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Drittes Kapitel

Das Haus mit den grünen Jalousien

Franz Scrymgeour, ein Angestellter der Bank von Schottland in Edinburg, hatte im Rahmen eines ruhigen, ehrenhaften und häuslichen Lebens das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreicht. Seine Mutter war gestorben, als er noch Kind war, aber sein Vater, ein verständiger, redlicher Wann, hatte ihm eine gute Schulbildung zuteil werden lassen und erzog ihn auch daheim zu einem ordentlichen und bescheidenen Menschen. Franz zeigte sich daher auch stets eifrig und pflichtgetreu und gab sich mit Herz und Seele seinen geschäftlichen Obliegenheiten hin. Er stieg daher rasch in der Gunst seiner Vorgesetzten und erfreute sich bereits eines jährlichen Gehalts von etwa viertausend Mark, während ihm die Aussicht winkte, es einmal fast auf den doppelten Betrag zu bringen.

Eines Tages erhielt Franz eine Mitteilung von einer bekannten Advokatenfirma, durch die man ihn zu einer dringenden Besprechung einlud. Als Franz der Aufforderung Folge leistete, empfing ihn der erste Inhaber der Firma und eröffnete ihm mit dürren Worten, eine Person, die ungenannt bleiben müsse, wolle Franz eine Jahresrente von zehntausend Mark zukommen lassen. An diese Schenkung seien zwei Bedingungen geknüpft.

»Die Bedingungen,« fuhr der Advokat fort, »sind etwas ungewöhnlicher Natur. In der Tat würde ich mich wohl gar nicht auf die Sache eingelassen haben, wäre mein Auftraggeber nicht ein angesehener und ehrenhafter Mann.«

»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich darauf brenne, diese Bedingungen kennenzulernen,« sagte Franz.

»Es sind ihrer zwei,« versetzte der Advokat, »nur zwei, und die Summe, vergessen Sie nicht, beläuft sich auf jährlich zehntausend Mark. Die erste Bedingung ist höchst einfach. Sie müssen Sonntagnachmittag den Fünfzehnten in Paris sein; dort werden Sie an der Theaterkasse der Comédie Française eine auf Ihren Namen gelöste Eintrittskarte erhalten. Sie werden gebeten, während der ganzen Vorstellung in der betreffenden Loge zu bleiben, und das ist alles. Die andere Bedingung ist von größerer Bedeutung,« fuhr der Advokat fort. »Sie betrifft Ihre Verheiratung. Mein Auftraggeber, dem Ihre Wohlfahrt sehr am Herzen liegt, will Ihnen in der Wahl Ihrer Lebensgefährtin unbedingt einen Rat geben. Unbedingt, Sie verstehen,« wiederholte er.

»Wir scheint,« sagte Franz, »man muß abwarten, ob sich nicht das Ganze als unwürdige Posse erweist. Die nähern Umstände sind unerklärlich – fast hätte ich gesagt, unglaublich; und bis ich etwas mehr Licht und einen annehmbaren Beweggrund sehe, würde ich, gestehe ich, nur sehr ungern meine Hand zur Ausführung leihen. In dieser Verlegenheit ersuche ich Sie um Auskunft. Ich muß erfahren, was dieser ganzen Geschichte zugrunde liegt. Wenn Sie mir das nicht sagen können oder dürfen, so nehme ich meinen Hut und gehe zu meiner Bank ebenso, wie ich gekommen bin, zurück.«

»Ich weiß es nicht gewiß,« antwortete der Anwalt, »aber ich kann mir den Zusammenhang wohl denken.«

Hierauf teilte der Sachwalter dem aufs höchste verwunderten Franz mit, daß er gar nicht Herrn Scrymgeours Sohn sei, und daß die ganze Sache nach seiner festen Überzeugung von Franzens unbekanntem Vater ausgehe.

Es wäre unmöglich, Franz Scrymgeours Überraschung bei dieser unerwarteten Mitteilung zu übertreiben. Ganz verwirrt sagte er zu dem Anwalt:

»Nach einer so erstaunlichen Nachricht müssen Sie mir ein paar Stunden zur Sammlung gönnen. Sie sollen heute abend erfahren, wozu ich mich entschlossen habe.«

Der Advokat lobte seine Besonnenheit, und Franz machte, nachdem er sich in seinem Bankgeschäft entschuldigt hatte, einen längeren Spaziergang ins Freie und bedachte den Vorschlag gründlich und von den verschiedensten Seiten. Ein wohltuendes Gefühl der eigenen Bedeutung machte ihn noch überlegsamer, aber der Ausgang konnte von vornherein nicht zweifelhaft sein. Sein ganzes fleischliches Ich fühlte sich unwiderstehlich von den jährlich zehntausend Mark mitsamt den zugehörigen Bedingungen angezogen. Er entdeckte in seinem Herzen eine unüberwindliche Abneigung gegen den Namen Scrymgeour, der ihm doch bis dahin ganz und gar nicht unangenehm gewesen war. Er fing an, die engbegrenzten und nüchternen Interessen seines früheren Lebens verächtlich zu finden, und als er sich erst einmal entschlossen hatte, schritt er, von einem ungewohnten Gefühl von Kraft und Freiheit beseelt, einher und nährte seinen Geist mit den schönsten Zukunftsbildern.

Er sagte nur ein Wort zu dem Advokaten und erhielt sofort eine Geldanweisung auf die zwei letztverflossenen Vierteljahre, denn die Schenkung war auf den ersten Januar vordatiert. Mit diesem Schein in der Tasche ging er heim. Die bisherige Wohnung erschien ihm gemein; zum erstenmal rümpfte sich seine Nase beim Geruch der Bratensoße, und es fielen ihm bei seinem Pflegevater gewisse Mängel in der Lebensart auf, die ihn mit Überraschung und fast mit Entrüstung erfüllten. Der nächste Tag schon sah ihn auf dem Wege nach Paris.

Endlich war hier der bestimmte Samstag herangekommen, und er begab sich am Nachmittag zur Kasse der Comédie Française. Kaum hatte er seinen Namen genannt, so überreichte man ihm die Eintrittskarte in einem Umschlag, dessen Aufschrift kaum trocken war.

»Die Karte ist soeben genommen worden,« sagte der Kassenbeamte.

»Wirklich!« sagte Franz. »Darf ich fragen, wie der Herr aussah?«

»Ihr Freund ist leicht zu beschreiben,« erwiderte der andere. »Er ist alt, kräftig, schön, hat weißes Haar und eine Hiebnarbe quer über das Gesicht. Er ist gar nicht zu verkennen.«

»Allerdings,« gab Franz zurück; »und ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit.«

»Er kann noch nicht weit sein,« fügte der Kassierer hinzu. »Wenn Sie sich beeilen, so werden Sie ihn wohl noch einholen.«

Franz ließ sich dies nicht zweimal sagen, eiligst lief er aus dem Theater in die Mitte der Straße und sah sich nach allen Richtungen um. Mehr als ein weißhaariger Wann war zu sehen, aber obwohl er einem nach dem andern näher trat, eine Hiebnarbe hatte keiner. Fast eine halbe Stunde suchte er alle Straßen in der Nähe ab, bis er schließlich weiteres Suchen als unnütz erkannte und nur noch planlos und gedankenlos weiterging, um seine aufgeregten Gefühle zur Nutze zu bringen, denn die anscheinend so nahe Zusammenkunft mit einem Wanne, dem er zweifellos das Dasein verdankte, erschütterte den jungen Mann.

Der Zufall brachte ihn aber seinem Ziele näher als vorher sein eifriges Suchen. Denn als er, absichtslos dahinschlendernd, in den äußeren Boulevard kam, sah er zwei Männer in angelegentlicher Unterhaltung auf einer Bank sitzen. Der eine, jung, von dunklem Teint und hübsch, trug weltliche Kleidung, konnte aber den Geistlichen nicht verleugnen. Der andere entsprach völlig der von dem Kassenbeamten gegebenen Beschreibung. Franz fühlte sein Herz schneller klopfen, er wußte, daß er nun die Stimme seines Vaters hören sollte. Er machte einen Umweg und nahm leise hinter dem Paare, das viel zu sehr in seine Unterhaltung vertieft war, um ihn zu bemerken, Stellung. Wie Franz erwartet hatte, bedienten sie sich der englischen Sprache.

»Ihr Verdacht bringt mir schließlich das Blut in Wallung, Rolles,« sagte der Ältere. »Ich sage Ihnen, ich tue mein Äußerstes, man kann doch nicht im Augenblick seine Hand auf Millionen legen. Habe ich nicht aus reiner Gutwilligkeit mich Ihrer, der mir ganz fremd war, angenommen? Leben Sie nicht fast ausschließlich auf meine Kosten?«

»Auf Ihre Vorschüsse, Herr Vandeleur,« fiel der andere ein.

»Vorschüsse, wenn Sie lieber wollen, und Interesse anstatt Gutwilligkeit, wenn es Ihnen so beliebt!« rief Vandeleur zornig. »Ich will mich hier nicht um Ausdrücke streiten. Geschäft ist Geschäft, und Ihr Geschäft ist, vergessen Sie das nicht, zu schmutzig, als daß Sie sich noch aufs hohe Pferd setzen könnten. Entweder vertrauen Sie mir, oder Sie lassen mich in Frieden und suchen sich sonst jemand, aber um's Himmels willen, hören Sie mir mit Ihren Jeremiaden auf!«

»Ich fange an, die Welt kennenzulernen,« versetzte der Jüngere, »und ich sehe, daß Sie viele Gründe haben, falsches Spiel mit mir zu treiben, und nicht einen, ehrlich zu verfahren. Auch ich bin nicht hier, mich über Ausdrücke herumzustreiten. Sie wollen den Diamanten für sich haben, Sie wissen, daß es so ist, Sie wagen es nicht zu leugnen. Haben Sie nicht schon meinen Namen gefälscht und meine Wohnung in meiner Abwesenheit durchstöbert? Ich verstehe die Gründe Ihres Aufschubs; Sie liegen im Hinterhalt, Sie sind in Wahrheit der Diamantenjäger, und früher oder später, auf diese oder jene Weise wollen Sie Ihre Hände darauf legen. Ich sage Ihnen, das muß aufhören; treiben Sie mich nicht weiter, oder Sie sollen sich wundern!«

»Es steht Ihnen übel an, mir zu drohen,« eiferte Vandeleur dagegen. »Mein Bruder befindet sich in Paris; die Polizei fahndet nach dem Dieb, und wenn Sie nicht aufhören, mich mit Ihrem Gejammer zu plagen, so werde ich Ihnen meinerseits eine kleine Überraschung bereiten, Herr Rolles. Aber meine Überraschung wird ein für allemal mit der Sache aufräumen. Verstehen Sie mich, oder soll ich's Ihnen lieber auf hebräisch sagen? Alles hat seine Grenze, und Sie haben meine Geduld erschöpft. Dienstag beim Abendessen um sieben, nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht einmal ein Teilchen einer Sekunde früher, und gälte es, Ihr Leben zu retten. Und wollen Sie nicht warten, so fahren Sie meinetwegen in den bodenlosen Abgrund, mir soll's recht sein!«

Bei diesen Worten erhob sich der Diktator von der Bank und ging, kopfschüttelnd und seinen Stock wütend herumschwingend, in der Richtung auf den Montmartre zu fort, während sein Gefährte mit dem Ausdruck großer Niedergeschlagenheit sitzenblieb.

Franz war vor Überraschung und Entsetzen außer sich, seine Gefühle hatten den denkbar schmerzlichsten Stoß erlitten; die zärtliche Hoffnung, mit der er hinter die Bank getreten war, hatte sich in Abscheu und Verzweiflung verwandelt. Doch bewahrte er seine Geistesgegenwart und versäumte keinen Augenblick, der Spur des Diktators zu folgen.

Die zornige Wut ließ diesen mit heftigen Schritten ausgreifen und nahm ihn so in Anspruch, daß er keinen Blick hinter sich warf, bis er vor seiner eigenen Tür ankam.

Sein Haus stand hoch oben in der Lepicstraße, von wo man ganz Paris übersehen kann. Es war zwei Stock hoch, hatte grüne Jalousien, und alle Fenster nach der Straße zu waren hermetisch geschlossen. Baumspitzen schauten über die hohe Gartenmauer, die mit spanischen Reitern geschützt war. Der Diktator blieb einen Augenblick stehen, um nach dem Schlüssel in der Tasche zu suchen, dann öffnete er ein Tor und verschwand hinter der Mauer.

Franz sah sich um, die Gegend war sehr einsam, das Haus stand allein in einem großen Garten. Es schien, als böte sich zu weiteren Nachforschungen keine Gelegenheit. Beim zweiten Umblick gewahrte er jedoch ein hohes Haus daneben, dessen Giebelseite nach dem Garten schaute, und in der Giebelwand ein einziges Fenster. Er trat vor dieses Haus und sah einen Zettel angeschlagen, auf dem unmöblierte Zimmer zum Mieten angeboten wurden. Auf seine Anfrage wurde ihm sodann der Bescheid, daß das Giebelzimmer frei sei. Franz zögerte keinen Moment, er nahm das Zimmer, bezahlte die Miete einen Monat voraus und kehrte zu seinem Gasthaus zurück, um sein Gepäck zu holen.

Mochte der Alte mit der Narbe sein Vater sein oder nicht, und mochte er sich auf richtiger oder falscher Fährte befinden, jedenfalls war er einem großen Geheimnis auf der Spur, und er gab sich selbst das Versprechen, in seinem Forschen nicht eher nachzulassen, bis er diesem Geheimnis auf den Grund gekommen wäre.

Von dem Fenster seiner neuen Wohnung konnte Scrymgeour den Garten des Hauses mit den grünen Jalousien übersehen. Unmittelbar unter seinem Standpunkt beschattete ein schöner Kastanienbaum mit seinen weiten Ästen ein paar Gartentische. Auf allen Seiten außer einer ließ eine üppige Vegetation den Blick nicht bis auf den Boden dringen; nur zwischen den Tischen und dem Hause sah er einen Kiesweg, der von der Veranda zum Gartentor führte. Indem Franz seine Beobachtungen zwischen den Latten der Fensterläden hindurch anstellte, die er, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht zu öffnen wagte, konnte er nur wenig entdecken, woraus er auf die Lebensweise der Bewohner hätte schließen können, und dieses wenige zeugte nur von strengster Zurückgezogenheit und Liebe zur Einsamkeit. Der Garten sah aus wie der eines Klosters, das Haus wie ein Gefängnis. Die grünen Jalousien waren sämtlich niedergelassen, die Verandatür geschlossen, der Garten lag im Abendsonnenschein, soweit er sehen konnte, völlig einsam da. Eine dünne Rauchwolke aus einem einzigen Schornstein zeugte allein von der Anwesenheit lebender Wesen.

Um nicht ganz müßig zu sein und seinem Leben einen gewissen Anstrich zu geben, hatte Franz ein französisches Lehrbuch der Geometrie gekauft, dessen Inhalt er abschrieb und übersetzte, wobei er seinen Koffer als Schreibtisch benutzte und auf dem Fußboden mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasaß, da sein Zimmer unmöbliert war. Von Zeit zu Zeit stand er auf und warf einen Blick auf die Umgebung des Hauses mit den grünen Jalousien; aber die Fenster blieben hartnäckig geschlossen und der Garten leer.

Nur spät am Abend trat ein Ereignis ein, das seine fortgesetzte Aufmerksamkeit belohnte. Zwischen neun und zehn Uhr weckte ihn der helle Klang einer Glocke aus dem Halbschlummer. Schnell nahm er seinen Beobachtungsposten ein, worauf er ein ziemliches Geräusch von aufgeschlossenen Schlössern und zurückgeschobenen Riegeln hörte und Herrn Vandeleur mit einer Laterne in der Hand und in weitem schwarzem Samtmantel und mit einer Samtkappe auf dem Kopf von der Veranda langsam auf das Tor zugehen sah. Dann wiederholte sich der Klang von Schlössern und Riegeln, und einen Augenblick später konnte der Späher beobachten, wie der Diktator beim flackernden Scheine der Laterne einen offenbar der niedrigsten und verächtlichsten Menschenrasse ungehörigen Mann zum Hause geleitete.

Eine halbe Stunde darauf wurde der Fremde wieder hinausgeführt, und Herr Vandeleur setzte die Laterne auf einen der erwähnten Gartentische und rauchte anscheinend mit großem Behagen eine Zigarre unter den Ästen des Kastanienbaumes. Franz konnte durch eine laubfreie Stelle allen seinen Bewegungen folgen, er sah sogar, wenn jener die Asche abschüttelte oder aus der Zigarre einen kräftigen Zug tat. Die Stirn Vandeleurs war jetzt gerunzelt und seine Lippen zusammengepreßt, als hinge er schmerzlichen Gedanken nach. Als die Zigarre beinahe verraucht war, ließ sich plötzlich die Stimme eines jungen Mädchens hören, die aus dem Innern des Hauses dem Diktator mahnend zurief, es sei schon so spät.

»In einem Augenblick,« erwiderte John Vandeleur.

Zugleich warf er den Stummel fort, nahm die Laterne und wandte sich der Veranda zu. Sobald die Tür geschlossen war, lag das Haus in vollkommener Dunkelheit da. Franz mochte seine Sehkraft anstrengen, soviel er wollte, er konnte auch nicht einen einzigen Lichtfunken an einem der Fenster des geheimnisvollen Hauses entdecken, und er zog daraus den ganz vernünftigen Schluß, daß die Schlafzimmer sämtlich auf der andern Seite lägen.

Als er am nächsten Morgen nach einem unbequemen Nachtlager auf dem Fußboden frühzeitig aufwachte, sah er sich veranlaßt, die am Abend vorher bemerkte Dunkelheit auf andere Weise zu erklären. Die Jalousien gingen eine nach der andern in die Höhe, und dahinter zeigten sich schwere Rolläden, wie sie gewöhnlich vor Schaufenstern angebracht sind. Diese wurden gleichfalls, ohne daß dabei eine Person sichtbar wurde, hinaufgezogen, und hierauf blieben sämtliche Fenster etwa eine Stunde lang geöffnet.

Während Franz noch auf diese erstaunlichen Sicherheitsvorrichtungen schaute, öffnete sich die Tür des Hauses, und ein junges Mädchen trat auf die Schwelle und sah hinaus. Sie blieb keine zwei Minuten stehen, aber diese kurze Zeit genügte, Franz zu überzeugen, daß sie ganz ungewöhnliche Reize besaß. Dadurch wurde nicht nur in hohem Grade seine Neugier erregt, sondern es hob sich auch sein Mut bedeutend. Der zweifelhafte Charakter und die verdächtige Lebensweise seines Vaters beunruhigten ihn hinfort nicht mehr, er fühlte sich von Stunde an seiner Familie aufs innigste verbunden, und mochte die junge Dame nun seine Schwester oder seine Verlobte sein, er war überzeugt, daß sie ein Engel sei. Dieses Gefühl beherrschte ihn bereits in dem Maße, daß er bei dem plötzlichen Gedanken, wie wenig Sicheres er wisse, und wie leicht er einer falschen Person gefolgt sein könne, als er Herrn Vandeleur nachging, von jähem Schrecken erfüllt wurde.

Der Hauspförtner, bei dem er sich erkundigte, vermochte ihm nur wenig Auskunft zu geben, und was er sagte, klang geheimnisvoll und zweifelhaft. Der Nachbar sei ein ungeheuer reicher und dementsprechend in seinen Neigungen und Gewohnheiten überspannter Engländer. Das Fräulein sei seine Tochter, werde aber trotzdem ganz einfach gehalten und gehe täglich mit einem Korb am Arme selbst auf den Markt, um Lebensmittel einzukaufen.

Am Sonntag war Franz beizeiten auf seinem Platz im Theater. Da dieser besonders ausgewählt war, so ließ sich aus seiner Lage sicher ein Schluß ziehen, und Franz sagte sich bald, daß wahrscheinlich die Loge zu seiner Rechten in irgendeiner Beziehung zu dem Drama stehe, in dem er unwissentlich eine Rolle spielen sollte. Diese Loge lag so, daß ihn ihre Insassen, wenn sie wollten, von Anfang bis zu Ende der Vorstellung beobachten konnten, während sie selbst bei der Tiefe der Loge in der Lage waren, sich jeder Gegenbeobachtung zu entziehen.

Aber erst, als der zweite und letzte Akt begonnen hatte, sah Franz, der die verdächtige Loge keinen Augenblick aus den Augen ließ, daß sich die Logentür auftat und zwei Personen hereinkamen, die sich sofort in den dunkelsten Teil der Loge zurückzogen. Franz war kaum imstande, seine Bewegung zu meistern. Es waren Herr Vandeleur und seine Tochter. Das Blut rollte ihm mit unheimlicher Schnelligkeit durch die Adern, die Ohren klangen ihm, und sein Kopf wirbelte. Er wagte nicht hinzublicken, um keinen Verdacht zu erregen. Auf dem Theaterzettel, den er von Anfang bis zu Ende immer wieder durchlas, tanzten die Buchstaben vor seinen Augen herum, und wenn er einen Blick auf die Bühne warf, schien sie ihm unermeßlich fern zu sein, und die Stimmen und Bewegungen der Schauspieler kamen ihm höchst abgeschmackt und lächerlich vor.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen schnellen Blick nach der ihn vor allen anziehenden Richtung zu werfen, und wenigstens das eine Mal war er überzeugt, den Augen des jungen Mädchens begegnet zu sein. Ein elektrischer Schlag durchzitterte seinen Körper, und er sah alle Farben des Regenbogens. Was hätte er nicht darum gegeben, der Unterhaltung der Vandeleurs lauschen zu können! Was hätte er nicht darum gegeben, wenn er den Mut gefunden hätte, sein Opernglas zu nehmen und sich über ihre Haltung und ihren Ausdruck zu vergewissern? Dort fiel, wie er annahm, die Entscheidung über sein ganzes Leben, und er war außerstande, einzugreifen oder auch nur der Verhandlung zu folgen, und sah sich dazu verurteilt, in ohnmächtiger Beklommenheit dazusitzen.

Endlich war der Aufzug zu Ende. Der Vorhang fiel, und die Leute um ihn herum verließen ihre Plätze. Franz folgte mit möglichster Beschleunigung ihrem Beispiel. Als er aber gerade bei der Loge angelangt war und erwartungsvoll einen schnellen Blick hineinwarf, hätte er laut aufschreien mögen: die Loge war bereits leer, und ihre Insassen hatten offenbar das Theater verlassen. Mechanisch setzte er seine Füße wieder in Bewegung und ließ sich von der Menge willenlos aus dem Theater hinausschieben. Als das Gedränge auf der Straße aufhörte, blieb er stehen, und die kühle Abendluft brachte ihn bald wieder zu sich. Zu seiner Verwunderung schmerzte ihn der Kopf heftig, und er konnte sich an kein Wort des gesehenen Schauspiels erinnern. Nachdem die Aufregung gewichen war, empfand er ein überwältigendes Verlangen nach Schlaf, er winkte daher einer Droschke und fuhr im Zustande höchster Erschöpfung und Enttäuschung nach seiner Wohnung.

Am nächsten Morgen lag er im Anschlag auf Fräulein Vandeleur bei ihrem Ausgange auf den Markt, und um acht Uhr sah er sie die Straße herunterkommen. Sie war einfach, ja ärmlich gekleidet, aber in der Haltung des Kopfes lag etwas Anmutvolles und Edles, das auch der dürftigsten Kleidung Glanz verliehen hätte. Selbst ihren Korb verstand sie so zu tragen, daß er ihr zur Zierde gereichte. Es kam Franz vor, als sei der Sonnenschein an ihre Fersen geheftet und fliehe der Schatten vor ihrem Schritt, und zum erstenmal wurde er sich bewußt, einen Vogel singen zu hören, dessen Käfig an einem der nächsten Häuser hing.

Er trat in einen Torweg, ließ sie vorübergehen, schritt dann wieder hinter ihr her und rief ihr zu:

»Fräulein Vandeleur!«

Sie wandte sich um und wurde, als sie ihn bemerkte, totenbleich.

»Verzeihen Sie mir,« fuhr er fort; »der Himmel weiß, ich wollte Sie nicht erschrecken, und es sollte auch der Anblick eines Menschen, der Ihnen so wohlgesinnt ist wie ich, nichts Erschreckendes für Sie haben. Und glauben Sie mir, ich handle eher unter dem Drange der Notwendigkeit als aus freiem Willen. In so vielen Punkten berühren sich unsere Interessen, und ich tappe ganz im Dunkeln. So vieles sollte ich tun, aber meine Hände sind gebunden. Ich weiß nicht einmal, welche Gefühle ich hegen soll, und wer mein Freund oder mein Feind ist.«

Sie unterdrückte gewaltsam ihre Erregung und sagte leise:

»Ich weiß nicht, wer Sie sind.«

»O doch, Fräulein Vandeleur, Sie wissen es,« gab er zurück, »besser als ich selbst. Gerade über diesen Punkt suche ich vor allem Licht. Sagen Sie mir, was Sie wissen,« sagte er bittend. »Sagen Sie mir, wer Sie sind und wie unsere Geschicke miteinander verknüpft sind. Sprechen Sie nur ein Wort, das mir einen festen Halt gibt, nennen Sie mir nur den Namen meines Vaters, wenn Sie wollen, – und ich werde dankbar und zufrieden sein.«

»Ich will Sie nicht zu täuschen versuchen,« erwiderte sie. »Ich weiß, wer Sie sind, aber ich darf es nicht sagen.«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie mir meine Unbescheidenheit verziehen haben, und ich werde mit aller Geduld, deren ich fähig bin, warten,« sagte er. »Kann ich es nicht erfahren, so muß ich mich so begnügen. Es ist grausam, aber ich kann es ertragen, wenn ich nicht zu fürchten brauche, daß Sie mir zürnen.«

»Was Sie getan haben, war ganz natürlich,« sagte sie, »und ich habe Ihnen nichts zu vergeben. Leben Sie wohl!«

»Soll das ein Lebewohl auf immer sein?« fragte er.

»Das weiß ich selbst nicht,« antwortete sie. »Leben Sie wohl auf Wiedersehen, wenn Sie das lieber hören!«

Und damit ging sie davon.

Franz kehrte in einem Zustande großer Erregung in sein Zimmer zurück. Er kam an diesem Vormittag mit seiner Geometrie recht wenig vorwärts und befand sich mehr am Fenster als an seinem improvisierten Schreibtische. Aber außer der Rückkehr des Fräuleins Vandeleur und der Begrüßung zwischen ihr und ihrem Vater, der auf der Veranda eine Zigarre rauchte, war bis Mittag nichts Erwähnenswertes in und an dem Hause mit den grünen Jalousien zu bemerken. Der junge Mann nahm in einer nahen Wirtschaft ein hastiges Mahl ein und kehrte mit der Eile unbefriedigter Neugier zu dem Hause in der Lepicstraße zurück. Ein Diener in Galakleidung führte hier ein gesatteltes Pferd an der Gartenmauer auf und nieder, und der Pförtner von Franzens Wohnung saß, in die Betrachtung der Livree und des Rassepferdes versunken, mit einer Zigarre im Munde und bequem an die Wand gelehnt, da und rief dem jungen Manne zu:

»Sehen Sie nur, was für ein edles Tier, was für eine reiche Livree! Es gehört dem Bruder des Herrn Vandeleur, der jetzt dort einen Besuch macht. Er ist in Ihrem Lande ein großer Mann, ein General, und er ist es auch, der den großen indischen Diamanten verloren hat. Davon müssen Sie doch in den Zeitungen gelesen haben.«

Sobald sich Franz losmachen konnte, lief er die Treppe hinauf zu seinem Fenster. Unmittelbar unter der laubfreien Stelle des Kastanienbaumes saßen die beiden Herren, rauchend und in eifriger Unterhaltung begriffen. Der General, ein rotwangiger Mann von militärischem Aussehen, hatte unverkennbar einige Familienähnlichkeit mit seinem Bruder; er hatte etwas von seinen Zügen, etwas, wenn auch sehr wenig, von seiner freien, gebietenden Haltung, aber er war älter, kleiner, und sein Gesichtsausdruck war gewöhnlicher. Seine Ähnlichkeit war mehr die einer Karikatur, und er machte alles in allem neben dem Diktator einen ziemlich kläglichen Eindruck.

Sie sprachen, obschon offenbar mit dem größten Interesse, doch so leise, daß Franz nur dann und wann ein Wort auffangen konnte. Aus dem wenigen, was er vernahm, glaubte er schließen zu dürfen, daß er selbst und sein Geschick den Gegenstand der Unterhaltung bilde, denn mehrmals traf der Name Scrymgeour sein Ohr, und noch häufiger glaubte er seinen Vornamen unterscheiden zu können.

Schließlich stieß der General zornerfüllt heftig hervor:

»Franz Vandeleur! Franz Vandeleur, sage ich dir!«

Der Diktator machte mit seinem ganzen Körper eine halb abweisende, halb verächtliche Bewegung, aber seine Antwort war für den jungen Mann unhörbar.

Ob er wohl der Franz Vandeleur war? Sprachen sie über den Namen, unter dem er verheiratet werden sollte? Oder war das Ganze nur ein Traum und ein Selbstbetrug seiner überreizten Einbildungskraft?

Nachdem sie sich hierauf längere Zeit leise unterhalten hatten, schienen sie wieder uneins geworden zu sein, und von neuem ließ sich die zornige Stimme des Generals vernehmen.

»Meine Frau?« rief er. »Ich bin mit ihr fertig. Ich will ihren Namen nicht mehr hören, es macht mich krank, wenn ich nur an sie erinnert werde.«

Und unter lautem Fluchen schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Der Diktator schien ihn in väterlicher Weise beruhigen zu wollen und geleitete ihn bald darauf zur Gartentür. Die Brüder drückten sich anscheinend herzlich die Hände, aber kaum hatte sich die Tür hinter seinem Besucher geschlossen, so brach John Vandeleur in ein unmäßiges Gelächter aus, das in Franz Scrymgeours Ohren einen unfreundlichen, ja teuflischen Klang hatte.

So ging ein weiterer Tag vorüber, und die Ausbeute war nur gering. Aber der junge Mann erinnerte sich, daß der nächste Tag der Dienstag war, von dem er sich wichtigere Enthüllungen versprach; vielleicht, wenn's Glück gut war, gelang es ihm dann, dem Geheimnis, das seinen Vater und seine Familie umschwebte, auf den Grund zu kommen.

Als die Stunde des mit dem anscheinenden Geistlichen auf Dienstag verabredeten Mahles näherrückte, waren viele Vorbereitungen im Garten des geheimnisvollen Hauses bemerkbar. Der Tisch, den Franz durch die Kastanienblätter teilweise sehen konnte, sollte als Serviertisch dienen und war mit Tellern, Schüsseln und dergleichen besetzt. Der andere, fast ganz verborgene, war offenbar für die Speisenden bestimmt, und Franz sah den Schimmer vom weißen Tischtuch und dem silbernen Tafelgerät.

Herr Rolles stellte sich pünktlich auf die Minute ein; er machte den Eindruck eines Mannes, der auf seiner Hut ist, und sprach wenig und in leisem Tone. Der Diktator schien dagegen besonders wohlgelaunt zu sein. Sein frisch und angenehm klingendes Lachen tönte häufig zu dem Lauscher hinauf; aus den wechselvollen Klängen seiner Stimme konnte man entnehmen, daß er manchen Spaß erzählte und die Sprechweisen verschiedener Völker nachmachte, und ehe er und der junge Geistliche ihr Glas Wermut ausgetrunken hatten, schien aus der Brust des letzteren jedes Gefühl des Mißtrauens verschwunden, und sie schwatzten zusammen wie ein Paar Schulkameraden.

Schließlich erschien Fräulein Vandeleur mit einer Suppenterrine. Herr Rolles beeilte sich, ihr behilflich zu sein; sie aber lehnte lachend seinen Beistand ab. Die drei tauschten darauf allerhand scherzhafte Bemerkungen aus, die sich auf den Umstand zu beziehen schienen, daß sie sich selbst zu bedienen hatten.

»Es ist so viel gemütlicher,« erklärte Herr Vandeleur.

Im nächsten Augenblick waren alle drei an ihren Plätzen, und Franz konnte ebensowenig sehen, als er zu hören vermochte, was weiter vor sich ging. Doch schien es beim Mahle heiter zuzugehen, da beständig fröhliche Stimmen und der Klang von Messern und Gabeln hörbar waren; Franz, der nur an einer Semmel zu knabbern hatte, konnte nicht ohne Neid an die lange, üppige Schmauserei denken. Eine Schüssel nach der andern wurde aufgetragen, und dann kam noch ein erlesener Nachtisch, bei dem der Diktator mit eigener Hand eine Flasche alten Wein entkorkte. Als die Dunkelheit hereinbrach, wurde eine Lampe auf den Speisetisch gestellt und ein paar Kerzen auf den andern, denn der Abend war völlig heiter und sternhell und die Luft unbewegt. Auch von der Tür und den Fenstern der Veranda strömte Licht in den Garten, so daß dieser feenhaft beleuchtet war und die dunklen Blätter schimmerten.

Fräulein Vandeleur ging vielleicht zum zehntenmal ins Haus und kehrte diesmal mit dem Kaffeegeschirr zurück, das sie auf den Nebentisch setzte. Zugleich erhob sich ihr Vater von seinem Sitz.

»Der Kaffee ist mein Gebiet,« hörte ihn Franz sagen.

Und im nächsten Augenblick sah er seinen vermeintlichen Vater beim Scheine der Kerzen am Nebentisch stehen.

Indem er sich dabei fortwährend an der Unterhaltung beteiligte, füllte Herr Vandeleur zwei Tassen mit dem belebenden braunen Safte, und dann goß er mit der schnellen Bewegung eines Taschenspielers den Inhalt eines kleinen Fläschchens in die kleinere Tasse. Dies führte er mit solcher Geschwindigkeit aus, daß selbst Franz, der ihm gerade ins Gesicht schauen konnte, der Bewegung erst inneward, als sie schon geschehen war. Und im nächsten Augenblick hatte sich Herr Vandeleur, noch lachend, mit einer Tasse in jeder Hand umgedreht.

»Ehe wir hiermit fertig sind,« sagte er, »können wir unsern berühmten Hebräer erwarten.«

Es wäre unmöglich, Franzens Verwirrung und Herzeleid zu beschreiben. Er sah, wie sich vor seinen Augen ein Verbrechen abspielte, und fühlte sich gedrungen dazwischenzutreten, wußte aber nicht, wie. Es konnte sich nur um einen Scherz handeln, und wie würde es dann aussehen, wenn er als überflüssiger Warner eingriff? Wenn es aber ernst gemeint war, so war der Verbrecher vielleicht sein eigener Vater, und müßte er es dann nicht bitter beklagen, seinen Erzeuger ins Verderben gestürzt zu haben? Er preßte sich fest an die Fensterläden, sein Herz pochte laut und unregelmäßig, und er fühlte einen starken Schweiß an seinem Körper ausbrechen.

Mehrere Minuten vergingen.

Es kam ihm vor, als ob die Unterhaltung immer weniger lebhaft würde, aber noch bemerkte er kein weiteres beunruhigendes Zeichen.

Auf einmal vernahm er das Klirren eines zerbrochenen Glases und darauf ein schwaches dumpfes Geräusch, wie wenn jemand mit dem Kopf gegen den Tisch gefallen wäre. Zugleich ließ sich ein durchdringender Schrei hören.

»Was hast du getan?« rief Fräulein Vandeleur. »Er ist tot.«

Der Diktator stieß leise, aber so scharf und heftig, daß der Lauscher am Fenster jedes Wort verstehen konnte, zwischen den Zähnen hervor:

»Still! Der Mann ist so gesund wie ich. Fass' du ihn an den Fersen, während ich ihn an den Schultern nehme.«

Franz hörte, wie Fräulein Vandeleur in heftiges Schluchzen ausbrach.

»Hörst du, was ich sage?« nahm der Diktator wieder in gleicher Weise das Wort. »Oder willst du mit mir Streit anfangen? Wie, ist das deine Absicht?«

Hierauf trat von neuem eine Pause ein, bis der Diktator wiederholte:

»Nimm den Mann bei den Fersen. Ich muß ihn ins Haus bringen. Wäre ich ein wenig jünger, so würden mir meine eigenen Kräfte genügen. Jetzt aber, wo mir Alter und Gefahren zusetzen und meine Hände schwächer geworden sind, bedarf ich deines Beistandes.«

»Es ist ein Verbrechen,« erwiderte das Mädchen.

»Ich bin dein Vater,« sagte Herr Vandeleur.

Diese Berufung auf die Kindespflicht des Gehorsams schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Es machte sich ein scharrendes Geräusch auf dem Kies vernehmbar, ein Stuhl wurde umgeworfen, und nun sah Franz Vater und Tochter über den Weg stolpern und mit dem leblosen Körper des Herrn Rolles unter der Veranda verschwinden. Der junge Geistliche war völlig bleich, sein Kopf schwankte bei jedem Schritte hin und her.

War er lebendig oder tot? Franz neigte sich trotz der Erklärung des Diktators der letzteren Ansicht zu. Ein großes Verbrechen war begangen worden; großes Unheil schwebte über den Bewohnern des Hauses mit den grünen Jalousien. Zu seinem eigenen Erstaunen wurde sich Franz bewußt, daß all sein Schauder vor der Untat unterging in der Besorgnis um das Mädchen und den alten Mann, die ihm in höchster Gefahr zu schweben schienen. Eine Sturmflut hochherzigen Mitgefühls überschwemmte sein Herz, auch er wollte seinem Vater beistehen gegen Erde und Himmel, gegen Schicksal und Gerechtigkeit, und er stieß die Läden auf, schloß die Augen und warf sich mit ausgebreiteten Armen in das Laubwerk des Kastanienbaumes.

Ein Zweig nach dem andern wich unter dem Drucke seines Körpers beiseite oder brach, dann kam ein kräftiger Ast unter seine Achselhöhle; eine Sekunde blieb er so hängen, und hierauf ließ er sich fallen und stieß ziemlich heftig gegen den Tisch. Ein lauter Schrei vom Hause her sagte ihm, daß sein Erscheinen nicht unbemerkt geblieben sei. Mit einem Ruck war er wieder auf den Füßen, und drei Sätze brachten ihn vor die Verandatür.

In einem kleinen mit Matten belegten Gemache, an dessen Wänden sich ringsum polierte Sammelkästen befanden, stand Herr Vandeleur, über Herrn Rolles' Körper geneigt. Als Franz eintrat, richtete er sich auf, und zugleich erfolgte eine schnelle Bewegung von Hand zu Hand. Es war das Werk einer Sekunde, im Augenblick war es geschehen, der junge Mann hatte keine Zeit, sich darüber zu vergewissern, aber es schien ihm, als hätte der Diktator etwas von der Brust des Daliegenden genommen, einen kurzen Moment darauf geschaut und es dann hastig seiner Tochter zugesteckt.

Dies hatte sich alles abgespielt, während Franz noch mit einem Fuß auf der Schwelle stand und den andern aufhob. Im nächsten Augenblick lag er vor Herrn Vandeleur auf den Knien.

»Vater,« rief er, »nehmen Sie auch meine Hilfe an. Ich will tun, was Sie verlangen, ohne zu fragen. Mein Leben gebe ich für Sie hin; erkennen Sie mich als Ihr Kind an, und Sie werden in mir einen ergebenen, liebevollen Sohn finden.«

Ein schrecklicher Ausbruch von Flüchen war des Diktators erste Erwiderung.

»Sohn und Vater?« schrie er; »Vater und Sohn? Was für eine verdammte Komödie ist denn das? Wie kommen Sie in meinen Garten? Was wollen Sie? Und wer, in Teufels Namen, sind Sie?«

Halbbetäubt und schamerfüllt sprang Franz auf und stand schweigend da.

Dann schien Herrn Vandeleur ein Licht aufzugehen, und er lachte überlaut.

»Ah, ich sehe,« sagte er. »Es ist der Scrymgeour. Herrlich, Herr Scrymgeour. Lassen Sie mich Ihnen in kurzen Worten sagen, wie's mit Ihnen steht. Sie sind mit Gewalt oder durch Betrug in mein Haus eingedrungen, und Sie kommen mit Ihren albernen Deklamationen gerade in einem besonders unpassenden Augenblicke, nachdem ein Gast bei Tisch in Ohnmacht gefallen ist. Sie sind kein Sohn von mir. Sie sind ein Bastard meines Bruders von einem Fischweib, wenn Sie's wissen wollen. Mir sind Sie nicht nur völlig gleichgültig, sondern eher noch widerwärtig, und nach Ihrer Aufführung möchte ich glauben, Ihr geistiger Zustand entspricht völlig Ihrer äußeren Erscheinung. Dieses mein Urteil empfehle ich Ihnen zur näheren Erwägung für Ihre Mußestunden, und inzwischen seien Sie so freundlich, uns von Ihrer werten Gegenwart zu befreien. Wäre ich nicht gerade anderweitig beschäftigt,« fügte der Diktator mit einem mehr als kräftigen Fluche hinzu, »so würde ich Ihnen noch zur Erinnerung eine gehörige Tracht Prügel mit auf den Weg geben.«

Franz hörte diesen rohen Erguß mit tiefer Beschämung an. Er hätte sich eiligst aus dem Staube gemacht, wäre dies möglich gewesen, aber da er nicht wußte, auf welche Weise er aus der Wohnung, in die er so unglückseligerweise gekommen war, hinausgelangen sollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als dumm und stumm stehenzubleiben.

Fräulein Vandeleur brach das Schweigen zuerst.

»Vater,« sagte sie, »du sprichst im Zorn, Herr Scrymgeour mag im Irrtum gewesen sein, aber seine Absicht war gut und freundlich.«

»Gut, daß mich deine Worte daran erinnern,« versetzte der Diktator; »ich halte es für Ehrensache, Herrn Scrymgeour noch eine weitere Eröffnung zu machen. Mein Bruder,« fuhr er, zu dem jungen Mann gewendet, fort, »ist so töricht gewesen, Ihnen eine Rente zu geben; er war so töricht und anmaßend, Sie mit dieser jungen Dame verloben zu wollen. Sie wurden ihr vor zwei Tagen gezeigt, und ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß sie den Gedanken mit Abscheu von sich wies. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich auf Ihren Vater einen bedeutenden Einfluß ausübe, und mein Fehler wird's gewiß nicht sein, wenn Ihre Rente Ihnen nicht ehestens entzogen wird und Sie, bevor die Woche um ist, wieder hinter Ihrem Schreibtisch sitzen.«

Der Ausdruck, mit dem der alte Mann diese Worte sprach, war womöglich noch verletzender als das, was er sagte. Unter dem Stachel dieser beißenden Rede und der unerträglichen Verachtung wandte sich Franz um, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in ein entsetzliches tränenloses Schluchzen aus. Doch Fräulein Vandeleur trat noch einmal für ihn ein.

»Herr Scrymgeour,« sagte sie mit klarer Stimme und ruhigem Tonfall, »Sie müssen sich meines Vaters rauhe Worte nicht so zu Herzen nehmen. Ich empfand durchaus keinen Widerwillen gegen Sie, im Gegenteil, ich bat um eine Gelegenheit, Sie besser kennenzulernen. Was die Ereignisse des heutigen Abends betrifft, so glauben Sie mir, daß sie mich nicht minder mit Bedauern wie mit Achtung für Sie erfüllt haben.«

Gerade in diesem Augenblick machte Herr Rolles eine krampfhafte Armbewegung, die Franz überzeugte, daß er nur betäubt worden war. Herr Vandeleur beugte sich über sein Opfer und schaute ihm prüfend ins Gesicht.

»Komm, komm!« stieß er, zu seiner Tochter gewendet, hervor, seinen Kopf erhebend. »Das Ding muß ein Ende nehmen, und da dir seine Aufführung so sehr zu gefallen scheint, so nimm ein Licht und zeige dem Bastard den Weg auf die Straße.«

Die junge Dame tat sofort nach dem Befehl.

»Ich danke Ihnen,« sagte Franz, sobald er mit ihr allein im Garten war. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Das war der bitterste Abend meines Lebens, aber er wird mir wenigstens auch eine angenehme Erinnerung bieten.«

»Ich habe nur ausgesprochen, was ich empfand,« entgegnete sie, »und was die Gerechtigkeit verlangte. Es tat meinem Herzen wehe, daß Sie so unfreundlich behandelt wurden.«

Inzwischen waren sie am Gartentor angelangt, und Fräulein Vandeleur, die das Licht auf den Boden gesetzt hatte, schob bereits den Riegel zurück.

»Noch ein Wort,« sagte Franz. »Dies ist nicht das letztemal! – ich werde Sie wiedersehen, nicht wahr?«

»Ach,« antwortete sie. »Sie haben meinen Vater gehört. Was kann ich anderes tun als gehorchen?«

»Sagen Sie mir wenigstens, daß dies nicht Ihrem Willen entspricht,« gab Franz zurück; »sagen Sie mir, daß es nicht Ihr Wunsch ist, mich nicht wiederzusehen.«

»Gewiß,« sagte sie, »das ist mein Wunsch nicht. Sie scheinen mir ebenso kühn wie ehrenhaft zu sein.«

»Dann,« sagte Franz, »geben Sie mir ein Andenken!«

Mit der Hand auf dem Schlüssel, den sie nur noch umzudrehen hatte, um das Tor völlig zu öffnen, stand sie einen Augenblick unentschlossen. Dann sagte sie:

»Wollen Sie mir auch versprechen, ganz genau, Punkt für Punkt nach meiner Weisung zu tun?«

»Können Sie fragen?« entgegnete Franz. »Auf Ihr bloßes Wort würde ich es mit Freuden tun.«

»So sei es drum,« sagte sie. »Sie wissen nicht, worum Sie bitten, aber sei es drum. Was Sie auch hören,« fuhr sie fort, »was auch geschieht, kehren Sie nicht in dieses Haus zurück! Eilen Sie fort, bis Sie die beleuchteten und belebten Teile der Stadt erreichen, und auch da seien Sie auf Ihrer Hut! Sie schweben in größerer Gefahr, als Sie meinen. Versprechen Sie mir, daß Sie mein Andenken nicht einmal ansehen wollen, bis Sie sich in Sicherheit befinden.«

»Ich verspreche es,« versetzte Franz.

Sie legte etwas, das lose in ein Taschentuch gewickelt war, in die Hand des jungen Mannes; zugleich schob sie ihn mit mehr Kraft, als er ihr zugetraut hätte, auf die Straße und rief:

»Laufen Sie, laufen Sie!«

Er hörte das Tor hinter sich schließen und die Riegel vorschieben.

»Meiner Treu,« sprach er zu sich, »da ich's mal versprochen habe.«

Und dabei lief er eine Straße, die in die Ravignanstraße führt, hinunter.

Noch keine fünfzig Schritt war er von dem Hause mit den grünen Jalousien entfernt, als auf einmal ein ganz teuflisches Wutgeschrei die Stille der Nacht durchdrang. Unwillkürlich machte er halt, ein zweiter Fußgänger folgte seinem Beispiel, in den nächsten Häusern eilten die Bewohner an die Fenster; eine Feuersbrunst hätte in dieser einsamen Stadtgegend keine größere Aufregung verursachen können. Und doch schien das Geschrei nur von einem einzigen Mann auszugehen, der vor Schmerz und Wut brüllte wie eine Löwin um ihre Jungen, und Franz hörte zu seiner größten Bestürzung und Beunruhigung seinen eigenen Namen, untermischt mit englischen Verwünschungen.

Seine erste Regung war umzukehren, dann besann er sich aber auf Fräulein Vandeleurs Rat und machte sich eben mit doppelter Eile auf den Weg, als er den Diktator, ohne Kopfbedeckung, mit wirrem Haar und laut schreiend, wie eine abgefeuerte Kanonenkugel die Straße nach der entgegengesetzten Richtung hinunterlaufen sah.

Da bin ich knapp seinem Rachen entronnen, dachte Franz bei sich. »Was er von mir will und was ihn so toll gemacht hat, kann ich mir nicht denken, aber im Augenblick ist nicht gut Kirschen essen mit ihm, und ich kann nichts Besseres tun, als Fräulein Vandeleurs Rate folgen.«

Da er zunächst der Gefahr entronnen zu sein glaubte, so trat er, da er nicht nur ohne Hut war, sondern auch seine Kleider auf der Niederfahrt durch den Kastanienbaum arg gelitten hatten, in den ersten Laden, wo er eine billige Kopfbedeckung kaufte und wenigstens den gröbsten Schaden seiner Toilette ausbessern ließ. Das immer noch in das Taschentuch gewickelte Andenken steckte er dabei in seine Hosentasche.

Aber kaum hatte er wieder ein paar Schritte aus dem Laden heraus getan, so fühlte er sich plötzlich gepackt, eine Hand fuhr ihm an die Kehle, ein wütendes Gesicht stand ihm dicht vor Augen, und ein aufgerissener Mund stieß ihm schauerliche Flüche ins Ohr. Es war der Diktator, der, als er auf seinem Wege keine Spur von dem gesuchten Wilde fand, auf einem andern Wege zu seiner Wohnung zurückkehrte. Franz war kein Schwächling, aber seinem Gegner weder an Kraft noch an Gewandtheit gewachsen, und so ergab er sich nach einigem fruchtlosen Sträuben auf Gnade und Ungnade seinem Widersacher.

»Was wollen Sie von mir?« sagte er.

»Davon wollen wir daheim reden,« erwiderte der Diktator voll Hohn.

Und er riß den jungen Mann mit sich fort, dem Hause mit den grünen Jalousien zu.

Doch Franz, der anscheinend jeden Widerstand aufgegeben hatte, wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, durch einen kecken Fluchtversuch seine Freiheit wiederzugewinnen. Mit jähem Rucke sich losreißend, ließ er seinen Rockkragen in Herrn Vandeleurs Händen und lief zum zweitenmal, was er nur konnte, den Boulevards zu.

Jetzt lagen die Würfel anders. Wenn der Diktator der Stärkere war, so besaß dafür Franz in der Blüte seiner Jugend schnellere Füße und war bald nach Überholung anderer Straßengänger vor seinem Verfolger sicher. Von dieser dringendsten Sorge befreit, aber voll Bestürzung und Unruhe wegen seines letzten Erlebnisses, ging er schnellen Schrittes vorwärts, bis er auf den von elektrischen Lichtern tageshell beleuchteten Opernplatz gelangte.

Wenigstens damit, dachte er, würde Fräulein Vandeleur zufrieden sein.

Er wandte sich dann zur Rechten und trat nach einer Weile in das Amerikanische Café, wo er sich ein Glas Bier bestellte. Nur zwei oder drei Männer saßen im Gastzimmer zerstreut und vereinzelt an den Tischen, und Franz war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sie zu beachten.

Er zog das Taschentuch hervor. Der eingewickelte Gegenstand erwies sich als ein feines Lederfutteral mit goldenem Verschluß, der sich durch Druck auf eine Feder öffnen ließ und vor den Augen des entsetzten jungen Mannes einen Diamanten von unerhörter Größe und außerordentlichem Feuer enthüllte. Dies war etwas so Unbegreifliches und der Wert des Edelsteins so ungeheuer, daß Franz eine Weile bewußtlos dasaß und das Geschmeide anstarrte wie ein Mensch, der plötzlich seinen Verstand verloren hat.

Da legte sich leicht, aber fest eine Hand auf seine Schulter, und eine ruhige Stimme, die aber etwas Gebieterisches in sich hatte, ließ folgende Worte in sein Ohr und sein wieder zum Bewußtsein zurückkehrendes Hirn dringen:

»Machen Sie das Futteral zu und zeigen Sie ein gefaßteres Gesicht!«

Er schaute auf und gewahrte einen noch jungen Mann von vornehmem und ruhigem Wesen, der reich und doch einfach gekleidet war. Dieser Herr war vom Nebentische aufgestanden und hatte sich, sein Glas in der Hand, neben Franz gesetzt.

»Machen Sie das Futteral zu,« wiederholte der Fremde, »und stecken Sie es ruhig wieder in Ihre Tasche, wo es sich, wie ich fest überzeugt bin, niemals hätte befinden sollen. Versuchen Sie auch, bitte, eine weniger verstörte Miene zur Schau zu tragen, und tun Sie, als wäre ich ein Bekannter von Ihnen, den Sie zufällig getroffen haben. So! Stoßen Sie mit mir an! Das ist besser. Wir scheint's, mein Herr, Sie betreiben die Beschäftigung nur aus Liebhaberei, nicht als Handwerk.«

Der Fremde begleitete diese letzten Worte mit einem eigentümlichen, vielsagenden Lächeln, lehnte sich in seinen Sitz zurück und tat mit Behagen einen kräftigen Zug an seiner Havanna.

»Um Gottes willen,« rief Franz, »sagen Sie mir, wer Sie sind und was das zu bedeuten hat. Warum ich Ihren merkwürdigen Zumutungen folgen soll, sehe ich gar nicht ein, aber es ist mir in der Tat heute abend so viel Sinnverwirrendes widerfahren, und alle Leute, mit denen ich zusammenkomme, benehmen sich so sonderbar, daß ich glaube, ich muß entweder den Verstand verloren haben oder auf einen andern Planeten geraten sein. Ihr Gesicht flößt mir zudem Vertrauen ein, Sie scheinen mir weise, gut und erfahren zu sein; um's Himmels willen, sagen Sie, warum Sie mir in so ungewöhnlicher Weise entgegentreten.«

»Alles zu seiner Zeit,« versetzte der Fremde. »Aber ich habe die Vorhand, und Sie müssen mir zuerst erzählen, wie der Diamant des Rajahs in Ihre Hände gekommen ist.«

»Der Diamant des Rajahs!« gab Franz zurück.

»Ich würde nicht so laut sprechen, wäre ich an Ihrer Stelle,« sagte der andere. »Aber ohne Zweifel haben Sie den Diamanten des Rajahs in Ihrer Tasche. Ich habe ihn wohl ein dutzendmal in Sir Thomas Vandeleurs Sammlung gesehen und in Händen gehabt.«

»Sir Thomas Vandeleur! Der General! Mein Vater!« rief Franz.

»Ihr Vater?« wiederholte der Fremde. »Meines Wissens hatte der General keine Kinder.«

»Ich bin ein außereheliches Kind,« versetzte Franz errötend.

Der andere verbeugte sich mit Würde und Achtung wie vor seinesgleichen, was Franz Erleichterung und Trost gewährte, er wußte selbst nicht, warum. Die Gesellschaft dieses Mannes tat ihm wohl; er glaubte endlich festen Grund unter den Füßen zu haben, und von hoher Achtung erfüllt, zog er unwillkürlich seinen Hut, wie wenn er sich in Gegenwart eines Vorgesetzten befände.

»Wie ich sehe,« sagte der Fremde, »sind Ihre Abenteuer nicht eben friedlich abgelaufen. Ihr Kragen ist zerrissen, ihr Gesicht ist zerkratzt, und Sie haben einen Schnitt an der Schläfe. Sie entschuldigen vielleicht meine Neugier, wenn ich Sie bitte, mir zu erklären, wie Sie diese Verletzungen erlitten haben, und wie es kommt, daß sich gestohlenes Gut von so ungeheurem Werte in Ihrer Tasche befindet.«

»Da muß ich Ihnen widersprechen,« entgegnete Franz hitzig. »Ich besitze kein gestohlenes Eigentum. Und wenn Sie den Diamanten meinen, so wurde mir dieser vor einer Stunde von Fräulein Vandeleur in der Lepicstraße gegeben.«

»Von Fräulein Vandeleur in der Lepicstraße!« wiederholte der andere. »Sie spannen mich mehr, als Sie glauben. Bitte, fahren Sie fort!«

»Himmel!« rief Franz.

In seiner Erinnerung machte er plötzlich eine Entdeckung. Er hatte gesehen, wie Herr Vandeleur von der Brust seines betäubten Besuchers einen Gegenstand nahm, und dieser Gegenstand war, wie er jetzt überzeugt war, ein ledernes Futteral.

»Es geht Ihnen ein Licht auf?« sagte der Fremde forschend.

»Hören Sie mich an,« versetzte Franz. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich glaube, Sie sind vertrauenswert und hilfreich. Ich habe selbst den Grund unter den Füßen verloren, ich bedarf des Rates und Beistandes, und da Sie mich auffordern, so werde ich Ihnen alles erzählen.«

Und er berichtete mit kurzen Worten seine Erlebnisse von dem Tage an, da ihn die Advokaten von seinem Platz in der Bank zu sich riefen.

»Ihre Geschichte ist in Wahrheit merkwürdig,« sagte der Fremde, als der junge Mann zu Ende war, »und Ihre Lage ist schwierig und gefahrvoll. Mancher würde Ihnen den Rat erteilen, Ihren Vater aufzusuchen und ihm den Diamanten zu überreichen; doch meine Meinung ist anders.«

Hierauf ließ der Fremde den Wirt herbeiholen, der dem überraschten Franz mitteilen mußte, daß er die Ehre habe, mit Seiner Hoheit dem Prinzen Florisel von Böhmen zu sprechen.

»Und nun,« sagte der Prinz, nachdem er den Wirt mit gnädiger Handbewegung entlassen hatte, zu Franz gewendet, »geben Sie mir den Diamanten!«

Ohne ein Wort der Erwiderung überreichte ihm Franz das Etui.

»Sie haben recht getan,« sagte Florisel; »Ihr Gefühl hat Sie auf den rechten Pfad geführt, und Sie werden fernerhin Ursache haben, Ihr heutiges Mißgeschick zu preisen. Es mag einer, Herr Scrymgeour, in tausend Fährlichkeiten geraten, wenn aber sein Herz aufrichtig und sein Geist klar bleibt, so wird er aus allen mit fleckenloser Ehre hervorgehen. Beunruhigen Sie sich nicht länger, ich nehme Ihre Angelegenheit in meine Hand, und mit Gottes Hilfe bin ich stark genug, sie zu gutem Ende zu führen. Folgen Sie mir gefälligst zu meinem Wagen!«

Mit diesen Worten stand der Prinz auf und führte den jungen Mann vom Café ein Stück den Boulevard entlang bis zu einer Stelle, wo ein unscheinbarer Jagdwagen und ein paar Diener ohne Livree seiner harrten.

»Dieser Wagen,« sagte er, »steht zu Ihrer Verfügung; holen Sie Ihr Gepäck, worauf Sie meine Diener in ein Landhaus bei Paris bringen sollen, in dem Sie ein einigermaßen behagliches Unterkommen finden werden, bis ich Zeit gehabt habe, Ihre Angelegenheit in Ordnung zu bringen.«

Franz sprach in ein paar abgebrochenen Sätzen seinen Dank aus.

»Es wird Zeit sein, mir zu danken,« sagte der Prinz, »wenn Sie die Anerkennung Ihres Vaters und Fräulein Vandeleurs Hand gewonnen haben.«

Damit wandte sich der Prinz um und schlenderte behaglich dem Montmartre zu. Er rief die erste vorbeifahrende Droschke an, nannte eine Wohnung, und eine Stunde später klopfte er an Herrn Vandeleurs Gartentor.

Es wurde mit großer Vorsicht von dem Diktator persönlich geöffnet.

»Wer sind Sie?« fragte er.

»Sie müssen den späten Besuch entschuldigen, Herr Vandeleur,« erwiderte der Prinz.

»Eure Hoheit sind stets willkommen,« antwortete der Diktator, zurücktretend.

Der Prinz trat durch die geöffnete Türe, schritt, ohne auf seinen Wirt zu warten, vorwärts ins Haus und öffnete die Tür des Empfangszimmers. Dort saßen zwei Personen; die eine war Fräulein Vandeleur, mit verweinten Augen und von Zeit zu Zeit aufschluchzend, und in der andern erkannte der Prinz den jungen Wann, der ihn vor einiger Zeit im Klubhause wegen seiner Lektüre um Rat gefragt hatte.

»Guten Abend, Fräulein Vandeleur,« sagte Florisel. »Sie sehen müde aus. Herr Rolles, glaube ich? Ich hoffe, Sie haben Gaboriaus Werke mit Nutzen gelesen.«

Doch der junge Geistliche befand sich in einer zu üblen Gemütsstimmung, um Zu antworten; er verbeugte sich steif und fuhr fort an seiner Lippe zu nagen.

»Welchem guten Winde,« sagte Herr Vandeleur, der seinem Gaste gefolgt war, »habe ich die Ehre, die Anwesenheit Eurer Hoheit zu verdanken?«

»Ich komme,« antwortete der Prinz, »wegen eines Geschäftes, das ich mit Ihnen abzumachen habe; ist dies getan, so werde ich Herrn Rolles bitten, mich auf einem Spaziergange zu begleiten. Sie empfangen mich, Vandeleur,« fuhr der Prinz mit großem Ernste fort, »mit einem Lächeln, während doch Ihre Hände, wie Sie wissen, noch von ruchloser Tat befleckt sind. Ich wünsche nicht, daß man mich unterbricht,« fügte er gebieterisch hinzu. »Ich bin hier, um zu reden, nicht, um zu hören; und ich muß Sie bitten, mich nach Gebühr anzuhören und pünktlich Gehorsam zu leisten. Sobald als irgend tunlich soll Ihre Tochter in der Gesandtschaft mit meinem Freunde Franz Scrymgeour, dem anerkannten Sohne Ihres Bruders, vermählt werden. Sie werden mich verbinden, wenn Sie ihr nicht unter zweihunderttausend Mark mitgeben. Was Ihre eigene Person anlangt, so will ich Sie in einer bedeutenden diplomatischen Mission nach Siam senden, die Ihren Fähigkeiten entsprechen wird. Und nun werden Sie mir mit zwei Worten Antwort geben, ob Sie auf diese Bedingungen eingehen oder nicht.«

»Geht's nicht anders,« erwiderte der alte Mann zähnekirschend, »so unterwerfe ich mich; aber, ich sage es Ihnen unverhohlen, ohne Kampf wird's nicht abgehen.«

»Sie sind alt,« sagte der Prinz; »aber das Alter gereicht den Schändlichen nicht zur Ehre, und das Ihrige birgt weniger Weisheit als die Jugend anderer. Reizen Sie mich nicht, oder Sie möchten mich härter finden, als Sie sich träumen lassen. Es ist zum erstenmal, daß ich Ihren Pfad im Zorn kreuze; sorgen Sie, daß es auch das letztemal sei.«

Mit diesen Worten gab Florisel dem Geistlichen ein Zeichen, ihm zu folgen, verließ das Zimmer, schritt auf das Gartentor zu, und der Diktator, der hinter ihnen mit einem Lichte herging, öffnete die sorglich verschlossene Tür.

Ehe er zur Straße hinausschritt, wandte sich der Prinz um und sagte ernst zu Vandeleur: »Lassen Sie sich sagen, daß ich Ihre Drohungen wohl verstehe, und Sie brauchen nur die Hand aufzuheben, um sofort unheilbares Verderben über sich zu beschwören.«

Der Diktator erwiderte kein Wort. Als aber der Prinz ihm beim Scheine der Lampe den Rücken zukehrte, machte er gegen ihn, voll wahnsinniger Wut, eine drohende Bewegung, und im nächsten Augenblick schlüpfte er um die Ecke und rannte aus Leibeskräften dem nächsten Droschkenstand zu.

Prinz Florisel ging mit Herrn Rolles zu der Tür eines kleinen Gasthauses, in dem der Gottesmann Wohnung genommen hatte. Sie unterhielten sich lebhaft, und Rolles wurde von den Vorwürfen, die ihm der Prinz so ernst und doch zugleich so liebevoll machte, zu Tränen gerührt.

»Ich habe selbst mein Leben zugrunde gerichtet,« sagte er schließlich. »Helfen Sie mir! Sagen Sie mir, was ich tun soll, denn, ach, ich besitze weder die Tugenden eines Priesters noch die Gewandtheit eines Verbrechers.«

»Jetzt,« sagte der Prinz, »da die Demut in Ihr Herz gezogen ist, hört mein Eingreifen auf; die Reuevollen haben es mit Gott und nicht mit Fürsten zu tun. Darf ich Ihnen aber einen Rat geben, so gehen Sie als Kolonist nach Australien, suchen Sie körperliche Beschäftigung in frischer Luft und vergessen Sie möglichst, daß Sie je ein Geistlicher gewesen oder je Ihre Augen auf den fluchbeladenen Stein geworfen haben.«

»Ja, in Wahrheit, fluchbeladen!« versetzte Herr Rolles. »Wo ist er jetzt? Welches Verderben wird er noch weiter über die Menschen bringen?«

»Er soll kein Unheil mehr anrichten,« erwiderte der Prinz. »Er ist hier in meiner Tasche. Und diese Mitteilung zeigt Ihnen,« fügte er freundlich hinzu, »daß ich einiges Zutrauen zu Ihrer zwar noch sehr jungen Reue habe.«

»Lassen Sie mich Ihre Hand drücken,« bat Herr Rolles.

»Nein,« versetzte Fürst Florisel, »noch nicht.«

Der Ton, in dem er diese letzten Worte sprach, erweckte im Herzen des jungen Geistlichen ein freundliches Echo, und nachdem sich der Prinz weggewandt hatte, stand Rolles noch ein paar Minuten lang auf der Schwelle, indem er mit seinen Augen der verschwundenen Gestalt folgte und des Himmels Segen auf einen so trefflichen Berater herabflehte.

Mehrere Stunden durchschritt der Prinz die einsamen Straßen. Sein Geist war in Erregung. Was sollte er mit dem Diamanten tun? Sollte er ihn seinem Eigentümer zustellen, der ihm eines so seltenen Besitzes unwürdig schien, oder sollte er ihn ohne jede Rücksicht ein für allemal aus dem Bereich der Menschen entfernen? Diese schwierige Frage ließ sich nicht im Augenblick entscheiden. Die Art, wie das Geschmeide in seine Hände gekommen war, schien ihm offenbar ein Werk der Vorsehung zu sein, und als er das Juwel herausnahm, beim Scheine der Straßenlampe betrachtete und seine Größe und seinen wunderbaren Glanz sah, verstärkte sich in ihm nur noch mehr die Meinung von der verhängnisvollen und gefährlichen Wirkung des Edelsteins.

Gott steh mir bei! dachte er; wenn ich noch viel öfter darauf sehe, so wird schließlich auch in mir die Gier danach erweckt.

Zuletzt wandte er, obwohl noch immer unentschlossen, seine Schritte zu einem kleinen, aber prächtigen Gebäude am Steinufer, das seit Jahrhunderten das Eigentum seiner königlichen Familie gewesen war.

Als er sich der hinteren Tür näherte, trat ihm aus dem Schatten des Hauses ein Mann entgegen und sprach mit tiefer Verbeugung:

»Ich habe die Ehre, den Prinzen Florisel von Böhmen zu sprechen?«

»Das ist mein Titel,« lautete die Antwort. »Was wollen Sie?«

»Ich bin,« sagte der Mann, »Geheimpolizist und habe Eurer Hoheit dieses Schreiben vom Polizeipräfekten zu überreichen.«

Der Prinz nahm den Brief und überflog ihn beim Scheine der Straßenlaterne. Er war in den höchsten Wendungen abgefaßt, sprach aber das Ersuchen aus, dem Träger sofort auf die Präfektur zu folgen.

»Kurz,« sagte Florisel, »ich bin verhaftet.«

»Eure Hoheit,« versetzte der Beamte, »seien Sie überzeugt, nichts liegt dem Präfekten ferner. Sie sehen, er hat keinen Verhaftsbefehl ausgestellt. Es handelt sich um eine bloße Förmlichkeit oder, wenn Sie lieber wollen, um eine Gefälligkeit, die Eure Hoheit den Behörden zu erweisen gebeten werden.«

»Wenn ich es nun aber ablehne, Ihnen zu folgen?«

»Ich will Eurer Hoheit nicht verhehlen,« erwiderte der Beamte auf diese Frage mit einer Verbeugung, »daß mir in weitem Spielraum Vollmacht verliehen ist.«

»Auf mein Wort,« rief Florisel, »Ihre Dreistigkeit nimmt mich wunder. Ihnen, der nur ein Werkzeug ist, muß ich verzeihen, aber Ihre Vorgesetzten sollen für ihren Mißgriff schwer büßen. Haben Sie eine Ahnung davon, was die Veranlassung zu diesem verfassungswidrigen und unpolitischen Vorgehen gegeben hat? Beachten Sie wohl, daß ich bisher weder eingewilligt noch abgelehnt habe, und es wird viel von Ihrer sofortigen und befriedigenden Antwort abhängen. Vergessen Sie nicht, daß es sich hierbei um eine ernste Sache handelt.«

»Eure Hoheit,« sagte der Polizist ehrerbietig, »General Vandeleur und sein Bruder haben die unglaubliche Anmaßung gehabt, Sie des Diebstahls zu bezichtigen. Der berühmte Diamant, sagen sie, sei in Ihren Händen. Ein einziges Wort Ihrerseits wird dem Präfekten vollauf Genüge leisten; ja, ich gehe noch einen Schritt weiter. Wenn Eure Hoheit einem Subalternen die Ehre antun wollen, mir gegenüber zu erklären, daß Ihnen von der Sache nichts bekannt sei, so würde ich sofort um die Erlaubnis bitten, mich wieder zurückziehen zu dürfen!«

Sobald er Vandeleurs Namen hörte, ward sich der Prinz der ganzen Unannehmlichkeit und Gefahr seiner Lage bewußt. Er war nicht nur verhaftet, er war auch schuldig. Was sollte er sagen? Was sollte er tun? Der Diamant des Rajahs war in der Tat ein fluchbeladener Stein, und es schien, als sollte er selbst sein letztes Opfer sein.

Eins stand fest. Er konnte dem Beamten die gewünschte Versicherung nicht geben. Er mußte Zeit gewinnen.

Sein Zögern hatte keine Sekunde gedauert.

»Sei es denn,« sagte er, »wir wollen zur Präfektur gehen.«

»Wir sind jetzt,« sagte Florisel nach einigen Schritten, »mitten auf der Brücke. Lehnen Sie sich auf die Brüstung und schauen Sie hinüber. Wie das Wasser dort unten dahinrauscht, so spülen im Leben Leidenschaften und Verwicklungen die Ehre schwacher Menschen mit sich fort. Hören Sie eine Geschichte!«

»Wie Eure Hoheit befehlen!«

Und der Beamte lehnte sich, dem Beispiele des Prinzen folgend, gegen die Brüstung und lauschte der Erzählung.

Schon war die gewaltige Stadt in Schlummer gesunken, und ohne die zahllosen Lichter und die vom sternhellen Himmel sich abhebenden Umrisse der Gebäude hätten die beiden glauben können, sich an einem einsamen Flusse auf dem Lande zu befinden.

»Ein Offizier,« begann der Prinz seine Erzählung, »ein mutiger, tüchtiger Mann, der bereits einen hohen Rang erklommen und sich nicht nur Bewunderung, sondern auch Achtung erworben hatte, besichtigte in einer für seinen Seelenfrieden verhängnisvollen Stunde die Sammlungen eines indischen Fürsten. Hier erblickte er einen Diamanten von so außerordentlicher Größe und Schönheit, daß er von diesem Moment an nur noch einen Wunsch im Leben hatte: Ehre, Ruf, Freundschaft, Vaterlandsliebe, alles war er bereit, für dieses Stück funkelnden Kristalls zu opfern. Drei Jahre diente er dem halbbarbarischen Machthaber, wie Jakob dem Laban diente; er fälschte Grenzlinien, er ließ Mordtaten geschehen, er verurteilte ungerechterweise einen Kameraden zum Tode, der das Unglück hatte, durch freimütige Äußerungen das Mißfallen des Rajahs zu erregen, endlich verriet er zu einer Zeit, als sein Vaterland in großer Gefahr war, eine Abteilung englischer Soldaten, so daß ein paar tausend besiegt und hingeschlachtet wurden. Am Ende hatte er ein gewaltiges Vermögen zusammengescharrt und konnte auch den begehrten Diamanten mit in sein Heimatland nehmen.

Jahre vergingen,« fuhr der Prinz fort, »und schließlich geht der Edelstein verloren. Er fällt in die Hände eines einfachen, fleißigen Jünglings, eines Kandidaten der Theologie, der soeben eine Laufbahn antritt, die ihn zu nützlicher und bei seinen Gaben sicher hochbefriedigender Tätigkeit führen soll. Auch er gerät in den Zauberbann des Steines; er läßt alles im Stich, seinen heiligen Beruf, seine Studien und flieht mit dem Juwel in ein fremdes Land. Der Offizier hat einen Bruder, einen verschlagenen, verwegenen, vor keinem Mittel zurückschreckenden Mann, der das Geheimnis des Geistlichen erfährt. Was tut er? Sagt er's dem Bruder, oder meldet er's der Polizei? Nein, auch er ist dem teuflischen Reize verfallen, er muß den Stein selbst besitzen. Auf die Gefahr, einen Mord zu begehen, betäubt er den jungen Priester und bemächtigt sich der Beute. Und nun kommt das Juwel durch einen Zwischenfall, der für die Moral meiner Geschichte keine Bedeutung hat, in die Verwahrung eines andern Mannes, der das Kleinod, von seinem Anblick erschreckt, einem Wanne in hoher Stellung und von unantastbarer Ehre gibt.

Der Offizier heißt Thomas Vandeleur,« fuhr Florisel fort. »Der Edelstein ist der Diamant des Rajahs. Und« – plötzlich seine Hand öffnend – »hier sehen Sie ihn vor Ihren Augen.«

Der Beamte fuhr mit einem Aufschrei zurück.

»Für mich ist dieser Klumpen von leuchtendem Kristall,« fuhr der Prinz fort, »so ekelhaft, als wäre er von Leichenwürmern erfüllt; er entsetzt mich, als bestände er ganz aus unschuldig vergossenem Blute. Ich sehe ihn hier in meiner Hand, und ich weiß, es brennt in ihm ein höllisches Feuer. Ich habe Ihnen nur den hundertsten Teil seiner Geschichte erzählt; was sich in früheren Zeiten zutrug, zu welchen Verbrechen und Verrätereien er vormals die Menschen anreizte, das auszudenken sträubt sich die Einbildungskraft. Unendliche Jahre lang hat er den satanischen Wächten treu gedient. Es ist, sage ich, nun endlich genug des Blutes, genug der Schande, genug der zertretenen Leben und verratenen Freundschaften. Alles hat sein Ende, das Böse wie das Gute, die Pest so gut wie schöne Musik; und was den Diamanten betrifft, so vergebe mir Gott, wenn ich unrecht tue, aber seine Herrschaft endet in dieser Nacht.«

Der Prinz machte eine plötzliche Bewegung mit seiner Hand, und das Juwel, dessen Bahn ein Lichtbogen bezeichnete, tauchte platschend ins Wasser.

»Amen!« sagte Florisel ernst. »Ich habe einen Basilisken erschlagen.«

»Gott verzeih' mir!« rief der Geheimpolizist. »Was haben Sie getan? Ich bin verloren!«

»Ich glaube,« erwiderte der Prinz lächelnd, »viele wohlhabende Leute in dieser Stadt würden wünschen, ebenso verloren zu sein.«

»Ach, Eure Hoheit!« sagte der Beamte; »was tun Sie mit mir! Sie werden mich am Ende doch bestechen.«

»Es scheint weiter nichts übrigzubleiben,« entgegnete Florisel. »Und nun vorwärts zur Präfektur!«

Nicht lange darauf wurde die Hochzeit Franz Scrymgeours und des Fräuleins Vandeleur in aller Stille gefeiert, wobei der Prinz als Brautführer mitwirkte. Den beiden Vandeleurs kam ein Gerücht von dem Schicksal des Diamanten zu Ohren, und ihre großartigen, aber ganz ergebnislosen Tauchversuche in der Seine bereiteten den schaulustigen und erstaunten Parisern viel Vergnügen.


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