Max Stirner
Der Einzige und sein Eigentum
Max Stirner

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2. Die Neuen

»Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.«

Wurde oben gesagt: »den Alten war die Welt eine Wahrheit«, so müssen Wir hier sagen: »den Neuen war der Geist eine Wahrheit«, dürfen aber, wie dort, so hier den Zusatz nicht auslassen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten und endlich wirklich kommen.

Ein ähnlicher Gang, wie das Altertum ihn genommen, läßt sich auch am Christentum nachweisen, indem bis in die die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verstand unter der Herrschaft der christlichen Dogmen gefangen gehalten wurde, im vorreformatorischen Jahrhundert aber sophistisch sich erhob und mit allen Glaubenssätzen ein ketzerisches Spiel trieb. Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römischen Hofe: wenn nur das Herz christlich gesinnt bleibt, so mag der Verstand immerhin seine Lust genießen.

Man war längst vor der Reformation so sehr an spitzfindiges »Gezänk« gewöhnt, daß der Papst und die Meisten auch Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes »Mönchsgezänk« ansahen. Der Humanismus entspricht der Sophistik, und wie zur Zeit der Sophisten das griechische Leben in höchster Blüte stand (Perikleisches Zeitalter), so geschah das Glänzendste zur Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunst, Neue Welt usw.). Das Herz war in dieser Zeit noch weit davon entfernt, des christlichen Inhalts sich entledigen zu wollen.

Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends – unchristlicher geworden. Indem man mit Luther anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieser Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von der schweren Last der Christlichkeit erleichtert wird. Das Herz, von Tag zu Tag unchristlicher, verliert den Inhalt, mit welchem es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herzlichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschenliebe, die Liebe des Menschen, das Freiheitsbewußtsein, das »Selbstbewußtsein«.

So erst ist das Christentum vollendet, weil es kahl, abgestorben und inhaltsleer geworden ist. Es gibt nun keinen Inhalt mehr, gegen welchen das Herz sich nicht auflehnte, es sei denn, daß es unbewußt oder ohne »Selbstbewußtsein« von ihm beschlichen würde. Das Herz kritisiert alles, was sich eindrängen will, mit schonungsloser Unbarmherzigkeit zu Tode, und ist keiner Freundschaft, keiner Liebe (außer eben unbewußt oder überrumpelt) fähig. Was gäbe es auch an den Menschen zu lieben, da sie allesamt »Egoisten« sind, keiner der Mensch als solcher, d. h. keiner nur Geist. Der Christ liebt nur den Geist; wo wäre aber Einer, der wirklich nichts als Geist wäre?

Den leibhaftigen Menschen mit Haut und Haaren lieb zu haben, das wäre ja keine »geistige« Herzlichkeit mehr, wäre ein Verrat an der »reinen« Herzlichkeit, dem »theoretischen Interesse«. Denn man stelle sich die reine Herzlichkeit nur nicht vor wie jene Gemütlichkeit, die Jedermann freundlich die Hand drückt; im Gegenteil, die reine Herzlichkeit ist gegen Niemand herzlich, sie ist nur theoretische Teilnahme, Anteil am Menschen als Menschen, nicht als Person. Die Person ist ihr widerlich, weil sie »egoistisch«, weil sie nicht der Mensch, diese Idee, ist. Nur für die Idee aber gibt es ein theoretisches Interesse. Für die reine Herzlichkeit oder die reine Theorie sind die Menschen nur da, um kritisiert, verhöhnt und gründlichst verachtet zu werden: sie sind für sie nicht minder, als für den fanatischen Pfaffen, nur »Dreck« und sonst dergleichen Sauberes.

Auf diese äußerste Spitze interesseloser Herzlichkeit getrieben, müssen Wir endlich inne werden, daß der Geist, welchen der Christ allein liebt, nichts ist, oder daß der Geist eine – Lüge ist.

Was hier gedrängt und wohl noch unverständlich hingeworfen wurde, wird sich im weitern Verlauf hoffentlich aufklären.

Nehmen Wir die von den Alten hinterlassene Erbschaft auf und machen Wir als tätige Arbeiter damit so viel, als sich – damit machen läßt! Die Welt liegt verachtet zu Unsern Füßen, tief unter Uns und Unserem Himmel, in den ihre mächtigen Arme nicht mehr hineingreifen und ihr sinnbetäubender Hauch nicht eindringt; wie verführerisch sie sich auch gebärde, sie kann nichts als unsern Sinn betören, den Geist – und Geist sind Wir doch allein wahrhaft – irrt sie nicht. Einmal hinter die Dinge gekommen, ist der Geist auch über sie gekommen, und frei geworden von ihren Banden, ein entknechteter, jenseitiger freier. So spricht die »geistige Freiheit« .

Dem Geiste, der nach langem Mühen die Welt los geworden ist, dem weltlosen Geiste, bleibt nach dem Verluste der Welt und des Weltlichen nichts übrig, als – der Geist und das Geistige.

Da er jedoch sich von der Welt nur entfernt und zu einem von ihr freien Wesen gemacht hat, ohne sie wirklich vernichten zu können, so bleibt sie ihm ein unwegräumbarer Anstoß, ein in Verruf gebrachtes Wesen, und da er andererseits nichts kennt und anerkennt, als Geist und Geistiges, so muß er fortdauernd sich mit der Sehnsucht tragen, die Welt zu vergeistigen, d. h. sie aus dem »Verschiß« zu erlösen. Deshalb geht er, wie ein Jüngling, mit Welterlösungs- oder Weltverbesserungsplänen um.

Die Alten dienten, Wir sahen es, dem Natürlichen, Weltlichen, der natürlichen Weltordnung, aber sie fragten sich unaufhörlich, ob sie denn dieses Dienstes sich nicht entheben könnten, und als sie in stets erneuten Empörungsversuchen sich todmüde gearbeitet hatten, da ward ihnen unter ihren letzten Seufzern der Gott geboren, der »Weltüberwinder«. All ihr Tun war nichts gewesen als Weltweisheit, ein Trachten, hinter und über die Welt hinaus zu kommen. Und was ist die Weisheit der vielen folgenden Jahrhunderte? Hinter was suchten die Neuen zu kommen? Hinter die Welt nicht mehr, denn das hatten die Alten vollbracht, sondern hinter den Gott, den jene ihnen hinterließen, hinter den Gott, »der Geist ist«, hinter alles, was des Geistes ist, das Geistige. Die Tätigkeit des Geistes aber, der »selbst die Tiefen der Gottheit erforscht«, ist die Gottesgelahrtheit. Haben die Alten nichts aufzuweisen als Weltweisheit, so brachten und bringen es die Neuen niemals weiter als zur Gottesgelahrtheit. Wir werden später sehen, daß selbst die neuesten Empörungen gegen Gott nichts als die äußersten Anstrengungen der »Gottesgelahrtheit«, d. h. theologische Insurrektionen sind.

§1. Der Geist.

Das Geisterreich ist ungeheuer groß, des Geistigen unendlich viel: sehen Wir doch zu, was denn der Geist, diese Hinterlassenschaft der Alten, eigentlich ist.

Aus ihren Geburtswehen ging er hervor, sie selbst aber konnten sich nicht als Geist aussprechen: sie konnten ihn gebären, sprechen mußte er selbst. Der »geborene Gott, der Menschensohn« spricht erst das Wort aus, daß der Geist, d. h. er, der Gott, es mit nichts Irdischem und keinem irdischen Verhältnisse zu tun habe, sondern lediglich mit dem Geiste und geistigen Verhältnissen.

Ist etwa Mein unter allen Schlägen der Welt unvertilgbarer Mut, Meine Unbeugsamkeit und Mein Trotz, weil ihm die Welt nichts anhat, schon im vollen Sinne der Geist? So wäre er ja noch mit der Welt in Feindschaft, und all sein Tun beschränkte sich darauf, ihr nur nicht zu unterliegen! Nein, bevor er sich nicht allein mit sich selbst beschäftigt, bevor er es nicht mit seiner Welt, der geistigen, allein zu tun hat, ist er nicht freier Geist, sondern nur der »Geist dieser Welt«, der an sie gefesselte. Der Geist ist freier Geist, d. h. wirklich Geist erst in einer ihm eigenen Welt; in »dieser«, der irdischen Welt, ist er ein Fremdling. Nur mittels einer geistigen Welt ist der Geist wirklich Geist, denn »diese« Welt versteht ihn nicht und weiß »das Mädchen aus der Fremde« nicht bei sich zu behalten.

Woher soll ihm diese geistige Welt aber kommen? Woher anders als aus ihm selbst! Er muß sich offenbaren, und die Worte, die er spricht, die Offenbarungen, in denen er sich enthüllt, die sind seine Welt. Wie ein Phantast nur in den phantastischen Gebilden, die er selber erschafft, lebt und seine Welt hat, wie ein Narr sich seine eigene Traumwelt erzeugt, ohne welche er eben kein Narr zu sein vermöchte, so muß der Geist sich seine Geisterwelt erschaffen, und ist, bevor er sie erschafft, nicht Geist.

Also seine Schöpfungen machen ihn zum Geist, und an den Geschöpfen erkennt man ihn, den Schöpfer: in ihnen lebt er, sie sind seine Welt.

Was ist nun der Geist? Er ist der Schöpfer einer geistigen Welt! Auch an Dir und Mir erkennt man erst Geist an, wenn man sieht, daß Wir Geistiges Uns angeeignet haben, d. h. Gedanken, mögen sie Uns auch vorgeführt worden sein, doch in Uns zum Leben gebracht haben; denn solange Wir Kinder waren, hätte man Uns die erbaulichsten Gedanken vorlegen können, ohne daß Wir gewollt oder im Stande gewesen wären, sie in Uns wiederzuerzeugen. So ist auch der Geist nur, wenn er Geistiges schafft: er ist nur mit dem Geistigen, seinem Geschöpfe, zusammen wirklich.

Da Wir ihn denn an seinen Werken erkennen, so fragt sich's, welches diese Werke seien. Die Werke oder Kinder des Geistes sind aber nichts anderes als – Geister.

Hätte Ich Juden, Juden von echtem Schrot und Korn vor mir, so müßte Ich hier aufhören und sie vor diesem Mysterium stehen lassen, wie sie seit beinahe zweitausend Jahren ungläubig und erkenntnislos davor stehen geblieben sind. Da Du aber, mein lieber Leser, wenigstens kein Vollblutsjude bist, – denn ein solcher wird sich nicht bis hierher verirren – so wollen Wir noch eine Strecke Weges miteinander machen, bis auch Du vielleicht Mir den Rücken kehrst, weil Ich Dir ins Gesicht lache.

Sagte Dir Jemand, Du seiest ganz Geist, so würdest Du an Deinen Leib fassen und ihm nicht glauben, sondern antworten: Ich habe wohl Geist, existiere aber nicht bloß als Geist, sondern bin ein leibhaftiger Mensch. Du würdest Dich noch immer von »Deinem Geiste« unterscheiden. Aber, erwidert jener, es ist Deine Bestimmung, wenn Du auch jetzt noch in den Fesseln des Leibes einhergehst, dereinst ein »seliger Geist« zu werden, und wie Du das künftige Aussehen dieses Geistes Dir auch vorstellen magst, so ist doch so viel gewiß, daß Du im Tode diesen Leib ausziehen und gleichwohl Dich, d. h. Deinen Geist, für die Ewigkeit erhalten wirst; mithin ist Dein Geist das Ewige und Wahre an Dir, der Leib nur eine diesseitige Wohnung, welche Du verlassen und vielleicht mit einer andern vertauschen kannst.

Nun glaubst Du ihm! Für jetzt zwar bist Du nicht bloß Geist, aber wenn Du einst aus dem sterblichen Leibe auswandern mußt, dann wirst Du ohne den Leib Dich behelfen müssen, und darum tut es not, daß Du Dich vorsehest und bei Zeiten für Dein eigentliches Ich sorgest. »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele!«

Gesetzt aber auch, Zweifel, im Laufe der Zeit gegen die christlichen Glaubenssätze erhoben, haben Dich längst des Glaubens an die Unsterblichkeit Deines Geistes beraubt: Einen Satz hast Du dennoch ungerüttelt gelassen, und der Einen Wahrheit hängst Du immer noch unbefangen an, daß der Geist Dein besser Teil sei, und daß das Geistige größere Ansprüche an Dich habe, als alles andere. Du stimmst trotz all Deines Atheismus mit dem Unsterblichkeitsgläubigen im Eifer gegen den Egoismus zusammen.

Wen aber denkst Du Dir unter dem Egoisten? Einen Menschen, der, anstatt einer Idee, d. h. einem Geistigen zu leben, und ihr seinen persönlichen Vorteil zu opfern, dem letzteren dient. Ein guter Patriot z. B. trägt seine Opfer auf den Altar des Vaterlandes; daß aber das Vaterland eine Idee sei, läßt sich nicht bestreiten, da es für geistesunfähige Tiere oder noch geistlose Kinder kein Vaterland und keinen Patriotismus gibt. Bewährt sich nun Jemand nicht als einen guten Patrioten, so verrät er in Bezug auf's Vaterland seinen Egoismus. Und so verhält sich's in unzähligen anderen Fällen: wer in der menschlichen Gesellschaft ein Vorrecht sich zu nutze macht, der sündigt egoistisch gegen die Idee der Gleichheit; wer Herrschaft übt, den schilt man einen Egoisten gegen die Idee der Freiheit usw.

Darum verachtest Du den Egoisten, weil er das Geistige gegen das Persönliche zurücksetzt, und für sich besorgt ist, wo Du ihn einer Idee zu Liebe handeln sehen möchtest. Ihr unterscheidet Euch darin, daß Du den Geist, er aber Sich zum Mittelpunkte macht, oder daß Du Dein Ich entzweist und Dein »eigentliches Ich«, den Geist, zum Gebieter des wertloseren Restes erhebst, während er von dieser Entzweiung nichts wissen will, und geistige und materielle Interessen eben nach seiner Lust verfolgt. Du meinst zwar nur auf diejenigen loszuziehen, welche gar kein geistiges Interesse fassen, in der Tat aber fluchst Du auf alle, welche das geistige Interesse nicht für ihr »wahres und höchstes« ansehen. Du treibst den Ritterdienst für dieses Schöne so weit, daß Du behauptest, sie sei die einzige Schönheit der Welt. Du lebst nicht Dir, sondern Deinem Geiste und dem, was des Geistes ist, d. h. Ideen.

Da der Geist nur ist, indem er Geistiges schafft, so sehen Wir Uns nach seiner ersten Schöpfung um. Hat er diese erst vollbracht, so folgt fortan eine natürliche Fortpflanzung von Schöpfungen, wie nach der Mythe nur die ersten Menschen geschaffen zu werden brauchten, das übrige Geschlecht sich von selbst fortpflanzte. Die erste Schöpfung hingegen muß »aus dem Nichts« hervorgehen, d. h . der Geist hat zu ihrer Verwirklichung nichts als sich selber, oder vielmehr, er hat sich noch nicht einmal, sondern muß sich erschaffen: seine erste Schöpfung ist daher er selber, der Geist. So mystisch dies auch klinge, so erleben Wir's doch als eine alltägliche Erfahrung. Bist Du eher ein Denkender, als Du denkst? Indem Du den ersten Gedanken erschaffst, erschaffst Du Dich, den Denkenden; denn Du denkst nicht, bevor Du einen Gedanken denkst, d. h. hast. Macht Dich nicht erst Dein Singen zum Sänger, Dein Sprechen zum sprechenden Menschen? Nun so macht Dich auch das Hervorbringen von Geistigem erst zum Geiste.

Wie Du indes vom Denker, Sänger und Sprecher Dich unterscheidest, so unterscheidest Du Dich nicht minder vom Geiste und fühlst sehr wohl, daß Du noch etwas anderes als Geist bist. Allein wie dem denkenden Ich im Enthusiasmus des Denkens leicht Hören und Sehen vergeht, so hat auch Dich der Geist-Enthusiasmus ergriffen, und Du sehnst Dich nun mit aller Gewalt, ganz Geist zu werden und im Geiste aufzugehen. Der Geist ist Dein Ideal, das Unerreichte, das Jenseitige: Geist heißt Dein – Gott, »Gott ist Geist«.

Gegen alles, was nicht Geist ist, bist Du ein Eiferer, und darum eiferst Du gegen Dich selbst, der Du einen Rest von Nichtgeistigem nicht los wirst. Statt zu sagen: »Ich bin mehr als Geist,« sagst Du mit Zerknirschung: »Ich bin weniger als Geist, und Geist, reinen Geist, oder den Geist, der nichts als Geist, den kann Ich Mir nur denken, bin es aber nicht, und da Ich's nicht bin, so ist's ein Anderer, existiert als ein Anderer, den Ich „Gott« nenne."

Es liegt in der Natur der Sache, daß der Geist, der als reiner Geist existieren soll, ein jenseitiger sein muß, denn da Ich's nicht bin, so kann er nur außer Mir sein, da ein Mensch überhaupt nicht völlig in dem Begriffe »Geist« aufgeht, so kann der reine Geist, der Geist als solcher, nur außerhalb der Menschen sein, nur jenseits der Menschenwelt, nicht irdisch, sondern himmlisch.

Nur aus diesem Zwiespalt, in welchem Ich und der Geist liegen, nur weil Ich und Geist nicht Namen für ein und dasselbe, sondern verschiedene Namen für völlig Verschiedenes sind, nur weil Ich nicht Geist und Geist nicht Ich ist: nur daraus erklärt sich ganz tautologisch die Notwendigkeit, daß der Geist im Jenseits haust, d. h. Gott ist.

Daraus geht aber auch hervor, wie durchaus theologisch, d. h. gottesgelahrt, die Befreiung ist, welche Feuerbach Uns zu geben sich bemüht. Er sagt nämlich, Wir hätten Unser eigenes Wesen nur verkannt und darum es im Jenseits gesucht, jetzt aber, da Wir einsähen, daß Gott nur Unser menschliches Wesen sei, müßten Wir es wieder als das Unsere anerkennen und aus dem Jenseits in das Diesseits zurückversetzen. Den Gott, der Geist ist, nennt Feuerbach »Unser Wesen«. Können Wir Uns das gefallen lassen, daß »Unser Wesen« zu Uns in einen Gegensatz gebracht, daß Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, aus Uns selbst Uns verbannt zu sehen?

Was gewinnen Wir denn, wenn Wir das Göttliche außer Uns zur Abwechselung einmal in Uns verlegen? Sind Wir das, was in Uns ist? So wenig als Wir das sind, was außer Uns ist. Ich bin so wenig mein Herz, als Ich meine Herzgeliebte, dieses mein »anderes Ich« bin. Gerade weil Wir nicht der Geist sind, der in Uns wohnt, gerade darum mußten Wir ihn außer Uns versetzen: er war nicht Wir, fiel nicht mit Uns in Eins zusammen, und darum konnten Wir ihn nicht anders existierend denken als außer Uns, jenseits von Uns, im Jenseits.

Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach dem gesamten Inhalt des Christentums, nicht, um ihn wegzuwerfen, nein, um ihn an sich zu reißen, um ihn, den langersehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten Anstrengung aus seinem Himmel zu ziehen und auf ewig bei sich zu behalten. Ist das nicht ein Griff der letzten Verzweiflung, ein Griff auf Leben und Tod, und ist es nicht zugleich die christliche Sehnsucht und Begierde nach dem Jenseits? Der Heros will nicht in das Jenseits eingehen, sondern das Jenseits an sich heranziehen, und zwingen, daß es zum Diesseits werde! Und schreit seitdem nicht alle Welt, mit mehr oder weniger Bewußtsein, auf's »Diesseits« komme es an, und der Himmel müsse auf die Erde kommen und schon hier erlebt werden?

Stellen Wir in Kürze die theologische Ansicht Feuerbachs und Unsern Widerspruch einander gegenüber! »Das Wesen des Menschen ist des Menschen höchstes Wesen; das höchste Wesen wird nun zwar von der Religion Gott genannt und als ein gegenständliches Wesen betrachtet, in Wahrheit aber ist es nur des Menschen eigenes Wesen, und deshalb ist der Wendepunkt der Weltgeschichte der, daß fortan dem Menschen nicht mehr Gott als Gott, sondern der Mensch als Gott erscheinen soll.«

Wir erwidern hierauf: »Das höchste Wesen ist allerdings das Wesen des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nicht er selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob Wir es außer ihm sehen und als „Gott« anschauen, oder in ihm finden und »Wesen des Menschen« oder »der Mensch« nennen. Ich bin weder Gott, noch der Mensch, weder das höchste Wesen, noch Mein Wesen, und darum ist's in der Hauptsache einerlei, ob Ich das Wesen in Mir oder außer Mir denke. Ja Wir denken auch wirklich immer das höchste Wesen in beiderlei Jenseitigkeit, in der innerlichen und äußerlichen, zugleich: denn der »Geist Gottes« ist nach christlicher Anschauung auch »Unser Geist« und »wohnet in Uns«. Er wohnt im Himmel und wohnt in Uns; Wir armen Dinger sind eben nur seine »Wohnung«, und wenn Feuerbach noch die himmlische Wohnung desselben zerstört, und ihn nötigt, mit Sack und Pack zu Uns zu ziehen, so werden Wir, sein irdisches Logis, sehr überfüllt werden.

Doch nach dieser Ausschweifung, die Wir Uns, gedächten Wir überhaupt nach dem Schnürchen zu gehen, auf spätere Blätter hätten versparen müssen, um eine Wiederholung zu vermeiden, kehren Wir zur ersten Schöpfung des Geistes, dem Geiste selbst, zurück.

Der Geist ist etwas anderes als Ich. Dieses Andere aber, was ist's?

§2. Die Besessenen

Hast Du schon einen Geist gesehen? »Nein, Ich nicht, aber Meine Großmutter.« Siehst Du, so geht Mir's auch: Ich selbst habe keinen gesehen, aber Meiner Großmutter liefen sie aller Wege zwischen die Beine, und aus Vertrauen zur Ehrlichkeit Unserer Großmutter glauben Wir an die Existenz von Geistern.

Aber hatten Wir denn keine Großväter, und zuckten die nicht jederzeit die Achseln, so oft die Großmutter von ihren Gespenstern erzählte? Ja, es waren das ungläubige Männer und die Unserer guten Religion viel geschadet haben, diese Aufklärer! Wir werden das empfinden! Was läge denn dem warmen Gespensterglauben zu Grunde, wenn nicht der Glaube an das »Dasein geistiger Wesen überhaupt«, und wird nicht dieser letztere selbst in ein unseliges Wanken gebracht, wenn man gestattet, daß freche Verstandesmenschen an jenem rütteln dürfen? Welch einen Stoß der Gottesglaube selbst durch die Ablegung des Geister- oder Gespensterglaubens erlitt, das fühlten die Romantiker sehr wohl, und suchten den unheilvollen Folgen nicht bloß durch ihre wiedererweckte Märchenwelt abzuhelfen, sondern zuletzt besonders durch das »Hereinragen einer höheren Welt«, durch ihre Somnambulen, Seherinnen von Prevorst usw. Die guten Gläubigen und Kirchenväter ahnten nicht, daß mit dem Gespensterglauben der Religion ihr Boden entzogen werde, und daß sie seitdem in der Luft schwebe. Wer an kein Gespenst mehr glaubt, der braucht nur in seinem Unglauben konsequent fortzuwandeln, um einzusehen, daß überhaupt hinter den Dingen kein apartes Wesen stecke, kein Gespenst oder – was naiverweise auch dem Worte nach für gleichbedeutend gilt – kein »Geist«.

»Es existieren Geister!« Blicke umher in der Welt und sage selbst, ob nicht aus allem Dich ein Geist anschaut. Aus der Blume, der kleinen, lieblichen, spricht der Geist des Schöpfers zu Dir, der sie so wunderbar geformt hat; die Sterne verkünden den Geist, der sie geordnet, von den Berggipfeln weht ein Geist der Erhabenheit herunter, aus den Wassern rauscht ein Geist der Sehnsucht herauf, und – aus den Menschen reden Millionen Geister. Mögen die Berge einsinken, die Blumen verblühen, die Sternenwelt zusammenstürzen, die Menschen sterben – was liegt am Untergang dieser sichtbaren Körper? Der Geist, der »unsichtbare«, bleibt ewig!

Ja, es spukt in der ganzen Welt! Nur in ihr? Nein, sie selber spukt, sie ist unheimlich durch und durch, sie ist der wandelnde Scheinleib eines Geistes, sie ist ein Spuk. Was wäre ein Gespenst denn anders als ein scheinbarer Leib, aber wirklicher Geist? Nun, die Welt ist »eitel«, ist »nichtig«, ist nur blendender »Schein«; ihre Wahrheit ist allein der Geist; sie ist der Scheinleib eines Geistes.

Schaue hin in die Nähe oder in die Ferne, Dich umgibt überall eine gespenstische Welt: Du hast immer »Erscheinungen« oder Visionen. Alles, was Dir erscheint, ist nur der Schein eines inwohnenden Geistes, ist eine gespenstische »Erscheinung«, die Welt Dir nur eine »Erscheinungswelt«, hinter welcher der Geist sein Wesen treibt. Du »siehst Geister«.

Gedenkst Du Dich etwa mit den Alten zu vergleichen, die überall Götter sahen? Götter, mein lieber Neuer, sind keine Geister; Götter setzen die Welt nicht zu einem Schein herab und vergeistigen sie nicht.

Dir aber ist die ganze Welt vergeistigt und ein rätselhaftes Gespenst geworden; darum wundere Dich nicht, wenn Du ebenso in Dir nichts als einen Spuk findest. Spukt nicht Dein Geist in Deinem Leibe, und ist nicht jener allein das Wahre und Wirkliche, dieser nur das »Vergängliche, Nichtige« oder ein »Schein«? Sind Wir nicht Alle Gespenster, unheimliche Wesen, die auf »Erlösung« harren, nämlich »Geister«?

Seit der Geist in der Welt erschienen, seit »das Wort Fleisch geworden« ist, seitdem ist die Welt vergeistigt, verzaubert, ein Spuk.

Du hast Geist, denn Du hast Gedanken. Was sind Deine Gedanken? – Geistige Wesen. – Also keine Dinge? – Nein, aber der Geist der Dinge, die Hauptsache an allen Dingen, ihr Innerstes, ihre – Idee. – Was Du denkst, ist mithin nicht bloß Dein Gedanke? – Im Gegenteil, es ist das Wirklichste, das eigentlich Wahre an der Welt: es ist die Wahrheit selber; wenn Ich nur wahrhaft denke, so denke Ich die Wahrheit. Ich kann Mich zwar über die Wahrheit täuschen und sie verkennen; wenn Ich aber wahrhaft erkenne, so ist der Gegenstand Meiner Erkenntnis die Wahrheit. – So trachtest Du wohl allezeit die Wahrheit zu erkennen? – Die Wahrheit ist Mir heilig. Es kann wohl kommen, daß Ich eine Wahrheit unvollkommen finde und durch eine bessere ersetze, aber die Wahrheit kann Ich nicht abschaffen. An die Wahrheit glaube Ich, darum forsche Ich in ihr; über sie geht's nicht hinaus, sie ist ewig.

Heilig, ewig ist die Wahrheit, sie ist das Heilige, das Ewige. Du aber, der Du von diesem Heiligen Dich erfüllen und leiten lässest, wirst selbst geheiligt. Auch ist das Heilige nicht für Deine Sinne, und niemals entdeckst Du als ein Sinnlicher seine Spur, sondern für Deinen Glauben oder bestimmter noch für Deinen Geist: denn es ist ja selbst ein Geistiges, ein Geist, ist Geist für den Geist.

Das Heilige läßt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig Manche behaupten, die dies »ungehörige« Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Werde Ich auch nur in Einer Beziehung noch »Egoist« gescholten, so bleibt der Gedanke an ein Anderes übrig, dem Ich mehr dienen sollte als Mir, und das Mir wichtiger sein müßte als Alles, kurz ein Etwas, worin Ich Mein wahres Heil zu suchen hätte, ein – »Heiliges«. Mag dies Heilige auch noch so menschlich aussehen, mag es das Menschliche selber sein, das nimmt ihm die Heiligkeit nicht ab, sondern macht es höchstens aus einem überirdischen zu einem irdischen Heiligen, aus einem Göttlichen zu einem Menschlichen.

Heiliges existiert nur für den Egoisten, der sich selbst nicht anerkennt, den unfreiwilligen Egoisten, für ihn, der immer auf das Seine aus ist, und doch sich nicht für das höchste Wesen hält, der nur sich dient und zugleich stets einem höheren Wesen zu dienen meint, der nichts Höheres kennt als sich und gleichwohl für Höheres schwärmt, kurz für den Egoisten, der kein Egoist sein möchte, und sich erniedrigt, d. h. seinen Egoismus bekämpft, zugleich aber sich selbst nur deshalb erniedrigt, »um erhöht zu werden«, also um seinen Egoismus zu befriedigen. Weil er ablassen möchte, Egoist zu sein, sucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Wesen, denen er diene und sich opfere; aber so viel er sich auch schüttelt und kasteit, zuletzt tut er doch alles um seinetwillen und der verrufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn deswegen den unfreiwilligen Egoisten.

Sein Mühen und Sorgen, von sich loszukommen, ist nichts als der mißverstandene Trieb nach Selbstauflösung. Bist Du an Deine vergangene Stunde gebunden, mußt Du heute plappern, weil Du gestern geplappert hast, kannst Du nicht jeden Augenblick Dich umwandeln: so fühlst Du Dich in Sklavenfesseln und erstarrt. Darum winkt Dir über jede Minute Deines Daseins hinaus eine frische Minute der Zukunft, und, Dich entwickelnd, kommst Du »von Dir«, d. h. dem jeweiligen Du, los. Wie Du in jedem Augenblicke bist, so bist Du Dein Geschöpf, und eben an dieses »Geschöpf« magst Du Dich, den Schöpfer nicht verlieren. Du bist selbst ein höheres Wesen, als Du bist, und übertriffst Dich selbst. Allein, daß Du der bist, der höher ist als Du, d. h. daß Du nicht bloß Geschöpf, sondern gleicherweise Dein Schöpfer bist, das eben verkennst Du als unfreiwilliger Egoist, und darum ist das »höhere Wesen« Dir ein – Fremdes. Jedes höhere Wesen, wie Wahrheit, Menschheit usw., ist ein Wesen über Uns.

Fremdheit ist ein Kennzeichen des »Heiligen«. In allem Heiligen liegt etwas »Unheimliches«, d. h. Fremdes, worin Wir nicht ganz heimisch und zu Hause sind. Was Mir heilig ist, das ist Mir nicht eigen, und wäre Mir z. B. das Eigentum Anderer nicht heilig, so sähe Ich's für das Meine an, das Ich bei guter Gelegenheit Mir zulegte, oder gilt Mir umgekehrt das Gesicht des chinesischen Kaisers für heilig, so bleibt es meinem Auge fremd, und Ich schließe dasselbe bei seinem Erscheinen.

Warum ist eine unumstößliche mathematische Wahrheit, die nach dem gewöhnlichen Wortverstande sogar eine ewige genannt werden könnte, keine – heilige? Weil sie keine geoffenbarte, oder nicht die Offenbarung eines höhern Wesens ist. Wenn man unter geoffenbarten nur die sogenannten religiösen Wahrheiten versteht, so geht man sehr irre, und verkennt gänzlich die Weite des Begriffes »höheres Wesen«. Mit dem höheren Wesen, welches auch unter dem Namen des »höchsten« oder être suprême verehrt wurde, treiben die Atheisten ihren Spott und treten einen »Beweis von seinem Dasein« nach dem andern in den Staub, ohne zu merken, daß sie selber aus Bedürfnis eines höheren Wesens das alte nur vernichten, um für ein neues Platz zu gewinnen. Ist etwa nicht »der Mensch« ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffes verehrt und – heilig gehalten werden müssen? Denn sollte man auch manche Wahrheit, welche durch diesen Begriff manifestiert zu sein schien, wieder abschaffen, so zeugte dies doch allein für ein Mißverständnis von unserer Seite, ohne im Geringsten dem heiligen Begriffe selbst Eintrag zu tun oder denjenigen Wahrheiten, welche »mit Recht« als Offenbarungen desselben angesehen werden müssen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Mensch greift über jeden einzelnen Menschen hinaus und ist, obgleich »sein Wesen«, in der Tat doch nicht sein Wesen, welches vielmehr so einzig wäre als er, der Einzelne, selber, sondern ein allgemeines und »höheres«, ja für die Atheisten »das höchste Wesen«. Und wie die göttlichen Offenbarungen nicht von Gott eigenhändig niedergeschrieben, sondern durch die »Rüstzeuge des Herrn« veröffentlicht wurden, so schreibt auch das neue höchste Wesen seine Offenbarungen nicht selbst auf, sondern läßt sie durch »wahre Menschen« zu unserer Kunde gelangen. Nur verrät das neue Wesen eine in der Tat geistigere Auffassung als der alte Gott, weil dieser noch in einer Art von Beleibtheit oder Gestalt vorgestellt wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geistigkeit erhalten und ein besonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die sich sogar noch verführerischer anläßt, weil sie natürlicher und weltlicher aussieht und in nichts Geringerem besteht, als in jedem leibhaftigen Menschen oder auch schlechtweg in der »Menschheit« oder »allen Menschen«. Die Spukhaftigkeit des Geistes in einem Scheinleibe ist dadurch wieder einmal recht kompakt und populär geworden.

Heilig also ist das höchste Wesen und alles, worin dies höchste Wesen sich offenbart oder offenbaren wird; geheiligt aber diejenigen, welche dies höchste Wesen samt dem Seinen, d. h. samt den Offenbarungen desselben anerkennen. Das Heilige heiligt hinwiederum seinen Verehrer, der durch den Kultus selbst zu einem Heiligen wird, wie denn gleichfalls, was er tut, heilig ist: ein heiliger Wandel, ein heiliges Denken und Tun, Dichten und Trachten usw.

Was als das höchste Wesen verehrt wird, darüber kann begreiflicher Weise nur so lange der Streit bedeutungsvoll sein, als selbst die erbittertsten Gegner einander den Hauptsatz einräumen, daß es ein höchstes Wesen gebe, dem Kultus oder Dienst gebühre. Lächelte Einer mitleidig über den ganzen Kampf um ein höchstes Wesen, wie etwa ein Christ bei dem Wortgefecht eines Schiiten mit einem Sunniten oder eines Brahminen mit einem Buddhisten, so gälte ihm die Hypothese von einem höchsten Wesen für nichtig und der Streit auf dieser Basis für ein eitles Spiel. Ob dann der einige oder dreieinige Gott, ob der luthersche Gott oder das être suprême oder Gott gar nicht, sondern »der Mensch« das höchste Wesen vorstellen mag, das macht für den durchaus keinen Unterschied, der das höchste Wesen selbst negiert, denn in seinen Augen sind jene Diener eines höchsten Wesens insgesamt – fromme Leute: der wütendste Atheist nicht weniger als der gläubigste Christ.

Obenan steht also im Heiligen das höchste Wesen und der Glaube an dies Wesen, Unser »heiliger Glaube«.

Der Spuk

Mit den Gespenstern gelangen Wir ins Geisterreich, ins Reich der Wesen.

Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses, »unbegreifliches« Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle Spuk, den Wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirklichkeit zu entdecken (das »Dasein Gottes« zu beweisen), – diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Menschen; mit der gräßlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibhaftige Person zu verwandeln, – damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden Welt suchten sie das »Ding an sich«, das Wesen, sie suchten hinter dem Ding das Unding.

Wenn man einer Sache auf den Grund schaut, d. h. ihrem Wesen nachgeht, so entdeckt man oft etwas ganz anderes, als das, was sie zu sein scheint: eine honigsüße Rede und ein lügnerisches Herz, pomphafte Worte und armselige Gedanken usw. Man setzt dadurch, daß man das Wesen hervorhebt, die bisher verkannte Erscheinung zu einem bloßen Scheine, zu einer Täuschung herab. Das Wesen der so anziehenden, herrlichen Welt ist für den, der ihr auf den Grund sieht, die – Eitelkeit: die Eitelkeit ist – Weltwesen (Welttreiben). Wer nun religiös ist, der befaßt sich nicht mit dem trügerischen Schein, nicht mit den eitlen Erscheinungen, sondern schaut das Wesen an, und hat in dem Wesen die – Wahrheit.

Die Wesen, welche aus den einen Erscheinungen sich ergeben, sind die bösen Wesen, und umgekehrt aus andern die guten. Das Wesen des menschlichen Gemütes z. B. ist die Liebe, das Wesen des menschlichen Willens ist das Gute, das seines Denkens das Wahre usw.

Was zuerst für Existenz galt, wie Welt u. dergl., das erscheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Existierende ist vielmehr das Wesen, dessen Reich sich füllt mit Göttern, Geistern, Dämonen, d. h. mit guten oder bösen Wesen. Nur diese verkehrte Welt, die Welt der Wesen, existiert jetzt wahrhaft. Das menschliche Herz kann lieblos sein, aber sein Wesen existiert, der Gott, »der die Liebe ist«; das menschliche Denken kann im Irrtum wandeln, aber sein Wesen, die Wahrheit existiert: »Gott ist die Wahrheit« usw.

Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen und anzuerkennen, das ist Religion: ihr Reich ein Reich der Wesen, des Spukes und der Gespenster.

Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den Nonsens zu realisieren, hat ein leibhaftiges Gespenst zu Wege gebracht, ein Gespenst oder einen Geist mit einem wirklichen Leibe, ein beleibtes Gespenst. Wie haben sich die kräftigsten genialsten Christenmenschen abgemartert, um diese gespenstische Erscheinung zu begreifen. Es blieb aber stets der Widerspruch zweier Naturen, der göttlichen und menschlichen, d. h. der gespenstischen und sinnlichen: es blieb der wundersamste Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Gespenst, und kein Schamane, der bis zu rasender Wut und nervenzerreißenden Krämpfen sich stachelt, um ein Gespenst zu bannen, kann solche Seelenqual erdulden, wie Christen sie von jenem unbegreiflichsten Gespenst erlitten.

Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geist oder das eigentliche Gespenst – der Mensch sei. Der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor Gespenstern außer ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist der Sünde, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja selber ein Geist) kann ein Teufel sein usw. – Das Gespenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch geworden, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirklichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist – Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist gerettet wird: auf den Geist kommt Alles an, und das Geistes- oder »Seelenheil« wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden, dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopfe usw.).

Du bist Mir und Ich bin Dir kein höheres Wesen. Gleichwohl kann in jedem von Uns ein höheres Wesen stecken, und die gegenseitige Verehrung desselben hervorrufen. Um gleich das Allgemeinste zu nehmen, so lebt in Dir und Mir der Mensch. Sähe Ich in Dir nicht den Menschen, was hätte Ich Dich zu achten? Du bist freilich nicht der Mensch und seine wahre und adäquate Gestalt, sondern nur eine sterbliche Hülle desselben, aus welcher er ausscheiden kann, ohne selbst aufzuhören; aber für jetzt haust dieses allgemeine und höhere Wesen doch in Dir und Du vergegenwärtigst Mir, weil ein unvergänglicher Geist in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat, mithin Deine Gestalt wirklich nur eine »angenommene« ist, einen Geist, der erscheint, in Dir erscheint, ohne an Deinen Leib und diese bestimmte Erscheinungsweise gebunden zu sein, also einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein höheres Wesen, sondern respektiere allein jenes höhere Wesen, das in Dir »umgeht«: Ich »respektiere in Dir den Menschen«. So etwas beachteten die Alten nicht in ihren Sklaven, und das höhere Wesen: »der Mensch« fand noch wenig Anklang. Dagegen sahen sie ineinander Gespenster anderer Art. Das Volk ist ein höheres Wesen als ein Einzelner, und gleich dem Menschen oder Menschengeiste ein in den Einzelnen spukender Geist: der Volksgeist. Deshalb verehrten sie diesen Geist, und nur so weit er diesem oder auch einem ihm verwandten Geiste, z. B. dem Familiengeiste usw. diente, konnte der Einzelne bedeutend erscheinen; nur um des höheren Wesens, des Volkes, willen, überließ man dem »Volksgliede« eine Geltung. Wie Du Uns durch »den Menschen«, der in Dir spukt, geheiligt bist, so war man zu jeder Zeit durch irgend ein höheres Wesen, wie Volk, Familie u. dergl. geheiligt. Nur um eines höhern Wesens willen ist man von jeher geehrt, nur als ein Gespenst für eine geheiligte, d. h. geschützte und anerkannte Person betrachtet worden. Wenn Ich Dich hege und pflege, weil Ich Dich lieb habe, weil Mein Herz an Dir Nahrung, Mein Bedürfnis Befriedigung findet, so geschieht es nicht um eines höheren Wesens willen, dessen geheiligter Leib Du bist, nicht darum, weil Ich ein Gespenst, d. h. einen erscheinenden Geist in Dir erblicke, sondern aus egoistischer Lust: Du selbst mit Deinem Wesen bist Mir wert, denn Dein Wesen ist kein höheres, ist nicht höher und allgemeiner als Du, ist einzig wie Du selber, weil Du es bist.

Aber nicht bloß der Mensch, sondern Alles spukt. Das höhere Wesen, der Geist, der in Allem umgeht, ist zugleich an Nichts gebunden, und – »erscheint« nur darin. Gespenst in allen Winkeln!

Hier wäre der Ort, die spukenden Geister vorüberziehen zu lassen, wenn sie nicht weiter unten wieder vorkommen müßten, um vor dem Egoismus zu verfliegen. Daher mögen nur einige derselben beispielsweise namhaft gemacht werden, um sogleich auf unser Verhalten zu ihnen überzuleiten.

Heilig z. B. ist vor allem der »heilige Geist«, heilig die Wahrheit, heilig das Recht, das Gesetz, die gute Sache, die Majestät, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, das Vaterland usw. usw.

Der Sparren

Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; Du hast einen Sparren zu viel! Du bildest Dir große Dinge ein und malst Dir eine ganze Götterwelt aus, die für Dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem Du berufen seist, ein Ideal, das Dir winkt. Du hast eine fixe Idee!

Denke nicht, daß Ich scherze oder bildlich rede, wenn Ich die am Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat. Erkennt Ihr an einer solchen fixen Idee, daß sie eine Narrheit sei, so sperrt Ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt. Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z. B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe Ideen«? Ist nicht alles dumme Geschwätz, z. B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, daß sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muß die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muß den Philister sprechen hören, um die gräßliche Überzeugung zu gewinnen, daß man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst Deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.« Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen. Gleichwie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen. Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf festem Fuße, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an! Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!

Begegnen Uns etwa bloß vom Teufel Besessene, oder treffen Wir ebensooft auf entgegengesetzte Besessene, die vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Gesetze oder irgend welchem »Prinzipe« besessen sind? Die Teufels- besitzungen sind nicht die einzigen. Gott wirkt auf Uns und der Teufel wirkt: jenes »Gnadenwirkungen«, dieses »Teufelswirkungen«. Besessene sind auf ihre Meinungen versessen.

Mißfällt Euch das Wort »Besessenheit«, so nennt es Eingenommenheit, ja nennt es, weil der Geist Euch besitzt, und von ihm alle »Eingebungen« kommen, – Begeisterung und Enthusiasmus. Ich setze hinzu, daß der vollkommene Enthusiasmus – denn bei dem faulen und halben kann man nicht stehen bleiben – Fanatismus heißt.

Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, soweit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muß es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum). Man beobachte unsere Liberalen, man blicke in die Sächsischen Vaterlandsblätter, man höre, was Schlosser sagt: »Die Gesellschaft Holbachs bildete ein förmliches Komplott gegen die überlieferte Lehre und das bestehende System, und die Mitglieder derselben waren eben so fanatisch für ihren Unglauben, als Mönche und Pfaffen, Jesuiten und Pietisten, Methodisten, Missions- und Bibelgesellschaften für mechanischen Gottesdienst und Wortglauben zu sein pflegen.«

Man achte darauf, wie ein »Sittlicher« sich benimmt, der heutigen Tages häufig mit Gott fertig zu sein meint, und das Christentum als eine Verlebtheit abwirft. Wenn man ihn fragt, ob er je daran gezweifelt habe, daß die Vermischung der Geschwister eine Blutschande sei, daß die Monogamie die Wahrheit der Ehe sei, daß die Pietät eine heilige Pflicht sei usw., so wird ein sittlicher Schauder ihn bei der Vorstellung überfallen, daß man seine Schwester auch als Weib berühren dürfe usw. Und woher dieser Schauder? Weil er an jene sittlichen Gebote glaubt. Dieser sittliche Glaube wurzelt tief in seiner Brust. So viel er gegen die frommen Christen eifert, so sehr ist er dennoch selbst Christ geblieben, nämlich ein sittlicher Christ. In der Form der Sittlichkeit hält ihn das Christentum gefangen, und zwar gefangen unter dem Glauben. Die Monogamie soll etwas Heiliges sein, und wer etwa in Doppelehe lebt, der wird als Verbrecher gestraft; wer Blutschande treibt, leidet als Verbrecher. Hiermit zeigen sich diejenigen einverstanden, die immer schreien, auf die Religion solle im Staate nicht gesehen werden, und der Jude Staatsbürger gleich dem Christen sein. Ist jene Blutschande und Monogamie nicht ein Glaubenssatz? Man rühre ihn an, und man wird erfahren, wie dieser Sittliche eben auch ein Glaubensheld ist, trotz einem Krummacher, trotz einem Philipp II. Diese fechten für den Kirchenglauben, er für den Staatsglauben, oder die sittlichen Gesetze des Staates; für Glaubensartikel verdammen beide denjenigen, der anders handelt, als ihr Glaube es gestatten will. Das Brandmal des »Verbrechens« wird ihm aufgedrückt, und schmachten mag er in Sittenverbesserungshäusern, in Kerkern. Der sittliche Glaube ist so fanatisch als der religiöse! Das heißt dann »Glaubensfreiheit«, wenn Geschwister um eines Verhältnisses willen, das sie vor ihrem »Gewissen« auszumachen hätten, ins Gefängnis geworfen werden. »Aber sie gaben ein verderbliches Beispiel!« Ja freilich, es könnten Andere auch darauf verfallen, daß der Staat sich nicht in ihr Verhältnis zu mischen habe, und darüber ginge die »Sittenreinheit« zu Grunde. So eifern denn die religiösen Glaubenshelden für den »heiligen Gott«, die sittlichen für das »heilige Gute«.

Die Eiferer für etwas Heiliges sehen einander oft gar wenig ähnlich. Wie differieren die strengen Orthodoxen oder Altgläubigen von den Kämpfern für »Wahrheit, Licht und Recht«, von den Philalethen, Lichtfreunden, Aufgeklärten usw. Und doch wie gar nichts Wesentliches enthält die Differenz. Rüttelt man an einzelnen althergebrachten Wahrheiten (z. B. Wunder, unumschränkte Fürstengewalt usw.), so rütteln die Aufgeklärten mit, und nur die Altgläubigen jammern. Rüttelt man aber an der Wahrheit selbst, so hat man gleich beide als Gläubige zu Gegnern. So mit Sittlichkeiten: die Strenggläubigen sind unnachsichtig, die helleren Köpfe sind toleranter. Aber wer die Sittlichkeit selbst angreift, der bekommt's mit beiden zu tun. »Wahrheit, Sittlichkeit, Recht, Licht usw.« sollen »heilig« sein und bleiben. Was man am Christentum zu tadeln findet, das soll nach der Ansicht dieser Aufgeklärten eben »unchristlich« sein; das Christentum aber muß das »Feste« bleiben, an ihm zu rütteln ist frevelhaft, ist ein »Frevel«. Allerdings setzt sich der Ketzer gegen den reinen Glauben nicht mehr der früheren Verfolgungswut aus, desto mehr aber gilt es jetzt dem Ketzer gegen die reine Sitte.

Die Frömmigkeit hat seit einem Jahrhundert so viele Stöße erfahren und ihr übermenschliches Wesen so oft ein »unmenschliches« schelten hören müssen, daß man sich nicht versucht fühlen kann, noch einmal sich gegen sie auszulegen. Und doch sind fast immer nur sittliche Gegner auf der Mensur erschienen, um das höchste Wesen anzufechten zu Gunsten eines – andern höchsten Wesens. So sagt Proudhon ungescheut: »Der Mensch ist bestimmt, ohne Religion zu leben, aber das Sittengesetz (la loi morale) ist ewig und absolut. Wer würde es heute wagen, die Moral anzugreifen?« Die Sittlichen schöpften das beste Fett von der Religion ab, genossen es selbst und haben nun ihre liebe Not, die daraus entstandene Drüsenkrankheit loszuwerden. Wenn Wir deshalb darauf hinweisen, daß die Religion noch bei weitem nicht in ihrem Innersten verletzt wird, solange man ihr nur ihr übermenschliches Wesen zum Vorwurfe macht, und daß sie in letzter Instanz allein an den »Geist« appelliert (denn Gott ist Geist), so haben Wir ihre endliche Eintracht mit der Sittlichkeit genugsam angedeutet, und können ihren hartnäckigen Streit mit derselben hinter Uns liegen lassen. Um ein höchstes Wesen handelt es sich bei beiden, und ob dasselbe ein übermenschliches oder ein menschliches sei, das kann Mir, da es jedenfalls ein Wesen über Mir, gleichsam ein übermeiniges ist, nur wenig verschlagen. Zuletzt wird das Verhalten zum menschlichen Wesen oder zum »Menschen«, hat es nur erst die Schlangenhaut der alten Religion abgestreift, doch wieder eine religiöse Schlangenhaut tragen.

So belehrt Uns Feuerbach, daß »wenn man die spekulative Philosophie nur umkehre, d. h. immer das Prädikat zum Subjekt, und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip mache, man die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit habe.« Damit verlieren Wir allerdings den beschränkten religiösen Standpunkt, verlieren den Gott, der auf diesem Standpunkte Subjekt ist; allein Wir tauschen dafür die andere Seite des religiösen Standpunktes, den sittlichen ein. Wir sagen z. B. nicht mehr: »Gott ist die Liebe«, sondern »die Liebe ist göttlich«. Setzen Wir noch an die Stelle des Prädikats »göttlich« das gleichbedeutende »heilig«, so kehrt der Sache nach alles Alte wieder zurück. Die Liebe soll darnach das Gute am Menschen sein, seine Göttlichkeit, das was ihm Ehre macht, seine wahre Menschlichkeit (sie »macht ihn erst zum Menschen«, macht erst einen Menschen aus ihm). So wäre es denn genauer gesprochen so: Die Liebe ist das Menschliche am Menschen, und das Unmenschliche ist der lieblose Egoist. Aber gerade alles dasjenige, was das Christentum und mit ihm die spekulative Philosophie, d. h. Theologie als das Gute, das Absolute offeriert, ist in der Eigenheit eben nicht das Gute (oder, was dasselbe sagt, es ist nur das Gute), mithin würde durch die Verwandlung des Prädikats in das Subjekt das christliche Wesen (und das Prädikat enthält ja eben das Wesen) nur noch drückender fixiert. Der Gott und das Göttliche verflöchte sich um so unauflöslicher mit Mir. Den Gott aus seinem Himmel zu vertreiben und der »Transzendenz« zu berauben, das kann noch keinen Anspruch auf vollkommene Besiegung begründen, wenn er dabei nur in die Menschenbrust gejagt, und mit unvertilgbarer Immanenz beschenkt wird. Nun heißt es: Das Göttliche ist das wahrhaft Menschliche!

Dieselben Leute, welche dem Christentum als der Grundlage des Staates, d. h. dem sogenannten christlichen Staate widerstreben, werden nicht müde zu wiederholen, daß die Sittlichkeit »der Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens und des Staates« sei. Als ob nicht die Herrschaft der Sittlichkeit eine vollkommene Herrschaft des Heiligen, eine »Hierarchie« wäre.

So kann hier beiläufig der aufklärenden Richtung gedacht werden, die, nachdem die Theologen lange darauf bestanden hatten, nur der Glaube sei fähig, die Religionswahrheiten zu fassen, nur den Gläubigen offenbare sich Gott usw., also nur das Herz, Gefühl, die gläubige Phantasie sei religiös, mit der Behauptung hervorbrach, daß auch der »natürliche Verstand«, die menschliche Vernunft fähig sei, Gott zu erkennen. Was heißt das anders, als daß auch die Vernunft darauf Anspruch machte, dieselbe Phantastin zu sein wie die Phantasie. In diesem Sinne schrieb Reimarus seine »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«. Es mußte dahin kommen, daß der ganze Mensch mit allen seinen Fähigkeiten sich als religiös erwies; Herz und Gemüt, Verstand und Vernunft, Fühlen, Wissen und Wollen, kurz Alles am Menschen erschien religiös. Hegel hat gezeigt, daß selbst die Philosophie religiös sei. Und was wird heutigen Tages nicht Alles Religion genannt? Die »Religion der Liebe«, die »Religion der Freiheit«, die »politische Religion«, kurz jeder Enthusiasmus. So ist's auch in der Tat.

Noch heute brauchen Wir das welsche Wort »Religion«, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebunden bleiben Wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht Unser Geist, sondern absolut. Darum wäre die richtige affirmative Übersetzung des Wortes Religion die – »Geistesfreiheit«! Bei wem der Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste. Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit Uns durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, Uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußterweise ein Egoist zu sein.

Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Unsere Vernunft, Unser Herz usw. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch besessen sind. Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Geistesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glauben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der Form des Verstandes usw., an den geistigen und himmlischen Wahrheiten teilnehmen darf, dann ist der ganze Geist nur mit Geistigem, d. h. mit sich beschäftigt, also frei. Jetzt sind Wir so durch und durch religiös, daß »Geschworne« Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Christ durch »Amtseid« Uns ins Loch bringt.

Die Sittlichkeit konnte erst von da ab gegen die Frömmigkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt der brausende Haß wider alles, was einem »Befehle« (Ordonnanz, Gebote usw.) ähnlich sah, sich revoltierend Luft machte, und der persönliche »absolute Herr« verhöhnt und verfolgt wurde: sie konnte folglich zur Selbständigkeit erst durch den Liberalismus kommen, dessen erste Form als »Bürgertum« sich weltgeschichtliche Bedeutung verschaffte, und die eigentlich religiösen Gewalten schwächte (siehe unten »Liberalismus«). Denn das Prinzip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, sondern auf eigenen Füßen stehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten, sondern im Vernunftgesetze, von welchem jene, soweit sie noch gültig bleiben sollen, zu ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten müssen. Im Vernunftgesetze bestimmt sich der Mensch aus sich selbst, denn »der Mensch« ist vernünftig, und aus dem »Wesen des Menschen« ergeben sich jene Gesetze mit Notwendigkeit. Frömmigkeit und Sittlichkeit scheiden sich darin voneinander, daß jene Gott, diese den Menschen zum Gesetzgeber macht.

Von einem gewissen Standpunkte der Sittlichkeit aus räsoniert man etwa so: Entweder treibt den Menschen seine Sinnlichkeit, und er ist, ihr folgend, unsittlich, oder es treibt ihn das Gute, welches, in den Willen aufgenommen, sittliche Gesinnung (Gesinnung und Eingenommenheit für das Gute) heißt: dann beweist er sich als sittlich. Wie läßt sich von diesem Gesichtspunkte aus z. B. die Tat Sands gegen Kotzebue unsittlich nennen? Was man so unter uneigennützig versteht, das war sie doch gewiß in demselben Maße als unter anderem die Diebereien des heiligen Crispin zu Gunsten der Armen. »Er hätte nicht morden sollen, denn es stehet geschrieben: Du sollst nicht morden!« Also dem Guten zu dienen, dem Volkswohl, wie Sand wenigstens beabsichtigte, oder dem Wohl der Armen, wie Crispin, das ist sittlich; aber der Mord und Diebstahl ist unsittlich: der Zweck sittlich, das Mittel unsittlich. Warum? »Weil der Mord, der Meuchelmord etwas absolut Böses ist.« Wenn die Guerillas die Feinde des Landes in Schluchten verlockten und sie ungesehen aus den Büschen niederschossen, so war das etwa kein Meuchelmord? Ihr könntet dem Prinzip der Sittlichkeit nach, welches befiehlt, dem Guten zu dienen, doch nur fragen, ob der Mord nie und nimmer eine Verwirklichung des Guten sein könne, und müßtet denjenigen Mord anerkennen, der das Gute realisierte. Ihr könnt die Tat Sands gar nicht verdammen: sie war sittlich, weil im Dienst des Guten, weil uneigennützig; sie war ein Strafakt, den der Einzelne vollzog, eine mit Gefahr des eigenen Lebens vollzogene – Hinrichtung. Was war am Ende sein Unterfangen anders gewesen, als daß er Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt Ihr dasselbe Verfahren nicht als ein »gesetzliches« und sanktioniertes? Und Was läßt sich aus Eurem Prinzip der Sittlichkeit dagegen einwenden? – »Aber es war eine widergesetzliche Hinrichtung.« Also das Unsittliche daran war die Ungesetzlichkeit, der Ungehorsam gegen das Gesetz? So räumt Ihr ein, daß das Gute nichts anders ist, als das – Gesetz, die Sittlichkeit nichts anders als Loyalität. Es muß auch bis zu dieser Äußerlichkeit der »Loyalität« Eure Sittlichkeit heruntersinken, bis zu dieser Werkheiligkeit der Gesetzerfüllung, nur daß die letztere zugleich tyrannischer und empörender ist, als die einstige Werkheiligkeit. Denn bei dieser bedurfte es nur der Tat, Ihr aber braucht auch die Gesinnung: man soll das Gesetz, die Satzung in sich tragen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. Auch die letzte Heiterkeit des katholischen Lebens muß in dieser protestantischen Gesetzlichkeit zu Grunde gehen. Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht »Ich lebe, sondern das Gesetz lebt in Mir«. So bin Ich denn wirklich so weit gekommen, nur das »Gefäß seiner (des Gesetzes) Herrlichkeit« zu sein. »Jeder Preuße trägt seinen Gensd'armen in der Brust« – sagt ein hoher preußischer Offizier.

Warum wollen gewisse Oppositionen nicht gedeihen? Lediglich aus dem Grunde, weil sie die Bahn der Sittlichkeit oder Gesetzlichkeit nicht verlassen wollen. Daher die maßlose Heuchelei von Ergebenheit, Liebe usw., an deren Widerwärtigkeit man sich täglich den gründlichsten Ekel vor diesem verdorbenen und heuchlerischen Verhältnis einer »gesetzlichen Opposition« holen kann. – In dem sittlichen Verhältnis der Liebe und Treue kann ein zwiespältiger, ein entgegengesetzter Wille nicht stattfinden; das schöne Verhältnis ist gestört, wenn der Eine dies und der Andere das Umgekehrte will. Nun soll aber nach der bisherigen Praxis und dem alten Vorurteil der Opposition das sittliche Verhältnis vor Allem bewahrt werden. Was bleibt da der Opposition übrig? Etwa dies, eine Freiheit zu wollen, wenn der Geliebte sie abzuschlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf sie die Freiheit nicht; sie kann sie nur wünschen, darum »petitionieren«, ein »Bitte, bitte!« lallen. Was sollte daraus werden, wenn die Opposition wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Willens? Nein, sie muß auf den Willen Verzicht leisten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit – der Sittlichkeit zu Liebe. Sie darf nie »als ein Recht in Anspruch nehmen«, was ihr nur »als Gunst zu erbitten« erlaubt ist. Die Liebe, Ergebenheit usw. heischt mit unabwendbarer Bestimmtheit, daß nur Ein Wille sei, dem die Andern sich ergeben, dem sie dienen, folgen, den sie lieben. Ob dieser Wille für vernünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen sittlich, wenn man ihm folgt, und unsittlich, wenn man sich ihm entzieht. Der Wille, der die Zensur gebietet, scheint Vielen unvernünftig; wer aber sein Buch im Lande der Zensur dieser unterschlägt, der handelt unsittlich, und wer ihr's vorlegt, handelt sittlich. Quittierte Einer sein sittliches Urteil, und errichtete z. B. eine geheime Presse, so müßte man ihn unsittlich nennen, und unklug obenein, wenn er sich erwischen ließe; aber wird ein solcher Anspruch darauf machen, in den Augen der »Sittlichen« einen Wert zu haben? Vielleicht! – Wenn er sich nämlich einbildete, einer »höhern Sittlichkeit« zu dienen.

Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwischen denen Unsere Zeit herüber und hinüber schwebt und ihre feinen Fäden der Täuschung und Selbsttäuschung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeschwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rücksichtslos genug, um ganz dem Egoismus zu leben, zittert sie in dem Spinnennetze der Heuchelei bald zur einen bald zum andern hin, und fängt, vom Fluche der Halbheit gelähmt, nur dumme, elende Mücken. Hat man's einmal gewagt, einen »freien« Antrag zu stellen, gleich verwässert man ihn wieder mit Liebesversicherungen und – heuchelt Resignation; hat man anderseits die Stirne gehabt, den freien Antrag mit sittlichen Verweisungen auf Vertrauen usw. zurückzuschlagen, gleich sinkt auch der sittliche Mut, und man versichert, wie man die freien Worte mit besonderem Wohlgefallen usw. vernehme: man – heuchelt Anerkennung. Kurz man möchte das Eine haben, aber das Andere nicht entbehren: man möchte einen freien Willen haben, aber den sittlichen bei Leibe nicht missen. – Kommt nur zusammen, Ihr Liberalen, mit einem Servilen. Ihr werdet jedes Wort der Freiheit mit einem Blick des loyalsten Vertrauens versüßen, und er wird seinen Servilismus in die schmeichelndsten Phrasen der Freiheit kleiden. Dann geht Ihr auseinander, und er wie Ihr denkt: Ich kenne Dich, Fuchs! Er wittert an Euch so gut den Teufel, als Ihr an ihm den alten finstern Herrgott.

Ein Nero ist nur in den Augen der »Guten« ein »böser« Mensch; in den Meinigen ist er nichts als ein Besessener, wie die Guten auch. Die Guten sehen in ihm einen Erzbösewicht, und delegieren ihn der Hölle. Warum hinderte ihn nichts in seinen Willkürlichkeiten? Warum ließ man sich so viel gefallen? Waren etwa die zahmen Römer, die von einem solchen Tyrannen sich allen Willen binden ließen, um ein Haar besser? Im alten Rom hätte man ihn augenblicklich hingerichtet, wäre nie sein Sklave geworden. Aber die jetzigen »Guten« unter den Römern setzten ihm nur die sittliche Forderung entgegen, nicht ihren Willen; sie seufzten darüber, daß ihr Kaiser nicht der Sittlichkeit huldige wie sie: sie selber blieben »sittliche Untertanen«, bis endlich Einer den Mut fand, die »sittliche, gehorsame Untertänigkeit« aufzugeben. Und dann jauchzten dieselben »guten Römer«, die als »gehorsame Untertanen« alle Schmach der Willenlosigkeit ertragen hatten, über die frevelhafte, unsittliche Tat des Empörers. Wo war denn bei den »Guten« der Mut zur Revolution, den sie jetzt priesen, nachdem ein Anderer ihn gefaßt hatte? Die Guten konnten diesen Mut nicht haben, denn eine Revolution, und gar eine Insurrektion, ist immer etwas »Unsittliches«, wozu man sich nur entschließen kann, wenn man aufhört, »gut« zu sein, und entweder »böse« wird, oder – keins von beiden. Nero war nicht schlimmer als seine Zeit, in der man nur eins von beiden sein konnte, gut oder böse. Seine Zeit mußte von ihm urteilen: er sei böse, und zwar im höchsten Grade, nicht ein Flauer, sondern ein Erzböser. Alle Sittlichen können nur dieses Urteil über ihn fällen. Schurken, wie er war, leben heute noch mitunter fort (siehe z. B. Memoiren des Ritters von Lang.) inmitten der Sittlichen. Bequem lebt sich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens ist man da ebensowenig sicher, nur daß man »im Wege Rechtens« gehängt wird, seiner Ehre aber ist man am wenigsten sicher, und die Nationalkokarde fliegt im Umsehen davon. Die derbe Faust der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Wesen des Egoismus um.

»Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen ehrlichen Mann auf gleiche Linie stellen!« Nun, kein Mensch tut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das, einen ehrlichen Mann, der offen gegen die bestehende Staatsverfassung, gegen die geheiligten Institutionen usw. redet, den sperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verschmitzten Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge. Also in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. »Aber in der Theorie!« Nun, da stelle ich beide in der Tat auf eine Linie als zwei entgegengesetzte Pole: beide nämlich auf die Linie des Sittengesetzes. Sie haben beide nur Sinn in der »sittlichen« Welt, gerade so, wie in der vorchristlichen Zeit ein gesetzlicher Jude und ein ungesetzlicher nur Sinn und Bedeutung hatten in Bezug auf das jüdische Gesetz, dagegen vor Christus der Pharisäer nicht mehr war, als die »Sünder und Zöllner«. So gilt auch vor der Eigenheit der sittliche Pharisäer so viel, als der unsittliche Sünder.

Nero wurde durch seine Besessenheit sehr unbequem. Ihm würde aber ein eigener Mensch nicht alberner Weise das »Heilige« entgegensetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann des Heiligen nicht achtet, sondern seinen Willen. Wie oft wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menschenrechte den Feinden derselben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein »heiliges Menschenrecht« erwiesen und vordemonstriert. Die das tun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirklich geschieht, wenn sie nicht eigentlich doch, sei's auch unbewußt, den zum Ziele führenden Weg einschlügen. Sie ahnen es, daß, wenn nur erst die Mehrzahl für jene Freiheit gewonnen ist, sie auch dieselbe wollen und dann nehmen wird, was sie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle möglichen Beweise dieser Heiligkeit werden sie niemals verschaffen: das Lamentieren und Petitionieren zeigt eben nur Bettler.

Der Sittliche ist notwendig darin borniert, daß er keinen andern Feind kennt als den »Unsittlichen«. »Wer nicht sittlich ist der ist unsittlich!«, mithin verworfen, verächtlich usw. Darum kann der Sittliche niemals den Egoisten verstehen. Ist nicht unehelicher Beischlaf eine Unsittlichkeit? Der Sittliche mag sich drehen, wie er will, er wird bei diesem Ausspruch bleiben müssen; Emilia Galotti ließ für diese sittliche Wahrheit ihr Leben. Und es ist wahr, es ist eine Unsittlichkeit. Ein tugendhaftes Mädchen mag eine alte Jungfer werden; ein tugendhafter Mann mag die Zeit damit hinbringen, sich mit seinen Naturtrieben herumzuschlagen, bis er sie vielleicht verdumpft hat, er mag sich um der Tugend willen verschneiden, wie der heilige Origenes um des Himmels willen: er ehrt die heilige Ehe, die heilige Keuschheit dadurch als unverletzlich, er ist – sittlich. Unkeuschheit kann nie zu einer sittlichen Tat werden. Mag der Sittliche den, der sie beging, auch noch so nachsichtig beurteilen und entschuldigen, ein Vergehen, eine Sünde wider ein sittliches Gebot bleibt sie, es haftet daran ein unauslöschlicher Makel. Wie die Keuschheit einst zum Ordensgelübde, so gehört sie zu sittlichem Wandel. Keuschheit ist ein – Gut. – Dagegen für den Egoisten ist eben auch Keuschheit kein Gut, darohne er nicht auskommen könnte: es ist ihm nichts daran gelegen. Was folgt nun für das Urteil des Sittlichen hieraus? Dies, daß er den Egoisten in die einzige Klasse von Menschen wirft, die er außer den sittlichen Menschen kennt, in die der – Unsittlichen. Er kann nicht anders, er muß den Egoisten in allem, worin dieser die Sittlichkeit nicht achtet, unsittlich finden. Fände er ihn nicht so, so wäre er eben schon der Sittlichkeit abtrünnig geworden, ohne sich's zu gestehen, er wäre schon kein wahrhaft sittlicher Mensch mehr. Man sollte sich doch durch solche Erscheinungen, die heutigen Tages allerdings nicht mehr zu den seltenen gehören, nicht irreführen lassen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergibt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Parabel die christliche Religion, so gut als die mohammedanische und jüdische, einem »unechten Ringe« vergleicht, ein frommer Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich's zu gestehen getrauen. – Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit gewesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil Sokrates – ein sittlicher Mensch war. Die »sittenlosen, ruchlosen« Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue geschworen, und dekretierten seine Absetzung, ja seinen Tod, die Tat war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden.

Mehr oder weniger trifft jedoch dies alles nur die »bürgerliche Sittlichkeit«, auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbständige Lehren zu erzeugen. Ganz anders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein ihrer Würde gelangt, und ihr Prinzip, das Wesen des Menschen oder »den Menschen«, zum einzigen Maßgebenden erhebt. Diejenigen, welche zu so entschiedenem Bewußtsein sich durchgearbeitet haben, brechen vollständig mit der Religion, deren Gott neben ihrem »Menschen« keinen Platz mehr findet, und wie sie (s. unten) das Staatsschiff selbst anbohren, so zerbröckeln sie auch die im Staate allein gedeihende »Sittlichkeit«, und dürften folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter gebrauchen. Denn, was diese »Kritischen« Sittlichkeit nennen, das scheidet sich sehr bündig von der sogenannten »bürgerlichen oder politischen Moral«, ab, und muß dem Staatsbürger wie eine »sinn- und zügellose Freiheit« vorkommen. Im Grunde aber hat es nur die »Reinheit des Prinzips« voraus, das, aus seiner Verunreinigung mit dem Religiösen befreit, nun in seiner geläuterten Bestimmtheit als – »Menschlichkeit« zur Allgewalt gekommen ist. Deshalb darf man sich nicht wundern, daß auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Freiheit, Humanität, Selbstbewußtsein usw. beibehalten, und nur etwa mit dem Zusatze einer »freien« Sittlichkeit versehen wird, gerade so wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Unglimpf erfährt, doch der Staat als »freier Staat«, oder, wenn selbst so nicht, doch als »freie Gesellschaft« wieder erstehen soll.

Weil diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus welcher sie geschichtlich hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat, so hindert sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden. Denn zwischen Religion und Sittlichkeit waltet nur so lange ein Unterschied ob, als unsere Beziehungen zur Menschenwelt durch unser Verhältnis zu einem übermenschlichen Wesen geregelt und geheiligt werden, oder so lange als unser Tun ein Tun »um Gottes willen« ist. Kommt es hingegen dahin, daß »dem Menschen der Mensch das höchste Wesen ist«, so verschwindet jener Unterschied, und die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur – Religion. Es hat dann nämlich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und Wir verhalten Uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d. h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun ebenso synonym, als im Anfang des Christentums, und nur weil das höchste Wesen ein anderes geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein »heiliger«, sondern ein »menschlicher«. Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger – Herrenwechsel eingetreten.

Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. »Das höchste und erste Gesetz muß die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist Mir – heilig. Und alles »wahrhaft Menschliche« ist Mir – heilig! »Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.« Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat nur ins Subjekt verwandelt, und statt des Satzes »Gott ist die Liebe« heißt es »die Liebe ist göttlich«, statt »Gott ist Mensch geworden« – »der Mensch ist Gott geworden« usw. Es ist eben nur eine neue – Religion. »Alle sittlichen Verhältnisse sind nur da moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst (ohne religiöse Weihe durch den Segen des Priesters) als religiöse gelten.« Feuerbachs Satz: die Theologie ist Anthropologie, heißt nur »die Religion muß Ethik sein, die Ethik ist allein Religion.«

Überhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und Prädikat, eine Bevorzugung des letzteren. Da er aber selbst sagt: »Die Liebe ist nicht dadurch heilig (und hat den Menschen niemals dadurch für heilig gegolten), daß sie ein Prädikat Gottes, sondern sie ist ein Prädikat Gottes, weil sie durch und für sich selbst göttlich ist«, so konnte er finden, daß der Kampf gegen die Prädikate selbst eröffnet werden mußte, gegen die Liebe und alle Heiligkeiten. Wie durfte er hoffen die Menschen von Gott abzuwenden, wenn er ihnen das Göttliche ließ? Und ist ihnen, wie Feuerbach sagt, Gott selbst nie die Hauptsache gewesen, sondern nur seine Prädikate, so konnte er ihnen immerhin den Flitter noch länger lassen, da ja die Puppe doch blieb, der eigentliche Kern. Er erkennt das auch, daß es sich bei ihm »nur um die Vernichtung einer Illusion handelt«, meint jedoch, sie »wirke grundverderblich auf die Menschen, da selbst die Liebe, an sich die innerste, wahrste Gesinnung, durch die Religiosität zu einer unscheinbaren, illusorischen werde, indem die religiöse Liebe den Menschen nur um Gottes willen, also nur scheinbar den Menschen, in Wahrheit nur Gott liebt«. Ist dies anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen Menschen um dieses Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des Menschen willen, also – denn homo homini Deus – um Gottes willen?

Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten, deren einige hier anzudeuten, nützlich sein möchte.

So ist die Selbstverleugnung den Heiligen gemein mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine verleugnet alle »besseren Gefühle«, alle Scham, ja die natürliche Furchtsamkeit, und folgt nur der ihn beherrschenden Begierde. Der Reine verleugnet seine natürliche Beziehung zur Welt (»verleugnet die Welt«) und folgt nur dem ihn beherrschenden »Verlangen«. Von Gelddurst getrieben verleugnet der Habgierige alle Mahnungen des Gewissens, alles Ehrgefühl, alle Milde und alles Mitleid: er setzt alle Rücksichten aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begehrt der Heilige. Er macht sich zum »Spotte der Welt«, ist hartherzig und »strenggerecht«; denn ihn reißt das Verlangen fort. Wie der Unheilige vor dem Mammon sich selbst verleugnet, so verleugnet der Heilige sich vor Gott und den göttlichen Gesetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unverschämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt wird, wodurch sie zugleich gezwungen ist, sich selbst täglich mehr zu enthüllen und bloßzustellen. Übersteigt nicht die Unverschämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man dem »Fortschritt der Zeit« entgegenwirkt, längst alles Maß und alle Erwartung? Aber es muß so kommen. Die Selbstverleugnenden müssen als Heilige denselben Gang nehmen, wie als Unheilige, und wie diese nach und nach ins vollste Maß selbstverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit versinken, so müssen jene zur entehrendsten Erhabenheit aufsteigen. Der Mammon der Erde und der Gott des Himmels fordern beide genau denselben Grad der – Selbstverleugnung. Der Niedrige wie der Erhabene langen nach einem »Gute«, jener nach dem materiellen, dieser nach dem ideellen, dem sogenannten »höchsten Gute«, und beide ergänzen zuletzt auch einander wieder, indem der »materiell Gesinnte« einem ideellen Schemen Alles opfert, seiner Eitelkeit, der »geistlich Gesinnte« einem materiellen Genusse, dem Wohlleben.

Ungemein viel glauben diejenigen zu sagen, welche den Menschen »Uneigennützigkeit« ans Herz legen. Was verstehen sie darunter? Wohl etwas Ähnliches als unter »Selbstverleugnung«. Wer aber ist dieses Selbst, das verleugnet werden und keinen Nutzen haben soll? Du scheinst es selber sein zu sollen. Und zu wessen Nutzen empfiehlt man Dir die uneigennützige Selbstverleugnung? Wiederum Dir zu Nutzen und Frommen, nur daß Du durch Uneigennützigkeit Deinen »wahren Nutzen« Dir verschaffst.

Dir sollst Du nutzen, und doch sollst Du Deinen Nutzen nicht suchen.

Für uneigennützig hält man den Wohltäter der Menschen, einen Francke, welcher das Waisenhaus stiftete, einen O'Connell, der für sein irisches Volk unermüdlich arbeitet; aber auch den Fanatiker, der, wie der heilige Bonifatius, sein Leben für die Heidenbekehrung einsetzt, oder wie Robespierre alles der Tugend opfert, wie Körner für Gott, König und Vaterland stirbt. Daher versuchen unter Andern die Gegner O'Connells ihm eine Eigennützigkeit oder Gewinnsucht unterzuschieben, wozu ihnen die O'Connell-Rente Grund zu geben schien; denn gelänge es, seine »Uneigennützigkeit« zu verdächtigen, so trennten sie ihn leicht von seinen Anhängern.

Was könnten sie indes weiter beweisen, als daß O'Connell auf einen andern als den vorgeblichen Zweck hinarbeite? Ob er aber Geldgewinn oder Volksbefreiung erzielen mag, daß er einem Zwecke, und zwar seinem Zwecke zustrebt, bleibt doch im einen wie im andern Falle gewiß: Eigennutz hier wie da, nur daß sein nationaler Eigennutz auch Andern zu Gute käme, mithin gemeinnützig wäre.

Ist nun etwa die Uneigennützigkeit unwirklich und nirgends vorhanden? Im Gegenteil, nichts ist gewöhnlicher! Man darf sie sogar einen Modeartikel der zivilisierten Welt nennen, den man für so unentbehrlich hält, daß man, wenn er in solidem Stoffe zuviel kostet, wenigstens mit seinem Flitterschein sich ausputzt und ihn erheuchelt. Wo beginnt die Uneigennützigkeit? Gerade da, wo ein Zweck aufhört, Unser Zweck und Unser Eigentum, mit dem Wir als Eigentümer nach Belieben schalten können, zu sein; wo er ein fixer Zweck oder eine – fixe Idee wird, wo er anfängt, Uns zu begeistern, enthusiasmieren, fanatisieren, kurz wo er zu Unserer Rechthaberei ausschlägt und Unser – Herr wird. Man ist nicht uneigennützig, solange man den Zweck in seiner Gewalt behält; man wird es erst bei jenem »Hier steh' ich, ich kann nicht anders«, dem Kernspruche aller Besessenen, man wird es bei einem heiligen Zwecke durch den entsprechenden heiligen Eifer. –

Ich bin nicht uneigennützig, solange der Zweck Mein eigen bleibt, und Ich, statt zum blinden Mittel seiner Vollführung Mich herzugeben, ihn vielmehr allezeit in Frage lasse. Mein Eifer braucht darum nicht geringer zu sein, als der fanatischste, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn frostig kalt, ungläubig und sein unversöhnlichster Feind; Ich bleibe sein Richter, weil Ich sein Eigentümer bin.

Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, soweit die Besessenheit reicht, gleich sehr auf Teufelsbesitzungen wie auf denen eines guten Geistes: dort Laster, Narrheit usw.; hier Demut, Hingebung usw.

Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbstverleugnung zu begegnen? Da sitzt Mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer bringt. Über der üppigen Gestalt neigt sich ein todmüdes Haupt, und bleiche Wangen verraten die langsame Verblutung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leidenschaften an Dein Herz geschlagen, und die reichen Jugendkräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt sich in die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur durch Deine Glieder, spannte das Blut Deine Adern, und gossen feurige Phantasien den Glanz der Wollust in Deine Augen. Da erschien das Gespenst der Seele und ihrer Seligkeit. Du erschrakst, Deine Hände falteten sich, Dein gequältes Auge richtete den Blick nach oben, Du – betetest. Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über den Ozean Deiner Begierden. Langsam senkten sich die matten Augenlider über das unter ihnen erloschene Leben, aus den strotzenden Gliedern schlich unvermerkt die Spannung, in dem Herzen versiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände selbst lasteten entkräftet auf dem widerstandlosen Busen, ein leises, letztes Ach stöhnte noch nach, und – die Seele war ruhig. Du entschliefst, um am Morgen zu neuem Kampfe zu erwachen und zu neuem – Gebete. Jetzt kühlt die Gewohnheit der Entsagung die Hitze Deines Verlangens und die Rosen Deiner Jugend erblassen in der – Bleichsucht Deiner Seligkeit. Die Seele ist gerettet, der Leib mag verderben! O Lais, o Ninon, wie tatet Ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!

Auch als »Grundsatz, Prinzip, Standpunkt« u. dergl. läßt sich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen Standpunkt außerhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach diesem Standpunkte suchten fortwährend die Menschen, und Jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedanken, Begriffe, Wesen usw.; es ist der Himmel. Der Himmel ist der »Standpunkt«, von welchem aus die Erde bewegt, das irdische Treiben überschaut und – verachtet wird. Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest und auf ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich rang darnach die Menschheit.

Es hat das Christentum dahin gezielt, Uns von der Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Begierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, daß der Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin liegt nicht, daß er keine Begierden haben solle, sondern daß die Begierden ihn nicht haben sollen, daß sie nicht fix, unbezwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun das Christentum (die Religion) gegen die Begierden machinierte, könnten Wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, daß Uns der Geist (Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube usw.) bestimmen solle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geist oder die Vorstellung, die Idee Uns nicht bestimmen, nicht fix und unantastbar oder »heilig« werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller, Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen Uns nicht haben, so hieße es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll Uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, so denke man z. B. daran, daß bei so Manchem ein Gedanke zur »Maxime« wird, wodurch Er selbst in dessen Gefangenschaft gerät, so daß nicht Er die Maxime, sondern diese vielmehr Ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen »festen Standpunkt«. Die Lehren des Katechismus werden unversehens Unsere Grundsätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derselben oder der – Geist hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des »Fleisches« wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich nur durch das »Fleisch« die Tyrannei des Geistes brechen; denn nur, wenn ein Mensch auch sein Fleisch vernimmt, vernimmt er sich ganz, und nur, wenn er sich ganz vernimmt, ist er vernehmend oder vernünftig. Der Christ vernimmt den Jammer seiner geknechteten Natur nicht, sondern lebt in »Demut«; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche seiner Person widerfährt: mit der »Geistesfreiheit« glaubt er sich befriedigt. Führt aber einmal das Fleisch das Wort und ist der Ton desselben, wie es nicht anders sein kann, »leidenschaftlich«, »unanständig«, »nicht wohlmeinend«, »böswillig« usw., so glaubt er Teufelsstimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geist (denn Anstand, Leidenschaftlosigkeit, Wohlmeinung u. dergl. ist eben – Geist), und eifert mit Recht dagegen. Er müßte nicht Christ sein, wenn er sie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit, und schlägt die Sittenlosigkeit aufs Maul, er hört nur auf die Gesetzlichkeit, und knebelt das gesetzlose Wort: Der Geist der Sittlichkeit und Gesetzlichkeit hält ihn gefangen, ein starrer, unbeugsamer Herr. Das nennen sie die »Herrschaft des Geistes« –, es ist zugleich der Standpunkt des Geistes.

Und wen wollen nun die gewöhnlichen liberalen Herrn freimachen? Nach wessen Freiheit schreien und lechzen sie denn? Nach der des Geistes! Des Geistes der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Frömmigkeit, Gottesfurcht usw. Das wollen die antiliberalen Herrn auch, und der ganze Streit zwischen beiden dreht sich um den Vorteil, ob die letzteren das Wort allein haben oder die ersteren einen »Mitgenuß desselben Vorteils« erhalten sollen. Der Geist bleibt für beide der absolute Herr, und sie hadern nur darum, wer den hierarchischen Thron, der dem »Statthalter des Herrn« gebührt, einnehmen soll. Das Beste an der Sache ist, daß man dem Treiben ruhig zusehen kann mit der Gewißheit, daß die wilden Tiere der Geschichte sich ebenso zerfleischen werden, wie die der Natur; ihre verwesenden Kadaver düngen den Boden für – Unsere Früchte.

Auf manchen andern Sparren, wie den des Berufes, der Wahrhaftigkeit, der Liebe usw. kommen Wir später zurück.

Wenn das Eigene dem Eingegebenen entgegengestellt wird, so will der Einwurf nichts verschlagen, daß Wir Isoliertes nicht haben können, sondern alles im Weltzusammenhange, also durch den Eindruck des um Uns Befindlichen empfangen, mithin als ein »Eingegebenes« haben; denn es ist ein großer Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch Anderes in mir angeregt, und denen, welche Mir gegeben werden. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Menschlichkeit usw. werden Uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle eingeprägt, die kräftiger oder flauer Unser Inneres bewegen, und entweder unbewußt Uns beherrschen, oder in reicheren Naturen zu Systemen und Kunstwerken sich darlegen können, immer aber nicht angeregte, sondern eingegebene Gefühle sind, weil Wir an sie glauben und an ihnen hängen müssen. Daß ein Absolutes sei und dieses Absolute von Uns aufgenommen, gefühlt und gedacht werden müsse, stand als Glaube bei denen fest, die alle Kraft ihres Geistes darauf verwandten, es zu erkennen und darzustellen. Das Gefühl für das Absolute besteht da als ein eingegebenes und kommt fortan nur zu den mannigfaltigsten Offenbarungen seiner selbst. So war in Klopstock das religiöse Gefühl ein eingegebenes, das sich in der Messiade nur künstlerisch verkündete. Wäre hingegen die Religion, welche er vorfand, für ihn nur eine Anregung zu Gefühl und Gedanke gewesen, und hätte er sich ganz eigen dagegen zu stellen gewußt, so ergab sich statt religiöser Begeisterung eine Auflösung und Verzehrung des Objektes. Dafür setzte er im reifen Alter nur seine kindischen, in der Kindheit empfangenen Gefühle fort, und verpraßte die Kräfte seiner Mannheit in dem Aufputz seiner Kindereien.

Der Unterschied ist also der, ob Mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize Ich Mich auf, hege sie in Mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewußter oder unbewußter gemerkt, daß Unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d. h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben Uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. Hören Wir den Namen Gottes, so sollen Wir Gottesfurcht empfinden, hören Wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören Wir den der Moral, so sollen Wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören Wir von dem und den Bösen, so sollen Wir schaudern usw. Auf diese Gefühle ist's abgesehen, und wer z. B. die Taten der »Bösen« mit Wohlgefallen vernähme, der müßte durch die Zuchtrute »gezüchtigt und erzogen« werden. So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen Wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden »mündig gesprochen«. Unsere Ausrüstung besteht aus »erhebenden Gefühlen, erhabenen Gedanken, begeisternden Grundsätzen, ewigen Prinzipien« usw. Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten; man hetzt sie durch die Schule, damit sie die alte Leier lernen, und haben sie diese inne, so erklärt man sie für mündig.

Wir dürfen nicht bei jeder Sache und jedem Namen, der Uns vorkommt, fühlen, was Wir dabei fühlen möchten und könnten, dürfen z. B. bei dem Namen Gottes nichts Lächerliches denken, nichts Unehrerbietiges fühlen, sondern es ist Uns vorgeschrieben und eingegeben, was und wie Wir dabei fühlen und denken sollen.

Das ist der Sinn der Seelsorge, daß meine Seele oder mein Geist gestimmt sei, wie Andere es recht finden, nicht wie Ich selbst möchte. Wie viele Mühe kostet es Einem nicht, wenigstens bei dem und jenem Namen endlich sich ein eigenes Gefühl zu sichern und Manchem ins Gesicht zu lachen, der von Uns bei seinen Reden ein heiliges Gesicht und eine unverzogene Miene erwartet. Das Eingegebene ist Uns fremd, ist Uns nicht eigen, und darum ist es »heilig«, und es hält schwer, die »heilige Scheu davor« abzulegen.

Heutigen Tages hört man auch wieder den »Ernst« anpreisen, den »Ernst bei hochwichtigen Gegenständen und Verhandlungen«, den »deutschen Ernst« usw. Diese Art der Ernsthaftigkeit spricht deutlich aus, wie alt und ernstlich schon die Narrheit und Besessenheit geworden ist. Denn es gibt nichts Ernsthafteres als den Narren, wenn er auf den Kernpunkt seiner Narrheit kommt: da versteht er vor großem Eifer keinen Spaß mehr. (Siehe Tollhäuser.)

§3. Die Hierarchie

Die geschichtliche Reflexion über Unser Mongolentum, welche Ich an dieser Stelle episodisch einlegen will, gebe Ich nicht mit dem Anspruche auf Gründlichkeit oder auch nur auf Bewährtheit, sondern lediglich darum, weil Mich dünkt, sie könne zur Verdeutlichung des Übrigen beitragen.

Die Weltgeschichte, deren Gestaltung eigentlich ganz dem kaukasischen Menschenstamm angehört, scheint bis jetzt zwei kaukasische Weltalter durchlaufen zu haben, in deren erstem Wir Unsere angeborne Negerhaftigkeit aus- und abzuarbeiten hatten, worauf im zweiten die Mongolenhaftigkeit (das Chinesentum) folgte, dem gleichfalls endlich ein Ende mit Schrecken gemacht werden muß. Die Negerhaftigkeit stellt dar das Altertum, die Zeit der Abhängigkeit von den Dingen (vom Hahnenfraß, Vögelflug, vom Niesen, von Donner und Blitz, vom Rauschen heiliger Bäume usw.); die Mongolenhaftigkeit die Zeit der Abhängigkeit von Gedanken, die christliche. Der Zukunft sind die Worte vorbehalten: Ich bin Eigner der Welt der Dinge, und Ich bin Eigner der Welt des Geistes.

Ins negerhafte Weltalter fallen die Züge des Sesostris und die Bedeutsamkeit Ägyptens und Nordafrikas überhaupt. Dem mongolenhaften Weltalter gehören die Hunnen- und Mongolenzüge an, bis herauf zu den Russen.

Der Wert Meiner kann unmöglich hoch angeschlagen werden, solange der harte Demant des NichtIch so gewaltig im Preise steht, wie dies sowohl mit dem Gotte als mit der Welt der Fall war. Das Nicht-Ich ist noch zu körnig und unbezwinglich, um von mir verzehrt und absorbiert zu werden; vielmehr kriechen die Menschen nur auf diesem Unbeweglichen, d. h. auf dieser Substanz mit außerordentlicher Geschäftigkeit herum, wie Schmarotzertierchen auf einem Leibe, von dessen Säften sie Nahrung ziehen, ohne ihn darum aufzuzehren. Es ist die Geschäftigkeit des Ungeziefers, die Betriebsamkeit der Mongolen. Bei den Chinesen bleibt ja Alles beim Alten, und nichts »Wesentliches« oder »Substanzielles« unterliegt einer Veränderung; desto rühriger arbeiten sie an dem Bleibenden, welches den Namen des »Alten«, der »Vorfahren« usw. führt, herum.

Sonach ist in unserem mongolischen Weltalter alle Veränderung nur eine reformatorische oder ausbessernde, keine destruktive oder verzehrende und vernichtende gewesen. Die Substanz, das Objekt bleibt. All unsere Betriebsamkeit war nur Ameisentätigkeit und Flohsprung, Jongleurkünste auf dem unbeweglichen Seile des Objektiven, Frondienst unter der Herrschaft des Unveränderlichen oder »Ewigen«. Die Chinesen sind wohl das positivste Volk, weil ganz in Satzungen vergraben; aus dem Positiven ist aber auch das christliche Weltalter nicht herausgekommen, d. h. aus der »beschränkten Freiheit«, der Freiheit »innerhalb gewisser Schranken«. Auf der vorgeschrittensten Bildungsstufe verdient diese Tätigkeit den Namen der wissenschaftlichen, des Arbeitens auf einer unbewegten Voraussetzung, einer unumstößlichen Hypothese.

In ihrer ersten und unverständlichsten Form gibt sich die Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach seines Landes Sitte und Gewohnheit handeln – heißt da sittlich sein. Darum wird ein reines sittliches Handeln, eine lautere, unverfälschte Sittlichkeit am schlichtesten in China geübt: man bleibt bei der alten Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung ist der Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlichkeit. Es unterliegt auch in der Tat keinem Zweifel, daß der Mensch sich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit der Dinge, der Welt, sichert und eine eigene Welt gründet, in welcher er allein heimisch und zu Hause ist, d. h. sich einen Himmel erbaut. Hat ja doch der »Himmel« keinen andern Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimat des Menschen sei, worin ihn nichts Fremdes mehr bestimmt und beherrscht, kein Einfluß des Irdischen mehr ihn selbst entfremdet, kurz worin die Schlacken des Irdischen abgeworfen sind und der Kampf gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm also nichts mehr versagt ist. Der Himmel ist das Ende der Entsagung, er ist der freie Genuß. Dort versagt sich der Mensch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich ist. Nun ist aber die Gewohnheit eine »andere Natur«, welche den Menschen von seiner ersten und ursprünglichen Natürlichkeit ablöst und befreit, indem sie ihn gegen jede Zufälligkeit derselben sichert. Die ausgebildete Gewohnheit der Chinesen hat für alle Vorfälle gesorgt, und für Alles ist »vorgesehen«; was auch kommen mag, es weiß der Chinese immer, wie er sich zu verhalten hat, und er braucht sich nicht erst nach den Umständen zu bestimmen: aus dem Himmel seiner Ruhe stürzt ihn kein unvorhergesehener Fall. Der sittlich eingewohnte und eingelebte Chinese wird nicht überrascht und überrumpelt: er verhält sich gegen Alles gleichmütig, d. h. mit gleichem Mute oder Gemüte, weil sein Gemüt, durch die Vorsicht seiner althergebrachten Sitte geschützt, nicht außer Fassung kommt. Auf der Stufenleiter der Bildung oder Kultur besteigt die Menschheit mithin durch die Gewohnheit die erste Sprosse, und da sie sich vorstellt, im Erklimmen der Kultur zugleich den Himmel, das Reich der Kultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, so besteigt sie wirklich die erste Sprosse der – Himmelsleiter.

Hat das Mongolentum das Dasein geistiger Wesen festgestellt, eine Geisterwelt, einen Himmel geschaffen, so haben die Kaukasier Jahrtausende mit diesen geistigen Wesen gerungen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was taten sie also anders, als daß sie auf mongolischem Grund bauten? Sie haben nicht auf Sand, sondern in der Luft gebaut, haben mit dem Mongolischen gerungen, den mongolischen Himmel, den Thiän, gestürmt. Wann werden sie diesen Himmel endlich vernichten? Wann werden sie endlich wirkliche Kaukasier werden und sich selber finden? Wann wird die »Unsterblichkeit der Seele«, die sich in letzterer Zeit noch mehr zu sichern glaubte, wenn sie sich als »Unsterblichkeit des Geistes« präsentierte, endlich in die Sterblichkeit des Geistes umschlagen?

Im industriösen Ringen der mongolischen Rasse hatten die Menschen einen Himmel erbaut, als die vom kaukasischen Menschenstamme, solange sie in ihrer mongolischen Färbung es mit dem Himmel zu tun haben, die entgegengesetzte Aufgabe, die Aufgabe, jenen Himmel der Sitte zu stürmen, die himmelstürmende Tätigkeit übernahmen. Alle Menschensatzung zu unterwühlen, um über dem aufgeräumten Bauplatz eine neue und – bessere zu schaffen, alle Sitte zu verderben, um immer neue und – bessere Sitten an die Stelle derselben zu setzen usw., darauf beschränkt sich ihre Tat. Ist sie so aber schon rein und wirklich das, was sie zu sein trachtet, und erreicht sie ihr letztes Absehen? Nein, sie ist in diesem Erschaffen eines »Besseren« mit dem Mongolentum behaftet. Sie stürmt den Himmel nur, um wieder einen Himmel zu machen, sie stürzt eine alte Gewalt nur, um eine neue Gewalt zu legitimieren, sie – verbessert nur. Gleichwohl ist der Zielpunkt, sooft er auch bei jedem neuen Ansatz aus den Augen verschwinden mag, der wirkliche, vollendete Sturz des Himmels, der Sitte usw., kurz des nur gegen die Welt gesicherten Menschen, der Isolierung oder Innerlichkeit des Menschen. Durch den Himmel der Kultur sucht sich der Mensch von der Welt zu isolieren, ihre feindselige Macht zu brechen. Diese Himmelsisolierung muß aber gleichfalls gebrochen werden, und das wahre Ende des Himmelstürmens ist der – Himmelssturz, die Himmelsvernichtung. Das Verbessern und Reformirren ist das Mongolentum des Kaukasiers, weil er dadurch von neuem wieder setzt, was vorher schon war, nämlich eine Satzung, ein Allgemeines, einen Himmel. Er hegt die unversöhnlichste Feindschaft gegen den Himmel und baut doch täglich neue Himmel: Himmel auf Himmel türmend erdrückt er nur einen durch den andern, der Himmel der Juden zerstört den der Griechen, der der Christen den der Juden, der der Protestanten den der Katholiken usw. – Streifen die himmelstürmenden Menschen des kaukasischen Blutes ihre Mongolenhaut ab, so werden sie den Gemütsmenschen unter dem Schutt der ungeheuren Gemütswelt begraben, den isolierten Menschen unter seiner isolierten Welt, den Verhimmelnden unter seinem Himmel. Und der Himmel ist das Geisterreich, das Reich der Geistesfreiheit.

Das Himmelreich, das Reich der Geister und Gespenster, hat in der spekulativen Philosophie seine rechte Ordnung gefunden. Hier wurde es ausgesprochen als das Reich der Gedanken, Begriffe und Ideen: der Himmel ist von Gedanken und Ideen bevölkert, und dies »Geisterreich« ist dann die wahre Wirklichkeit.

Dem Geiste Freiheit erwerben wollen, das ist Mongolentum, Geistesfreiheit ist mongolische Freiheit, Gemütsfreiheit, moralische, sittliche Freiheit usw.

Man nimmt das Wort »Sittlichkeit« wohl für gleichbedeutend mit Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung. Allein das liegt nicht darin, und es hat sich der Kaukasier vielmehr nur selbsttätig bewiesen trotz seiner mongolischen Sittlichkeit. Der mongolische Himmel oder die Sitte blieb die feste Burg, und nur dadurch, daß der Kaukasier unaufhörlich gegen diese Burg anstürmte, bewies er sich sittlich; hätte er's gar nicht mehr mit der Sitte zu tun gehabt, hätte er nicht an ihr seinen unbezwinglichen, fortwährenden Feind gehabt, so hörte die Beziehung zur Sitte auf, mithin die Sittlichkeit. Daß also seine Selbsttätigkeit noch eine sittliche ist, das ist eben das Mongolenhafte an ihr, ist ein Zeichen, daß er in derselben nicht zu sich selbst gekommen. Die »sittliche Selbsttätigkeit« entspricht ganz der »religiösen und rechtgläubigen Philosophie«, der »konstitutionellen Monarchie«, dem »christlichen Staate«, der »Freiheit in gewissen Schranken«, der »beschränkten Preßfreiheit«, oder in einem Bilde dem ans Krankenlager gefesselten Helden.

Erst dann hat der Mensch das Schamanentum und seinen Spuk wirklich überwunden, wenn er nicht bloß den Gespensterglauben, sondern auch den Glauben an den Geist abzulegen die Kraft besitzt, nicht bloß den Geisterglauben, sondern auch den Geistesglauben.

Wer an einen Spuk glaubt, nimmt nicht mehr das »Hereinragen einer höhern Welt« an, als wer an den Geist glaubt, und beide suchen hinter der sinnlichen Welt eine übersinnliche, kurz sie erzeugen und glauben eine andere Welt, und diese andere Welt, das Erzeugnis ihres Geistes, ist eine geistige Welt: ihre Sinne fassen und wissen ja nichts von einer anderen, unsinnlichen Welt, nur ihr Geist lebt darin. Der Fortgang von diesem mongolischen Glauben an das Dasein geistiger Wesen dahin, daß auch des Menschen eigentliches Wesen sein Geist sei, und daß auf diesen allein, auf sein »Seelenheil« alle Sorgfalt gerichtet werden müsse, ist nicht schwer. Damit wird die Einwirkung auf den Geist, der sogenannte »moralische Einfluß« gesichert.

Es springt daher in die Augen, daß das Mongolentum die vollkommene Rechtlosigkeit der Sinnlichkeit, die Unsinnlichkeit und Unnatur repräsentiere, und daß die Sünde und das Sündbewußtsein unsere Jahrtausende lange mongolische Plage war.

Wer aber wird auch den Geist in sein Nichts auflösen? Er, der mittelst des Geistes die Natur als das Nichtige, Endliche, Vergängliche darstellte, er kann allein auch den Geist zu gleicher Nichtigkeit herabsetzen: Ich kann es, es kann es Jeder unter Euch, der als unumschränktes Ich waltet und schafft, es kann's mit einem Worte der – Egoist.

Vor dem Heiligen verliert man alles Machtgefühl und allen Mut: man verhält sich gegen dasselbe ohnmächtig und demütig. Und doch ist kein Ding durch sich heilig, sondern durch Meine Heiligsprechung, durch Meinen Spruch, Mein Urteil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein – Gewissen.

Heilig ist Alles, was dem Egoisten unnahbar sein soll, unberührbar, außerhalb seiner Gewalt, d. h. über ihm: heilig mit Einem Worte jede – Gewissenssache, denn »dies ist Mir eine Gewissenssache« heißt eben: »dies halte Ich heilig«.

Für kleine Kinder, wie für Tiere, existiert nichts Heiliges, weil man, um dieser Vorstellung Raum zu geben, schon so weit zu Verstand gekommen sein muß, daß man Unterschiede wie: »gut und böse, berechtigt und unberechtigt« usw. machen kann; nur bei solchem Grade der Reflexion oder Verständigkeit – dem eigentlichen Standpunkte der Religion – kann an die Stelle der natürlichen Furcht die unnatürliche (d. h. erst durch Denken hervorgebrachte) Ehrfurcht treten, die »heilige Scheu«. Es gehört dazu, daß man etwas außer sich für mächtiger, größer, berechtigter, besser usw. hält, d. h. daß man die Macht eines Fremden anerkennt, also nicht bloß fühlt, sondern ausdrücklich anerkennt, d. h. einräumt, weicht, sich gefangen gibt, sich binden läßt (Hingebung, Demut, Unterwürfigkeit, Untertänigkeit usw.). Hier spukt die ganze Gespensterschar der »christlichen Tugenden«.

Alles, wovor Ihr einen Respekt oder eine Ehrfurcht hegt, verdient den Namen eines Heiligen; auch sagt Ihr selbst, Ihr trüget eine »heilige Scheu«, es anzutasten. Und selbst dem Unheiligen gebt Ihr diese Farbe (Galgen, Verbrechen usw.). Es graut Euch vor der Berührung desselben. Es liegt etwas Unheimliches, d. h. Unheimisches oder Uneigenes darin.

»Gälte dem Menschen nicht irgend etwas als heilig, so wäre ja der Willkür, der schrankenlosen Subjektivität Tür und Tor geöffnet!« Furcht macht den Anfang, und dem rohsten Menschen kann man sich fürchterlich machen; also schon ein Damm gegen seine Frechheit. Allein in der Furcht bleibt immer noch der Versuch, sich vom Gefürchteten zu befreien durch List, Betrug, Pfiffe usw. Dagegen ist's in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloß gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. Ich und das Gefürchtete sind Eins: »nicht Ich lebe, sondern das Respektierte lebt in Mir!« Weil der Geist, das Unendliche, kein Ende nehmen läßt, darum ist er stationär: er fürchtet das Sterben, er kann von seinem Jesulein nicht lassen, die Größe der Endlichkeit wird von seinem geblendeten Auge nicht mehr erkannt: das nun zur Verehrung gesteigerte Gefürchtete darf nicht mehr angetastet werden: die Ehrfurcht wird verewigt, das Respektierte wird vergöttert. Der Mensch ist nun nicht mehr schaffend, sondern lernend (wissend, forschend usw.), d. h. beschäftigt mit einem festen Gegenstande, sich vertiefend in ihn, ohne Rückkehr zu sich selber. Das Verhältnis zu diesem Gegenstande ist das des Wissens, des Ergründens und Begründens usw., nicht das des Auflösens (Abschaffens usw.). »Religiös soll der Mensch sein«, das steht fest; daher beschäftigt man sich nur mit der Frage, wie dies zu erreichen, welches der rechte Sinn der Religiosität usw. Ganz anders, wenn man das Axiom selbst fraglich macht und in Zweifel zieht, und sollte es auch über den Haufen stürzen. Sittlichkeit ist auch solch eine heilige Vorstellung: sittlich müsse man sein, und müsse nur das rechte Wie, die rechte Art es zu sein, aufsuchen. An die Sittlichkeit selbst wagt man sich nicht mit der Frage, ob sie nicht selbst ein Truggebilde sei: sie bleibt über allem Zweifel erhaben, unwandelbar. Und so geht es fort mit dem Heiligen, Stufe für Stufe, vom »Heiligen« bis zum »Hochheiligen«.

Man teilt mitunter die Menschen in zwei Klassen, in Gebildete und Ungebildete. Die ersteren beschäftigten sich, soweit sie ihres Namens würdig waren, mit Gedanken, mit dem Geiste, und forderten, weil sie in der nachchristlichen Zeit, deren Prinzip eben der Gedanke ist, die Herrschenden waren, für die von ihnen anerkannten Gedanken einen unterwürfigen Respekt. Staat, Kaiser, Kirche, Gott, Sittlichkeit, Ordnung usw. sind solche Gedanken oder Geister, die nur für den Geist sind. Ein bloß lebendiges Wesen, ein Tier, kümmert sich um sie so wenig als ein Kind. Allein die Ungebildeten sind wirklich nichts als Kinder, und wer nur seinen Lebensbedürfnissen nachhängt, ist gleichgültig gegen jene Geister; weil er aber auch schwach gegen dieselben ist, so unterliegt er ihrer Macht, und wird beherrscht von – Gedanken. Dies ist der Sinn der Hierarchie.

Hierarchie ist Gedankenherrschaft, Herrschaft des Geistes!

Hierarchisch sind Wir bis auf den heutigen Tag, unterdrückt von denen, welche sich auf Gedanken stützen. Gedanken sind das Heilige.

Immer aber stoßen Beide aneinander, der Gebildete an den Ungebildeten, wie umgekehrt, und zwar nicht bloß im Anrennen zweier Menschen, sondern in ein und demselben Menschen. Denn kein Gebildeter ist so gebildet, daß er nicht auch an den Dingen Freude fände, mithin ungebildet wäre, und kein Ungebildeter ist ganz ohne Gedanken. Bei Hegel kommt endlich zu Tage, welche Sehnsucht gerade der Gebildetste nach den Dingen hat, und welchen Abscheu er vor jeder »hohlen Theorie« hegt. Da soll dem Gedanken ganz und gar die Wirklichkeit, die Welt der Dinge, entsprechen und kein Begriff ohne Realität sein. Dies verschaffte Hegels System den Namen des objektivsten, als feierten darin Gedanke und Ding ihre Vereinigung. Aber es war dies eben nur die äußerste Gewaltsamkeit des Denkens, die höchste Despotie und Alleinherrschaft desselben, der Triumph des Geistes, und mit ihm der Triumph der Philosophie. Höheres kann die Philosophie nicht mehr leisten, denn ihr Höchstes ist die Allgewalt des Geistes, die Allmacht des Geistes.

Die geistlichen Menschen haben sich Etwas in den Kopf gesetzt, was realisiert werden soll. Sie haben Begriffe von Liebe, Güte u. dergl., die sie verwirklicht sehen möchten; darum wollen sie ein Reich der Liebe auf Erden errichten, worin Keiner mehr aus Eigennutz, sondern Jeder »aus Liebe« handelt. Die Liebe soll herrschen. Was sie sich in den Kopf gesetzt haben, wie soll man das anders nennen, als – fixe Idee? Es »spukt ja in ihrem Kopfe«. Der beklemmendste Spuk ist der Mensch. Man denke des Sprichwortes: »Der Weg zum Verderben ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« Der Vorsatz, die Menschlichkeit ganz in sich zu verwirklichen, ganz Mensch zu werden, ist von so verderblicher Art; dahin gehören die Vorsätze, gut, edel, liebevoll usw. zu werden.

In dem sechsten Hefte der Denkwürdigkeiten S. 7 sagt Br. Bauer: »Jene Bürgerklasse, die für die neuere Geschichte ein so furchtbares Gewicht erhalten sollte, ist keiner aufopfernden Handlung, keiner Begeisterung für eine Idee, keiner Erhebung fähig: sie gibt sich für nichts hin, als für das Interesse ihrer Mittelmäßigkeit, d. h. sie bleibt immer auf sich selbst beschränkt und siegt endlich nur durch ihre Massenhaftigkeit, mit welcher sie die Anstrengungen der Leidenschaft, der Begeisterung, der Konsequenz zu ermüden wußte, durch ihre Oberfläche, in welche sie einen Teil der neuen Ideen einsaugt.« Und S. 6: »Sie hat die revolutionären Ideen, für welche nicht sie, sondern uneigennützige oder leidenschaftliche Männer sich aufopferten, sich allein zu Gute kommen lassen, den Geist in Geld verwandelt. – Freilich nachdem sie jenen Ideen die Spitze, die Konsequenz, den zerstörenden und gegen allen Egoismus fanatischen Ernst genommen hatte.« Diese Leute sind also nicht aufopfernd, nicht begeistert, nicht ideal, nicht konsequent, keine Enthusiasten; sie sind im gewöhnlichen Verstande Egoisten, Eigennützige, auf ihren Vorteil bedacht, nüchtern, berechnend usw.

Wer ist denn »aufopfernd«? Vollständig doch wohl derjenige, der an Eins, Einen Zweck, Einen Willen, Eine Leidenschaft usw. alles Andere setzt. Ist der Liebende, der Vater und Mutter verläßt, der alle Gefahren und Entbehrungen besteht, um zu seinem Ziele zu kommen, nicht aufopfernd? Oder der Ehrgeizige, der alle Begierden, Wünsche und Befriedigungen der einzigen Leidenschaft darbringt, oder der Geizige, der sich Alles versagt, um Schätze zu sammeln, oder der Vergnügungssüchtige usw.? Ihn beherrscht eine Leidenschaft, der er die übrigen zum Opfer bringt.

Und sind diese Aufopfernden etwa nicht eigennützig, nicht Egoisten? Da sie nur Eine herrschende Leidenschaft haben, sorgen sie auch nur für Eine Befriedigung, aber für diese um desto eifriger: sie gehen in ihr auf. Egoistisch ist ihr ganzes Tun und Treiben, aber es ist ein einseitiger, unaufgeschlossener, bornierter Egoismus: es ist Besessenheit.

»Das sind ja kleinliche Leidenschaften, von denen sich im Gegenteil der Mensch nicht knechten lassen soll. Für eine große Idee, eine große Sache muß der Mensch Opfer bringen!« Eine »große Idee«, eine »gute Sache« ist etwa die Ehre Gottes, für die Unzählige in den Tod gingen, das Christentum, das seine bereitwilligen Märtyrer gefunden hat, die alleinseligmachende Kirche, die sich Ketzeropfer gierig gelangt hat; die Freiheit und Gleichheit, der blutige Guillotinen zu Diensten standen.

Wer für eine große Idee, eine gute Sache, eine Lehre, ein System, einen erhabenen Beruf lebt, der darf kein weltliches Gelüste, kein selbstsüchtiges Interesse in sich aufkommen lassen. Hier haben Wir den Begriff des Pfaffentums, oder wie es in seiner pädagogischen Wirksamkeit auch genannt werden kann, der Schulmeisterlichkeit; denn die Idealen schulmeistern Uns. Der Geistliche ist recht eigentlich berufen, der Idee zu leben und für die Idee, die wahrhaft gute Sache, zu wirken. Deshalb fühlt das Volk, wie wenig es ihm anstehe, einen weltlichen Hochmut zu zeigen, ein Wohlleben zu begehren, Vergnügen, wie Tanz und Spiel, mitzumachen, kurz ein anderes als ein »heiliges Interesse« zu haben. Daher schreibt sich wohl auch die dürftige Besoldung der Lehrer, die sich allein durch die Heiligkeit ihres Berufes belohnt fühlen und sonstigen Genüssen »entsagen« sollen.

Auch an einer Rangliste der heiligen Ideen, deren eine oder mehrere der Mensch als seinen Beruf ansehen soll, fehlt es nicht. Familie, Vaterland, Wissenschaft u. dergl. kann an Mir einen berufstreuen Diener finden.

Da stoßen Wir auf den uralten Wahn der Welt, die des Pfaffentums noch nicht entraten gelernt hat. Für eine Idee leben und schaffen, das sei der Beruf des Menschen, und nach der Treue seiner Erfüllung messe sich sein menschlicher Wert.

Dies ist die Herrschaft der Idee oder das Pfaffentum. Robespierre z. B., St. Just usw. waren durch und durch Pfaffen, begeistert von der Idee, Enthusiasten, konsequente Rüstzeuge dieser Idee, ideale Menschen. So ruft St. Just in einer Rede aus: »Es gibt etwas Schreckliches in der heiligen Liebe zum Vaterlande; sie ist so ausschließend, daß sie Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menschliche Beachtung dem öffentlichen Interesse opfert. Sie stürzt Manlius in den Abgrund; sie opfert ihre Privatneigungen; sie führt Regulus nach Karthago, wirft einen Römer in den Schlund, und setzt Marat als Opfer seiner Hingebung, ins Pantheon.«

Diesen Vertretern idealer oder heiliger Interessen steht nun eine Welt zahlloser »persönlicher« profaner Interessen gegenüber. Keine Idee, kein System, keine heilige Sache ist so groß, daß sie nie von diesen persönlichen Interessen überboten und modifiziert werden sollte. Wenn sie auch augenblicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus schweigen, so kommen sie doch durch »den gesunden Sinn des Volkes« bald wieder obenauf. Jene Ideen siegen erst dann vollkommen, wenn sie nicht mehr gegen die persönlichen Interessen feindlich sind, d. h. wenn sie den Egoismus befriedigen.

Der Mann, der eben vor meinem Fenster Bücklinge zum Verkauf ausruft, hat ein persönliches Interesse an gutem Absatz, und wenn sein Weib oder wer sonst ihm desgleichen wünschen, so bleibt dies gleichwohl ein persönliches Interesse. Entwendete ihm hingegen ein Dieb seinen Korb, so entstünde sogleich ein Interesse Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebstahl verabscheuen: ein Interesse, wobei die Person des Bücklinghändlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie des »Bestohlenen« in den Vordergrund träte. Aber auch hier könnte noch alles auf ein persönliches Interesse hinauslaufen, indem jeder Teilnehmende bedächte, daß er der Bestrafung des Diebes deshalb beitreten müsse, weil sonst das straflose Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige bringen könnte. Eine solche Berechnung läßt sich indes schwerlich bei Vielen voraussetzen, und man wird vielmehr den Ausruf hören: der Dieb sei ein »Verbrecher«. Da haben Wir ein Urteil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren Ausdruck erhält in dem Begriffe »Verbrechen«. Nun stellt sich die Sache so: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir, noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Anteil nehme, den geringsten Schaden brächte, so würde Ich dennoch gegen dasselbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit begeistert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr feindlich ist, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebstahl ohne alle Frage für verabscheuungswürdig gilt, darum glaubt z. B. Proudhon schon mit dem Satze: »Das Eigentum ist ein Diebstahl« dieses gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffischen ist er allemal ein Verbrechen oder mindestens Vergehen.

Hier hat das persönliche Interesse ein Ende. Diese bestimmte Person, die den Korb gestohlen hat, ist meiner Person völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, diesem Begriffe, von welchem jene Person ein Exemplar darstellt, nehme Ich ein Interesse. Der Dieb und der Mensch sind in meinem Geiste unversöhnliche Gegensätze; denn man ist nicht wahrhaft Mensch, wenn man Dieb ist; man entwürdigt in sich den Menschen, oder die »Menschheit«, wenn man stiehlt. Aus dem persönlichen Anteil herausfallend, gerät man in den Philanthropismus, die Menschenfreundlichkeit, die gewöhnlich so mißverstanden wird, als sei sie eine Liebe zu den Menschen, zu jedem Einzelnen, während sie nichts als eine Liebe des Menschen, des unwirklichen Begriffs, des Spuks ist. Nicht τούς ανθρώπους, die Menschen, sondern τὸν άνθρωπον, den Menschen, schließt der Philanthrop in sein Herz. Allerdings bekümmert er sich um jeden Einzelnen, aber nur deswegen, weil er sein geliebtes Ideal überall verwirklicht sehen möchte.

Also von der Sorge um Mich, Dich, Uns ist hier keine Rede: das wäre persönliches Interesse und gehört in das Kapitel von der »weltlichen Liebe«. Der Philanthropismus ist eine himmlische, geistige, eine – pfäffische Liebe. Der Mensch muß in Uns hergestellt werden, und gingen Wir armen Teufel darüber auch zu Grunde. Es ist derselbe pfäffische Grundsatz wie jenes berühmte fiat justitia, pereat mundus: Mensch und Gerechtigkeit sind Ideen, Gespenster, denen zu Liebe alles geopfert wird: darum sind die pfäffischen Geister die »aufopfernden«.

Wer für den Menschen schwärmt, der läßt, soweit jene Schwärmerei sich erstreckt, die Personen außer Acht und schwimmt in einem idealen, heiligen Interesse. Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk.

Zu dem Menschen kann nun das Allerverschiedenste gehören und gerechnet werden. Findet man das Haupterfordernis desselben in der Frömmigkeit, so entsteht das religiöse Pfaffentum; sieht man's in der Sittlichkeit, so erhebt das sittliche Pfaffentum sein Haupt. Die pfäffischen Geister unserer Tage möchten deshalb aus Allem eine »Religion« machen; eine »Religion der Freiheit, Religion der Gleichheit usw.«, und alle Ideen werden ihnen zu einer »heiligen Sache«, z. B. selbst das Staatsbürgertum, die Politik, die Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Schwurgericht usw.

Was heißt nun in diesem Sinne »Uneigennützigkeit«? Nur ein ideales Interesse haben, vor welchem kein Ansehen der Person gilt!

Dem widersetzt sich der starre Kopf des weltlichen Menschen, ist aber Jahrtausende lang immer soweit wenigstens erlegen, daß er den widerspenstigen Nacken beugen und »die höhere Macht verehren« mußte: das Pfaffentum drückte ihn nieder. Hatte der weltliche Egoist Eine höhere Macht abgeschüttelt, z. B. das Alttestamentliche Gesetz, den römischen Papst usw., so war gleich eine siebenfach höhere wieder über ihm, z. B. der Glaube an der Stelle des Gesetzes, die Umwandlung aller Laien in Geistliche an Stelle des beschränkten Clerus usw. Es ging ihm wie dem Besessenen, in den sieben Teufel fuhren, als er von dem einen sich befreit zu haben glaubte.

In der oben angeführten Stelle wird der Bürgerklasse alle Idealität usw. abgesprochen. Sie machinierte allerdings gegen die ideale Konsequenz, mit welcher Robespierre das Prinzip ausführen wollte. Der Instinkt ihres Interesses sagte ihr, daß diese Konsequenz mit dem, wonach ihr der Sinn stände, zu wenig harmoniere, und daß es gegen sich selbst handeln hieße, wollte sie der prinzipiellen Begeisterung Vorschub leisten. Sollte sie etwa sich so uneigennützig benehmen, alle ihre Zwecke fahren zu lassen, um eine herbe Theorie zum Triumphe zu führen? Es sagt das freilich den Pfaffen trefflich zu, wenn die Leute ihrem Aufrufe Gehör geben: »Wirf alles von Dir und folge mir nach,« oder: »Verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« Einige entschiedene Idealisten gehorchen diesem Rufe; die Meisten hingegen handeln wie Ananias und Sapphira, indem sie halb pfäffisch oder religiös und halb weltlich sich betragen, Gott und dem Mammon dienen.

Ich verdenke es der Bürgerklasse nicht, daß sie sich durch Robespierre nicht um ihre Zwecke bringen lassen mochte, d. h. daß sie bei ihrem Egoismus anfragte, wie weit sie den revolutionären Idee Raum geben dürfe. Aber denen könnte man's verdenken (wenn überhaupt ein Verdenken hier angebracht wäre), die durch die Interessen der Bürgerklasse sich um ihre eigenen bringen ließen. Indes werden sie sich nicht über kurz oder lang gleichfalls auf ihren Vorteil verstehen lernen? August Becker sagt: »Die Produzenten (Proletarier) zu gewinnen, genügt eine Negation der hergebrachten Rechtsbegriffe keineswegs. Die Leute kümmern sich leider wenig um den theoretischen Sieg der Idee. Man muß ihnen ad oculos demonstrieren, wie dieser Sieg praktisch fürs Leben benutzt werden könne.« Und S. 32: »Ihr müßt die Leute bei ihren wirklichen Interessen anpacken, wenn Ihr auf sie wirken wollt.« Gleich darauf zeigt er, wie unter unsern Bauern schon eine recht artige Sittenlosigkeit um sich greift, weil sie ihr wirkliches Interesse lieber verfolgen, als die Gebote der Sittlichkeit.

Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeister dem Menschen dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab. Die revolutionären Laien oder Profanen trugen nicht etwa eine größere Scheu vor dem Halsabschneiden, waren aber weniger um die Menschenrechte, d. h. die Rechte des Menschen besorgt, als um die ihrigen.

Wie kommt es indessen, daß der Egoismus derer, welche das persönliche Interesse behaupten und bei ihm alle Zeit anfragen, dennoch immer wieder einem pfäffischen oder schulmeisterlichen, d. h. einem idealen Interesse unterliegt? Ihre Person kommt ihnen selbst zu klein, zu unbedeutend vor, und ist es in der Tat auch, um Alles in Anspruch zu nehmen und sich vollständig durchsetzen zu können. Ein sicheres Zeichen dafür liegt darin, daß sie sich selbst in zwei Personen, eine ewige und eine zeitliche, zerteilen, und jedesmal nur entweder für die eine oder für die andere sorgen, am Sonntage für die ewige, am Werkeltage für die zeitliche, im Gebet für jene, in der Arbeit für diese. Sie haben den Pfaffen in sich, darum werden sie ihn nicht los, und hören sich sonntäglich in ihrem Innern abgekanzelt.

Wie haben die Menschen gerungen und gerechnet, um diese dualistischen Wesen zu ermitteln. Idee folgte auf Idee, Prinzip auf Prinzip, System auf System, und keines wußte den Widerspruch des »weltlichen« Menschen, des sogenannten »Egoisten« auf die Dauer niederzuhalten. Beweist dies nicht, daß alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen ganzen Willen in sich aufzunehmen und ihm genugzutun? Sie waren und blieben Mir feindlich, wenn auch die Feindschaft längere Zeit verhüllt lag. Wird es mit der Eigenheit ebenso sein? Ist auch sie nur ein Vermittlungsversuch? Zu welchem Prinzipe Ich Mich wendete, wie etwa zu dem der Vernunft, Ich mußte mich immer wieder von ihm abwenden. Oder kann Ich immer vernünftig sein, in Allem Mein Leben nach der Vernunft einrichten? Nach der Vernünftigkeit streben kann Ich wohl, Ich kann sie lieben, wie eben Gott und jede andere Idee auch: Ich kann Philosoph sein, ein Liebhaber der Weisheit, wie Ich Gott lieb habe. Aber was Ich liebe, wonach Ich strebe, das ist nur in Meiner Idee, Meiner Vorstellung, Meinen Gedanken: es ist in Meinem Herzen, Meinem Kopfe, es ist in Mir wie das Herz, aber es ist nicht Ich, Ich bin es nicht.

Zur Wirksamkeit pfäffischer Geister gehört besonders das, was man häufig »moralischen Einfluß« nennen hört.

Der moralische Einfluß nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab. Wenn Ich Jemand zurufe, bei Sprengung eines Felsens aus dessen Nähe zu gehen, so übe Ich keinen moralischen Einfluß durch diese Zumutung; wenn Ich dem Kinde sage, Du wirst hungern, willst Du nicht essen, was aufgetischt wird, so ist dies kein moralischer Einfluß. Sage Ich ihm aber: Du wirst beten, die Eltern ehren, das Kruzifix respektieren, die Wahrheit reden usw., denn dies gehört zum Menschen und ist der Beruf des Menschen, oder gar, dies ist Gottes Wille, so ist der moralische Einfluß fertig: ein Mensch soll sich da beugen vor dem Beruf des Menschen, soll folgsam sein, demütig werden, soll seinen Willen aufgeben gegen einen fremden, der als Regel und Gesetz aufgestellt wird; er soll sich erniedrigen vor einem Höheren: Selbsterniedrigung. »Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden.« Ja, ja, die Kinder müssen bei Zeiten zur Frömmigkeit, Gottseligkeit und Ehrbarkeit angehalten werden; ein Mensch von guter Erziehung ist Einer, dem »gute Grundsätze« beigebracht und eingeprägt, eingetrichtert, eingebläut und eingepredigt worden sind.

Zuckt man hierüber die Achseln, gleich ringen die Guten verzweiflungsvoll die Hände und rufen: »Aber um's Himmels willen, wenn man den Kindern keine guten Lehren geben soll, so laufen sie ja gerades Weges der Sünde in den Rachen, und werden nichtsnutzige Rangen!« Gemach, Ihr Unheilspropheten. Nichtsnutzige in eurem Sinne werden sie allerdings werden; aber Euer Sinn ist eben ein sehr nichtsnutziger Sinn. Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d. h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde. Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchsten – so werden sie antworten: Wenn er Uns beugen will, so komme er selbst und tue es; Wir wenigstens wollen Uns nicht von freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit seinem Zorn und seinen Strafen droht, so werden sie's nehmen, wie ein Drohen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen Gespensterfurcht einzujagen, so ist die Herrschaft der Gespenster zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen – Glauben.

Und sind es nicht gerade wieder die Liberalen, die auf eine gute Erziehung und Verbesserung des Erziehungswesens dringen? Denn wie könnte auch ihr Liberalismus, ihre »Freiheit in den Grenzen des Gesetzes« ohne Zucht zustande kommen? Erziehen sie auch nicht gerade zur Gottesfurcht, so fordern sie doch um so strenger Menschenfurcht, d. h. Furcht vor dem Menschen, und wecken durch Zucht die »Begeisterung für den wahrhaft menschlichen Beruf«.

Eine lange Zeit verfloß, in welcher man sich mit dem Wahne begnügte, die Wahrheit zu haben, ohne daß man daran ernstlich dachte, ob man selber vielleicht wahr sein müsse, um die Wahrheit zu besitzen. Diese Zeit war das Mittelalter. Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtsein, demjenigen Bewußtsein, welches nur für Dinge oder Sinnliches und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Undingliche, Unsinnliche zu fassen. Wie man freilich auch sein Auge anstrengt, um das Entfernte zu sehen, oder seine Hand mühsam übt, bis sie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die Tasten kunstgerecht zu greifen: so kasteite man sich selbst auf die mannigfachste Weise, damit man fähig würde, das Übersinnliche ganz in sich aufzunehmen. Allein, was man kasteite, war doch nur der sinnliche Mensch, das gemeine Bewußtsein, das sogenannte endliche oder gegenständliche Denken. Da dieses Denken jedoch, dieser Verstand, welchen Luther unter den Namen der Vernunft »anpfuit«, der Auffassung des Göttlichen unfähig ist, so trug seine Kasteiung gerade so viel dazu bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, sie würden auf diesem Wege endlich Flöten blasen lernen. – Erst Luther, mit welchem das sogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der Mensch selber ein anderer werden müsse, wenn er die Wahrheit auffassen wolle, nämlich ebenso wahr, als die Wahrheit selbst. Nur wer die Wahrheit schon im Glauben hat, nur wer an sie glaubt, kann ihrer teilhaftig werden, d. h. nur der Gläubige findet sie zugänglich und ergründet die Tiefen derselben. Nur dasjenige Organ des Menschen, welches überhaupt aus den Lungen zu blasen vermag, kann auch das Flötenblasen erreichen, und nur derjenige Mensch kann der Wahrheit teilhaftig werden, der für sie das rechte Organ hat. Wer nur Sinnliches, Gegenständliches, Dingliches zu denken imstande ist, der stellt sich auch in der Wahrheit nur Dingliches vor. Die Wahrheit ist aber Geist, durchaus Unsinnliches, daher nur für das »höhere Bewußtsein«, nicht für das »irdisch gesinnte«.

Demnach geht mit Luther die Erkenntnis auf, daß die Wahrheit, weil sie Gedanke ist, nur für den denkenden Menschen sei. Und dies heißt, daß der Mensch fortan einen schlechthin anderen Standpunkt einnehmen müsse, nämlich den himmlischen, gläubigen, wissenschaftlichen, oder den Standpunkt des Denkens gegenüber seinem Gegenstande dem – Gedanken, den Standpunkt des Geistes gegenüber dem Geiste. Also: Nur der Gleiche erkennt den Gleichen! »Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.«

Weil der Protestantismus die mittelalterliche Hierarchie knickte, konnte die Meinung Wurzel fassen, es sei die Hierarchie überhaupt durch ihn gebrochen worden, und gänzlich übersehen werden, daß er gerade eine »Reformation« war, also eine Auffrischung der veralteten Hierarchie. Jene mittelalterliche war nur eine schwächliche Hierarchie gewesen, da sie alle mögliche Barbarei des Profanen unbezwungen neben sich hergehen lassen mußte, und erst die Reformation stählte die Kraft der Hierarchie. Wenn Bruno Bauer meint: »Wie die Reformation hauptsächlich die abstrakte Losreißung des religiösen Prinzips von Kunst, Staat und Wissenschaft, also die Befreiung desselben von jenen Mächten war, mit denen es sich im Altertum der Kirche und in der Hierarchie des Mittelalters verbunden hatte, so sind auch die theologischen und kirchlichen Richtungen, welche aus der Reformation hervorgingen, nur die konsequente Durchführung dieser Abstraktion des religiösen Prinzips von den andern Mächten der Menschheit«: so sehe Ich gerade in dem Gegenteil das Richtige und meine, die Geisterherrschaft oder Geistesfreiheit – was auf Eins hinauskommt – sei nie zuvor so umfassend und allmächtig gewesen, weil die jetzige, statt das religiöse Prinzip von Kunst, Staat und Wissenschaft loszureißen, vielmehr diese ganz aus der Wertigkeit in das »Reich des Geistes« erhob und religiös machte.

Man stellte passend Luther und Cartesius zusammen in dem »Wer glaubt, ist ein Gott« und »Ich denke, also bin Ich« (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menschen ist das Denken, der – Geist. Alles kann ihm entrissen werden, das Denken nicht, nicht der Glaube. Bestimmter Glaube, wie Glaube an Zeus, Astarte, Jehova, Allah usw. kann zerstört werden, der Glaube selbst hingegen ist unzerstörbar. Im Denken ist Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr gewährt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürsprache der Heiligen, oder durch die lösende und bindende Kirche, sondern Ich verschaffe Mir's selber. Kurz Mein Sein (das sum) ist ein Leben im Himmel des Denkens, des Geistes, ein cogitare. Ich selber aber bin nichts anderes als Geist, als denkender (nach Cartesius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib, das bin Ich nicht; Mein Fleisch mag leiden von Gelüsten oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleisch, sondern Ich bin Geist, nur Geist.

Dieser Gedanke durchzieht die Reformationsgeschichte bis heute.

Erst die neuere Philosophie seit Cartesius hat Ernst damit gemacht, das Christentum zu vollendeter Wirksamkeit zu bringen, indem sie das »wissenschaftliche Bewußtsein« zum allein wahren und geltenden erhob. Daher beginnt sie mit dem absoluten Zweifel, dem dubitare, mit der »Zerknirschung« des gemeinen Bewußtseins, mit der Abwendung von Allem, was nicht durch den »Geist«, das »Denken« legitimiert wird. Nichts gilt ihr die Natur, nichts die Meinung der Menschen, ihre »Menschensatzungen«, und sie ruht nicht, bis sie in Alles Vernunft gebracht hat und sagen kann »das Wirkliche ist das Vernünftige und nur das Vernünftige ist das Wirkliche«. So hat sie endlich den Geist, die Vernunft zum Siege geführt, und Alles ist Geist, weil Alles vernünftig ist, die ganze Natur so gut als selbst die verkehrtesten Meinungen der Menschen Vernunft enthalten: denn »es muß ja Alles zum Besten dienen«, d. h. zum Siege der Vernunft führen.

Das dubitare des Cartesius enthält den entschiedenen Ausspruch, daß nur das cogitare, das Denken, der Geist – sei. Ein vollkommener Bruch mit dem »gemeinen« Bewußtsein, welches den unvernünftigen Dingen Wirklichkeit zuschreibt! Nur das Vernünftige ist, nur der Geist ist! Dies ist das Prinzip der neueren Philosophie, das echt christliche. Scharf schied schon Cartesius den Körper vom Geiste, und »der Geist ist's, der sich den Körper baut« sagt Goethe.

Aber diese Philosophie selbst, die christliche, wird doch das Vernünftige nicht los und eifert darum gegen das »bloß Subjektive«, gegen die »Einfälle, Zufälligkeiten, Willkür« usw. Sie will ja, daß das Göttliche in Allem sichtbar werden soll, und alles Bewußtsein ein Wissen des Göttlichen werde und der Mensch Gott überall schaue; aber Gott ist eben nie ohne den Teufel.

Ein Philosoph ist eben darum Derjenige nicht zu nennen, welcher zwar offene Augen für die Dinge der Welt, einen klaren und unverblendeten Blick, ein richtiges Urteil über die Welt hat, aber in der Welt eben nur die Welt, in den Gegenständen nur die Gegenstände, kurz Alles prosaisch, wie es ist, sieht, sondern ein Philosoph ist allein Derjenige, welcher in der Welt den Himmel, in dem Irdischen das Überirdische, in dem Weltlichen das – Göttliche sieht und nachweist oder beweist. Jener mag noch so verständig sein, es bleibt doch dabei: Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. Dies kindliche Gemüt macht erst den Philosophen, dieses Auge für das Göttliche. Jener hat nur ein »gemeines« Bewußtsein, wer aber das Göttliche weiß und zu sagen weiß, der hat ein »wissenschaftliches«. Aus diesem Grunde verwies man den Baco aus dem Reiche der Philosophen. Und weiter scheint allerdings Dasjenige, was man englische Philosophie nennt, es nicht gebracht zu haben, als zu den Entdeckungen sogenannter »offener Köpfe«, wie Bacon und Hume waren. Die Einfalt des kindlichen Gemütes wußten die Engländer nicht zu philosophischer Bedeutung zu erheben, wußten nicht aus kindlichen Gemütern – Philosophen zu machen. Dies heißt so viel als: ihre Philosophie vermochte nicht, theologisch oder Theologie zu werden, und doch kann sie nur als Theologie sich wirklich ausleben, sich vollenden. In der Theologie ist die Wahlstatt ihres Todeskampfes. Bacon bekümmerte sich nicht um die theologischen Fragen und Kardinalpunkte.

Am Leben hat das Erkennen seinen Gegenstand. Das deutsche Denken sucht mehr als das der Übrigen zu den Anfängen und Quellpunkten des Lebens zu gelangen, und sieht im Erkennen selbst erst das Leben. Cartesius' cogito, ergo sum hat den Sinn: Man lebt nur, wenn man denkt. Denkendes Leben heißt: »geistiges Leben«! Es lebt nur der Geist, sein Leben ist das wahre Leben. Ebenso sind dann in der Natur nur die »ewigen Gesetze«, der Geist oder die Vernunft der Natur das wahre Leben derselben. Nur der Gedanke, im Menschen, wie in der Natur, lebt; alles Andere ist tot! Zu dieser Abstraktion, zum Leben der Allgemeinheiten oder des Leblosen muß es mit der Geschichte des Geistes kommen. Gott, welcher Geist ist, lebt allein. Es lebt nichts als das Gespenst.

Wie kann man von der neueren Philosophie oder Zeit behaupten wollen, sie habe es zur Freiheit gebracht, da sie Uns von der Gewalt der Gegenständlichkeit nicht befreite? Oder bin Ich etwa frei vom Despoten, wenn Ich mich zwar vor dem persönlichen Machthaber nicht fürchte, aber vor jeder Verletzung der Pietät, welche Ich ihm zu schulden wähne? Nicht anders verhält es sich mit der neueren Zeit. Sie verwandelte nur die existierenden Objekte, den wirklichen Gewalthaber usw. in vorgestellte, d. h. in Begriffe, vor denen der alte Respekt sich nicht nur nicht verlor, sondern an Intensität zunahm. Schlug man auch Gott und dem Teufel in ihrer vormaligen krassen Wirklichkeit ein Schnippchen, so widmete man nur um so größere Aufmerksamkeit ihren Begriffen. »Den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben.« Den bestehenden Staat zu revoltieren, die bestehenden Gesetze umzustürzen, trug man wenig Bedenken, da man einmal entschlossen war, sich von dem Vorhandenen und Handgreiflichen nicht länger imponieren zu lassen; allein gegen den Begriff des Staates zu sündigen, dem Begriffe des Gesetzes sich nicht zu unterwerfen, wer hätte das gewagt? So blieb man »Staatsbürger« und ein »gesetzlicher«, loyaler Mensch; ja man dünkte sich nur um so gesetzlicher zu sein, je rationalistischer man das vorige mangelhafte Gesetz abschaffte, um dem »Geiste des Gesetzes« zu huldigen. In alledem hatten nur die Objekte eine Umgestaltung erlitten, waren aber in ihrer Übermacht und Oberhoheit verblieben; kurz, man steckte noch in Gehorsam und Besessenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen Gegenstand, auf welchen man reflektierte, den man respektierte, und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte nichts anderes getan, als daß man die Dinge in Vorstellungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwandelte, und die Abhängigkeit um so inniger und unauflöslicher wurde. So hält es z. B. nicht schwer, von den Geboten der Eltern sich zu emanzipieren, oder den Ermahnungen des Onkels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwester sich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorsam fährt einem leicht ins Gewissen, und je weniger man auch den einzelnen Zumutungen nachgibt, weil man sie rationalistisch aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, desto gewissenhafter hält man die Pietät, die Familienliebe fest, und vergibt sich um so schwerer eine Versündigung gegen die Vorstellung, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die existierende Familie erlöst, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem Familienbegriff: man wird vom Familiengeiste beherrscht. Die aus Hans und Grete usw. bestehende Familie, deren Herrschaft machtlos geworden, ist nur verinnerlicht, indem sie als »Familie« überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur anwendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen, dessen Bedeutung hier diese ist: Ich kann zwar Euren unsinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als meine »Familie« bleibt Ihr doch der Gegenstand meiner Liebe und Sorge; denn »die Familie« ist ein heiliger Begriff, den der Einzelne nie beleidigen darf. – Und diese zu einem Gedanken, einer Vorstellung, verinnerlichte und entsinnlichte Familie gilt nun als das »Heilige«, dessen Despotie noch zehnmal ärger ist, weil sie in meinem Gewissen rumort. Diese Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die vorgestellte Familie Mir zu einem Nichts wird. Die christlichen Sätze: »Weib, was habe Ich mit Dir zu schaffen?« »Ich bin kommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter« und andere werden von der Verweisung auf die himmlische oder eigentliche Familie begleitet, und bedeuten nicht mehr, als die Forderung des Staates, bei einer Kollision zwischen ihm und der Familie, seinen Geboten zu gehorchen.

Ähnlich, wie mit der Familie, verhält sich's mit der Sittlichkeit. Von der Sitte sagt sich Mancher los, von der Vorstellung »Sittlichkeit« sehr schwer. Die Sittlichkeit ist die »Idee« der Sitte, ihre geistige Macht, ihre Macht über die Gewissen; dagegen die Sitte zu materiell ist, um den Geist zu beherrschen, und einen »geistigen« Menschen, einen sogenannten Unabhängigen, einen »Freigeist« nicht fesselt.

Der Protestant mag es anstellen, wie er will, heilig bleibt ihm doch die »heilige Schrift«, das »Wort Gottes«. Wem dies nicht mehr »heilig« ist, der hat aufgehört ein – Protestant zu sein. Hiermit bleibt ihm aber auch heilig, was in ihr »verordnet« ist, die von Gott eingerichtete Obrigkeit usw. Diese Dinge bleiben ihm unauflöslich, unnahbar, »über allem Zweifel erhaben«, und da der Zweifel, der in der Praxis ein Rütteln wird, des Menschen Eigenstes ist, so bleiben diese Dinge über ihm selbst »erhaben«. Wer nicht davon loskommen kann, der wird – glauben; denn daran glauben heißt daran gebunden sein. Dadurch, daß im Protestantismus der Glaube ein innerlicherer wurde, ist auch die Knechtschaft eine innerlichere geworden: man hat jene Heiligkeiten in sich aufgenommen, sie mit seinem ganzen Dichten und Trachten verflochten, sie zur »Gewissenssache« gemacht, sich eine »heilige Pflicht« aus ihnen bereitet. Darum ist dem Protestanten heilig das, wovon sein Gewissen nicht loskommen kann, und die Gewissenhaftigkeit bezeichnet am deutlichsten seinen Charakter.

Der Protestantismus hat den Menschen recht eigentlich zu einem »Geheimen-Polizei-Staat« gemacht. Der Spion und Laurer »Gewissen« überwacht jede Regung des Geistes, und alles Tun und Denken ist ihm eine »Gewissenssache«, d. h. Polizeisache. In dieser Zerrissenheit des Menschen in »Naturtrieb« und »Gewissen« (innerer Pöbel und innere Polizei) besteht der Protestant. Die Vernunft der Bibel (an Stelle der katholischen »Vernunft der Kirche«) gilt als heilig, und dies Gefühl und Bewußtsein, daß das Bibelwort heilig sei, heißt – Gewissen. Damit ist denn die Heiligkeit einem »ins Gewissen geschoben«. Befreit man sich nicht vom Gewissen, dem Bewußtsein des Heiligen, so kann man zwar ungewissenhaft, niemals aber gewissenlos handeln.

Der Katholik findet sich befriedigt, wenn er den Befehl vollzieht; der Protestant handelt nach »bestem Wissen und Gewissen«. Der Katholik ist ja nur Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher. Das eben ist der Fortschritt über das Mittelalter und zugleich der Fluch der Reformationsperiode, daß das Geistliche vollständig wurde.

Was war die jesuitische Moral anders, als eine Fortsetzung des Ablaßkrames, nur daß der seiner Sünden Entlastete nunmehr auch eine Einsicht in den Sündenerlaß gewann und sich überzeugte, wie wirklich seine Sünde von ihm genommen werde, da es ja in diesem oder jenem bestimmten Falle (Kasuisten) gar keine Sünde sei, was er begehe. Der Ablaßkram hatte alle Sünden und Vergehen zulässig gemacht und jede Gewissensregung zum Schweigen gebracht. Die ganze Sinnlichkeit durfte walten, wenn sie nur der Kirche abgekauft wurde. Diese Begünstigung der Sinnlichkeit wurde von den Jesuiten fortgesetzt, während die sittenstrengen, finstern, fanatischen, bußfertigen, zerknirschten, betenden Protestanten allerdings als die wahren Vollender des Christentums, den geistigen und geistlichen Menschen allein gelten ließen. Der Katholizismus, besonders die Jesuiten leisteten auf diese Weise dem Egoismus Vorschub, fanden innerhalb des Protestantismus selbst einen unfreiwilligen und unbewußten Anhang und retteten Uns vor dem Verkommen und Untergang der Sinnlichkeit. Gleichwohl breitet der protestantische Geist seine Herrschaft immer weiter aus, und da das Jesuitische neben ihm, dem »Göttlichen«, nur das von allem Göttlichen untrennbare »Teuflische« darstellt, so kann es nirgends sich allein behaupten, sondern muß zusehen, wie z. B. in Frankreich endlich das Philistertum des Protestantismus siegt und der Geist obenauf ist.

Dem Protestantismus pflegt das Kompliment gemacht zu werden, daß er das Weltliche wieder zu Ehren gebracht habe, z. B. die Ehe, den Staat usw. Ihm aber ist gerade das Weltliche als Weltliches, das Profane, noch viel gleichgültiger als dem Katholizismus, der die profane Welt bestehen, ja sich ihre Genüsse schmecken läßt, während der vernünftige, konsequente Protestant das Weltliche ganz und gar zu vernichten sich anschickt, und zwar einfach dadurch, daß er es heiligt. So ist die Ehe um ihre Natürlichkeit gebracht worden, indem sie heilig wurde, nicht im Sinne des katholischen Sakramentes, wo sie nur von der Kirche ihre Weihe empfängt, also im Grunde unheilig ist, sondern in dem Sinne, daß sie fortan etwas durch sich Heiliges ist, ein heiliges Verhältnis. Ebenso der Staat usw. Früher gab der Papst ihm und seinen Fürsten die Weihe und seinen Segen; jetzt ist der Staat von Haus aus heilig, die Majestät ist es, ohne des Priestersegens zu bedürfen. Überhaupt wurde die Ordnung der Natur oder das Naturrecht als »Gottesordnung« geheiligt. Daher heißt es z. B. in der Augsburgischen Konfession Art. 11: »So bleiben wir nun billig bei dem Spruch, wie die Jurisconsulti weislich und recht gesagt haben: daß Mann und Weib beieinander sein, ist natürlich Recht. Ist's nun natürlich Recht, so ist es Gottes Ordnung, also in der Natur gepflanzt und also auch göttlich Recht.« Und ist es etwa mehr als aufgeklärter Protestantismus, wenn Feuerbach die sittlichen Verhältnisse zwar nicht als Gottes Ordnung, dafür aber um des ihnen inwohnenden Geistes willen heilig spricht? »Aber die Ehe – natürlich als freier Bund der Liebe – ist durch sich selbst, durch die Natur der Verbindung, die hier geschlossen wird, heilig. Nur die Ehe ist eine religiöse, die eine wahre ist, die dem Wesen der Ehe, der Liebe entspricht. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Sie sind da nur moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst als religiöse gelten. Wahrhafte Freundschaft ist nur da, wo die Grenzen der Freundschaft mit religiöser Gewissenhaftigkeit bewahrt werden, mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Gläubige die Dignität seines Gottes wahrt. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.«

Das ist ein sehr wesentliches Moment. Im Katholizismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz. Mit der Weihe, durch welche Heiligkeit verliehen wird, hängt genau die jesuitische Maxime zusammen: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Kein Mittel ist für sich heilig oder unheilig, sondern seine Beziehung zur Kirche, sein Nutzen für die Kirche, heiligt das Mittel. Königsmord wurde als ein solches angegeben; ward er zum Frommen der Kirche vollführt, so konnte er ihrer, wenn auch nicht offen ausgesprochenen Heiligung gewiß sein. Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den Oberpriester geweihte dafür gelten, und gilt ihm auch nur deshalb dafür, weil der Papst diese Heiligkeit ihr, wenn auch ohne besonderen Akt, ein für allemal erteilt. Zöge er seine Weihe zurück, so bliebe der König dem Katholiken nur ein »Weltmensch oder Laie«, ein »Ungeweihter«.

Sucht der Protestant im Sinnlichen selbst eine Heiligkeit zu entdecken, um dann nur an Heiligem zu hängen, so strebt der Katholik vielmehr, das Sinnliche von sich weg in ein besonderes Gebiet zu verweisen, wo es wie die übrige Natur seinen Wert für sich behält. Die katholische Kirche schied aus ihrem geweihten Stande die weltliche Ehe aus und entzog die Ihrigen der weltlichen Familie; die protestantische erklärte die Ehe und das Familienband für heilig und darum nicht unpassend für ihre Geistlichen.

Ein Jesuit darf als guter Katholik alles heiligen. Er braucht sich z. B. nur zu sagen: Ich als Priester bin der Kirche notwendig, diene ihr aber eifriger, wenn Ich meine Begierden gehörig stille; folglich will Ich dies Mädchen verführen, meinen Feind dort vergiften lassen usw.; Mein Zweck ist heilig, weil der eines Priesters, folglich heiligt er das Mittel. Es geschieht ja am letzten Ende doch zum Nutzen der Kirche. Warum sollte der katholische Priester sich scheuen, dem Kaiser Heinrich VII. die vergiftete Hostie zu reichen zum – Heil der Kirche?

Die echt – kirchlichen Protestanten eiferten gegen jedes »unschuldige Vergnügen«, weil unschuldig nur das Heilige, das Geistige sein konnte. Worin sie nicht den heiligen Geist nachweisen konnten, das mußten die Protestanten verwerfen: Tanz, Theater, Prunk (z. B. in der Kirche) u. dergl.

Gegen diesen puritanischen Calvinismus ist wieder das Luthertum mehr auf dem religiösen, d. h. geistigen Wege, ist radikaler. Jener nämlich schließt flugs eine Menge Dinge als sinnlich und weltlich aus und purifiziert die Kirche; das Luthertum hingegen sucht womöglich in alle Dinge Geist zu bringen, den heiligen Geist in Allem als Wesen zu erkennen, und so alles Weltliche zu heiligen. (»Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren.« Der Geist der Ehrbarkeit heiligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er erklärt sich an irgend einer Stelle dafür: »er wolle Lutheraner bleiben«) die vollständige Durchführung des Begriffs durch Alles. In allem ist Vernunft, d. h. heiliger Geist, oder »das Wirkliche ist vernünftig«. Das Wirkliche ist nämlich in der Tat Alles, da in Jedem, z. B. jeder Lüge die Wahrheit aufgedeckt werden kann: es gibt keine absolute Lüge, kein absolut Böses u. dergl.

Große »Geisteswerke« wurden fast nur von Protestanten geschaffen, da sie allein die wahren Jünger und Vollbringer des Geistes waren.

Wie weniges vermag der Mensch zu bezwingen! Er muß die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer seine Wellen treiben, die Berge zum Himmel ragen lassen. So steht er machtlos vor dem Unbezwinglichen. Kann er sich des Eindruckes erwehren, daß er gegen diese riesenhafte Welt ohnmächtig sei? Sie ist ein festes Gesetz, dem er sich unterwerfen muß, sie bestimmt sein Schicksal. Wohin arbeitete nun die vorchristliche Menschheit? Dahin, das Einstürmen der Geschicke loszuwerden, sich durch sie nicht alterieren zu lassen. Die Stoiker erreichten dies in der Apathie, indem sie die Angriffe der Natur für gleichgültig erklärten, und sich nicht dadurch affizieren ließen. Horaz spricht das berühmte Nil admirari aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern, der Welt, bekundet: sie soll auf Uns nicht einwirken, Unser Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae drückt ebendieselbe Unerschütterlichkeit aus, wie Psalm 46, 3: »Wir fürchten Uns nicht, wenngleich die Welt unterginge.« In alledem ist für den christlichen Satz, daß die Welt eitel sei, für die christliche Weltverachtung der Raum geöffnet.

Der unerschütterliche Geist »des Weisen«, mit welchem die alte Welt ihrem Schlusse vorarbeitete, erfuhr nun eine innere Erschütterung, gegen welche ihn keine Ataraxie, kein stoischer Mut zu schützen vermochte. Der Geist, vor allem Einflusse der Welt gesichert, gegen ihre Stöße unempfindlich und über ihre Angriffe erhaben, nichts bewundernd, durch keinen Einsturz der Welt aus seiner Fassung zu bringen, – er schäumte unaufhaltsam wieder über, weil in seinem eigenen Innern Gase (Geister) sich entwickelten, und, nachdem der mechanische Stoß, der von außen kommt, unwirksam geworden, chemische Spannungen, die im Innern erregen, ihr wunderbares Spiel zu treiben begannen.

In der Tat schließt die alte Geschichte damit, daß Ich an der Welt mein Eigentum errungen habe. »Alle Dinge sind Mir übergeben von Meinem Vater.« (Matth. 11, 27.) Sie hat aufgehört, gegen Mich übermächtig, unnahbar, heilig, göttlich usw. zu sein, sie ist »entgöttert«, und Ich behandle sie nun so sehr nach Meinem Wohlgefallen, daß, läge Mir daran, Ich alle Wunderkraft, d. h. Macht des Geistes, an ihr ausüben, Berge versetzen, Maulbeerbäumen befehlen, daß sie sich selbst ausreißen und ins Meer versetzen (Luk. 17, 6), und alles Mögliche, d. h. Denkbare könnte: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet.« Ich bin der Herr der Welt, Mein ist die »Herrlichkeit«. Die Welt ist prosaisch geworden, denn das Göttliche ist aus ihr verschwunden: sie ist Mein Eigentum, mit dem ich schalte und walte, wie Mir's (nämlich dem Geiste) beliebt.

Als Ich Mich dazu erhoben hatte, der Eigner der Welt zu sein, da hatte der Egoismus seinen ersten vollständigen Sieg errungen, hatte die Welt überwunden, war weltlos geworden, und legte den Erwerb eines langen Weltalters unter Schloß und Riegel.

Das erste Eigentum, die erste »Herrlichkeit« ist erworben!

Doch der Herr der Welt ist noch nicht Herr seiner Gedanken, seiner Gefühle, seines Willens: er ist nicht Herr und Eigner des Geistes, denn der Geist ist noch heilig, der »heilige Geist«, und der »weltlose« Christ vermag nicht »gottlos« zu werden. War der antike Kampf ein Kampf gegen die Welt, so ist der mittelalterliche (christliche) ein Kampf gegen sich, den Geist, jenes gegen die Außenwelt, dieses gegen die innerliche Welt. Der Mittelalterliche ist der »in sich Gekehrte«, der Sinnende, Sinnige.

Alle Weisheit der Alten ist Weltweisheit, alle Weisheit der Neuen ist Gottesgelahrtheit.

Mit der Welt wurden die Heiden (auch Juden hierunter) fertig; aber nun kam es darauf an, auch mit sich, dem Geiste, fertig, d. h. geistlos oder gottlos zu werden.

Fast zweitausend Jahre arbeiten Wir daran, den heiligen Geist Uns zu unterwerfen, und manches Stück Heiligkeit haben Wir allgemach losgerissen und unter die Füße getreten; aber der riesige Gegner erhebt sich immer von Neuem unter veränderter Gestalt und Namen. Der Geist ist noch nicht entgöttert, entheiligt, entweiht. Zwar flattert er längst nicht mehr als eine Taube über unsern Häuptern, zwar beglückt er nicht allein mehr seine Heiligen, sondern läßt sich auch von den Laien fangen usw., aber als Geist der Menschheit, als Menschengeist, d. h. Geist des Menschen, bleibt er Mir, Dir, immer noch ein fremder Geist, noch fern davon, Unser unbeschränktes Eigentum zu werden, mit welchem Wir schalten und walten nach Unserm Wohlgefallen. Indes Eines geschah gewiß und leitete sichtlich den Hergang der nachchristlichen Geschichte: dies Eine war das Streben, den heiligen Geist menschlicher zu machen, und ihn den Menschen oder die Menschen ihm zu nähern. Dadurch kam es, daß er zuletzt als der »Geist der Menschheit« gefaßt werden konnte und unter verschiedenen Ausdrücken, wie »Idee der Menschheit, Menschentum, Humanität, allgemeine Menschenliebe« usw. ansprechender, vertrauter und zugänglicher erschien.

Sollte man nicht meinen, jetzt könnte Jeder den heiligen Geist besitzen, die Idee der Menschheit in sich aufnehmen, das Menschentum in sich zur Gestalt und Existenz bringen?

Nein, der Geist ist nicht seiner Heiligkeit entkleidet und seiner Unnahbarkeit beraubt, ist Uns nicht erreichbar, nicht Unser Eigentum; denn der Geist der Menschheit ist nicht Mein Geist. Mein Ideal kann er sein, und als Gedanken nenne Ich ihn Mein: der Gedanke der Menschheit ist Mein Eigentum, und ich beweise dies zur Genüge dadurch, daß Ich ihn ganz nach Meinem Sinne aufstelle und heute so, morgen anders gestalte: Wir stellen ihn Uns auf die mannigfaltigste Weise vor. Aber er ist zugleich ein Fideikommiß, das Ich nicht veräußern noch loswerden kann.

Unter mancherlei Wandlungen wurde aus dem heiligen Geiste mit der Zeit die »absolute Idee«, welche wieder in mannigfaltigen Brechungen zu den verschiedenen Ideen der Menschenliebe, Vernünftigkeit, Bürgertugend usw. auseinander schlug.

Kann Ich die Idee aber mein Eigentum nennen, wenn sie Idee der Menschheit ist, und kann Ich den Geist für überwunden halten, wenn Ich ihm dienen, ihm »Mich opfern« soll? Das endende Altertum hatte an der Welt erst dann sein Eigentum gewonnen, als es ihre Übermacht und »Göttlichkeit« gebrochen, ihre Ohnmacht und »Eitelkeit« erkannt hatte.

Entsprechend verhält es sich mit dem Geiste. Wenn Ich ihn zu einem Spuk und seine Gewalt über Mich zu einem Sparren herabgesetzt habe, dann ist er für entweiht, entheiligt, entgöttert anzusehen, und dann gebrauche Ich ihn, wie man die Natur unbedenklich nach Gefallen gebraucht.

Die »Natur der Sache«, der »Begriff des Verhältnisses« soll Mich in Behandlung derselben oder Schließung desselben leiten. Als ob ein Begriff der Sache für sich existierte und nicht vielmehr der Begriff wäre, welchen man sich von der Sache macht! Als ob ein Verhältnis, welches Wir eingehen, nicht durch die Einzigkeit der Eingehenden selbst einzig wäre! Als ob es davon abhinge, wie Andere es rubrizieren! Wie man aber das »Wesen des Menschen« vom wirklichen Menschen trennte und diesen nach jenem beurteilte, so trennt man auch seine Handlung von ihm und veranschlagt sie nach dem »menschlichen Werte«. Begriffe sollen überall entscheiden, Begriffe das Leben regeln, Begriffe herrschen. Das ist die religiöse Welt, welcher Hegel einen systematischen Ausdruck gab, indem er Methode in den Unsinn brachte und die Begriffssatzungen zur runden, festgegründeten Dogmatik vollendete. Nach Begriffen wird Alles abgeleiert, und der wirkliche Mensch, d. h. Ich werde nach diesen Begriffsgesetzen zu leben gezwungen. Kann es eine ärgere Gesetzesherrschaft geben, und hat nicht das Christentum gleich im Beginne zugestanden, daß es die Gesetzesherrschaft des Judentums nur schärfer anziehen wolle? (»Nicht ein Buchstabe des Gesetzes soll verloren gehen!«)

Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen »wissenschaftliche« oder allgemeiner statt der »rohen Sätze« und Satzungen wirkliche Begriffe und ewige Gesetze.

Jetzt herrscht in der Welt nichts als der Geist. Eine unzählige Menge von Begriffen schwirren in den Köpfen umher, und was tun die Weiterstrebenden? Sie negieren diese Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie sagen: Ihr macht Euch einen falschen Begriff vom Rechte, vom Staate, vom Menschen, von der Freiheit, von der Wahrheit, von der Ehe usw.; der Begriff des Rechts usw. ist vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufstellen. So schreitet die Begriffsverwirrung vorwärts.

Die Weltgeschichte ist mit Uns grausam umgegangen, und der Geist hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß schützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genießbar würden, und meine Prunkkarosse, deren Besitz Dir alle Not auf einmal abnähme: Du darfst nicht darnach langen. Von alledem und unzähligem Anderen soll der Mensch die Selbständigkeit anerkennen, es soll ihm für unergreifbar und unnahbar gelten, soll ihm entzogen sein. Er muß es achten, respektieren; wehe ihm, wenn er begehrend seine Finger ausstreckt: Wir nennen das »lange Finger machen«!

Wie so bettelhaft wenig ist Uns verblieben, ja wie so gar nichts! Alles ist entrückt worden, an nichts dürfen Wir Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel darfst Du aufheben, es sei denn, Du habest Dir die Erlaubnis geholt, daß Du es dürfest. Und geholt von wem? Vom Respekte! Nur wenn er sie Dir überläßt als Eigentum, nur wenn Du sie als Eigentum respektieren kannst, nur dann darfst Du sie nehmen. Und wiederum sollst Du keinen Gedanken fassen, keine Silbe sprechen, keine Handlung begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, statt sie von der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menschlichkeit zu empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen Menschen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der Befangenheit zu schlachten gesucht!

Um den Altar aber wölbt sich eine Kirche, und ihre Mauern rücken immer weiter hinaus. Was sie einschließen, ist – heilig. Du kannst nicht mehr dazu gelangen, kannst es nicht mehr berühren. Aufschreiend in verzehrendem Hunger schweifst Du um diese Mauern herum, das wenige Profane aufzusuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreise Deines Laufes. Bald umspannt jene Kirche die ganze Erde, und Du bist zum äußersten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt, und die Welt des Heiligen hat gesiegt: Du versinkst in den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist, irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du's zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!


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