachrufen »Constanze«, der Zyklus »Dorothea« die Gedichte »Noch einmal!« bis »Wohl fühl ich, wie das Leben rinnt«.

Als Beruhigung in Storms Familienleben gekommen war und als sich das Haus mit Kindern füllte, da schien ihm ein Schicksal bestimmt, ganz so, wie es den Vorvätern zuteil geworden war: jahrzehntelange ruhige Pflichterfüllung in der Stadt und dem Landbezirk, Fürsorge für eine neue Generation der Familie, der Titel eines Justizrats, sobald er fällig war, und zu dem allen, als ein Persönliches und als letzter feinster Ertrag lieber Mußestunden, ein Bändchen Gedichte und ab und an vielleicht eine Kalendergeschichte. Höher scheint der Ehrgeiz des jungen Advokaten kaum gestiegen zu sein.

Aber in dies Idyll griffen, ihm zum Schmerz und der deutschen Dichtung zum Heil, rücksichtslos die Zeitereignisse ein. Storm hat für geschichtlich bedeutende Vorgänge der Vergangenheit nur dann Sinn gehabt, wenn sie irgend welchen anekdotischen oder poetischen Reiz für ihn hatten; und politische Verwicklungen der Gegenwart beschäftigten ihn nur so weit, wie sie in seine persönlichen Verhältnisse und seine Amtstätigkeit eingriffen. Das aber geschah um die Mitte des Jahrhunderts. Als seit dem Januar 1848 das Schicksal der Herzogtümer Schleswig und Holstein immer bedrohlicher wurde und gegen die heranrückende Gewalt immer lauter der alte Friesenruf »Liever düt als Slav'« erklang, wurde auch Theodor Storm auf die härteste Probe seines Lebens gestellt. Und man muß gestehen: er hat sie mannhaft bestanden. Er hat nach der Lebensregel gehandelt, die er später in seine Spruchdichtung aufnahm, und nicht besorgt: »Was kommt danach?«, sondern einzig und allein gefragt: »Ist es recht?« Da aber lag sein Weg klar vor ihm. Nach der Schlacht von Idstedt, als die Herzogtümer dänisch wurden und ducknackige Freunde ihm rieten, er solle doch an Frau und Kinder denken und um den Preis seiner Überzeugung sein sicheres Amt behalten, da hat er das entschieden von sich gewiesen. Er ist gegen die gewalttätigen Eingriffe der neuen Regierung schlicht und fest aufgetreten, wie sehr man ihm das auch verdachte. Ob er im einzelnen sich besonders unvorsichtig äußerte, wissen wir nicht. Zuzutrauen ist es ihm schon, wenn man sieht, wie auch in seine Lyrik – Abseits, Ostern, Oktoberlied, Nach Reisegesprächen – politische Töne eindrangen. Das Gerücht ging, er sei ein Dänenfresser, er »rase vor Patriotismus«. Und die Folge war, daß 1852 seine Advokatenstelle kassiert wurde.

Damit aber hatte Storm geleistet und ertragen, was er nach seiner Natur vermochte. Nun aber als ein Kämpfer auf dem Platz bleiben und etwa die Massen durch Wort und Schrift aufwiegeln, das konnte er nicht. Er war keine Kämpfernatur. Und so ist er der Gewalt lieber durch Abwanderung ausgewichen, als daß er sie täglich befehdet hätte. Er bewarb sich in Preußen um eine Anstellung. Die Verhandlungen zogen sich lange hin, mehrmals war er in Berlin. Zeitweilig äußerte er sich ganz verzweifelt, er müsse mit jedem Almosen zufrieden sein. Als man ihm endlich am 14. Oktober 1853 die Anstellung an einem preußischen Kreisgericht mit freier Wahl des Aufenthaltsortes bewilligte, entschied er sich für Potsdam, wurde dort am 10. Dezember 1853 als Assessor beim Königlichen Kreisgericht eingeführt und ließ in jenen Tagen auch die Seinen dahin übersiedeln.

Dieser reichlich bejahrte Assessor – er war jetzt sechsunddreißig Jahre alt – war aber inzwischen ein Dichter geworden, auf den man in kleinen Kreisen schon mit gespannter Erwartung hinblickte. Denn seit dem »Liederbuch dreier Freunde« waren unter dem Eindruck seines häuslichen Glückes, seiner Liebeswirren und seiner politischen Erregung so viele neue Gedichte entstanden, daß er 1852 in Kiel, wiederum bei Schwers, sie in einem zierlichen Bändchen vereint hatte herausgeben können. In den Jahren 1846-52 hatte sich die Eigenart des Lyrikers ganz entwickelt; in diesen sechs Jahren sind ihm ungefähr ebenso viele Gedichte gelungen, wie in den dreieinhalb Jahrzehnten von 1853 bis 1887. Der Charakter seiner Kunst hat sich auch nicht wesentlich mehr verändert. Und wenn er später in Briefen, Aufsätzen oder Vorreden verstreute Andeutungen über das Wesen lyrischer Dichtung gab, so waren diese hauptsächlich aus seinen eigenen Leistungen gewonnen oder aus solchen Dichtern, die ihm als vorbildlich galten, weil er sich ihnen verwandt fühlte: aus dem Volkslied, aus Goethe, Eichendorff, Heine und Mörike, aus Tieck, Brentano und Uhland. Zwischen Mörike und Heine liebte er sich selbst zu stellen, zwischen das Friedensbedürfnis des einen und die Reizbarkeit des andern. Stand er durch sein Verlangen, fern vom Lärm des Tages eine poetische Einsamkeit aufzusuchen, den Romantikern noch nahe, so entfernte er sich von ihnen schon um ein großes Stück durch seine Wirklichkeitstreue und seinen strengen Formsinn.

Was er von jedem »echten« lyrischen Gedicht verlangte, war, daß es aus einem seelischen Erlebnis unmittelbar und zwingend hervorgegangen sei. In den Anmerkungen zu dieser Ausgabe, im achten Bande, ist an vielen Beispielen nachgewiesen, wie Storm diese Forderung selbst erfüllt hat. Dies Erlebnis dem Hörer wieder vor die Phantasie zu stellen, das erschien ihm als eine der Hauptaufgaben des Dichters; und zwar mußte das unmittelbar und mit der ganzen Empfindung des Herzens geschehen, so wie er selbst das Erlebnis empfangen hatte, ohne Vermittlung des Verstandes, ohne daß Gedanken über das Erlebte sich einmischten. Dann aber sollte der Lyriker ein Weiteres tun, nämlich, wie Goethe es ausdrückt, »das Einzelne zur allgemeinen Weihe rufen«, in dem Einzelfall ein Ewiggültiges entdecken und auch dies wiederum nicht durch Grübeln über das vorliegende Problem zum Ausdruck bringen, sondern nur so, daß er durch die treffsichere Wahl der Worte das Allgemein-Menschliche, das in dem Einzelfall lag, leicht andeutend berührte und dadurch bei dem Hörer das Gefühl erweckte, als sei etwas längst in ihm Schlummerndes plötzlich durch die Wunderkraft eines Sehers geweckt und mit Zauberhand hell beleuchtet worden. Eine unergründliche Tiefe des Gefühls, ein Ausschalten jeder Reflexion und auch jedes Pathos, eine große Bildkraft, die Fähigkeit gehaltvoller Zusammendrängung, eine unbedingte Herrschaft über das Wort und über Rhythmus und Klang der Rede, das alles mußte dem Lyriker eigen sein, wenn er Storms Forderungen erfüllen sollte. Die Gefühlswärme aber war die höchste dieser Eigenschaften.

Man erkennt leicht, daß der eigenwillige Beurteiler bei einer so strengen Abgrenzung ganzen Gebieten der Lyrik die Anerkennung versagte. Nicht nur Pindar und Horaz, nicht nur Petrarca und Shelley, sondern auch große Teile des Lebenswerkes von Klopstock und Schiller, Platen und Geibel, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und vielen andern fanden vor ihm keine Gnade. Er selbst hat sich nie aus dem Umkreis, den er abgesteckt hatte, hinausbewegt, hat aber hier das irgend Mögliche erreicht; und er ist, besonders gerade in den Husumer Jahren um 1850 herum, vieltöniger gewesen, als der oberflächliche Leser es ihm zutraut. Wie er seine Seele in die heimische Natur und Landschaft hineinzulegen, das Drängen und Treiben des Frühlings, die Fruchtfülle des Sommers, die regungslose Schwüle über der Heide, das Todesgefühl in der Herbstlandschaft wiederzugeben wußte, so tut er auch tiefe Blicke in die Menschenseelen. Er kannte die kleinen töricht-weisen Wünsche der Kinder, die knospenhafte Unerschlossenheit der Mädchenseele, die bewußte reife Sinnlichkeit des Ehelebens und die gefahrvollen Untiefen der Leidenschaft. Sein innerstes Wesen wies ihn wohl hauptsächlich auf das Träumerische und Zarte hin; aber es verdroß ihn, wenn man darüber die starken Herzenstöne seiner vaterländischen Gedichte überhörte. Alles bloß formal Glatte, alles phrasenhaft Abgegriffene war ihm tief zuwider. So klangschön seine Lyrik dank seiner musikalischen Veranlagung ist, die Hauptsache war ihm doch immer der Naturlaut in künstlerischer Form. Und ein lyrisches Gedicht schaffen hieß für ihn: »eine Summe von Empfindung einmal und ein für allemal ausprägen«. Das war ihm gelungen; und deshalb hat er stets seine Lyrik für die höchste seiner Leistungen erklärt. »Der ganze Poet, wie er nun einmal ist, steckt eigentlich nur in den Gedichten«, schrieb er am 25. April 1860 an Otto Speckter.

Daneben aber hat sich in den Husumer Jahren auch der Erzähler zum ersten Mal versucht. Dem Jahr 1847 gehört »Marthe und ihre Uhr« an, 1848 »Im Saal«, 1849 »Immensee«, »Posthuma« und »Der kleine Häwelmann«, 1850 »Ein grünes Blatt« und »Hinzelmeier«. Diese frühesten Dichtungen sind bisweilen als »lyrische Novellen« bezeichnet worden. Man kann den vieldeutigen Ausdruck gelten lassen, wenn man ihn richtig versteht; Storm hat ja selbst gesagt (an Erich Schmidt, 1. März 1882): »Meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwachsen.« Zuzugeben ist, daß anfangs bei ihm die Stimmung über das eigentlich Erzählerische, das Gefühlsleben über den Intellekt überwiegt; das war noch ein Erbe der Romantik. Auch kann man es gutheißen, wenn Paul Heyse und Hermann Kurz diese Frühwerke deshalb »lyrische Novellen« nannten, weil sich in ihnen nicht aus den vorgetragenen Tatsachen eine Stimmung entwickelt, sondern der Erzähler aus sich heraus von vornherein die Stimmung vorbereitet, die er für den Vortrag seiner Novelle braucht. Dagegen sträubte sich Storm ganz energisch gegen die Vorstellung, als handle es sich bei seinen ersten Novellen eigentlich um lyrische Gedichte, die die lyrische Form gesprengt hätten. Er wollte sie als vollgültige Erzählungen angesehen wissen, als Stoffe, die lyrisch gar nicht zu erschöpfen gewesen wären, sondern zu ihrer letzten Wirkung, auch schon räumlich, einer größeren, einer epischen Vorbereitung bedurft hätten. Nicht aus lyrischen Gedichten waren sie hervorgewachsen. Eher war das Umgekehrte der Fall: an einzelnen Höhepunkten verdichtete sich die Erzählung – in »Immensee«, im »Grünen Blatt«, später noch in der »Wald- und Wasserfreude« – zu einem Lied.

Ehe Storm eigene Kinder heranwachsen sah, hatte er, vielfach abhängig und bevormundet von seinem Vater, sich stets als das Ende einer langen Reihe von Geschlechtern betrachtet. Sein Blick war daher, wie sich das in norddeutscher Stammesart so viel findet, vorwiegend in die Vergangenheit gerichtet. Erinnerung, die Tugend geruhsamer alter Leute, spielt bei ihm eine große Rolle. Daher sind auch seine erzählenden Dichtungen in der Mehrzahl Erinnerungsnovellen: er selbst oder eine der dichterischen Phantasiegestalten läßt, vielfach in der Ich-Erzählung, einen Vorgang aus alten Tagen wieder lebendig werden.

Die Menschen, deren Schicksal er da nun in seiner Frühzeit im Goldglanz der Erinnerung zeigt, sind meist müde, verzichtende Erdenpilger. Man muß ihre sittliche Unanfechtbarkeit mit höchster Achtung anschauen, ja, vielfach haben sie sich sogar irgend einen stillen Sieg der Pflicht abgerungen. Sonst aber ist ihr Durchschnittsdasein unangefochten geblieben, bis dann eine Stunde kam, in der sie einen tiefen, meist unverschuldeten, ja sogar unerklärbaren, nie zu verwindenden Verlust erlitten haben. Die Wunde blutet leise im stillen. Dann heilt sie zwar; aber jede Berührung macht die alten Narben wieder schmerzen. »Sonnig-traurige Geschichten« weiß Storm von solchen Entsagenden. Wie wenig haben manche dieser Menschen vom Leben! Sie finden sich ab. Sie haben das Glück gesehen, von ferne, aber sie haben es nicht gepackt, nicht erobert. Und nun liegt es weit dahinten und zieht die Blicke und die Sehnsucht in die Vergangenheit zurück.

Von Novellen solcher Art gilt das, was Storm einmal von Andersens »Nur ein Spielmann« sagt: »Die Leidenschaft spielt eine Rolle; aber wir sehen sie nur aufzucken, wie eine rote Flamme, und gleich einem Traum vorüberfliegen; und alles wächst schließlich zu einem starken elegischen Gesang zusammen.« Daß diese Verzichtenden wirklich Leidenschaft gefühlt haben, kommt meist erst in einer Ausnahmestunde zutage. Die ist dann freilich so gesättigt von Erleben und Gefühl, daß sie mit ihren Folgen das ganze fernere Dasein bestimmt. Und um den Inhalt dieser Schicksalsstunde dreht sich die Novelle; auf sie zielt alles hin, Vorbereitung wie Erinnerung. Bei solchem Hauptzweck bedurfte es nun keiner besonders tiefen Charakteristik. Die Jünglinge und Jungfrauen aus den einzelnen Dichtungen heben sich daher nicht scharf von einander ab. Vielmehr ist die blasse Zeichnung oft durch die innere Anlage der Novelle bedingt. Aber viel Anmut ist in den weiblichen Gestalten, die gern weiß gekleidet und in lebhafter Bewegung, tanzend, die Haare zurückstreichend, erscheinen. Besonders die Augen und der Klang der Stimme geben von ihnen die lebhafteste Vorstellung.

In seiner Frühzeit – und bisweilen auch später – trug Storm seine Erzählungen nicht lückenlos geschlossen vor, sondern liebte es, sprunghaft nur einzelne »Situationen«, einzelne »Guckkastenbilder« zu zeigen, in der Weise etwa, wie es die Volksballade bisweilen tut. Oder aber er gab einen andeutenden Bericht, der sich auf den Reflex einer Szene beschränkte, anstatt sie ganz zu schildern. Dann mußte man freilich phantasievoll mitarbeiten und die einzelnen Bilder verbinden und ergänzen. Aber der Dichter hatte unmerklich dafür gesorgt, daß der Leser die richtigen Wege einschlug. Dies höchst kunstvolle, schwierige Verfahren, das vielleicht zuerst Robert Prutz richtig gewürdigt hat, ist oft mißverstanden worden; Paul Heyse z. B. hat noch die zwei Kapitel der Novelle »Im Sonnenschein« als Kopf und Schwanz bezeichnet, zwischen denen die Melusine abhanden gekommen sei.

Storm aber war sich bewußt, daß er mit dieser Art andeutender Kunst eine besondere Art der Novelle folgerichtig ausgeprägt habe. »Das Ahnenlassen eines noch nicht ausgegebenen Reichtums« – so schrieb er am 17. Oktober 1885 an Erich Schmidt – »gehört zu meiner alten Hauskunst, und wohl so recht zur epischen Kunst; denn, wo das fehlt, muß der Epiker erscheinen als einer, der nur aufsagt, was er gelernt hat; und damit ist nicht leicht ein Hörer in die Welt der Phantasie zu versetzen.«

So muß man denn besonders gefügig mit diesem Dichter gehen, auf das Leiseste und Unscheinbarste achten, besonders schon auf den Anfang einer Novelle. Denn durch die Einleitung schafft sich Storm gern das Halbdunkel, aus dem dann später die handelnden Menschen nur so weit klar hervortreten, wie er es wünscht und braucht. Er löscht einige Lichter aus, er schiebt die Dinge aus der Gegenwart in eine räumliche und zeitliche Ferne. Und wenn er den Leser so weit hat, daß Bilder und Klänge nur verhüllt und gedämpft zu ihm dringen, dann hebt er mit leiser Stimme langsam zu erzählen an. Szene um Szene läßt er erscheinen. Fragt aber der Hörer, wenn er Lücken gewahrt, nach dem »Und dann?« oder »Warum?«, dann kann bei dieser Technik der Dichter sagen: »Das magst du nun selbst dir ausmalen. Wer weiß das noch? Das ist zu lange her.«

Das andeutende Verfahren erstreckt sich bei Storm auch auf den Dialog. Was für endlose Unterredungen oder in Zwiegespräche aufgelöste Abhandlungen füllen die Novellen von Tieck und seinen Nachfolgern, ganz zu geschweigen von den Romanen aus den debattefrohen Jahrzehnten. Nichts von alledem bei Storm. Von einem Austausch, der in Wirklichkeit eine Stunde mochte gedauert haben, bringt er etwa eine zweimalige Rede und Gegenrede. Aber die Worte sind so gewählt, daß uns ist, als hätten wir das ganze Wechselgespräch gehört. Und noch lieber drängt er eine ganze Welt von Lust und Schmerz, von Erlebnissen, Erfahrungen, von Verlangen und Enttäuschung in ein einziges Symbol zusammen, anfangs, wie bei der Wasserlilie in »Immensee«, gar zu handgreiflich, später mit vollendeter Kunst. Man braucht nur an den Schatz im Brunnen (»In St. Jürgen«), die zerrissene Tapete (»Auf dem Staatshof«), die zwei Ölbilder (»Eine Malerarbeit«), die Silhouette (»Carsten Curator«) und vieles mehr zu denken.

Da die Erzählung von einem armen Barbier, dem die Stadt die Heiratserlaubnis versagte, nicht zustande kam, so eröffnet den Reigen die etwas an Dickens gemahnende Kalendergeschichte von der alten Marthe und ihrer Uhr, noch etwas schwerfällig in ihrem papierenen Deutsch, aber schon kunstvoll durch das Ineinanderspielen von Gegenwart und Vergangenheit unter Begleitung des Ticktack und der Schläge der Uhr. Ein rechtes Husumer Familienstück schloß sich an: die Urgroßmutter plaudert von den Tagen, da sie jung war, und von der Zeit, als der »Saal« gebaut wurde. Ist es auch nicht recht glaubhaft, daß sie diese einfachen Dinge siebzig Jahre lang wie ein Geheimnis gehütet hat und sie heute zum erstenmal erzählt, so liegt doch ein zarter Schimmer über dieser Poesie des Hauses.

Dann aber folgte unmittelbar das Werk, das bis heute die bekannteste Erzählung Storms geblieben ist: »Immensee«. Sie hat ihre jetzige Form freilich erst durch eine Überarbeitung erhalten. Der Dichter selbst hat dies Jugendwerk immer wieder mit neuer Ergriffenheit gelesen und es für eine »Perle deutscher Poesie« erklärt; er schrieb am 11. September 1852: »Es ist eine echte Dichtung der Liebe und durch und durch von dem Dufte und der Atmosphäre der Liebe erfüllt.« So soll denn dem Volke diese seine Lieblingsdichtung gewiß nicht geraubt werden; wohl aber muß der Irrtum ein Ende haben, als sei sie Storms bezeichnendstes oder gar sein bestes Werk. Er hat viel Tieferes und Wertvolleres geschrieben. »Immensee« wirkt nur auf den, der die lose Bilderreihe wie die Teile einer Nummernoper an sich vorbeiziehen läßt und jede Szene mit empfänglichen Sinnen für sich allein und nur nach ihrem Stimmungswert beurteilt. Als Ganzes fesselt das Werk weder durch Erfindung noch wahrscheinliche Motivierung noch Charakteristik. Man spürt den Wetteifer mit Mörike, begreift aber, daß grade dieser Dichter zu wenig individuelle Bestimmtheit in der Novelle fand.

Storm selbst strebte denn auch schon bald nach Höherem, als er nach der kurzen Skizze »Posthuma« und einem Märchen in Andersens Art, »Der kleine Häwelmann«, das »Grüne Blatt« und den »Hinzelmeier« schrieb.

»Ein grünes Blatt« ist gegen »Immensee« ein erstaunlicher Fortschritt. Nur ein einziger Sommertag wird geschildert, der in leise wechselnden Szenen von der Heidewanderung am Morgen in die Mittagsschwüle und die wohlige Müdigkeit und dann durch die Dämmerung zwischen Traum und Wachen in die lautlose Sommernacht hinübergleitet. In jedes dieser Bilder aber grollen aus weiter Ferne die kriegerischen Ereignisse der Gegenwart hinein. Dazu ist diese Dichtung in ihrem Vortrag, ihrer »musikalischen Prosa«, ein Meisterstück. Wie sich die Erzählung zwischen Waldmärchen und Wirklichkeit bewegt, so streifen die Reden der Menschen immer vom schlichten Gespräch fast zum Gesang hinüber. – »Hinzelmeier« aber, seinem Ergebnis nach ein verunglücktes Werk, fesselt durch das Problem. Es sollte dieses Märchen eine Selbstbefreiung des Dichters werden; deshalb hat er so eifrig daran herumgearbeitet und es verteidigt, wenn andre es nicht verstanden oder guthießen. Die Grundidee fühlt man noch heraus. Er selbst war so ein Erdenpilger gewesen, voll Sehnsucht nach dem Glück. Und wie blind, besonders gegen zarteste Frauenliebe, hatte er sich gezeigt! Aber diese Idee hat weder rechte Klarheit noch Gestalt gewonnen; die Überarbeitung hat nichts genützt; auch hat sich der Einfluß von E. T. A. Hoffmann nicht günstig erwiesen. Storm hat das Problem erst nach Jahren in den »Späten Rosen« bewältigt, als er ohne Rücksicht auf literarische Vorbilder es ganz auf seine Art behandelte.

Auf alle diese Erzählungen und auf sein lyrisches Büchlein konnte er nun hinweisen, als er nach Preußen übersiedelte und mit der dortigen Schriftstellerwelt Fühlung suchte.

 

Es sind trübe Jahre gewesen, die Storm mit den Seinen in Potsdam zugebracht hat; besonders das erste ging über seine Kräfte. Wie entwurzelt, wie ein Verbannter kam er sich vor. Und es war seine Art, sich grade in das zu vertiefen, was er besessen hatte und jetzt entbehren mußte. Mit einer schmerzlichen Wollust kostete er es voraus, daß das Gefühl der Fremde sich sogar immer noch steigern müsse.

Theodor Fontane hat mit unbestechlichem Blick die Grundanlage Storms erkannt. Er hat ihn in seinen Lebenserinnerungen nicht gerade freundlich, aber mit der Wahrheitsliebe des Menschenkenners geschildert. Kein Zweifel, daß die ungewohnten, zopfigen Formen des amtlichen Verkehrs, der Kommandoton, das ungeheure Aktenwesen dem Holsten unerträglich waren. In Husum hatte er die Geschwindigkeit oder Langsamkeit, mit der eine Sache geführt wurde, im wesentlichen in der Hand gehabt; hier fühlte er sich stets abgehetzt und unentrinnbar als kleines Rad in eine ungeheure Maschine eingefügt. Seine Abneigung gegen die beruflichen Lasten übertrug er nun aber bis zur Ungerechtigkeit auf alles Preußische, auf die Gegenwart wie auf die geschichtliche Vergangenheit, auf die Architektur wie auf die Landschaft. Und das konnte ihm Fontane, der seine märkische Heimat ebenso innig und mit ebenso guten Gründen liebte, wie Storm sein Husum, nicht verzeihen. So ist denn die eingehendste Darstellung, die wir von Storms Potsdamer Jahren haben, etwas spöttisch und gereizt ausgefallen; aber sie ist ein sehr gesundes Gegengift für alle, die bei liebevoller Schilderung des holsteinischen Lyrikers selbst in etwas »Husumerei« verfallen.

Storms Unbehagen ist jedoch nicht allein aus amtlicher Überlastung und Schmerz über die heimischen Zustände herzuleiten, sondern ihn, dem Haus und Familie das Höchste bedeuteten, ihn quälte es, in einer engen Mietwohnung, einem kleinen Stockwerk fern von allem Grünen, wohnen zu müssen. Und da er anfangs ohne Besoldung angestellt und auf monatliche Diäten angewiesen war, so mußte er, um Frau und Kinder ernähren zu können, sich den Unterhalt wieder im wesentlichen aus seines Vaters Tasche zahlen lassen. Das fraß an ihm und machte ihn krank. Der einzige Lichtblick in den drei Jahren war der Besuch bei Mörike in Schwaben, den er später dankbar geschildert hat. Sonst war das Leben eine angespannte Pflichterfüllung, die 1856 mit einer starken Überanstrengung endete. Erst ein kürzerer, dann ein verlängerter Urlaub war nötig, um die kranken Nerven wieder zu beruhigen. Storm brachte ihn mit köstlichem Behagen in der Heimat zu. Und vor einer Rückkehr in die unzuträglichen Verhältnisse rettete ihn seine Ernennung zum Kreisrichter in Heiligenstadt mit dem 1. September 1856 als Tag des Amtsantritts.

Natürlich war Storm in den drei Jahren von 1853 bis 1856 nicht lediglich auf Potsdam angewiesen. Er ist oft in Berlin gewesen, wo man ihn freundlich willkommen hieß. Aber wirkliche Befriedigung fand er auch dort nicht. »Mit allem guten Willen können die Leute uns hier keine Spur des Ersatzes [für das Glück der Heimat] geben«, schrieb er am 11. Februar 1854. Er war bisweilen Gast in Franz Kuglers Familienkreise und traf dort eines Tages sogar mit Eichendorff zusammen; er gewann Ludwig Pietsch zum Freunde; in Franz Dunckers Hause verkehrte er, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er dort eines Tages, ohne es zu wissen, wen er vor sich habe, Gottfried Keller begegnet ist. Aber in alle diese Kreise brachte er als Ballast seine kaum überwindbaren heimischen Gewohnheiten mit. Es wurde ihm schwer, sich anzupassen.

Das zeigte sich besonders im »Tunnel über der Spree«, der bekannten geselligen Vereinigung von bildenden Künstlern und Schriftstellern. Dort hatte man Storm schon zu Weihnachten 1852 bei einem Besuche willkommen geheißen und ihn später als »Tannhäuser« förmlich in den Kreis aufgenommen. Aber auch für den dort herrschenden Verkehrston war er nicht geschaffen. Zu einem vorgetragenen Gedicht gehörte für ihn die Ungestörtheit der Teestunde und das verweilende Schweigen, wenn das Gehörte noch nachklang. Daß man aber nach mühsam gedämpftem Lärm in großer Runde zwischen Wein- und Biergläsern, im Beisein eines aufwartenden Kellners eine Dichtung vortrug, um an sie sofort eine vielstimmige Erörterung zu knüpfen und dann genußfroh wieder zum guten Tropfen zurückzukehren, das war für Storm unfaßbar. Er fühlte sich dort nicht wohl. Und dadurch sind ihm manche menschlichen Beziehungen entgangen: er hat Fontanes von aller Sentimentalität freie Lebensklugheit ebenso wenig auskosten können wie Heyses frische schlagfertige Jugend.

Und nun kam noch eines hinzu, was seine Stimmung tief niederdrückte; er mußte schon im Dezember 1854 an Mörike schreiben: »Mir ist, seit ich in der Fremde bin, als sei das rechte warme Produktionsvermögen in mir zerstört.« Es sind in Potsdam so gut wie gar keine Stormschen Gedichte und nur drei novellistische Versuche entstanden, die zwar keinen Rückschritt bedeuten, uns aber verraten, daß der Dichter nicht in voller Kraft und Freiheit geschrieben hat.

Storm hatte immer schon, wenn er daheim in Familienerinnerungen kramte, eine herzliche Liebe für die Zierlichkeit der Rokokozeit verraten; Bücher aus jener Epoche sammelte er eifrig, besonders wenn sie mit Bildern von Chodowiecki geziert waren. Jetzt in der Ferne wurden jene verschwundenen Jahrzehnte für den Sohn einer politisch erregten Gegenwart obendrein zu einem Zeitalter, in dem es noch eine auf ihr Haus- und Herzensschicksal angewiesene Gesellschaft gegeben hatte. Und aus solcher Stimmung heraus, angeregt obendrein durch den Anblick von Sanssouci, schrieb Storm in Potsdam seine erste Rokoko-Novelle: »Im Sonnenschein«, in ein Stück Gegenwartsgeschehen eingebettet eine Erinnerung, die uns nicht erzählt, aber ahnen läßt, wie es auch in jener scheinbar so harmlos-heiteren Vergangenheit schon alles Weh der Entsagung gegeben hat. – Ein Jahr später (1855) finden wir Storm auf Bahnen, die ihm sonst ganz fremd sind und die er später nicht wieder betreten hat. Alles, was ihn noch von seiner Leidenschaft für Doris Jensen her quälte, schrieb er sich in der Novelle »Angelika« von der Seele. Aber er tat es in einer Weise, die diese »Studie« ganz einsam unter seinen Novellen macht, mit einer Zerfaserung der Seelenvorgänge und einer abstrakten Ausdrucksweise, die wohl zu den geschilderten grüblerischen und zögernden Menschen paßt, diesem Dichter aber gar nicht zu Gesicht steht. Kugler warnte ihn denn auch vor solchem Übermaß des Subjektiven und wünschte ihm mehr »herzhafte Objektivität«.

 

Schon am 23. April 1855, als eine Versetzung von Potsdam weg noch gar nicht in Frage kam, schrieb Storm an die Eltern in Husum: »Ich wollte, wir wären erst in einer kleinen Stadt, wohin ich auch meinen Neigungen nach gehöre. Gegen Abend aus dem Garten übers Feld gehen, und mit dieser friedlichen Stimmung in meine stille Häuslichkeit zurückkehren, das ist es, was ich im Innersten bedarf.«

Und nun, anderthalb Jahre später, war sein Wunsch erfüllt; im September 1856 siedelte er nach Heiligenstadt über, der kleinen katholischen Stadt im Eichsfeld. Aber, obwohl einer seiner Brüder dort ansässig war, »beheimatete« er sich doch nicht schnell. Das Verbannungsgefühl wurde er anfangs auch hier nicht los. Auch hier widerstrebte es ihm, partikularistisch preußisch empfinden und bei festlichen Anlässen das Preußenlied anstimmen zu sollen, das ihm »in mehr als einer Beziehung zuwider war.« Wenn er später einmal Emil Kuh gegenüber behauptete, was Heimweh sei, habe er nie empfunden, so kann man das nicht wörtlich glauben; er hat in Heiligenstadt das Lengen, das Holstenweh gar sehr gespürt.

Denn nicht nur zu Beginn des dortigen Aufenthalts, sondern auch noch später quälte ihn, der einst in so bequemen Verhältnissen aufgewachsen war, manche Sorge und Entbehrung. Gegen die Geschäfte seines Amtes, der Kreisrichterei, hatte er einen wahren Abscheu; er meinte – was freilich Selbsttäuschung war –, die fremdartige Beschäftigung verderbe ihm sein ganzes Leben. Besonders war er erbittert über das geringe Entgelt, das man ihm für seine Leistungen bot. »Trotz einer anständigen Stellung im Staate und trotz aller Arbeit seine Familie auch nicht annähernd, nur in anspruchsloser Weise ernähren zu können, das ruiniert einen Menschen innerlich.« Er meinte bisweilen, die »Vornehmigkeit« gehe ihm verloren, wenn die »silbernen Flügel« so ganz fehlten. In Wahrheit ist das Auskommen der Familie während der ganzen Heiligenstädter Zeit dürftig gewesen, um so mehr, als die Kinderschar wuchs und Krankheit oft ans Haus pochte. Denn der Garten fehlte, die organische Vergrößerung des Hauses; der Raum war eng für die vielen Bewohner. Besonders im Jahr 1857 hören wir aus Storms Munde immer wieder, er selbst sei müde und alt und habe keine Freude an und mit sich selbst.

Aber langsam bürgerte man sich an dem neuen Orte ein; und mit der Ausdehnung des Verkehrs mehrte sich auch das Behagen. Es war doch eben eine Stadt, wie Storm sie liebte, von keiner Eisenbahn berührt, in alten eng begrenzten Sitten ruhend. Man konnte da, wie in Husum, trauliche Winkel und Höfe und Gärtchen finden. Der Ort war noch vom Mittelalter her mit Mauern umgeben, Warttürme ragten dazwischen, und abends um zehn Uhr wurden die Stadttore geschlossen; nur gegen ein Sperrgeld konnte man dann herein oder hinaus. An solch einen Platz, wo sich ein Teil des Kleinlebens wieder vor den Häusern und an den Brunnen abspielte, durfte Storm, wie er es so gern tat, ein Stück Husum mitbringen. Der Tee, der »Freund des denkenden Menschen«, kam wieder zu seinem Recht, und von der Sophaecke aus konnte man wieder Familiengeschichten erzählen. Ein Bekanntenkreis fand sich zusammen, der sich an sogenannten »römischen Abenden« zu einfacher, aber herzlicher Gastfreundschaft zusammenfand. Seit 1857 hatte Storm auch wieder einen kleinen Gesangverein. Muntere Waldwanderungen, auf denen man den mitteldeutschen Herbst schätzen lernte, wechselten ab mit Ausflügen nach architektonisch interessanten Städtchen der Umgegend, nach den Göttinger Gleichen oder diesem und jenem Berge, von dem aus man den Harz oder den Meißner erblicken konnte.

In diesen Jahren hat sich Storms Gestalt so ausgebildet, wie sie wohl den meisten in der Erinnerung geblieben ist: ein Mann von mittlerer Größe, der Kopf von vollem Haar umgeben; bei seinem schlichten Auftreten und seinen gemessenen Bewegungen fiel er dem Fremden bei erster Begegnung kaum auf, zumal auch die Stimme trotz großer Ausdrucksfähigkeit leise umflort war; nur die gütigen blauen Augen fesselten sofort.

Sein tiefstes Glück war sein Familienleben. Erst in Heiligenstadt hat er Constanze ganz als das »Herz des Hauses« begriffen. Trotz zwölf Wochenbetten – sieben Kinder blieben aus dieser Ehe am Leben – blieb sie eine schöne, arbeitsame und genußfrohe Frau. Jetzt erst, wo er nicht mehr an ihr herumkorrigierte, sondern sie nahm, wie sie war, konnte sie ihre besten Seiten entfalten. Storm hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihm Frauen, die sich mit andringender Ungeduld interessant machen wollten, ein Greuel waren. Er hat an Hermione von Preuschen, die darüber vielleicht mitleidig gelächelt hat, einmal geschrieben, für ihn sei wirtschaftliche Tüchtigkeit das Fundament aller weiblichen Bildung. Beim Betreten des Hauses müsse man sofort den Geist der Ordnung und Sauberkeit spüren. Könne die Frau darüber hinaus auch geist- und kunstreich sein, um so besser; viel halte er nicht davon. So kommt denn auch in all seinen Dichtungen nie ein weibliches Wesen mit künstlerischem Ehrgeiz vor; vollends eines mit philosophischen Neigungen hielt er sich gänzlich fern. Daraus darf man nun nicht schließen, daß Constanzes Anteilnahme mit der Küche und Kinderstube erschöpft war. Sie war zwar nicht die Muse ihres Gatten, aber sein künstlerisches Gewissen. Ihr las er seine entstehenden Werke bruchstückweise vor, und ihr Beifall war ihm die wertvollste Ermunterung.

Leider griff nun aber Storm, anstatt das der Frau und der Schule zu überlassen, in den Unterricht der Kinder mit ein. Er hatte gar kein pädagogisches Talent und sah das, erst als es zu spät war und er nur in Novellen Zeugnisse seiner Reue ablegen konnte, ein. Auf der einen Seite bewunderte er, weil ihm wohl ausreichende Vergleiche fehlten, die eigenen Sprößlinge, ihre Äußerungen und Leistungen, auch ihre Unarten viel zu sehr; als Lehrer aber war er planlos, ungleich im Tempo, sehr ungeduldig und freigebig mit Scheltworten und Ohrfeigen.

Immerhin, der Familienkreis hatte ihn wieder ganz eingesponnen, und im häuslichen Behagen gedieh denn auch nach einiger Zeit die Dichtkunst wieder. Die lyrische Ader rann nur spärlich; Storm mußte an Mörike berichten: »Die saftige Quelle der Jugend beginnt allgemach mir zu versiegen. Lieder schreibe ich nicht mehr.« Um so reicher wurde der Ertrag an Novellen. Freilich man mußte dem Dichter Zeit lassen. Da er auf Reisen gar nicht schaffen konnte, so war er ganz auf die gewohnte Umgebung und die Stille des Hauses angewiesen. »Ich bedarf äußerlich der Enge, um innerlich ins Weite zu gehen«, schrieb er in späteren Jahren einmal an Frau von Preuschen. Dort im Hause aber gewährten die Berufsgeschäfte oft nur alle vierzehn Tage einen freien Vormittag, oder der Dichter mußte, wie weiland Musäus in Weimar, seine Erzählungen mitten im Lärm der Kinderstube niederschreiben. Das waren große Hemmnisse, die es verursachten, daß Storm zur Abfassung einer Dichtung mittleren Umfangs leicht seine drei bis fünf Monate brauchte. Bei Gelegenheit der Novelle »Im Schloß« schrieb er am 14. Dezember 1861 an Keil: »Wo es wesentlich nur darauf ankommt, eine spannende Geschichte zu erzählen, genügen wohl einige Wochen; ... wo es darauf ankommt, einen wirklichen Lebensgehalt zum poetischen Ausdruck zu bringen, dürften für den, der es ernst nimmt, kaum so viele Monate ausreichen. So ist auch die eingesandte Novelle die Frucht eines ganzen Sommers.«

In so gewissenhafter Arbeit vertiefte sich seine Kunst ganz wesentlich. Die bewährtesten seiner früheren Eigenschaften wandte er auch jetzt und in der Folgezeit noch gern an; aber es geschah mit immer bewußterer Sicherheit. Die Kunst des Andeutens erhöhte sich; am plötzlichen Erstarren, Erröten, Erblassen, am Erlöschen des Augenglanzes, am Verstummen ließ Storm jetzt oft die Schwere des Erlebens erkennen. In einem Brief an Heyse vom 8. Mai 1855 können wir Blicke in seine Werkstatt tun. »Das seelenvolle mezza voce, die unnachahmliche leise Klarheit aller Töne« rühmte der Münchener Freund mit Recht an ihm. Storm wußte, daß man das Letzte einer Empfindung nicht aussprechen könne, und darum hat er auf das stärkste Maß der Leidenschaft, des Zorns, der Freude, des Leides absichtlich verzichtet und ist auch in der Verwendung der Gebärden dem äußersten Maß der Wildheit ausgewichen. Die Architektonik und der Rhythmus seiner Novellen wurde immer reiner. Storm zeigte schon jetzt eine große Kunst, entscheidende Motive gerade an der Stelle in die Erzählung einzuführen, wo sie die größte Wirkung auf den Leser tun und stärkstes Licht rückwärts wie vorwärts werfen. Auch ließ er die Erzählung gern von Zeit zu Zeit an einen Ruhepunkt gelangen, an dem dann die Umgebung, der Ort des Geschehens, erleuchtet werden konnte.

Dazu wurde der Inhalt reicher. Die heimatliche Färbung, das, was der Schweizer die »Landskraft« nennt, erhöhte sich, denn offenbar sah der Dichter seine norddeutschen Landsleute aus der Ferne unbefangener an, als früher, da er mitten unter ihnen lebte. Hatte die Lebenserfahrung schon in Potsdam ihm etwas mehr Vielseitigkeit gegeben, so drangen jetzt in Heiligenstadt ganz neue Motive aus seinem richterlichen Wirkungskreis, aus dem Katholizismus, aus der Berührung mit dem Adel, ja, selbst aus dem Stadtklatsch in seine Novellen ein, die überhaupt an Tatsächlichem zunehmen. Beim ersten Versuch störte freilich diese Bereicherung etwas die Sicherheit des Gestaltens.

Dreizehn Novellen hat Storm in Heiligenstadt erfunden, elf davon auch dort beendet; es ist die Reihe von »Auf dem Staatshof« bis »Bulemanns Haus«. Eine vierzehnte Erzählung, »Im Korn«, hat er nicht ausgeführt. Liest man diese Werke in der Reihenfolge ihres Entstehens, so spürt man deutlich, wie es heller in des Dichters Seele wurde. Der Wille zum Leben, zum Glück kam bei ihm zum Durchbruch; die Erzählungen mit heiterem Schluß mehrten sich. Auch der Humor wurde laut, der sich natürlich weit entfernt von aller Witzelei hielt; denn die war dem Dichter unsympathisch, die erklärte er für undeutsch.

Anfangs, in der Staatshof-Novelle, wich er von den älteren Bahnen noch nicht wesentlich ab. Aber es scheint, als ob er sich mit den »Späten Rosen«, der ersten seiner Ehenovellen, frei geschrieben habe. Sie ist der Absicht nach eine feine Huldigung für Frau Constanze, deren Eigenart er viel zu spät erkannt hatte, ein Dank für sein nunmehr beruhigtes Eheglück. Gegen die Ausführung ist manches einzuwenden. Dieser Kaufmann, der anfangs so nüchtern spricht, dem dann erst durch den »Tristan« Gottfrieds von Straßburg und durch »der minnen vederspil Isôt« die Augen geöffnet werden müssen für das, woran er blind vorbeigegangen ist, und der nun in seiner Sprechweise vollends selbst zum Dichter wird, ist nicht recht Fleisch und Blut geworden. In »Drüben am Markt« sieht man dann den Wandel Storms. Scheinbar schreibt er hier wieder eine seiner feinen alten Resignationsnovellen; es kommen für Christoph, den Medikus, den alten Junggesellen, in dem vergebens eingerichteten Staatszimmer manchmal noch wehmütige Erinnerungen auf. Aber der Verzicht ist heiterer. Und zuzeiten hilft schon ein Glas Grog zu einer Herzenserleichterung.

Der Gipfel der Heiligenstädter Leistungen wurde mit der Novelle »Im Schloß« erreicht. Auf sie hat Storm den größten Wert gelegt, weil er sich hier viele, leider für die künstlerische Wirkung zu viele Überzeugungen von der Seele geschrieben hatte. Durch die Überfülle ist der Aufbau sehr verzwickt worden. Konnte Storm auf der einen Seite von den breiten Zustandsschilderungen früherer Zeit noch nicht loskommen, so strebte er doch auf der andern einer fortlaufenden Darlegung seelischer Entwicklung zu. Der Konflikt einer Frau zwischen dem Gehorsam gegen die alten adlichen Familienbräuche und der Forderung einer freieren Lebensführung steht in der Mitte. Aber nun wurden auch noch die verschiedensten weiteren Fragen angeschnitten: Adelsvorurteile in ihren verschiedenen Abstufungen, bürgerliches und bäurisches Selbstbewußtsein, Verhältnis des Gottesglaubens zur modernen Naturwissenschaft, Macht des Urteils der bürgerlichen Gesellschaft. Und da jedes Problem seine eigene Art des Vortrags verlangte, so wechselte rüstig vorschreitende Erzählung mit der Mitteilung alter Tagebuchblätter, gefühlsdurchwärmte Schilderung mit nüchternem Tatsachenbericht. Am meisten innerlich erregt hat den Dichter die Frage nach den Adelsanmaßungen. Er, dessen beste Freunde in Heiligenstadt der Landrat von Wussow und später in Husum der Graf Reventlow waren, hat einen wahren Adelshaß im Busen getragen. In seinem Nachlaß liegen noch die Verse:

Halbe Arbeit

Leibeigenschaft war nur der Rumpf,
Nur halb erlegte man den Drachen,
Der noch aus dem feudalen Sumpf
Zu uns herüberreckt den Rachen;
Behalten blieb es bessern Tagen,
Das freche Haupt herabzuschlagen.

und:

Beim Pfänderspiel

» A vous, comtesse!« Sie schien es nicht zu hören.
Vom Staube unserer Geselligkeit
War offenbar ihr Geist seit langer Zeit
Entflohn zu höheren Gesellschaftssphären. –
Als sie sich wiederfand bei unsern Spielen,
Stand unverkennbar in den matten Zügen
Das rein aristokratische Vergnügen,
Sich mitten im Plaisir toute déplacée zu fühlen.

Diese bedauerliche Unfreiheit des Urteils schreibt sich bei Storm vielleicht aus alter Stammesart her. In seiner Heimat hat nie der Adel Fuß fassen können; die freien Bauern haben unabhängig und trotzig auf ihrer Scholle gesessen. In Storm aber steigerte sich die Abneigung bis zu Worten wie: »Ich sage dir, der Adel (wie die Kirche) ist das Gift in den Adern der Nation.« Als die schleswig-holsteinischen Verhältnisse zur Neuordnung drängten, wollte er der »Tyrtäus der Demokratie« werden.

Solche Gesinnungen gaben der Schloßnovelle in einigen Abschnitten einen harten Klang. Als Ganzes aber ließ der Dichter sie jubelnd enden. Und dieser heitere Ton bleibt nun, wenn wir die Novelle »Auf der Universität« ausnehmen, auch in allen weiteren Heiligenstädter Dichtungen, den größeren Novellen und Weihnachtserzählungen, wie den Märchen, die Storm mit einer gewissen Widerspruchsstimmung grade in der revolutionär bewegten Zeit verfaßte.

Diese Märchen gehören zu seinen umstrittensten Werken. Er hatte offenbar von Jugend auf eine tiefe Zuneigung zu den gaukelnden harmlosen Erfindungen und der gläubigen, still gleitenden Vortragsart echter Volksmärchen. Er wußte: das waren Dichtungen, die man einst im ganzen Volke sehr ernst genommen hatte, die aber zu seiner Zeit nur noch von Kindern und kindlich gebliebenen Menschen geliebt, von den Erwachsenen gering geschätzt, von Gelehrten gesammelt und durchforscht und, leider, von den unberufensten Dilettanten sudelhaft nachgeahmt wurden. Er selbst hatte sie noch in Kindertagen von Lena Wies und andern Märchenerzählerinnen mit leise singendem Ton vortragen hören, hatte an sich selbst dann die Gabe ausgebildet, in Dämmerstunden stille Lauscher in diese lächelnde Traum- und Wunderwelt hineinzuführen, und hatte wohl auch manches niedergeschrieben, was sich aber nicht erhalten hat. Veröffentlicht hatte er bisher nur zwei Versuche. Zunächst 1849 den »Kleinen Häwelmann«, die Welt- und Sternenfahrt eines ungebärdigen Strampelfritzen, der so lange ungeduldig sein »mehr, mehr!« schreit, bis er wirklich ins Meer fällt. Der andre Versuch aber war »Hinzelmeier« gewesen, jene Geschichte, die der Dichter selbst nicht als eigentliches Märchen gelten lassen konnte. Sie war überfrachtet mit Beziehungen, die, wie die Überarbeitungen beweisen, nicht einmal klar herausgekommen und festgehalten waren. Konnte man die von E. T. A. Hoffmanns Bewertung der Lebensgüter stark beeinflußte Grundidee, daß man sich durch das zwecklose Suchen nach dem Stein der Weisen um das eigentliche Glück dieser Erde, um Schönheit, Liebe, Jugend und Freude bringe, gewiß auch in einem Kunstmärchen billigen, so mußte Storm doch dem Freund Eggers zugestehen, daß der Leser hinter der Rose und der Brille immer noch etwas anderes suchen werde, als was sie an und für sich sind, und daß dabei das Interesse an dem unmittelbar Dargestellten verkümmere. Die Verlegenheitsbezeichnung »Eine nachdenkliche Geschichte« machte den Schaden nicht besser.

Und nun zu Weihnachten 1863, als Storm seinen Knaben Hackländers Märchen beschert und den »Zauberkrug« vorgelesen hatte, strömten ihm plötzlich die Eingebungen zu. In zwölf Tagen wurde, zum Teil auf dem Krankenlager, die »Regentrude« vollendet, und »Bulemanns Haus« und der »Spiegel des Cyprianus« folgten schnell. Mühelos sind diese kleinen Sachen gelungen, aber vielleicht eben deshalb nicht ganz gelungen. Storm brauchte offenbar wie Schiller und andere, als ein im Grunde sentimentalischer Dichter, ein bedachteres Arbeiten. An seinen reifsten Schöpfungen hat er wie ein Porzellanmaler auf kleinstem Raum mit unverdrossener Treue langsam geschaffen. Aber grade auf die halb improvisatorisch hingeworfenen drei Märchen von 1863/64 hat er sich viel zugute getan und war mit Selbstlob nicht sparsam; immer wieder hat er sie gegen die Bedenken vieler Leser verteidigt. Er selbst hielt sie für Meisterstücke vielfältig abgestuften Märchenvortrags – grade auf den Stil und Vortrag legte er immer den Nachdruck; er prophezeite ihnen ein langes Leben. Und doch haben sie in das Gedächtnis der Leser nicht eindringen können. Denn so gern man die bewegliche Phantasie und Darstellung bewundern mag, Märchen echten Stils sind hier nicht entstanden. In der »Regentrude« laufen die Geschehnisse aus der Geisterwelt unvermittelt neben einer Dorfgeschichte einher; und so gern man dem Dichter zugesteht, daß er manches »instinktiv in Sinn und Geist der germanischen Mythologie« geschrieben, so sehr man empfindet, daß hier ein starkes, besonders schleswig-holsteinisches Naturgefühl sich »bis zur sinnlichen Empfindung« geltend mache, so fragt man sich doch, ob diese Vorzüge, die einer Novelle zu höchstem Ruhme gereichen würden, sich mit dem Wesen eines Märchens überhaupt noch vertragen. Auch »Bulemanns Haus«, die geschlossenste Leistung unter den dreien, ist kein reines Kunstmärchen; Storm selbst nannte es »eine seltsame Historie«. Noch einmal trat er hier in Wetteifer mit Amadeus Hoffmann, etwa mit dessen Erzählung »Das öde Haus«; von Nachahmung freilich darf man nicht sprechen. Höchstens die Schilderung der äußeren Erscheinung des Geizhalses, der langen hageren Gestalt in gelbgeblümtem Schlafrock und bunter Zipfelmütze, könnte von dem phantasiereichen romantischen Erzähler herrühren. Den »Spiegel des Cyprianus« vollends, in den die Erinnerung an das Volkslied von der Herzogin von Orlamünde (Des Knaben Wunderhorn, hg. von Bremer, S. 453 ff., Birlinger-Crecelius II, 287 ff.) hineinklingt, hat der Dichter als eine »Sage« charakterisiert; man könnte sie, wie früh erkannt worden ist, mit geringer Vereinfachung der Motive und Ausschaltung des symbolischen Spiegels in eine ganz menschlich und natürlich verlaufende Novelle verwandeln.

Diese letzte Erzählung hat Storm schon nicht mehr in Heiligenstadt vollendet. Jahrelang hatte er aus der Ferne die Verhältnisse Schleswig-Holsteins mit Sorge betrachtet, war aber, wo er sich in einem Gespräch befreien wollte, bei andern nur auf Begeisterungslosigkeit gestoßen. Und jetzt, als sich die Verhältnisse der Herzogtümer 1864 entschieden, rief die Heimat den »Verbannten« zurück. Als die Nachricht eintraf, gab es zuerst ein freudiges Erschrecken; aber dann ging ein Jubel durchs Haus. »Heimkehr«, das Wort klang doch zu süß. Freilich, als es zum Abschied von Heiligenstadt gekommen war, mußte Storm doch der Gattin schreiben: »Ich gestehe, daß ich fast fassungslos war, als ich das alte Nest verließ, in dem ein nicht unerheblicher Abschnitt unseres Lebens abgelaufen ist.«

 

»Wedder to Huus!« Das war das Wort, mit dem Storm am 12. März 1864 die Heimat wieder grüßte. »Wahrlich, man findet's anderswo wohl anders,« schrieb er nach Jahren an Ludwig Pietsch, »aber doch kaum schöner als in unserm Schleswig-Holstein.« Man brachte ihm großes Vertrauen entgegen; der ausgezeichnete Ruf seines Vaters wirkte wohl mit. So konnte er denn mit Entzücken davon berichten, wie er in der alten teuern Heimat das Nest wieder baue und wie das Leben überall neue Knospen zu treiben beginne.

Aber gar so leicht war die Eingewöhnung doch nicht. Mancherlei hatte sich verändert; er selbst war älter geworden; bisweilen kam es dem empfindsamen Dichter so vor, als ob zertretene Rosen auf allen Wegen lägen. Sein Amt freilich gefiel ihm gut. Er war Landvogt, der letzte Landvogt, den Husum gehabt hat. Und er konnte am 30. April 1864 an Ludwig Pietsch berichten: »Mein Amt gibt mir eine sehr selbständige und angesehene Stellung und ist mir in der ganzen Tätigkeit, die ich zu entwickeln habe, sehr lieb. Ich komme als Obervormund, Polizeimeister, Kriminal- und Zivilrichter viel mehr in rein menschliche Berührung, als dies in meiner früheren Stellung der Fall war.«

Aber nun brach der Schleswig-Holsteinische Krieg aus; und Storms unmilitärischer und antipreußischer Sinn empörte sich zum Äußersten. Gegen Pietsch sprach er sich unumwunden aus. Am 16. Mai 1864: »Eben zieht eine Portion 60er Preußische Infanterie ein, von allen Häusern wehen die dreifarbigen Fahnen; jetzt empfangen die Leute die Preußen als ihre Freunde. Könnten wir die verfluchte Junkerbrut nur ...« Und am 12. Juli 1864: »Mir wird nicht eher wohl, als bis der erste Schleswig-Holsteinische Soldat auf den Beinen steht; dann stecke ich auch eine Fahne heraus; bis dato bin ich außer ein paar Dänen der einzige Mensch, der hartnäckig keine heraussteckt, hab mich auch weder den Kommissären noch dem Herzog vorgestellt; es ist so was von instinktiver verbissener Opposition nach allen Seiten in mir.«

Bei solchen Äußerungen und solchem Verhalten durfte er sich nicht darüber wundern, daß er im Ministerium keine persona grata war. Er schalt lustig weiter. Am 27. Dezember 1864: »Es wäre hübsch, wenn die Preußen sich so an die Stelle der Dänen setzten, daß sie ihrerseits uns jetzt wegjagten; entspräche ja auch ganz der Bismarckschen Räuberpolitik. Wenn nicht die freche Junkerherrschaft bei Euch jetzt mindestens auf meine Lebensdauer in Aussicht stände, so hätte ich objektiv nicht so viel gegen die preußische Annexion; so aber möchte ich mir den Ärger doch lieber sparen.«

Gegen solche Aufregungen gab es für Storm, da er doch nicht mit den Seinen und einigen Getreuen »in den Urwald fliehen« konnte, nur ein alterprobtes Mittel: er kapselte sich ganz in seine Häuslichkeit ein. Hatte es eine Zeitlang geschienen, als ob er auf dem Wege gewesen sei, sich aus einem Schleswig-Holsteiner zum deutschen Bürger zu erweitern, so wurde er nun abermals und für den ganzen Rest seines Lebens der Kleinstädter, der den Lauf der Welt nur noch aus der Ferne betrachtete. Was hilft es, darüber zu klagen oder zu spotten! Es ist gewiß zuzugeben, daß die engen Verhältnisse ihm den Maßstab für die Bedeutung seines kleinen Kreises entzogen, daß er ihn zu wichtig nahm und meinte, es müsse sich jeder – wie Liliencron einmal sagte – für Onkel Meier, Taute Bertha usw. interessieren. Aber es ist doch zu bewundern, wie er die Beschränkung auf die Heimat zur künstlerischen Stärke umgewandelt und das innige Umfassen des Kleinen Ersatz hat werden lassen für die mangelnde Weite der Umschau. Nur durch die Ausschließlichkeit des Betrachters ist er der Entdecker so mancher poetischen Wunder seiner Heimat und der Verkünder ihres Menschenschlages geworden. Er durfte an seinem siebzigsten Geburtstag sagen: »In der Landschaft, wo ich geboren wurde, liegt nur für den, der die Wünschelrute zu handhaben weiß, die Poesie auf Heiden und Mooren, an der Meeresküste und auf den feierlich schweigenden Weideflächen hinter den Deichen. Die Menschen selber dort brauchen die Poesie nicht und suchen nicht danach.«

Es schien wieder ein Idyll sich entwickeln zu sollen. Da brach mit einem Schlage das Glück des Stormschen Hauses zusammen. Am 20. Mai 1865 starb Frau Constanze, wenige Wochen nach der Geburt eines Töchterchens. Es ist, als ob der Dichter den Verlust vorausgeahnt habe, als ob ihm, wie so manchen Kindern jenes Landes, die Gabe des zweiten Gesichts geschenkt worden sei. Schon in Heiligenstadt, in der Stunde, da der Rückberufungsbrief eintraf, hatte er sich mit großen ernsten Augen im Kreis der Seinen umgeschaut und, wie erschauernd vor dem Neid der Götter, gefragt: »Wen werde ich dafür opfern müssen?« Und fast möchte man glauben, er habe auf der Stirn der geliebten Frau das Zeichen des Todesengels erblickt; denn der »Spiegel des Cyprianus«, an dem er damals schrieb, ist voll von Vordeutungen.

Zwei Tage nach ihrem Tode, am 22. Mai 1865, hat er Bericht von ihrer Sterbestunde gegeben: »Constanze ist nicht mehr; nachdem sie am 4. d. M. eine Tochter geboren, ist sie am 20. d. M. früh gegen sechs Uhr morgens nach schwerem Kampf, zuletzt aber sanft, ihre Hand in der meinen, entschlafen; ein Opfer unsrer Heimkehr; denn sie ist am Kindbettfieber gestorben, das hier epidemisch zu werden scheint. Am letzten Nachmittag ließ ich die vier ältsten Kinder heraufkommen und bat sie, ihnen die Hand zu geben; sie tat es schwach und schweigend; nur als Ernst hereinkam und mit bebender und daher wohl ziemlich lauter Stimme sagte: ›Guten Abend, Mutter!‹ sagte sie vernehmlich: ›Gute Nacht, mein Kind, ich sterbe!‹ Nachher hat sie nicht viel mehr gesagt; der Körper kämpfte wohl nur mechanisch seinen Kampf zu Ende. Ihr Todesstöhnen war hart und dauerte lange; zuletzt aber wurde es sanft wie Bienengetön; dann plötzlich, ich kann nur sagen in vernichtender Schönheit, ging eine wunderbare Verklärung über ihr Gesicht; ein sanfter blauer Glanz wandelte flüchtig durch das gebrochene Auge, und dann war Friede, und ich hatte sie verloren.« Am 24. Mai hat der Dichter sie dann in aller Frühe, als die Stadt noch schlief, nur von seinen ältesten Söhnen und seinem Bruder begleitet, in die Gruft gesenkt. Stundenlang hat er später zu Hause im Klavierspiel Linderung gesucht. Und an dem Tag ist noch das erste Gedicht des Zyklus »Tiefe Schatten« entstanden. Wie fest er auch entschlossen war, sich nicht beugen zu lassen, Storm hat Constanzens Tod doch nie verwunden.

Denn das, was andre vielleicht aufrichten konnte, den Glaubenstrost, den hatte dieser Dichter nicht. Er war im tiefsten Innern gewiß ein frommer, ehrfürchtiger Mensch, mit dem Kopf eines Heiden, mit dem Herzen eines Christen, wie sein Neffe Esmarch später formulierte. Aber seinen klaren Verstand, sein freies selbstverantwortliches Denken unter den Kirchenglauben zu beugen, vermochte er nicht. Mit dem Dogma und seinen Hütern, den Priestern gleichviel welches Bekenntnisses, mit einem Gott, an den man sich mit Gebeten zu wenden habe, mit den Vorstellungen eines persönlichen Weiterlebens und gar eines Wiederbegegnens nach dem Tode, mit alledem wußte er nichts anzufangen. Er bäumte sich nicht pathetisch und trotzig laut dagegen auf, sondern lehnte es ruhig und männlich still ab. So war sein Verlassenheitsgefühl natürlich erdrückend. An Otto Speckter schrieb er am 21. Juni 1865: »Einsamkeit und das quälende Rätsel des Todes sind die beiden furchtbaren Dinge, mit denen ich jetzt den stillen und unablässigen Kampf aufgenommen habe; denn Sie wissen ja, daß ich Ihren glücklichen Glauben nicht zu teilen vermag.« Grad aber weil ihm der Glaube an die Unsterblichkeit versagt war, klammerte er sich um so fester an dieses Erdendasein. Das Leben war für ihn der Güter höchstes. Er ist erst nach Constanzens Tod der inbrünstigste Verkünder von der Lust und Notwendigkeit zu leben geworden und hat erst jetzt alle Töne gefunden für das Weh und den Jammer des Sterbenmüssens. Von hier aus erhält auch sein Festhalten an alten Erinnerungen, das Andenken an Verstorbene, noch einmal seine besondere Bedeutung. Denn für die Toten kam bei dieser Glaubenslosigkeit einzig die Zeit in Betracht, da sie noch im Sonnenlicht gewandelt waren; sie war das Wertvolle, das, worauf der Glanz lag.

So blieb Constanze für den Dichter eine Lebende. Und dennoch ging er ein Jahr nach ihrem Tode eine zweite Ehe ein, und zwar mit Doris Jensen, die einst vor vielen Jahren so qualvolle Leidenschaft in ihm erweckt hatte und jetzt ein »schon altes Mädchen« war. Er hat den Schritt unter der Mißbilligung vieler Freunde nur aus Vernunftgründen getan. Am liebsten wäre er mit seinen Kindern allein geblieben: er malte sich schon aus, wie später eine von Constanzens Töchtern als Erwachsene den Haushalt führen würde. Aber das ging nicht an. Die sieben Kinder waren noch zu klein; nur eine Frau konnte die Erziehung leiten. Am 13. Juni 1866 wurde diese zweite Ehe geschlossen, die anfangs, hauptsächlich durch Storms eigne Schuld, zum Unsegen ausschlug. Er selbst machte kein Hehl daraus, daß er sich ohne tiefere Neigung gebunden habe: »Wir sollten keine zweite Frau heiraten, die uns mit der ganzen Hingebung ihres Herzens liebt. Ich habe das ja nicht mehr für sie.« Die Kinder, so zutraulich sie waren, durften auf väterliches Geheiß die neue Hausgenossin nicht »Mutter«, sondern nur »Tante Do« nennen und haben in gesundem Gefühl erst nach längerer Zeit und heimlich dieser Unnatur ein Ende gemacht. Storm selbst erzählte unablässig den Kindern von ihrer rechten Mutter; welche Prüfung für die verblühte, siebenunddreißigjährige zweite Frau! Sie selbst brach völlig unter dem Gewicht der neuen Aufgaben zusammen und wurde schwermütig. Und so hat es mehr als zwei Jahre gedauert, bis ein harmonisches heiteres Familienleben sich wieder herstellte.

Denn für den Dichter gesellten sich zu den häuslichen Trübungen vielerlei Unzuträglichkeiten im Berufsleben. Er war seit dem 1. Januar 1867 auf sein eignes Ersuchen einfacher Amtsrichter geworden und hatte nun seine liebe Not, sich mit dem verhaßten preußischen Regiment abzufinden, obendrein bei seinem dürftigen Beamtengehalt. Die Briefe an Ludwig Pietsch sind wiederum sehr beredt. Zu Anfang des Jahres 1865 schrieb Storm: »Ich lebe eigentlich wie in einem fortwährenden moralischen Katzenjammer; diese politische Situation ruiniert einen innerlichst; in der eignen Heimat von der Willkür Fremder abzuhängen, ein vollständig wehrloses Objekt, das ist noch schlimmer, als simpelweg hinausgeschmissen zu werden, was ja denn auch jeden Augenblick geschehen kann.« Am 30. Januar 1867: »Die öffentlichen Verhältnisse sind so widerwärtig, daß jedem anständigen Menschen dadurch das Leben verbittert werden muß. Die Stellung der Beamten in Preußen ist ohnehin eine unwürdige, eine Art Gymnasiasten- und Dumme Jungens-Stellung.« Er entrüstete sich über die nach Schleswig-Holstein geschickten Beamten, »diese Flegel, die mit der deutlich zur Schau getragenen Absicht ins Land kommen, uns höhere Einsicht und preußischen Gehorsam beizubringen. Dabei sind diese Leute, soweit meine Kunde reicht, noch dazu geistig durchaus unbedeutend.« Um ja nicht in Kriecherei zu verfallen, tat Storm lieber in eckigem Widerstand zu viel, war auch wohl oft unvorsichtig mit Worten und glaubte daher »bei der regierenden Partei im schwarzen Buch« zu stehn. Am 16. August 1867 entrüstete er sich: »Wir fühlen alle, daß wir lediglich unter der Gewalt leben; das ist um so einschneidender, da sie von denen kommt, die wir gegen die fremde Gewalt zu Hülfe riefen und die uns jetzt selbst als einen besiegten Stamm behandeln, nachdem sie uns von der andern Gewalt befreit haben.« Die ganzen Rechtsverhältnisse erregten seinen Zorn, da sie für die ehrlichen Leute gefährlicher seien als für die Spitzbuben. Er meinte, die Preußen hätten die Herzogtümer nicht erworben, sondern erschlichen; und jetzt komme noch jeder preußische Beamte »mit der Miene eines persönlichen Eroberers«. »Die naive Roheit dieser Leute ist unglaublich, und sie helfen wacker die Furche des Hasses vertiefen, die das Verfahren der preußischen Regierung in die Stirn fast jedes rechten Mannes hier gegraben hat.«

So traf denn auch der Krieg von 1870/71 den Dichter in merkwürdig skeptischer, ironischer Stimmung. An Westermann schrieb er am 2. September 1870: »Diese Kriegs-Siege sind so berauschend; ich fürchte, daß die solide deutsche Nation am Ende auch noch Geschmack an der gloire bekommt.« Und in einer später getilgten, aber handschriftlich erhaltenen Schlußszene der Novelle »Eine Halligfahrt« sagte er in der Person des »Vetters«, des Künstlers, des einsamen Weltbetrachters: »Wenn du nicht nur mit dem Auge der Eintagsfliege siehst, so wirst du sehen, daß die letzte Ursache auch dieses Krieges keine andere ist, als die von Urbeginn der Schöpfung dagewesene; – aus welcher die Kreaturen ihr Futter suchen gehn und ihr Geschlecht vermehren. Damit die Welt balanciere, muß aber noch hinzukommen, daß immer eins das andere verschlingt; und da der Mensch keinen Würger über sich hat, so vollzieht er blind und toll dies Naturgesetz in der eigenen Familie, und zwar im Urzustande – wie du seiner Zeit im Robinson gelesen haben wirst – buchstäblich. – – Ich hasse den Krieg, weil er wie nichts andres den Menschen zum willenlosen Werkzeug der Natur erniedrigt.« Wenn es aber so aussieht, als wolle er hier alle Völker gleich schuldig sprechen und Deutschland mit den übrigen verurteilen, so leuchtet doch gleich darauf die Liebe zu seinem Volke wieder auf: »Sie glaubten, der Michel schliefe, weil er nicht das Schwert zog; aber wo war er unterdessen? – Er war zu Haus und arbeitete; – er arbeitete, Vetter; und in der ehrlichen Arbeit des Friedens ist er stark geworden. – Mögen, wenn dies Blutbad ausgeschüttet ist, die klugen Lenker der öffentlichen Dinge sich nach einem festen Frieden umtun!«

In Jahren, die so reich an Hemmnissen waren, und auch noch drüber hinaus bis in die ersten Siebzigerjahre hinein, war Storms Schaffenskraft wie gelähmt. Was er noch in Heiligenstadt begonnen hatte, führte er zu Ende. Dann aber unterbrachen Constanzens Tod und die Krisen der zweiten Ehe auf Jahre alle dichterische Arbeit. Er schrieb am 10. Dezember 1866 an Pietsch: »... ob ich etwas gedichtet, geschrieben? Nein, ich schreibe nichts mehr; meine bescheidne Muse schläft unten in der Gruft auf Constanzens Sarg einen festen Schlaf. Trotz allem Tröstlichen, was mir geblieben und geworden, ich lebe in einer untergegangenen Welt; ich kann von ihrem Tode nicht mehr genesen.« Und am 12. März 1867 rief er sich zu: »Mein alter Hans, geh schlafen; deine Zeit ist aus.« Ja, selbst den eignen Kindern klagte er im Mai 1868: »Könnt ich nur wieder einmal etwas Ordentliches schreiben! Aber – wo ist meine Muse? Sie schläft auf Nimmerwiedererwachen. Ich werde jetzt nichts mehr schreiben, was ein Menschenherz begeistert.« Er fühlte ganz richtig, daß die beiden Novellen von 1867, »In St. Jürgen« und »Eine Malerarbeit«, die beide vielleicht noch der Heiligenstädter Frische Plan und innere Formung verdankten, in der Ausführung Werke halber Kraft geworden waren. Wie Annette von Droste in der »Judenbuche«, so hatte er in der St. Jürgen-Novelle eine ältere Kalendergeschichte tiefer motivieren wollen. Aber beide Dichter mußten erkennen, daß man nicht ungestraft die urwüchsig einfache Begründung solch einer volkstümlichen Handlung umstößt.

Da die Poesie sich nicht kommandieren ließ, so las Storm gegen das Ende der Sechzigerjahre außerordentlich viel, wunderliche Curiosa aus dem siebzehnten Jahrhundert und eine ganze Bibliothek lyrischer Dichter des achtzehnten und neunzehnten. Daraus sind auf der einen Seite kulturhistorische Skizzen dilettantischen Charakters hervorgegangen, auf der andern das 1870 erschienene »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius«, ein Werk, auf das Storm viel Wert legte, weil es ein Bekenntnis und ein Erzieher zur Gewinnung eines sicheren Kunstgeschmacks sein sollte und weiten Kreisen des Volkes, die sonst ratlos gewesen wären, ein Werk in die Hand legte, das nichts enthielt, was ein Kenner wie Storm nicht als gesund und echt gelten ließ. Auch in seine eigne Jugend versetzte er sich zurück und schrieb reizend anmutige Skizzen, die er als »Zerstreute Kapitel« veröffentlichte.

Aber er fühlte selbst, daß diese noch obendrein mühsam entstandenen Sachen geringfügige Abzahlungen, aber nicht die ersehnte große Leistung seien. Man hört sein Verlangen heraus, wenn er 1870 in dem ersten wieder erscheinenden größeren Werk, »Eine Halligfahrt«, von Heinrich Heines Rhythmen beeinflußt, in seltsamen, angstvoll bewegten Tönen die Muse anruft, sie möge ihm treu bleiben und ihn nicht verlassen.

Und die Göttin nahte ihrem Liebling wieder. Mit jedem Jahre regte er sich freier. »Draußen im Heidedorf« war schon eine kräftige Leistung, in der Wahl des Motivs aus der richterlichen Praxis so eigenartig, wie Storm noch nichts geschrieben. Dann stellte der Humor sich wieder ein; auf die »Kuchenesser« folgte der köstliche »Vetter Christian«, eines der sonnigsten Novellchen des Dichters, die behaglichste Verklärung, die ein echtes Husumer Familienfest mit allem Drum und Dran nur finden konnte. Und endlich mit » Viola tricolor« entlastete er seine Seele ganz. Das Problem der zweiten Eheschließung war so oft von der Seite des Gatten oder der Kinder erster Ehe angeschaut worden. Hier lag des Dichters Teilnahme durchaus bei dem Seelenleid der jungen Frau. Noch einmal griffen hier die Hände der geliebten schönen Toten klammernd in das Dasein der Lebenden hinein und verwirrten dessen ruhigen Verlauf, bis doch grade unter dem Segen der Entschlafenen sich die neuen Verhältnisse befestigten. Die Kunst hatte hier allen Lebensschmerz überwunden.

Nun lag der Weg zu den vollendetsten Leistungen offen; um die Mitte der Siebzigerjahre, als er sich schon dem sechzigsten Geburtstag näherte, erreichte Storm, ein spätreifes Talent, den Gipfel. Sein Leben war jetzt friedreicher, das heißt für ihn zugleich: einförmiger als je. Aber wichtige Briefwechsel mit Heyse, Keller, Emil Kuh, Erich Schmidt, Jensen u. a. fielen in diese Jahre, Briefwechsel, in denen Fragen künstlerischer Technik einen breiten Raum einnahmen. Und selbstbewußt, mit unverhülltem Eigenlob liebte er im Gefühl seiner Kraft sich zu äußern.

Es reizte ihn gradezu, in diesen Jahren aus den gewohnten Bahnen seiner Erzählerkunst herauszutreten und sich einmal vor unerprobte Aufgaben zu stellen. Als Vater heranwachsender Kinder hatte er sich oft über die alte aufklärerische Jugendliteratur geärgert, über Christoph von Schmids »Ostereier« oder »Heinrich von Eichenfels« und Ähnliches. Als nun Julius Lohmeyer ihn aufforderte, für die gar nicht genug zu preisende, von ihm seit 1873 herausgegebene Zeitschrift »Deutsche Jugend« einen Beitrag zu schreiben, ging Storm freudig ans Werk. Und kaum je ist ihm eine Dichtung leichter von der Hand gegangen als sein köstlicher »Pole Poppenspäler«. Er hat da den rechten Ton getroffen, grade weil er beim Schreiben gar nicht an die Jugend gedacht hat. Er nahm einfach Motive aus dem Leben der Erwachsenen und trug sie, jedermann verständlich in festem Aufbau, rein erzählend, ohne alle Nebenbetrachtungen vor.

Aus seinen künstlerischen Briefwechseln erwuchs ihm die Lust zu Künstlernovellen. An dem »Stillen Musikanten« war neben dem gestaltenden Dichter vielleicht der Vater noch zu sehr beteiligt, der hier reuevoll in die »heiligsten Tiefen seiner Seele« griff. Er hatte die unzulängliche Halbbegabung seines jüngsten Sohnes früher nicht verstanden und durch Ungeduld und Gewalt die Seele des armen Knaben tief verwundet. Hier brachte er die künstlerische Sühne dar. Die Novelle ist dadurch etwas weichlich geraten und durch Einschläge aus Grillparzer und Amadeus Hoffmann kein ganz echter Storm geworden. Ihm als Künstler war es natürlich nicht fremd, daß in der Kunst kein guter Wille und kein Wissen über die Dinge imstande ist, das Nichtkönnen wettzumachen; aber er suchte wenigstens Rührung für das dürftige Halbtalent, den guten Menschen, aber schlechten Musikanten zu erwecken. In der »Psyche« aber war das Problem kräftig erfaßt, und heidnisch und junggoethisch mutet das Ineinswirken künstlerischer und animalischer Liebeslust und Zeugekraft uns an.

Der Gipfelpunkt aber war 1875/76 mit der Novelle » Aquis submersus« erstiegen, die ohne alles Dingen und Feilschen Storms Meisterwerk geblieben ist. An ihr läßt sich so recht erkennen, wie sich der Dichter weiter entwickelt hatte, auch in den Jahren der scheinbar nachlassenden Ergiebigkeit.

Wieder gehn, wie stets bei ihm, Leben und Kunst Hand in Hand. Zuwachs an Einsicht in das Wesen der Poesie ist ihm nie aus Büchern gekommen; sondern den Gehalt hat ihm stets sein eignes Erleben beschert, und die immer reifere Formgebung gewann er durch das tiefe Betrachten und Erfassen fremder Dichtungen und durch unablässiges Arbeiten an sich selbst.

Was man von seinem Leben äußerlich gewahrte, war belanglos. Die Husumer Geselligkeit, so hübsch sie für einzelne Stunden war, konnte ihn nicht dauernd bereichern. Der Gesangverein stand in Blüte und gab ihm auch Gelegenheit, seine künstlerische Pflichttreue im Kleinen zu zeigen; aber eben doch nur im Kleinen. Das Amt war ein notwendiges Übel und brachte keine neuen Anregungen, auch als Storm im März 1874 Oberamtsrichter und im Oktober 1879 Amtsgerichtsrat, »Herr Rat«, wurde und als Alterszeichen 1880 den Roten Adlerorden vierter Klasse erhielt. Ein paar Reisen vollends waren ohne Bedeutung. Storm hat keinen Drang in die Ferne gehabt; nicht Mangel an Mitteln, sondern seine Unregsamkeit war schuld daran, daß er von der Welt nichts zu sehen bekam. In der Zeit, wo illustrierte Touristenbücher eine beliebte buchhändlerische Modegattung waren, hätte leicht ein Verleger die Mittel bewilligt, wenn ihm Storm ein »malerisches« Schweden oder Schottland oder was es war dafür geschrieben hätte. Der Herr Amtsrichter in Husum begriff es einfach nicht, wozu jemand außer Landes reise und was selbst ein bildender Künstler in Italien zu suchen habe.

In alledem also sind seine »Erlebnisse« nicht zu suchen. Wir müssen schon in die Stille seines Hauses gehn, um sie zu gewahren. Und es sind ernste Erfahrungen, die der sonst vom Schicksal so weich Angefaßte dort zu einer Zeit machen mußte, als auch seine eigne Gesundheit schon von manchen Alterserscheinungen angerüttelt wurde. Er klagte bisweilen, daß die schönen »Verblendungen« der Jugend dahin seien, daß er jetzt das nackte Leben, die Vergänglichkeit sehe und Herzensdruck ihm das Dasein schwer mache.

Es ist das Schicksal seiner Söhne, das ihm den Schlaf raubte. Ich habe diese Dinge, als ich den Briefwechsel zwischen Storm und Keller erläuterte, schonend verborgen, trotzdem ich sie kannte. Man hat aber inzwischen jede Hülle herabgerissen, und so liegt es jetzt klar zutage, welche Bedeutung auch für Storms Dichtung seine häuslichen Sorgen gehabt haben. Denn, wie seine Tochter Gertrud, die treue Hüterin seines Nachlasses, es so hübsch ausdrückt, »er lebte ja nicht nur sein eigenes Leben, er lebte zugleich das Leben aller seiner Kinder.«

Der mittlere Sohn kommt nicht in Frage; der ging seine grade Straße und ist als Justizrat gestorben. Aber der jüngste, der stille Musikant, der »alte Karl, unser immergrünes Herzblatt«, ein unendlich liebenswerter Mensch mit romantischen sonnigen Augen, der nur Freude um sich verbreitete, um den sorgte sich der Vater; denn alle Träume von Konzertsängerlaufbahn und Künstlerruhm gingen an der dürftigen Begabung des jungen Menschen zugrunde, der ein kleiner Musiklehrer im Oldenburgischen wurde. Ein wahrer Familienkummer aber war der Älteste, haltlos, ohne Energie und Pflichtbewußtsein. Wie hatte der Vater ihn als Kind überschätzt: »Dies Interesse, dies rasche Verständnis ist einzig, und dabei sein Gemüt – nicht für jedermann; aber so fein und brunnentief, voll innerlichster, wahrhaftiger Regungen – das ist ein echtes Poetenkind.« So geht es in Superlativen durch Jahre hin weiter. Erst später hat Storm seine Beobachtungen rückdenkend umgedeutet. Manche Wunderlichkeit des Sohnes »kommt aus jenem Querstand des Gemütes, aus einer Ritze jener dunkeln Pforte, deren Aufspringen ich, schon als er noch ein Knabe war, so gefürchtet habe, daß ich mitunter nachts vor seinem Bette stand und mit Angst das blasse hübsche Gesicht des schlafenden Knaben studierte«, so schrieb er 1877. Und dieser Sohn verfiel, als er erwachsen war, völlig dem Alkohol.

Da versank der alte Poet ins Grübeln. Er fragte sich, ob er dem Sohne wirklich wegen seiner geringen Selbstbeherrschung eine Schuld beimessen dürfe: »Sollte die künstlerische Anlage oder Tätigkeit die Nachkommenschaft beeinträchtigen, sollte da etwas verbraucht werden, was jenen zugute kommen müßte? ... Können die armen Jungen was dafür, daß sie nicht anders sind, als sie vielleicht nur sein können? ... Ist auch eine culpa patris dabei? ... Das Nagendste ist das Erbarmen mit dem armen Jungen selbst. Kann er dafür, daß einem solchen Quantum wahnsinniger Begierde in ihm ein solches Minimum von Kraft entgegensteht?« Culpa putris, da haben wir die Inschrift aus der Novelle » Aquis submersus«.

Indem nun aber Storm, einem Zuge der Zeit folgend, über die Rätsel der Vererbung nachsann, gewann er auch ganz neue Vorwürfe für seine Dichtungen. Früher, in seinen ruhige Dauer versprechenden Lebensverhältnissen, hatte er nur durch sanfte, elegische Rückblicke rühren können; jetzt im Alter wurde seine Dichtung vielfach die eines erschütternden Tragikers. Am liebsten aber stellte er sich die mittlere Aufgabe, »den Leser in einer herben Nachdenklichkeit über die Dinge des Lebens zurückzulassen.«

Storm hat sich über seine Auffassung des Tragischen oft geäußert. Am häufigsten werden die Worte zitiert: »Die Leute wollen für die Tragik Schuld, d. h. speziell eigene Schuld des Helden und dann Buße. Das ist aber zu eng, zu juristisch. Wir büßen im Leben viel öfter für die Schuld des Allgemeinen, wovon wir ein Teil sind, für die der Menschheit, des Zeitalters, worin wir leben, des Standes, in dem wir oder mit dem wir leben, für die Schuld der Vererbung, des Angeborenen und für die entsetzlichen Dinge, die daraus hervorgehen, gegen die wir nichts vermögen, für die unüberwindlichen Schranken usw. Wer im Kampfe dagegen unterliegt, das ist der echte tragische Held.« So schwinden denn die müden, willenlos verzichtenden Menschen mehr und mehr aus seinen Dichtungen zu Gunsten der kämpfend untergehenden. Das schließt nicht aus, daß Storm nach dem Vorbild vieler großen Tragiker gern nach dem Zusammenbruch einer Generation noch den Ausblick auf ein Hoffnung erweckendes, ansteigendes junges Geschlecht zeigt. In » Aquis submersus«, »Carsten Curator« und »Renate« ist diese neue herbe Tragik ganz ausgebildet: der vergebliche, hoffnungslose Kampf des einzelnen gegen die Feindschaft überkommener Standesvorurteile oder gegen die Macht des ererbten Blutes oder gegen die Welt des allgemeinen Aberglaubens. Es ist bezeichnend genug, daß sich grade manche Freunde schwer in diese schmerzlich eroberte unerbittliche Denkweise des sonst so versöhnlich erschienenen Dichters finden konnten. Besonders » Aquis submersus« machte sie stutzen; und im Anschluß an diese Dichtung hat Storm am häufigsten seine Ansichten erläutert, wie uns seine Tochter Gertrud mitteilt (Theodor Storm, Bd. 2, S. 175 f.). Er war jetzt sogar manchmal auf dem Wege – was übrigens eine Alterserscheinung mancher Künstler ist –, eine Novelle von der Theorie oder von einer Idee aus aufzubauen, während er in der Jugend gar nicht anders gekonnt hatte, als zu fabulieren, zu bilden, Gestalten und Handlungen darzustellen, in denen die Welt- und Lebensanschauung, die Tendenz und auch alles Technische immanent mit enthalten war. Jetzt als Greis konnte er berichten (4. September 1880 an Erich Schmidt): »Ich erfinde ›Seelen zu Novellen‹, schöne Konflikte, aber es sind nur Gedanken, die Anschauungen, welche die Fabel bilden sollen, kommen nicht; und das ist sehr bedenklich, wenn sich die Ordnung der Dinge so verkehrt.« Oder ein andermal, am 26. Juni 1880: »Mein höchster Wunsch ist, noch eine Novelle schreiben zu können, worin der Held, voll Bewußtseins einer ihm von den Vorfahren angeerbten Leidenschaft, sei es Jähzorn, Eifersucht oder sonst was, und in Kenntnis der in der Vergangenheit dadurch heraufbeschworenen Geschicke, die Gelegenheit zu solchen Ausbrüchen seinerseits auf das strengste zu vermeiden bemüht ist und grade dadurch das Unheil herbeiführt, wodurch er oder sein Menschenglück zuschanden geht.«

Durch die vertiefte Auffassung des Tragischen hat Storms Kleinkunst in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch einen späten Zug von Größe bekommen. Und nun war er auch beflissen, die Wucht und Würde der Novelle als Gattung gegen ihre Verächter zu verteidigen. So wie er sie auffaßte, durfte sie sich gerade wegen ihres geringen Umfangs und ihrer strengeren Einheit und Geschlossenheit mit größerem Recht als der Roman unmittelbar neben die Tragödie stellen. »Die Novelle verlangt«, so schrieb er am 9. Oktober 1879 an Erich Schmidt, »[im Vergleich zum Roman] die strengere geschlossenere Form, einen Konflikt, von dem aus alles organisiert ist.« Diesem Grundsatz treu, gab er seinen späteren Novellen eine straffere innere Form. Wohl legte er, wie in der Frühzeit, noch gelegentlich eine Kette lose verbundener poetischer Situationen vor, die geeignet waren, den Inhalt eines Menschenlebens erraten zu lassen. In der Überzahl der Fälle aber strebte er dahin, die ganze Dichtung von einem Mittelpunkt aus zu ordnen und zu gliedern und aus einem beherrschenden, meist tragischen Konflikt heraus ein Menschenschicksal anteilswürdig und verständlich zu machen. Was früher oft Selbstzweck gewesen, die Kleinmalerei, die landschaftlichen Einzelheiten, das Verweilen bei dem behaglich anheimelnden Familienkleinkram, das trat jetzt alles in den Dienst der Gesamtidee der Novelle, die nun nach kräftiger »epischer Objektivität«, nach vertiefter Charakterentwicklung strebte und fester als bisher in der Wirklichkeit stand. Ein scheinbar belangloses, in Wirklichkeit aber beredtes Kennzeichen ist die Namengebung der handelnden Menschen. Sie war früher, wie um die Mitte des Jahrhunderts bei so manchen andern Erzählern, genau so farblos, wie die Träger der Namen selber es waren: Herr Werner, Herr Arnold, Herr Valentin – man wußte nie, ob das Vornamen oder Zunamen waren; ja, in der »Malerarbeit« wußte der Dichter selbst es nicht. Später aber traten die unvergeßlichen Carsten Curator, Etatsrat Sternow, Hans Kirch, John Riew', Bötjer Basch, Hauke Haien auf.

Storm fühlte sich reifen in den Siebzigerjahren. Und daher verdroß es ihn, daß er in der Meinung der meisten Leser stets nur der Immensee-Dichter blieb. Mag sein, daß er gegen das Ende seines Lebens das Stoffgebiet, die Ausdrucksmöglichkeit und die künstlerische Bedeutung der Novelle, wenn er sie gegen Ebers und andre verteidigte, etwas überschätzt hat. Aber er hat die ganze Gattung durch seine große Pflichttreue und künstlerische Strenge außerordentlich gehoben. Dazu verhalf ihm freilich auch ein äußerer Umstand, dessen der Geschichtschreiber der deutschen Dichtung nie vergessen darf. Das war die Neugestaltung der Haus- und Familienzeitschriften, in denen Storm seine Novellen vor ihrer Buchausgabe erscheinen ließ. Diese literarischen Speiseanstalten waren in den Sechzigerjahren tief gesunken; eine Genügsamkeit, ein Spießbürgergeist, eine Zimperlichkeit ohnegleichen herrschten. Westermann ist dann der erste gewesen, der durch seine »Monatshefte« und ihre Leiter Glaser und Spielhagen die ganze Gattung auf höhere Stufe hob. Lindau, Franzos u. a. folgten. Aber erst Rodenberg mit der Paetelschen »Deutschen Rundschau« hat die große volkserzieherische Aufgabe ganz erfüllt, indem er den Lesern nur Ausgewähltes vorlegte, aber auch zugleich die künstlerischen Mitarbeiter spornte, über sich hinaus zu immer mutigeren Versuchen zu gelangen, ja, sie gelegentlich auch einfach, wenn sie bequem wurden, zum Fleiß anregte.

Im Kreise der Rundschau-Gemeinde erhöhte sich Storms Selbstgefühl außerordentlich. Genau so streng und unerbittlich, wie er sich früher bei der Vorbereitung seines »Hausbuchs« über die Lyrik geäußert hatte, sprach er jetzt sein Urteil über die deutsche Novellistik. Er kannte auch hier nur weiß oder schwarz, ja oder nein. Wie er Widmann, Liliencron, Rodenberg u. a. anerkannte, wie er sogar eine seltsame Vorliebe für Schindler, Gerstäcker, Ludwig Köhler und andre Vergessene hatte, so lehnte er Auerbach, Jordan, Wilhelmine von Hillern, Ebers, Julius Wolff und ihresgleichen schroff ab. Sollte er aber die besten nennen, so schloß er Keller, Heyse und sich selbst zu einem Dreigestirn zusammen. Bei diesen beiden Freunden gewahrte er denselben vornehmen Künstlergeist, denselben Einklang von Gehalt und Form in jeder Dichtung, nach dem auch er rastlos strebte.

Denn das ist ergänzend zur Kennzeichnung der Novellen seiner späteren Husumer Jahre noch hinzuzufügen, daß Hand in Hand mit der Vertiefung ihrer Probleme auch die Sorgfalt der Formgebung ging. Die meisten Leser, vermutlich, weil sie zu rasch über die Seiten hineilen, übersehen, durch welch feine Stilmittel Storm jede einzelne Novelle von den andern abgehoben hat. Gewiß gibt es bei ihm einzelne ständig wiederkehrende Wendungen, die sich besonders an Ruhepunkten und Übergängen immer wieder einstellen und etwas Eintöniges an sich haben. Aber dem Leser von feinerem Stilgefühl kann bei diesem Dichter die Mannigfaltigkeit formaler Reize – und zwar von den ersten Versuchen an – nicht verborgen bleiben. Die holperig steinigen Perioden in »Marthe und ihre Uhr«, die kurzen verschleierten Sätze in »Posthuma«, die stets in lyrische Wirkungen hinüberschweifende Prosa in »Immensee«, die behaglichen langen, wohlverzahnten Plaudersätze im »Amtschirurgus« und unmittelbar darauf nach dem Gedicht »Crucifixus« die rhythmisch bewegten, von ganz veränderter Wortwahl beherrschten kurzen Perioden der »Heimkehr«; in »Waldwinkel« die fast reglosen Naturschilderungen, und jählings hineingeworfen die kleinen aufgehetzten Episoden voll leidenschaftlichen Erlebens, die die zeitgenössische Kritik als Unarten französischen Feuilletonstils brandmarkte. Diese Wandlungsfähigkeit im Kleinen bildete Storm immer weiter aus. Und gern bereitete er die jeweilige Vortragsart einer Novelle durch eine kleine Einführung, eine Rahmenerzählung oder Ähnliches vor. Oft hat er sich dabei etwas umständlich seinem Thema genähert; manchmal aber – in »Eekenhof«, im »Etatsrat« – traf er gleich mit dem ersten Satz ins Schwarze, wie er denn »Eekenhof«, was die Kunst des Vortrags anlangt, nie übertroffen hat. Man möchte nun glauben, daß er die Verschiedenheit des Erzählertons auch dadurch noch erhöht hätte, daß er manche Novelle frei erfundenen Personen als eignes Erlebnis oder Bekenntnis in den Mund gelegt hat. Aber das ist ein Irrtum. Eine solche mimische Begabung, daß er eine ganze Erzählung aus der Rolle eines Fremden, aus dessen Anschauungs- und Gefühlswelt, aus seiner Sprechweise herausgesponnen hätte, besaß Storm nicht. Er hat ein paarmal den Versuch gemacht (Im Nachbarhause links, Im Brauerhause, John Riew'); aber sobald er dann an gefühlvolle Stellen kam, fiel er in die eigne gewohnte Redeform zurück, die auch seine Briefe zeigen. Selbst in der St. Jürgen- oder der Poppenspäler-Novelle, wo das Festhalten des Tons leicht gewesen wäre, trifft man auf Wendungen, die man den vorgegebenen schlichten Erzählern nicht zutrauen kann.

Nur in einer Gruppe von Dichtungen, die erst der Reifezeit Storms angehören, ist die Einheit des Tons meisterhaft gelungen. Das sind die Novellen, in denen er Ereignisse der Vergangenheit in leicht archaisierender, chronikartiger Sprache vortrug. Denn auch er gab einer Neigung der Siebzigerjahre nach. Als man im neuen Reich Häuser und Zimmer im Renaissancestil schuf, als die Historienmalerei kurz vor ihrem Ende ihren Höhepunkt erreichte, als die Bühnenkunst der Meininger blühte, als Freytag seine »Ahnen« verfaßte, da dichtete auch Storm historische oder kulturhistorische Novellen. Aber er tat es nicht als halber Gelehrter mit dem Streben nach antiquarischer Richtigkeit, sondern ganz als Dichter. Er wußte sehr wohl, wo die andern die Grenze des künstlerisch Zulässigen überschritten hatten. Am 12. April 1877 schrieb er an Erich Schmidt: »Von dem Dichter, der uns Menschen einer weit dahinten liegenden Zeit schildert, verlange ich einmal, daß er den Sachverständigen nicht willkürlich und in der Luft schwebend erscheine; dann aber andrerseits, daß er, wenn er deren mächtig wäre, auch auf Kosten der photographischen Treue, uns seine Gestalten in Tat und Rede so vorführe, daß sie uns Gegenwärtigen nicht gespreizt und daher mit einem Anstrich des Puppenhaften oder Komischen erscheinen. Wie fern er unsrer Weise dabei bleiben darf, hängt wohl von der Größe seiner poetischen Kraft ab; wer viel kann, darf viel wagen. Immerhin darf er nicht weiter gehen, als er uns in seiner vorgeführten Welt heimisch zu machen imstande ist.« Diese Kunst, die er bei Gustav Freytag durchaus nicht verwirklicht fand, hat er geübt in » Aquis submersus«, »Renate« und »Eekenhof«, sowie den erst in Hademarschen entstandenen Novellen »Zur Chronik von Grieshuus« und »Ein Fest auf Haderslevhuus«. Es sind Erfindungen einer unverbrauchten Phantasie und eines jung gebliebenen Herzens, vorgetragen mit der bewußten reifen Stilbeherrschung des alten Künstlers. Sie werden noch für lange Zeiten Gegenstand der Bewunderung und des Studiums sein und erschließen sich nur dem Leser, der bei aller Hingabe an den Inhalt, bei allem Mitempfinden für den starken Herzklang doch auch die hundert Abstufungen der Töne und Halbtöne, das Andeuten, das Schwellen und Verhallen zu hören vermag. In » Aquis submersus« die Niederschrift des alten Malers am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, Erinnerungen an seine Frühzeit, ganz durchwärmt von dem Gedenken an das Glück und Leid seiner Jugend, aber auch hie und da durchsetzt mit stillergebenen Ausblicken auf sein vielleicht nicht mehr fernes Ende, eine Vereinigung, die Storm in »Renate« noch einmal erstrebt, aber nicht ganz erreicht hat. Und dann in »Eekenhof« ein wahres Wunderwerk höchster Stilkunst: Wie hinter Schleiern und Nebeln bewegen sich die auftretenden Menschen, im Zwielicht, nur bisweilen eine kleine Strecke durch hellere Beleuchtung schreitend, bis sie am Ende alle wieder in dem Dunkel verschwinden, aus dem sie hervorgetreten waren. Sind sie bisweilen schattenhaft fern, bisweilen gegenwärtig nah, so begleitet der Dichter dieses Weben und Schweben mit allen Mitteln seiner Sprache, besonders dem mit zartestem Gefühl abgestuften Wechselgebrauch von Perfektum und Imperfektum.

Höheres zu erreichen, war ihm nicht beschieden. Zwischen 1875 und 1879 stand er im Zenith seiner Bahn.

 

Und doch war er in diesen Jahren gar nicht geneigt, in den anscheinend so günstigen Bedingungen seines dichterischen Schaffens geruhsam zu verharren, sondern ging mit dem Plane um, sein äußeres Leben noch einmal auf ganz neue Grundlage zu stellen. Frau Do hatte den Aufenthalt in Husum nie besonders geliebt; und den Dichter quälte neben der Sorge um die Söhne der Druck des Amtes. Bisweilen glaubte er, schon das Ende seiner Lebensarbeit erreicht zu haben; dann wieder spürte er, daß noch eine reiche dichterische Zukunft vor ihm liege. In solchem Hin und Her zwischen Verlangen und Verzicht schrieb er einmal: »Sie fragen: wo ist das Glück? Ich weiß es nicht, es ist nie lang bei mir auf Besuch gewesen; ich glaube, es guckt überall nur flüchtig in die Tür, so flüchtig, daß niemand es recht gesehen und recht beschreiben kann. Aber das Glück ist auch zum Menschenleben durchaus nicht nötig; nur die treuere Schwester desselben, die Hoffnung, können wir nicht entbehren. Im Leben nicht und nicht in der Kunst.«

Um sich diese Hoffnung zu erhalten, hatte er schon seit 1876 den Plan erwogen, in Ruhestand zu treten und in ländlicher Muße noch ein paar künstlerische Ernten einzubringen. 1880 führte er die Absicht aus. Mit dem ersten Mai gab er seine Stellung auf und baute sich in Hademarschen, nicht fern von der Grenze Dithmarschens, inmitten waldreicher Gründe und eines schnell heranwachsenden geräumigen Gartens ein schmuckloses Haus, unbekümmert darum, daß er mit solcher Flucht aus den altvertrauten Verhältnissen seinen heranwachsenden Töchtern eine große Entsagung auferlegte. Dort hat er dann inmitten seiner Bücher noch fast ein Jahrzehnt gelebt. Die Vormittage gehörten der dichterischen Arbeit. Sonst aber füllten der Unterricht der Kinder, die Sorge für den Garten, kleine Familienreisen, eintreffende Besuche, ein wenig Hausgeselligkeit und Mitwirkung bei den Dorfkonzerten die Tage und Abende. Noch länger als sonst dehnte sich jetzt die behagliche Teestunde aus, bei der der Dichter stets den Vorleser machte.

Freilich, das Alter als ein höflich' Mann klopfte einmal übers andre an die Tür. Die Klagen mehrten sich, daß die alte Elastizität des Geistes schwinde; in den Briefen hieß es: »Es ist nicht mehr wie einst, lebensabendliche Stimmung sinkt herab«, oder: »Im übrigen fährt die Zeit fort, uns leise zu verschlingen.« Nur wenn Jugend ihn umgab, verjüngte der alte Poet sich immer wieder.

Dann kamen schwere Zeiten der Krankheit; 1886 befiel ihn eine Lungenentzündung, und 1887 wurde ein Magenkrebs festgestellt. Das bedeutete den sicheren Tod, und dem war Storm nicht gewachsen. Die Familie übte daher den frommen Betrug, zum Schein eine neue ärztliche Untersuchung zu veranstalten; und dann wurde dem Dichter beschwichtigend eine andre Ursache seines Leidens genannt. Nach einem Krankenlager von fünf Monaten erholte er sich im Sommer 1887 noch einmal so gut, daß er am 14. September seinen siebzigsten Geburtstag in ziemlicher Frische feiern konnte. Es geschah nicht in der Enge des Familienkreises, wie bei dem redlichen Tamm in der Idylle von Johann Heinrich Voß; sondern man machte trotz des regnerischen Wetters ein rechtes Dorffest daraus mit Ehrenpforten, Feuerwehrständchen, Aufwartung der Glückwünschenden, Festgaben, Ehrenbürgerbrief der Stadt Husum, Mittagsmahl, häuslichem Gartenfest und Lampenzug der Kinder des Ortes. Unter den Gästen freilich zeigten sich seltsame Lücken: die Universität Kiel verhielt sich schweigend und hatte das Doktordiplom versagt; und die literarische Jugend der Achtzigerjahre blieb ganz fern. Die damaligen Revolutionäre hatten, um sich nicht ins Unrecht zu setzen, Storm niemals angegriffen; aber sie wollten ihm auch nicht geflissentlich huldigen. Sie übersahen ihn.

Drei Vierteljahre später ging Storms Leben zu Ende. Es wurde ein wehmütiges Erlöschen, durch häufige Gespräche vom Tode und vom Abschied auf ewig vorbereitet. Am 30. Juni 1888 war der Dichter zum letztenmal in seinem Garten, und am 4. Juli, nachmittags vierundeinhalb Uhr, schloß er nach schwerem Todeskampf die Augen. In Husum hat man ihn am Nachmittag des 7. Juli auf dem St. Jürgen-Friedhof beigesetzt, mit großem Gefolge und beim Klang der Glocken, aber ohne amtliche Handlung eines Geistlichen.

Elf stattliche Novellen hat Storm noch in dem Hademarscher Abnahmehaus geschrieben, in denen er den Weg weiterschritt, den er in den letzten Husumer Jahren betreten hatte. Die Kunst des Epikers restlos zu üben, alles, das Wichtigste wie das Nichtigste, sinnlich hinzustellen und jedes abstrakte Wort zu meiden, war sein Bemühen. Darin unterschied er sich so völlig von den vielen, die seit den Tagen der Romantiker am Werk waren, zu ihren Romanen oder statt ihrer einen Kommentar zu schreiben, Gedanken über die Dinge zu sagen, die sie unfähig waren darzustellen. Bei Storm gewann in den Altersnovellen die Motivierung an Klarheit; sie wurde lückenloser. Die Grundprobleme wurden fester als bisher ausgedrückt. Der Wille als seelische Kraft des Menschen spielte eine größere Rolle. Dabei wurde freilich der Stil immer wortreicher; die siebzehn Novellen von »Carsten Curator« bis zum »Schimmelreiter« haben zusammen ungefähr den gleichen Umfang wie die vorausgegangenen vierzig Novellen.

In einer gewissen Enge der Interessen und der Stoffwahl blieb der Dichter, wie manche seiner Altersgenossen, bis zuletzt. Die eigentlich bewegenden großen Fragen seiner Zeit hat er ebenso wenig künstlerisch gestaltet, wie etwa Wilhelm Raabe es getan hat. Da waren untergeordnete Schriftsteller meist unternehmender. Er kramte wie bisher gern in alten Papieren, hielt sich in eignen und fremden Familienschicksalen auf und ging dem öffentlichen Leben aus dem Wege. Innerhalb dieses engen Kreises aber zeigte er stets den alten Mut, den Dingen und der Wahrheit grade ins Gesicht zu sehen. Die harten Kämpfe zwischen Vater und Sohn, die Konflikte des Ehelebens, das Ringen des einzelnen gegen den Aberglauben und die Vorurteile, die Dummheit und den Neid der blöden Menge, der Mensch in der Abhängigkeit von seiner Umgebung, in den Schwierigkeiten seines Lebenserwerbs, seines Berufes und Handwerks zogen ihn immer wieder an. Und da nun grade in jenen Jahren in allen Ländern die hierher gehörenden Fragen der sogenannten Milieu-Kunst, der naturalistischen Abbildung der Außenwelt zusammen mit den Problemen der Vererbung, die auch Storm so viel zu schaffen machte, lebhaft erörtert wurden, da besonders laut für und wider die Romane Zolas gestritten wurde, so hatte Storm Gelegenheit, auch seine Meinung auszusprechen. Er tat es allerdings nicht öffentlich, sondern nur in schriftlichem Selbstgespräch oder im Briefwechsel. Hier blieb er unerschütterlich seinem alten Glaubensbekenntnis treu. Nur was durch die Formgebung geläutert und durch das Gemüt erwärmt war, hatte für ihn künstlerische Daseinsberechtigung. Einfache Wiedergabe des Lebens war für ihn keine Dichtung. Wo einmal im Einzelfall schlichte Nachbildung der Natur am Platze war, da sollte man sie selbstverständlich als Mittel zum Zweck gelten lassen. Aber im übrigen deckten sich Kunst und Natur für Storm nicht. »Diese sogenannte neuere Schule,« so schrieb er am 9. März 1888 in sein Merkbuch, »die wieder einmal aus Frankreich gekommen, durch einen Mann, der zufällig auch ein recht großer Poet und bei dem das mitunter durchschlägt, verwechselt in ihrer Borniertheit die natürliche Wahrheit mit der poetischen.«

Er selbst sah seine Straße klar vor sich liegen und ist von ihr nicht abgeirrt, wenn auch natürlich nicht alle Werke der Hademarscher Zeit gleich wertvoll waren. Mit einem seltsamen Experiment begann er. Während er unter Last und Lärm des Auszugs aus Husum seine lustigen »Söhne des Senators« geschrieben hatte, war in der behaglichen Ruhe des neuen Aufenthaltsortes der groteske »Herr Etatsrat« sein erstes Werk, das er gegen die Bedenken aller Freunde nur dadurch verteidigen konnte, daß er ihnen auseinandersetzte, wie er hier das ästhetisch und moralisch Häßliche durch den Humor erträglich gemacht habe. Wo er dann in den folgenden Jahren Stoffe aufgriff, die seiner Begabung ferner lagen, da spürt man wohl gelegentlich die Altersmüdigkeit. Aber wer den Trotz zweier Generationen in »Hans und Heinz Kirch« gestalten, wer die ergreifende Bilderfolge der »Chronik von Grieshuus« entrollen und dann wieder für die selbstvergessene jugendliche Liebesseligkeit in der langen Ballade vom »Fest auf Haderslevhuus« die überzeugenden Töne finden konnte, der bewies mit weißen Haaren noch den starken Schlag seines Herzens. Den »Schimmelreiter«, die letzte vollendete Dichtung, hat man wohl gelegentlich um einzelner Szenen willen etwas überschätzt; die Verkünstelung einer dreifachen Rahmenerzählung hat der Dichter nicht mehr glaubhaft durchführen können.

Aber treu blieb er sich doch auch hier bis ans Ende. Die Grenzen seines Könnens waren ihm stets bewußt: die Lyrik und die Novelle waren sein Herrschaftsgebiet. Er soll zwar nach Beendigung des »Schimmelreiters« gesagt haben: »Wenn ich jünger wäre, so würde ich zum Drama übergehen«, aber er hat den Versuch nie gemacht, so starke dramatische Elemente auch in seinen letzten Dichtungen waren. Auch hat er stets der Versuchung widerstanden, einen Roman zu schreiben, trotzdem ihn Freunde darauf aufmerksam machten, daß seine Altersnovellen bisweilen Auszüge aus Romanen waren. Das Wagnis wäre auch sicher fehlgeschlagen. Storm hätte da eine ihm unbequeme Breite erstreben und einsehen müssen, daß man bei einer großen Komposition mit vielen Nebenkapiteln nicht jede Szene, jeden Bruchteil einer Szene so mit Gefühl durchtränken kann, wie es für ihn Bedürfnis war und wie es ihm auch in der Novelle gelang.

Selbstbewußt und zugleich bescheiden, ein Künstler durch und durch, so schloß er sein Leben. Das Wort »klassisch« hat er für seine Dichtungen stets abgelehnt. Er meinte, ein Klassiker sei doch nur der Dichter, der den wesentlichen geistigen Gehalt seiner ganzen Zeit in künstlerisch vollendeter Form abgespiegelt habe. Das war, wie er fühlte, bei ihm nicht der Fall. Und deshalb begnügte er sich mit »einer Seitenloge«. Sonst aber hatte er die feste Zuversicht, daß seine Werke, besonders die lyrischen, erst nach seinem Tode die rechte Verbreitung finden würden, und hat sich darin nicht getäuscht. Das Wort, das er einst an seine Tochter Elsabe schrieb, hat sich bewährt: »Ich wurde nur allmählich anerkannt; ich denke, um so dauernder.«

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