Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es war spät im November 1456. Über Paris fiel der Schnee mit strenger, unnachgiebiger Beharrlichkeit; zuweilen machte der Wind einen Ausfall und zerblies ihn in fliegende Wirbel; zuweilen lullte der Wind ein, und Flocke um Flocke kam aus der schwarzen Nacht herunter, schweigend, kreisend, unablässig. Armen Seelen, die unter nassen Augenbrauen nach oben sahn, schiens ein Wunder, woher das alles kam. Meister François Villon hatte an einem Kneipenfenster, nachmittags, zwei Möglichkeiten in Vorschlag gebracht: Wars nur dieser heidnische Jupiter, Gänse rupfend auf dem Olymp? Oder waren die heiligen Engel in der Mauser? – Er wäre bloß, setzte er hinzu, ein armer Meister der Künste, und da die Frage einigermaßen ans Göttliche rührte, dürfte er nicht wagen, sie zu entscheiden. Ein alter, alberner Priester von Montargis, der unter der Kumpanei war, lud den jungen Lumpen zu einer Flasche Wein ein, zu Ehren dieses Witzes und der Grimassen, die ihn begleiteten; und er schwor bei seinem eigenen, weißen Bart, er wäre genau so ein unehrerbietiger Hund gewesen in Villons Alter.

Die Luft war beißend und geschärft, aber nicht tief unterm Frierpunkt, und die Flocken waren dick, naß und backig. Die ganze Stadt war in Leinen gewickelt. Eine Armee hätte vom einen Ende zum andern marschieren können, und nicht ein Fußtritt hätte Alarm verursacht. Gab es ein paar verspätete Vögel am Himmel, so sahen sie die Seine-Insel als breiten, weißen Flecken und die Brücken als schmale, weiße Sparren auf dem schwarzen Grunde des Stroms. Hoch oben darüber lagerte der Schnee zwischen dem Maßwerk der Münstertürme. Manche Nische war vollgeweht; manche Steinfigur hatte eine hohe weiße Haube auf ihrem grotesken oder heiligen Kopf. Die Wasserspeier waren in lange falsche Nasen umgewandelt, herabgesenkt zu ihrer Spitze. Das Laubwerk glich aufrechtstehenden Kissen, geschwollen auf der einen Seite. In den Pausen, die der Wind machte, gab es ein dumpfes Tönen von dem Tropfen im Umkreis der Kirche.

Der Kirchhof von St. Jean hatte sein Teil Schnee abbekommen. Alle Gräber waren gehörig zugedeckt; hohe weiße Dächerspitzen standen in ernster Ordnung herum; die würdigen Bürger waren lange zu Bett, benachtmützt wie ihre Behausungen; in der ganzen Nachbarschaft war kein Licht, ausgenommen den kleinen Blinkblick einer Lampe, die im Kirchenchor schaukelnd hing und zuweilen, im Takt ihrer Schwingungen, die Schatten anstieß. Die Uhr war knapp an Zehn, als die Patrouille mit Hellebarden und einer Laterne vorüberkam; sie schlugen in ihre Hände und sahen nichts Verdächtiges am Kirchhof von St. Jean.

Doch war da, mit dem Rücken an die Friedhofsmauer gelehnt, ein kleines Haus, das noch wach war; wach aus einem übeln Grunde in diesem schnarchenden Bezirk. Äußerlich gab es nicht viel, diesen Grund zu verraten; nur einen Strom warmen Dunstes aus dem Rauchfang, einen Fleck auf dem Dach, wo der Schnee schmolz, ein paar halbverwischte Fußtapfen vor der Tür. Drinnen aber, hinter verschlossenen Läden, hielten Meister François Villon, der Poet, und etliche von der Diebsbande, mit der er Umgang hatte, die Nacht lebendig und ließen die Flasche kreisen.

Vom gewölbten Kamin aus streute ein großer Haufen lebendig loher Scheiter eine kräftige und rötliche Glut aus. Mit dem Rücken davor rekelte sich Domine Nikolas, der pikardische Mönch, die Röcke hochgezogen, die fetten Schenkel entblößt, gegen die behagliche Wärme. Sein langgezogener Schatten schnitt den Raum in zwei Hälften; nur zur Rechten und Linken von seiner breiten Person entwischte der Feuerschein und stand in einer kleinen Pfütze zwischen seinen gespreizten Beinen. Sein Gesicht hatte die zerquetschte Biermiene des Dauersäufers, überzogen mit einem Netzwerk blutgestopfter Adern, purpurn unter gewöhnlichen Umständen, jetzt aber von bläßlichem Violett, denn selbst mit der Kehrseite zum Feuer zwickte die Kälte ihn vorn. Seine Kapuze, halb nach hinten gefallen, machte an jeder Seite seines Stiernackens einen seltsamen Auswuchs. So rekelte er sich, brummte und halbierte den Raum mit dem Schatten seines wuchtigen Leibgestells.

Rechts von ihm hudelten Villon und Guy Tabary sich über einem Fetzen Pergament zusammen; Villon machte eine Ballade, die er die »Ballade vom Bratfisch« nennen wollte, und Tabary an seiner Schulter sabberte Bewunderung. Der Poet war ein Splint von Mensch, dunkel, klein, mager, hohlwangig und mit dünnen, schwarzen Strähnen. Seine vierundzwanzig Jahre trug er mit fieberiger Lebhaftigkeit. Gier hatte Runzeln um seine Augen gelegt, schlimmes Lächeln seinen Mund faltig gemacht. Wolf und Schwein verschlangen sich in seinem Gesicht. Eine beredte, scharfe, häßliche, weltliche Miene. Seine Hände, klein und griffig, hatten Finger, knotig wie Stricke, und flatterten fortwährend vor ihm in heftigem und ausdrucksvollem Gebärdenspiel. Was den Tabary angeht, so atmete ein breiter, behaglicher, staunender Schwachsinn von seiner plattgedrückten Nase und den Sabberlippen: Dieb war er geworden, wie er gerad so gut der anständigste Bürger hätte werden können durch Majestät des Zufalls, der die Lebensläufe menschlicher Entriche und Esel lenkt.

Zur andern Hand des Mönchs machten Montigny und Thevenin Pensete ein Glücksspiel. Um jenen hing ein Ruch von Geburt und Erziehung – wie um einen gefallenen Engel, merklich an dem Geschmeidigen, Langen, Höfischen seiner Gestalt, an dem Adlerhaften, Dunklen seiner Züge. Thevenin, die arme Seele, war höchst oben auf: er hatte am Nachmittag im Faubourg St. Jacques einen schönen Schurkenstreich verübt, und die ganze Nacht hatte er von Montigny gewonnen. Ein plattes Lächeln erleuchtete sein Gesicht; rosig, in einer Girlande roter Locken, glänzte sein Kahlkopf; sein kleiner, vorstehender Bauch zitterte unter stillen Glucksern, wenn er seinen Gewinn einstrich.

»Paar oder unpaar?« sagte Thevenin.

Montigny nickte grimmig.

»Der eine tafelt gern mit Glorie«, schrieb Villon, »auf Silbertellern Käse und Zichorie. Auf – auf – hilf mir aus, Guido!« Tabary kicherte.

»Auf goldnen Schüsseln Petersilie«, kritzelte der Poet. Draußen war der Wind aufgefrischt; er trieb den Schnee vor sich her, erhob seine Stimme mitunter zu einem siegreichen: Huup! und machte ein Grabesgebrumm im Kamin. Die Kälte war mit dem Weitergang der Nacht schärfer geworden. Villon, die Lippen vorschiebend, machte Windstöße nach mit einem Laut zwischen Pfeifen und Stöhnen – ein unheimliches, unbehagliches Talent des Poeten, das der pikardische Mönch verabscheute.

»Kannst du's klappern hören am Galgen?« sagte Villon. »Sie tanzen da alle oben auf dem Nichts ihre Satansgigue. Losgetanzt, Galane, ihr werdet nicht wärmer davon! Huih! was fürn Windstoß! Da kam einer herunter! Eine Mispel weniger am dreibeinigen Mispelbaum, was? – Domine Nikolas, heute nacht wirds kalt sein an der St.-Denis-Straße.«

Domine Nikolas zwinkerte mit seinen großen Augen und schien am Adamsapfel ersticken zu wollen. Montfaucon, der greuliche, große Pariser Galgen, stand dicht an der St.-Denis-Straße, und der Scherz ging ihm an die Nieren. Hingegen Tabary lachte unmäßig über die Mispeln; er hatte nie etwas Leichtfertigeres gehört, hielt sich die Seiten und krähte. Villon versetzte ihm einen Nasenstüber, der seine Lustigkeit in einen Hustenanfall verkehrte.

»Oh, hör auf mit dem Radau,« sagte Villon, »und besinn dich auf einen Reim mit ›Petersilie‹!«

»Paar oder unpaar?« sagte Montigny hündisch.

»Von Herzen gern«, sprach Thevenin.

»Ist noch was in der Flasche?« fragte der Mönch.

»Mach eine andre auf«, sagte Villon. »Wie kannst du bloß hoffen, deinen dicken Schweinskopf von Leib mit Kleinigkeiten wie Flaschen zu füllen? Und wie meinst du in den Himmel zu kommen? Wie viele Engel, bildest du dir ein, können entbehrt werden, einen einzelnen Mönch aus der Pikardie nach oben zu holen? Oder hältst du dich für einen andern Elias und denkst, sie schicken eine Kutsche für dich?«

»Hominibus impossibile«, erwiderte, sein Glas füllend, der Mönch.

Tabary verging vor Entzücken.

Villon versetzte ihm noch einen Nasenstüber.

»Lach über meine Witze, wenns beliebt«, sagte er.

»Es war ausgezeichnet!« versetzte Tabary.

Villon schnitt eine Fratze. »Denk an Reime auf – ›silie‹«, sagte er. »Was geht dich Lateinisch an? Du wirst froh sein, nichts davon zu wissen bei der großen Sitzung, wenn der Teufel nach Guido Tabary clericus ruft – der Teufel mit dem Buckel und rotglühenden Fingernägeln. Da wir vom Teufel reden,« setzte er im Flüsterton hinzu, »sieh Montigny an!«

Alle drei äugten versteckt nach dem Spieler. Er schien sich des Glücks nicht zu erfreun. Sein Mund war ein wenig schief gezogen, ein Nasloch fast zu, das andre weit aufgeblasen. Der schwarze Hund war hinter ihm, wie es in gruseliger Ammenmetapher heißt; und er atmete kaum unter seiner gespenstischen Last.

»Er sieht aus, als könnte er ihn erdolchen«, wisperte mit runden Augen Tabary.

Der Mönch schudderte, wandte das Gesicht ab und spreizte die offenen Hände zu den roten Glutstücken. Die Kälte wars, die solche Wirkung auf Domine Nikolas hatte, nicht ein Übermaß von moralischer Empfindlichkeit.

»Also los«, sagte Villon, »mit dieser Ballade! Wie geht sie soweit?« Und Takt schlagend mit der Hand, las er sie Tabary laut vor.

Beim vierten Verse wurden sie unterbrochen durch eine kurze und verhängnisvolle Bewegung unter den Spielern. Die Runde war aus, und Thevenin öffnete eben den Mund, einen neuen Sieg auszuschrein, als Montigny aufsprang, schnell wie eine Natter, und ihm nach dem Herzen stach. Der Stoß wirkte, ehe er Zeit hatte, einen Schrei zu tun; ehe er Zeit hatte, sich zu bewegen. Ein- oder zweimal überlief ein krampfhaftes Zittern seinen Körper; die Fäuste gingen auf und schlossen sich, seine Absätze klapperten auf den Dielen; dann rollte sein Kopf über eine Schulter nach hinten, die Augen weit offen –, und Thevenin Pensetes Geist war zurückgekehrt zu dem, der ihn gemacht hatte.

Jedermann sprang auf die Füße – aber die Geschichte war in zwei Augenblicken vorüber. Die vier lebenden Kerle sahen sich auf ziemlich geisterhafte Weise an; der Tote betrachtete einen Winkel der Zimmerdecke mit einem eigenartigen, häßlichen Blick.

»Mein Gott!« sagte Tabary; und er fing an zu beten auf lateinisch.

Villon brach in ein hysterisches Gelächter aus. Er kam einen Schritt vor, duckte sich mit einer lächerlichen Verbeugung zu Thevenin und lachte noch lauter. Dann saß er plötzlich auf einen Stuhl wie ein Haufen und fuhr fort bitter zu lachen, als ob er sich in Stücke schütteln wollte.

Montigny gewann seine Haltung zuerst wieder.

»Laß sehn, was er bei sich hat«, bemerkte er; und er leerte die Taschen des Toten mit geübter Hand; das Geld teilte er auf dem Tisch in vier Teile. »Hier für euch«, sagte er. Der Mönch nahm sein Teil mit einem tiefen Seufzer an sich und mit einem versteckten Blick auf den toten Thevenin, der anfing, in sich hineinzusinken und seitwärts vom Stuhl zu rutschen.

»Wir hängen alle dran!« schrie Villon, seine Lustigkeit überschluckend. »Eine Galgensache für jeden von uns Lumpenkerlen hier – nicht zu reden von denen, die nicht hier sind.« Die rechte Hand hebend, machte er in der Luft eine abscheuliche Geste, streckte die Zunge heraus und warf den Kopf auf eine Seite, wie um das Aussehn eines Gehenkten abzubilden. Dann steckte er sein Teil an der Beute zu sich und vollführte ein Fußgescharr, um den Blutumlauf wiederherzustellen.

Tabary war der letzte, der sich bediente, schoß auf die Beute zu und zog sich ans andre Ende des Raumes zurück. Montigny stieß Thevenin aufrecht in den Stuhl und zog den Dolch heraus, dem ein Strahl von Blut folgte.

»Ihr tätet besser, Kerls, euch fortzumachen«, sagte er und wischte die Klinge am Wams seines Opfers ab.

»Das täten wir, denk ich«, erwiderte Villon und schluckte. »Verdammnis über den Dickkopf«, brach er aus, »er steckt mir wie ein Kloß in der Kehle. Was berechtigt einen Menschen, rote Haare zu haben, wenn er tot ist?« Er fiel wieder in einen Haufen auf den Stuhl und bedeckte hübsch das Gesicht mit den Händen.

Montigny und Domine Nikolas lachten laut; sogar Tabary stimmte schwach ein.

»Kindlein, weine!« sagte der Mönch.

»Ich hab immer gesagt, er wäre ein Frauenzimmer«, setzte Montigny höhnisch hinzu. »Sitz gerade, kannst du nicht?« sprach er weiter, den ermordeten Leichnam abermals schüttelnd. »Tritt das Feuer aus, Nick!«

Nick aber war besser beschäftigt; er nahm ruhig Villons Börse, dieweil der Poet, schlottrig und zitternd, auf dem Stuhl saß, wo er kaum drei Minuten früher eine Ballade gemacht hatte. Montigny und Tabary verlangten stumm einen Anteil der Beute, den der Mönch schweigend versprach, indem er den kleinen Sack in den Busen seiner Kutte gleiten ließ. – Auf mancherlei Weise ist eine künstlerische Natur ungeeignet fürs praktische Leben.

Kaum war der Diebstahl fertig, so schüttelte sich Villon, sprang auf die Füße und begann beim Zerstreuen und Auslöschen der Gluten zu helfen. Unterweilen öffnete der Mönch die Tür und spähte behutsam auf die Straße. Die Küste war klar; keine Patrouille, die sich einmischen konnte, in Sicht. Dennoch wurde es für das schlauste gehalten, einzeln auszuschlüpfen; und da Villon selber Eile hatte, der Nachbarschaft des Toten zu entwischen, und die übrigen noch mehr Eile, ihn loszuwerden, ehe er den Verlust seines Geldes entdecken konnte, war er auf allgemeines Abkommen der erste, der hinaus auf die Straße trat.

Der Wind hatte triumphiert und alle Wolken vom Himmel gefegt. Nur ein paar Dunstfetzen, mondscheindünn, flossen über die Sterne weg. Es war bitter kalt, und infolge einer gewöhnlichen Lichtwirkung schienen die Dinge noch schärfer umgrenzt als im breitesten Tageslicht. Die schlafende Stadt war völlig still – eine Gesellschaft weißer Hauben, ein Feld voll kleiner Alpen unter zwinkernden Sternen. Villon verfluchte sein Glück. Wenn es doch noch schneien wollte! Jetzt, wohin er auch ging, ließ er eine unwiderlegbare Spur in den glitzernden Straßen hinter sich; wohin er auch ging, blieb er gekettet an das Haus beim Kirchhof St. Jean; wohin er auch ging, mußte er – sich plackend mit eignen Füßen – den Strick spinnen, der ihn an die Untat knüpfte und ihn an den Galgen knüpfen würde. Der Blick des Toten kam ihm wieder mit neuer Bedeutung; er schnippte mit den Fingern, wie um selber seinen Lebensgeistern aufzuhelfen, und, aufs Geratewohl eine Straße einschlagend, ging er kühnlich vorwärts durch den Schnee.

Zwei Dinge beschäftigten ihn sonderlich im Gehn: die Aussicht auf die Galgen zu Montfaucon in dieser lichten, windigen Phase der Nacht einerseits, andrerseits der Blick des Toten mit seinem kahlen Kopf und der Girlande roter Locken. Beide schlugen ihm kalt aufs Herz, er beschleunigte weiterhin seine Schritte, als könnte er durch bloße Flinkheit der Füße unbehaglichen Gedanken entwischen. Mitunter blickte er mit plötzlichem nervösem Ruck über die Schulter zurück; er war jedoch das einzige, bewegliche Wesen in den weißen Straßen, es sei denn, daß der Wind um eine Ecke stürzte und den Schnee, der zu frieren begann, in Kaskaden von glitzerndem Dunst aufwarf.

Auf einmal gewahrte er eine große Strecke vor sich einen schwarzen Klumpen und zwei Laternen. Der Klumpen war in Bewegung, und die Laternen schwankten, als würden sie von Gehenden getragen. Eine Patrouille wars. Und obgleich sie nur seine Weglinie kreuzte, hielt er es für klüger, außer Augenweite zu kommen, so schnell er konnte. Er war nicht in der Laune, sich anrufen zu lassen, und war sich bewußt, eine höchst augenfällige Spur im Schnee zu ziehn. Gerade stand ein großes Haus zu seiner Linken mit ein paar Türmchen und einem breiten Vordach überm Tor; es war – er erinnerte sich – halb zerfallen und hatte lange leer gestanden; also machte er drei Schritte draufzu und sprang in den Schutz der Vorhalle. Hübsch dunkel wars drinnen nach dem Glimmerlicht der verschneiten Straßen, und er tastete sich mit ausgestreckten Händen vorwärts, als er über eine Masse stolperte, die ein unbeschreibliches Gemisch von Widerständen bot, hart und weich, fest und locker. Sein Herz machte einen Satz, er sprang zwei Schritt hinter sich und starrte furchtsam auf das Hindernis. Danach brach er in ein kleines Lachen der Erleichterung aus. Es war nur eine Frau, und die war tot. Er kniete neben sie hin, um sich über diesen letzten Punkt zu vergewissern. Sie war kalt wie Eis und steif wie ein Stock. Im Windzug flatterte ein kleiner Fetzen Kopfputz um ihr Haar, ihre Wangen waren erst am Nachmittag dick rot geschminkt. Gänzlich leer waren ihre Taschen; aber im einen Strumpf, unterm Strumpfband, fand Villon zwei von jenen kleinen Münzen, die unter dem Namen Weißlinge gingen. Das war wenig genug, doch wars immerhin etwas – und den Poeten bewegte ein tiefes Gefühl des Pathos, daß sie sterben mußte, bevor sie ihr Geld ausgegeben hatte. Dies deuchte ihn ein düstres und beklagenswertes Mysterium; er starrte von den Weißlingen in seiner Hand auf die Tote und wieder auf die Weißlinge, den Kopf schüttelnd über das Rätsel des menschlichen Lebens. Heinrich der Fünfte von England, der in Vincennes starb, gerade nachdem er Frankreich erobert hatte – und diese arme Dirne, die in eines großen Mannes Torweg von einem kalten Luftzug umgebracht war, ehe sie Zeit gehabt hatte, ihre zwei Weißlinge zu vergeuden – das schien ihm eine grausame Art, für die Welt zu sorgen. Zwei Weißlinge hätten so wenig Zeit in Anspruch genommen, um sich verschwenden zu lassen; und doch hätte ein guter Geschmack mehr im Munde sein können, ein Lippenschlecken mehr, bevor der Teufel die Seele bekam und der Körper Vögeln und Würmern überlassen wurde. Er wollte lieber seinen ganzen Talg aufbrauchen, bevor das Licht ausgeblasen und die Laterne zerschlagen wurde.

Er fühlte, derweil diese Gedanken ihn durchzogen, halb mechanisch nach seiner Börse. Jählings hörte sein Herz zu schlagen auf; über seinen Rücken kroch eine Gänsehaut, und ein kalter Schlag schien auf seine Kopfhaut zu fallen. Er stand versteinert einen Augenblick; dann brach der Verlust auf ihn ein, und er war im Nu schweißbedeckt. Geld ist für Verschwender so lebendig und tatsächlich – ein so dünner Schleier zwischen ihnen und ihrem Vergnügen! Nur eine Grenze kennt ihre Glückseligkeit – die der Zeit; und ein Verschwender im Besitz von ein paar Kronenstücken ist der Kaiser von Rom, bis sie verschwendet sind. Sein Geld zu verlieren, ist für solch einen der abscheulichste Glücksumschlag, ein Fall vom Himmel zur Hölle, vom All ins Nichts, in einem Atemzug. Und dies um so mehr, wenn er den Kopf dafür in die Schlinge gesteckt hat; wenn er am Morgen hätte gehenkt werden können für diese selbe Börse, so teuer erworben, so töricht dahingegangen! Villon stand und fluchte; er schmiß die zwei Weißlinge auf die Straße; er schüttelte die Faust zum Himmel; er stampfte, er erschrak nicht bei der Entdeckung, daß er auf den armen Leichnam trampelte. Danach begann er schleunig seinen Schritten nach dem Hause beim Kirchhof zurückzufolgen. Alle Angst vor der Wache hatte er vergessen, die jedenfalls längst vorübergekommen war; er hatte keinen andern Gedanken als den seiner verlorenen Börse. Umsonst wars, daß er rechts und links auf den Schnee schaute: nichts war zu sehn. In den Straßen hatte er sie nicht fallen gelassen. War sie im Haus hingefallen? Liebend gern wäre er hineingegangen, um nachzusehn; aber der Gedanke an den grausigen Bewohner entmannte ihn. Zudem sah er beim Näherkommen, daß ihre Anstrengungen, das Feuer zu löschen, nicht von Erfolg gewesen waren; im Gegenteil, es war in eine Lohe ausgebrochen, und in den Ritzen von Tür und Fenster spielte ein Wechsellicht, das seine Furcht vor der Obrigkeit und dem Pariser Galgen wieder belebte.

Er drehte um nach dem Haus mit der Vorhalle und tappte auf dem Schnee herum nach dem Gelde, das er in seiner kindischen Leidenschaft hingeworfen hatte. Aber nur einen Weißling konnte er finden; der andre war vermutlich auf die Kante gefallen und tief eingesunken. Einen einzigen Weißling in der Tasche, schwanden ihm gänzlich alle Pläne für eine rauschende Nacht in einer wüsten Kneipe. Und es war nicht die Vergnüglichkeit allein, die seinem Griff lachend entfloh; tatsächlicher Verdruß, tatsächlicher Schmerz warfen sich über ihn, wie er, reuegefüllt, unter dem Überdach stand. Der Schweiß war an ihm getrocknet; obgleich jetzt der Wind sich gelegt, hatte ein bündiger Frost eingesetzt, mit jeder Stunde strenger, und er fühlte sich betäubt und im Herzen krank. Was war zu machen? Er wollte es, so spät es war und so unwahrscheinlich der Erfolg, mit dem Hause seines Adoptivvaters versuchen, des Kaplans von St. Benoît.

Er lief den ganzen Weg und klopfte bänglich. Keine Antwort. Er klopfte wieder und wieder, Mut fassend mit jedem Pochen, und endlich wurden Schritte hörbar, die sich drinnen näherten. Ein vergittertes Fenster fiel in der eisenbeschlagenen Tür und ließ einen Guß von gelbem Licht heraus.

»Halten Sie Ihr Gesicht hoch zum Fenster«, sagte der Kaplan von innen.

»Ich bins nur«, winselte Villon.

»Oh, du bists nur, wahrhaftig?« erwiderte der Kaplan; und er verfluchte ihn mit entsetzlichen, unpriesterlichen Verwünschungen, daß er ihn zu solcher Stunde störte, und hieß ihn zur Hölle gehen, aus der er käme.

»Meine Hände sind blau bis an die Gelenke«, gab Villon vor. »Meine Füße sind abgestorben und voll Geprickel; meine Nase tut mir weh in der scharfen Luft, die Kälte liegt mir im Herzen. Ich sterbe vielleicht, ehs Tag wird. Nur dies eine Mal, Vater, und bei Gott, ich wills nie wieder versuchen!«

»Du hättest früher kommen sollen«, sagte der Geistliche kühl. »Junge Leute brauchen ab und zu eine Lehre.« Er schloß das Fenster und zog sich bedächtig ins Innere des Hauses zurück.

Villon war außer sich; er hieb auf die Tür ein mit Händen und Füßen und schrie sich heiser nach dem Kaplan.

»Lausiger alter Fuchs!« schrie er. »Wenn ich dich beim Kragen hätte, würde ich dich im Fluge kopfunter in die Grube ohne Boden schicken.«

Eine Tür im Innern fiel zu, deutlich hörbar für den Poeten vom Ende langer Gänge her. Er fuhr mit der Hand über den Mund unter einer Verwünschung. Darauf ergriff ihn der Humor seiner Lage; er lachte und sah leicht zum Himmel auf, wo die Sterne über seine Niederlage zu blinzeln schienen. Was war zu machen? Es sah heftig nach einer Nacht in den gefrorenen Straßen aus. Das Bild der Toten platzte in seine Einbildung und erschreckte ihn herzlich; was im früheren Teil der Nacht ihr zugestoßen war, das konnte ganz gut ihm zustoßen vor Morgen. Und er so jung und mit so unermeßlichen Möglichkeiten liederlichen Vergnügens vor sich! Er hatte ein höchst pathetisches Empfinden bei der Erkenntnis seines eigenen Geschicks – wie wenn es das eines andern gewesen wäre – und machte sich eine kleine imaginäre Vignette von der Szene im Morgengrauen, wenn sie seinen Leichnam finden würden.

All seine Aussichten übermusternd, drehte er den Weißling zwischen Daumen und Zeigefinger. Unglücklicherweise stand er sich schlecht mit etlichen alten Freunden, die früher einmal, wenn er in solcher Patsche gesteckt hätte, Mitleid mit ihm gehabt haben würden. Er hatte sie in Versen verunglimpft, hatte sie geschlagen und betrogen; und doch, jetzt, wo er in einer so engen Zwickmühle saß, dachte er, am Ende wäre da einer, der vielleicht nachgeben würde. Es war eine Möglichkeit. Zumindest wars wert, es zu versuchen, und er wollte gehen und zusehn.

Auf seinem Wege begegneten ihm zwei Zufälle, die seine Gedanken auf sehr unterschiedliche Weise färbten. Zuerst nämlich geriet er in die Fußspur einer Patrouille und ging einige hundert Ellen darin weiter, obgleich sie außerhalb seiner Wegrichtung lag. Dies richtete seinen Geist auf; er hatte wenigstens seine Spur verwirrt; denn er war noch von dem Gedanken besessen, daß ihm Leute rings um Paris über den Schnee nachgingen und ihn am nächsten Morgen beim Kragen haben würden, ehe er wach wäre. Das zweite wirkte sehr verschiedenartig auf ihn. Er war um eine Straßenecke gekommen, wo nicht lange zuvor eine Frau mit ihrem Kinde von Wölfen zerrissen wurde. Dies war gerade die Art Wetter, überlegte er, wo es sich Wölfe in den Kopf setzen könnten, wieder nach Paris zu kommen; und ein einzelner Mann in diesen verlassenen Straßen würde die Aussicht auf Schlimmeres haben als auf einen bloßen Schrecken. Stehen bleibend, besah er den Fleck mit unbehaglicher Teilnahme: es war ein Kreuzungspunkt, wo mehrere Straßen einander schnitten; er blickte eine nach der andern hinunter und hielt horchend den Atem an, um etwaige galoppierende schwarze Wesen überm Schnee zu entdecken oder den Laut eines Heulens zwischen sich und dem Flusse zu hören. Er erinnerte sich, daß seine Mutter ihm die Geschichte erzählt und den Fleck angegeben hatte, als er noch Kind war. Seine Mutter! Wenn er nur gewußt hätte, wo sie lebte, wäre er wenigstens eines Obdachs sicher gewesen. Er beschloß, am Morgen nachzufragen – nein, er würde sogar gehen und nach ihr sehn – das arme alte Mädchen! – Unter derlei Gedanken erreichte er sein Ziel – seine letzte Hoffnung für die Nacht.

Das Haus war ganz dunkel wie seine Nachbarn; und doch, nach einigen Klopfern hörte er eine Bewegung oben, eine aufgehende Tür, und eine vorsichtige Stimme fragte, wer da wäre. Der Poet nannte sich, laut flüsternd, und wartete, nicht ohne einiges Beben, auf die Folgen. Und er hatte nicht lange zu warten. Plötzlich wurde ein Fenster geöffnet, und ein Eimer voll Spülwasser platschte auf die Türstufen herunter. Villon war nicht unvorbereitet auf etwas der Art und hatte sich so weit geschützt, wie die Beschaffenheit des Vordaches zuließ; aber trotzdem war er von der Mitte abwärts jämmerlich durchnäßt. Seine Trikots fingen stracks an zu gefrieren. Tod infolge von Frost und Blöße starrte ihm ins Gesicht; ihm fiel ein daß er zur Lungenschwäche neigte, und er begann versuchsweise zu husten. Aber der Ernst der Gefahr festigte seine Nerven. Ein paar hundert Ellen von der Tür, wo er so roh behandelt war, blieb er stehen und überlegte, den Finger an der Nase. Er konnte nur eine Art, Nachtquartier zu erlangen, sehn, und das war die, es zu nehmen. Nicht weit von hier hatte er ein Haus bemerkt, das aussah, als wäre da leicht einzubrechen, und schleunig begab er sich dorthin, unterwegs sich mit der Vorstellung von einem Raum unterhaltend – noch warm –, mit einem Tisch, noch beladen mit den Überbleibseln eines Abendbrots –, wo er den Rest der schwarzen Stunden hinbringen und den er verlassen würde am andern Morgen mit einem Arm voll wertvoller Teller. Er überlegte, welche Speisen und welche Weine er bevorzugen sollte; und indem er das Verzeichnis seiner Lieblingsleckerbissen entrollte, stellte er sich Bratfisch dar mit einer seltenen Beimischung von Angst und Vergnügen.

»Ich werde diese Ballade niemals fertig schreiben«, dachte er bei sich; und dann, mit neuem Schauder der Erinnerung, »oh Verdammung über seinen Dickkopf!« wiederholte er hitzig und spie auf den Schnee.

Das fragliche Haus sah auf den ersten Blick finster aus; als Villon aber eine vorläufige Besichtigung vorgenommen hatte auf der Suche nach der handlichsten Stelle, um es in Angriff zu nehmen, traf ein kleines Lichtgezwinker sein Auge hinter einem verhängten Fenster hervor.

»Teufel auch!« dachte er. »Da ist einer wach! So ein Gelehrter oder Heiliger – verfluchte Bande! Können sie sich nicht besaufen und im Bett liegen und schnarchen wie ihre Nachbarn? Wozu giebt es denn Abendläuten und arme Teufel von Glöcknern, die am Strickende in Glockentürmen herumspringen? Wozu ist denn der Tag nütze, wenn die Menschen die ganze Nacht aufsitzen? Daß sie die Masern kriegten!« Er grinste, innewerdend, wohin die Logik ihn gebracht hatte. »Jedermann kümmre sich um seine Sachen – also,« setzte er hinzu, »und wenn sie hier wach sind, beim Himmel, kann ich diesmal zu einem ehrlichen Abendbrot kommen und den Teufel hineinlegen.«

Er trat kühn an die Tür und klopfte mit sicherer Hand. Bei beiden Gelegenheiten zuvor hatte er ängstlich geklopft und mit der Befürchtung, Aufmerksamkeit zu erregen; jetzt aber, wo er eben die einbrecherische Absicht des Eintretens verworfen hatte, schien ihm Anpochen ein mächtig einfaches und unschuldiges Vorgehen. Der Schall seiner Schläge widerhallte durch das Haus mit dünnem, phantastischem Echo, als wäre es ganz leer; doch der Laut war kaum hingestorben, als ein gemessener Tritt herankam, ein paar Bolzen fortgezogen wurden und ein Türflügel sich breit aufschlug, wie wenn denen im Innern keine Arglist, oder Angst vor Arglist, bekannt wäre. Die hohe Gestalt eines Mannes, hager und muskulös, jedoch ein wenig gebeugt, trat Villon gegenüber. Sein Kopf war massig im Schädelbau, aber fein gemeißelt; die Nase am Ende flach, aber verfeinert nach oben, wo sie sich mit einem Paar strenger und ehrenfester Brauen vereinte; Mund und Augen waren von zartem Gefältel umgeben, und das ganze Antlitz beruhte auf einem dichten weißen Bart, der kühn war und viereckig beschnitten. Sichtbar wie es war beim Schein einer flackernden Handlampe, sah es vielleicht edler aus, als es zu erscheinen ein Recht hatte; jedoch wars ein schönes Gesicht, mehr ehrenhaft als geistig, kräftig, rechtlich und einfach.

»Sie klopfen spät, Herr,« sagte der alte Mann höflich mit tönender Stimme.

Villon grinste und brachte zu seiner Verteidigung viele dienstfertige Worte vor. In derartigen Lebenslagen hatte der Bettler in ihm die Oberhand, und der Mann von Genie barg sein Haupt mit Verwirrung.

»Sie frieren«, wiederholte der Alte, »und sind hungrig? Gut, treten Sie ein.« Und er forderte ihn ins Haus mit einer recht adligen Handbewegung.

Ein großer Herr, dachte Villon, während sein Wirt, die Lampe auf den Fliesenboden der Halle setzend, die Bolzen wieder an ihre Plätze stieß.

»Verzeihen Sie, wenn ich vorangehe«, sagte er, als das getan war. Und er führte den Poeten treppauf in einen weiten Raum, durchwärmt von einem Becken mit Holzkohlen und erhellt durch eine große, von der Decke hängende Lampe. An Möbeln war er sehr arm: nur etwas goldenes Geschirr auf einem Wandbrett, einige Folianten und ein Gestell mit einer Rüstung zwischen den Fenstern. Ein paar schöne Bildwebereien hingen an den Wänden; eine davon stellte die Kreuzigung des Herrn dar, eine andre eine Szene mit Schäfern und Schäferinnen an einem fließenden Wasser. Über dem Kamin hing ein Wappenschild.

»Wollen Sie sich setzen«, sagte der alte Mann, »und verzeihen, wenn ich Sie verlasse? Ich bin heute nacht allein in meinem Haus, und wenn Sie essen sollen, muß ich selber für Sie sorgen.«

Villon, kaum daß sein Wirt gegangen war, sprang von dem Stuhl, auf den er sich eben niedergelassen, und begann den Raum zu durchspüren mit der Heimlichkeit und Leidenschaft einer Katze. Er wog die goldenen Karaffen in der Hand, öffnete sämtliche Folianten, untersuchte die Zeichen des Wappens und prüfte den Stoff, mit dem die Sessel bespannt waren. Die Vorhänge hebend, sah er, daß auf den Fenstern in reicher Glasmalerei Figuren dargestellt waren von – soweit er sehen konnte – kriegerischer Bedeutung. Dann stand er in der Mitte des Zimmers, tat einen tiefen Atemzug und blickte, ihn mit aufgeblähten Backen anhaltend, um und um im Raum, indem er sich auf den Fersen drehte, als wollte er jeden Zug des Gemaches seinem Gedächtnis einprägen.

»Sieben Stück Geschirr«, sagte er. »Wenns zehn gewesen wären, hätt ichs riskiert. Ein feines Haus, und ein feiner alter Herr – alle Heiligen stehen mir bei!«

Jetzt, da er den Schritt des alten Mannes den Korridor wieder heraufkommen hörte, stahl er sich flugs zu seinem Stuhl zurück und begann bescheiden seine nassen Beine an der Kohlenpfanne zu rösten.

Sein Gastgeber trug einen Teller mit Fleisch in der einen und einen Krug mit Wein in der andern Hand. Den Teller setzte er auf den Tisch, indem er Villon bedeutete, den Stuhl heranzurücken, trat zum Wandbrett und brachte zwei Becher, die er füllte.

»Ich trinke auf bessere Umstände für Sie«, sagte er, Villons Becher mit dem seinen ernsthaft berührend.

»Auf unsre bessere Bekanntschaft«, sagte, kühner geworden, der Poet. Ein einfacher Mann aus dem Volke wäre durch die Artigkeit des alten Edelmanns eingeschüchtert worden, aber Villon war in dieser Beziehung abgehärtet; er hatte früher vor großen Herren Späße getrieben und sie für so schwarze Schurken befunden wie sich selber. Also widmete er sich den Speisen mit rabenartigem Appetit, dieweil der alte Mann, rücklings angelehnt, ihn mit stetem und neugierigem Auge beobachtete.

»Sie haben Blut an der Schulter, Mann«, sagte er.

Montigny mußte seine feuchte Rechte darauf gelegt haben, als er das Haus verließ. Er verfluchte Montigny von Herzen.

»Keins, das ich vergoß«, stammelte er.

»Das hatte ich nicht angenommen«, erwiderte sein Gastfreund ruhig. »Eine Rauferei?«

»Ja, etwas der Art«, bestätigte Villon klappernd.

»Vielleicht einer umgebracht?«

»O nein, nicht umgebracht«, sagte der Poet, mehr und mehr verwirrt. »Es ging durchaus anständig zu – erstochen durch Zufall! Ich hatte die Hände nicht dazwischen, Gott schlag mich tot!« setzte er hitzig hinzu.

»Ein Gauner weniger, wenn ich so sagen darf«, bemerkte der Hausherr.

»So dürfen Sie sagen«, stimmte Villon bei, grenzenlos erleichtert. »Ein so großer Gauner, wie es zwischen hier und Jerusalem geben kann. Er drehte seine Zehen nach oben wie ein Schöps – aber es war unflätig anzusehn. Sie haben tote Leute gesehn, Herr, wenn ich fragen darf, zu Ihrer Zeit?« fügte er bei, auf die Rüstung blickend.

»Viele«, sagte der alte Mann. »Ich war im Kriege, wie Sie denken können.«

Villon legte Messer und Gabel bin, die er grade eben aufgenommen hatte.

»War einer davon kahl?« fragte er.

»O ja – und so weißhaarig wie ich.«

»Ach, ich dächte – auf das Weißhaarige sollt es mir nicht so sehr ankommen«, sagte er. »Seins war rot.« Und er hatte einen neuen Anfall von Schaudern und Lachen, was er in einem großen Schluck Wein ersäufte. »Ich bin ein bißchen angekratzt, wenn ich dran denke«, fuhr er fort. »Ich kannte ihn – verdammt noch mal! Und dann – von der Kälte kriegt ein Mensch Einbildungen – oder von Einbildungen kriegt der Mensch Kälte – ich weiß nicht was von beiden.«

»Haben Sie Geld?« fragte der alte Mann.

»Ich habe einen Weißling«, erwiderte der Poet und lachte; »ich nahm ihn in einer Vorhalle aus dem Strumpf einer toten Hure. Sie war so tot wie Cäsar, die arme Schneppe, und so kalt wie eine Kirche; Stücke Band saßen in ihrem Haar. Es ist eine harte Welt für Wölfe und Huren und arme Halunken wie mich.«

»Ich«, sagte der alte Herr, »bin Enguerrand de la Feuillée, Herr von Brisetout, Amtmann des Patatrac. Wer und was mögen Sie sein?«

Villon erhob sich und machte eine geziemende Verbeugung. »Ich bin François Villon genannt, ein armer Meister der Künste an dieser Universität. Ich weiß etwas Lateinisch und eine Menge Laster. Ich kann Chansons machen, Balladen, Lieder, Ringellieder und Rondells, und ich liebe den Wein ungemein. Geboren wurde ich auf einem Hängeboden, und sterben werde ich nicht unwahrscheinlicherweise an einem Galgen. Ich kann hinzufügen, mein Herr, daß ich von heute nacht an Eurer Gnaden ganz gehorsamster Diener bin – über mich zu befehlen.«

»Nicht mein Diener«, sagte der Ritter. »Mein Gast für diesen Abend – und nicht mehr.«

»Ein überaus dankbarer Gast«, sagte Villon höflich und trank mit stummer Geste seinem Gastfreund zu.

»Sie sind verschlagen«, begann der Alte, an seine Stirn klopfend, »äußerst verschlagen; Sie haben Verstand; Sie sind ein Schreiber; und doch nehmen Sie einer toten Frau auf der Straße ein kleines Geldstück ab. Ist das nicht eine Art Diebstahl?«

»Es ist eine, im Kriege viel geübte Art Diebstahl, mein Herr.«

»Kriege sind das Feld der Ehre«, erwiderte der Alte stolz.

»Dort spielt der Mann um sein Leben; er ficht im Namen seines Herrn Königs, seines Herrn Gotts und aller Herrlichkeiten der hohen Heiligen und Engel.«

»Gesetzt,« sagte Villon, »ich wäre wirklich ein Dieb – sollte ich nicht ebenfalls um mein Leben spielen und gegen hohe Einsätze?«

»Um Gewinst, nicht um Ehre.«

»Gewinst?« wiederholte Villon achselzuckend. »Gewinst! Arme Kerle brauchen Abendbrot und nehmens. Ebenso der Soldat im Felde. Sieh da was sind all diese Requirierungen, von denen man so viel hört? Wenn sie kein Gewinn sind für die, die sie machen, sind sie Verlust genug für die andern. Der Krieger trinkt an einem behaglichen Feuer, dieweil der Bürger seine Nägel beißt, um ihm Wein und Holz zu schaffen. Ich habe eine schöne Masse Bauern an Bäumen hängen sehen im Land, – ah, ich habe dreißig Stück an einer einzigen Ulme gesehn, – eine höchst armselige Figur machten sie. Und als ich einen fragte, wie alle die ans Hängen gekommen wären, wurde mir gesagt, das wäre, weil sie nicht genug Taler zusammenkratzen konnten, um die Kriegsleute zu befriedigen.«

»Diese Dinge sind eine Notwendigkeit des Kriegs, welche der Niedriggeborene mit Standhaftigkeit überdauern muß. Es ist wahr, daß manche Hauptleute arg übertreiben; in jedem Range gibt es Geister, die durch Mitleid nicht leicht bewegt werden; und freilich trägt mancher Waffen, der nichts Besseres ist als ein Räuber.«

»Da sehn Sie's,« sagte der Poet, »Sie können den Soldaten nicht vom Räuber trennen; und was ist ein Dieb anders als ein vereinzelter Räuber mit umsichtigen Manieren? Ich stehle ein paar Hammelkoteletts, ohne nur jemandes Schlaf zu stören; der Pächter brummt ein bißchen und ißt nichtsdestoweniger auskömmlich zu Abend von dem, was übrigblieb. Sie kommen daher, blasen glorreich die Trompete, nehmen das ganze Schaf weg und schlagen den Pächter obendrein zum Erbarmen. Ich hab keine Trompete; ich bin bloß Jean, Jacques oder Pierre; ich bin ein Hund und Halunke, und Hängen ist zu gut für mich – aus dem Herzen gesprochen; sobald Sie aber den Pächter fragen, wen von uns er vorzieht, sobald werden Sie herausfinden, wegen wessen von uns er fluchend wach liegt in kalten Nächten.«

»Betrachten wir uns Zwei«, sagte Seine Herrlichkeit. »Ich bin alt, stark und geehrt. Wenn ich morgen vor meine Tür gesetzt würde – hundert wären stolz, mir Obdach zu geben. Arme Leute würden hinausgehn und mit ihren Kindern die Nacht auf der Straße verbringen, wenn ich nur den Wunsch andeutete, allein zu sein. Und ich finde Sie auf, obdachlos herum wandernd und toten Frauen am Straßenrand ihre Heller abnehmend. Ich fürchte niemand und nichts; ich sah Sie zittern und die Fassung verlieren – bei einem Wort. Ich erwarte Gottes Ruf zufrieden im eigenen Hause oder, wenn es dem König gefällt, mich wieder hinauszurufen, auf dem Schlachtfeld. Sie blicken nach dem Galgen aus; ein rauher, eiliger Tod, ohne Hoffnung oder Ehre. Ist da kein Unterschied zwischen diesen beiden?«

»So weit wie zum Monde«, gab Villon zu. »Wenn aber ich als Graf von Brisetout geboren wäre und Sie als der arme Scholar François, würde der Unterschied um irgend etwas geringer sein? Sollte nicht ich meine Knie an dieser Kohlenpfanne gewärmt haben, und würden nicht Sie nach Hellern im Schnee herumgetappt sein? Wäre nicht ich der Soldat gewesen und Sie der Dieb?«

»Ein Dieb!« schrie der alte Mann. »Ich ein Dieb! Wenn Sie Ihre Worte verstünden, so würden Sie sie bereun!«

Villon streckte mit einer Geste von unnachahmlicher Frechheit die Hände aus. »Wenn Euer Gnaden mir nur die Ehre erwiesen hätte, meiner Beweisführung zu folgen!« sagte er.

»Ich tue Ihnen zu viel Ehre an, mich zu Ihrer Gegenwart herbeizulassen«, sagte der Ritter. »Lernen Sie Ihre Zunge im Zaum halten, wenn Sie mit alten und ehrenhaften Männern reden, oder ein Hastigerer als ich dürfte Sie in schärferer Weise strafen!« Und er stand auf und ging am unteren Ende des Gemaches hin und her, mit Unmut und Abneigung streitend. Villon füllte verstohlen seinen Becher neu und setzte sich bequemer im Stuhl, die Beine überschlagend, den Kopf in eine Hand stützend und den Ellbogen gegen die Rücklehne. Er war jetzt gefüllt und erwärmt; und er war in keiner Weise in Angst um seinen Wirt, nachdem er ihn so gerecht, wie das zwischen zwei so verschiedenen Naturen möglich war, eingeschätzt hatte. Die Nacht war zum großen Teil verbracht und – alles in allem – auf sehr tröstliche Weise; auch fühlte er sich moralisch eines sicheren Abgangs am Morgen gewiß.

»Sagen Sie mir eins,« sprach der Alte, im Gange anhaltend: »sind Sie wirklich ein Dieb?«

»Ich berufe mich auf die geheiligten Rechte der Gastfreundschaft«, erwiderte der Poet – »Herr Graf, ich bins.«

»Sie sind sehr jung«, fuhr der Ritter fort.

»Ich wäre niemals so alt geworden«, versetzte Villon seine Finger weisend, »wenn ich mir nicht mit diesen zehn Talenten geholfen hätte. Sie sind meine stillenden Mütter und nährenden Väter gewesen.«

»Sie können noch bereuen und sich ändern!«

»Ich bereue täglich«, sagte der Dichter. »Wenige Leute sind der Reue dermaßen ergeben wie der arme François. Was die Änderung angeht, so laß einen meine Umstände ändern. Der Mensch darf nicht aufhören zu essen, wenns nur darum wäre, daß er nicht aufhören soll zu bereuen.«

»Die Änderung muß im Herzen beginnen«, wandte der alte Mann feierlich ein.

»Teurer Graf«, antwortete Villon, »stellen Sie sich wahrhaftig vor, ich stehle zu meinem Vergnügen? Ich hasse Stehlen wie irgendein Stück Arbeit oder Gefahr. Mir klappern die Zähne, wenn ich einen Galgen sehe. Aber ich muß essen, muß trinken, muß in irgendeine Art Gesellschaft kommen. Teufel auch! Der Mensch ist kein Einzeltier – cui deus feminam tradit. Machen Sie mich zum Königstruchseß, machen Sie mich zum Abt von St. Denis; machen Sie mich zum Amtmann des Patatrac; dann werde ich tatsächlich verändert sein. Aber solange Sie mich den armen Scholar François Villon sein lassen, ohne einen Heller – ja, natürlich, da bleibe ich derselbe.«

»Die Gnade Gottes ist allmächtig.«

»Ich wäre ein Ketzer, wenn ich sie in Frage stellte«, sagte François. »Sie hat Sie zum Grafen von Brisetout gemacht und zum Amtmann des Patatrac; sie hat mir nichts als den flinken Witz unterm Hut gegeben und diese zehn Zehen an die Hände. Darf ich mir einschenken? Ich danke Ihnen ehrerbietigst. Bei Gottes Gnade, Sie haben einen ganz hervorragenden Weinberg.«

Der Graf von Brisetout ging auf und nieder, die Hände hinter dem Rücken. Vielleicht war sein Gemüt noch nicht ganz beruhigt über die Parallele von Dieben und Soldaten; vielleicht hatte Villon ihm Teilnahme abgewonnen durch irgendeinen Querfaden der Zuneigung; vielleicht war sein Geist einfach verwirrt durch eine so ungewöhnliche Beweisführung; was aber die Ursache sein mochte – er begehrte irgendwie, den jungen Mann zu einer bessern Denkungsart zu bekehren, und konnte sich nicht entschließen, ihn wieder hinaus auf die Straße zu treiben.

»Noch etwas ist da, das ich hier nicht verstehen kann«, sagte er endlich. »Ihr Mund ist voller Feinheiten, und der Teufel hat Sie so weit irregeführt; der Teufel aber ist nur ein äußerst schwacher Geist vor Gottes Wahrheit, und all seine Feinheiten schwinden auf ein Wort wahrhaftiger Ehre, wie Dunkelheit am Morgen. Hören Sie mich noch einmal! Ich lernte vor langer Zeit, daß ein Edelmann ritterlich leben solle und in Ehrfurcht vor Gott, vorm König, vor seiner Dame; und wenn ich auch viele seltsame Dinge habe verrichten sehn, so habe ich doch gestrebt, meine Wege nach dieser Regel zu lenken. Sie ist nicht nur in allen Adelschroniken geschrieben, sondern in jedermanns Herzen, wenn er sich bemühen will, zu lesen. Sie sprechen von Holz und Wein, und ich weiß sehr wohl, daß Hunger eine schwer zu bestehende Prüfung ist; aber Sie sprechen nicht von andern Bedürfnissen; Sie sagen nichts von Ehre, von Glauben an Gott und Menschen, von Höflichkeit, von Liebe ohne Makel. Mag sein, daß ich nicht sehr klug bin – und doch, ich denke, ich bins –, aber Sie scheinen mir wie einer, der den Weg verlor und einen großen Irrweg im Leben machte. Die kleinen Bedürfnisse befriedigten Sie und haben die großen und einzig wirklichen völlig vergessen, wie einer, der an einem Zahnweh doktern wollte beim Jüngsten Tage. Denn solche Dinge wie Ehre und Liebe und Glauben sind nicht allein edler als Futter und Getränk, sondern ich glaube vielmehr, daß wir sie tiefer begehren und schärfer durch ihre Abwesenheit leiden. Ich rede so zu Ihnen, wie ich denke, daß Sie mich am leichtesten verstehn werden. Sind Sie nicht, derweil Sie sich sorgen, Ihr Gekröse zu füllen, Verächter andern Hungers in Ihrem Herzen, der Ihnen die Freuden Ihres Lebens raubt und Sie immerwährend im Elend erhält?«

Villon war von all dem Predigen empfindlich zerstochen. »Sie denken, ich hätte kein Ehrgefühl!« schrie er. »Ich bin arm genug, Gott mags wissen! Es ist hart, reiche Leute in Handschuhn zu sehn und sich selbst, wie man in die Hände bläst. Ein leerer Darm ist 'ne bittre Sache, obschon Sie so leicht von reden. Wenn Sie so oft einen gehabt hätten wie ich, würden Sie vielleicht Ihre Weise ändern. Jawohl, ich bin ein Dieb – machen Sie's Beste draus –, aber ich bin kein Höllenteufel, Gott schlag mich tot, ich wünschte, Sie wüßten, daß ich meine eigene Ehre habe, so gut wie Sie Ihre, wenn ich auch nicht den ganzen Tag lang von plappre, als obs ein Wunder Gottes wäre, eine zu haben. Mir kommt sie ganz natürlich vor; ich lasse sie im Kasten, bis sie gebraucht wird. Also was! sehn Sie mal zu, wie lange bin ich in diesem Raum mit Ihnen? Sagten Sie mir nicht, Sie wären allein im Hause? Sehn Sie Ihre goldenen Teller an! Sie sind kräftig, wenns beliebt, aber alt und unbewaffnet, und ich hab mein Messer. Was hätt ich nötig als einen Ruck mit dem Ellbogen, und da wären Sie – mit dem kalten Eisen im Gedärm, und da wär ich und trippelte auf die Straße mit einem Arm voll goldner Becher. Bilden Sie sich ein, ich hätte nicht Witz genug, das zu sehn? Und ich verachtete diese Handlung. Da sind Ihre verdammten Kelche, so sicher wie in der Kirche; da sind Sie, und Ihr Herz tickt so gut wie neu; und hier bin ich mit meinem einen Weißling, den Sie mir zwischen die Zähne geworfen haben! Und Sie meinen, ich hätte kein Ehrgefühl – Gott schlag mich tot!«

Der Alte streckte den rechten Arm aus. »Ich werde Ihnen sagen, was Sie sind«, sagte er. »Sie sind ein Halunke, Mann, ein unverschämter und ein schwarzherziger Halunke und Vagabund. Ich habe eine Stunde mit Ihnen verbracht. Oh, glauben Sie mir, ich fühle mich entehrt! Und Sie haben an meinem Tisch gesessen und getrunken. Aber nun ekelt mich Ihre Anwesenheit; der Tag ist da, und der Nachtvogel macht sich zu seiner Hühnerstiege davon. Wollen Sie vor mir gehn oder hinter mir?«

»Wie's beliebt«, versetzte der Poet und lachte. »Ich halte Sie für pünktlich ehrenhaft.« Er leerte seinen Becher gedankenvoll. »Ich wollte, ich könnte hinzusetzen, Sie hätten Geist«, fuhr er fort, mit den Fingerknöcheln an die Stirn pochend. »Das Alter! das Alter! Gehirn steif und rheumatisch.«

Aus Ursachen der Selbstachtung ging der alte Mann vor ihm her; Villon folgte, pfeifend, die Daumen im Gürtel.

»Gott erbarme sich Ihrer!« sagte der Graf von Brisetout an der Tür.

»Adieu, Papa«, erwiderte Villon gähnend. »Vielen Dank für kalten Hammel.«

Die Tür schloß sich hinter ihm. Über den weißen Dächern war die Morgendämmerung angebrochen. Ein frostiger, unbehaglicher Morgen eröffnete den Tag. Villon stand und reckte sich von Herzen mitten auf der Straße.

»Ein sehr langweiliger alter Herr«, dachte er. »Wüßt ich nur, was seine Becher wert sein mögen!«

 


 << zurück