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»Ja,« sagte der Trödler, »was uns der Zufall so ins Haus weht, ist von allerlei Art. Manche Kunden haben keine Ahnung von dem Wert der Sachen, die sie bringen, und dann beziehe ich eine Dividende auf meine überlegenen Kenntnisse. Einige sind unehrlich,« und bei diesen Worten hielt er die Kerze in die Höhe, so daß ihr Licht hell auf seinen Besucher fiel, »und in diesem Fall«, fuhr er fort, »hab ich von meiner Tugend Profit.«

Markheim war gerade eben aus der tageshellen Straße in die Trödelbude eingetreten, und seine Augen hatten sich noch nicht an das Zwielicht von Hell und Dunkel in dem Laden gewöhnt. Die scharf betonten Worte und die Nähe der Kerzenflamme machten, daß er mit den Augen zwinkern und zur Seite blicken mußte.

Der Trödler kicherte und fuhr dann fort:

»Sie kommen zu mir am Weihnachtstage, wo Sie doch wissen, daß ich allein in meinem Hause bin, meine Fensterläden vorgesetzt habe und grundsätzlich keine Geschäfte mache. Nu, Sie werden dafür zu bezahlen haben; Sie werden mir auch meinen Zeitverlust zu bezahlen haben, denn eigentlich sollte ich meine Geschäftsbücher in Ordnung bringen; und ferner werden Sie zu bezahlen haben für eine gewisse Aufregung, die ich heute sehr deutlich an Ihnen bemerke. Ich bin die Diskretion selber und stelle niemals unpassende Fragen; aber wenn ein Kunde mir nicht ins Auge sehen kann, so hat er dafür zu bezahlen.«

Wieder kicherte der Trödler; dann fuhr er in seinem gewöhnlichen geschäftlichen Ton, obgleich immer noch mit einem etwas ironischen Klang, fort: »Sie können wie gewöhnlich klare Auskunft darüber geben, wie Sie in den Besitz des Gegenstandes kamen? Wieder aus der Sammlung Ihres Oheims? Ein bemerkenswerter Sammler, Herr!«

Und der kleine blasse, krummrückige Trödler stand beinahe auf den Zehenspitzen, sah über den Rand seiner goldenen Brille weg und nickte dazu mit allen Anzeichen von Ungläubigkeit. Markheim erwiderte seinen Blick mit einem unendlich mitleidigen, in den sich ein leises Grauen mischte, und sagte:

»Diesmal irren Sie sich; ich will nicht verkaufen, sondern kaufen. Ich habe keine Raritäten abzugeben; meines Oheims Kabinett hat bloß noch die kahlen Wände. Aber selbst wenn die Sammlung noch unversehrt wäre, ich habe ein gutes Geschäft an der Börse gemacht und würde wohl eher Kunstgegenstände kaufen, als umgekehrt. Aber mein heutiger Wunsch ist ungeheuer einfach: Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für eine Dame,« fuhr er fort, und die Rede, die er sich vorher zurechtgelegt hatte, ging um so fließender, als er über die ersten Sätze hinweg war; »gewiß muß ich Sie recht sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie wegen einer solchen Kleinigkeit belästige. Aber die Sache wurde gestern verbummelt; ich muß beim Essen mein kleines Kompliment anbringen, und eine reiche Heirat, das wissen Sie recht wohl, ist ein Ding, das man nicht auf die leichte Achsel nehmen darf.«

Es folgte eine Pause, während welcher der Trödler ungläubig über diese Erzählung nachzudenken schien. In dem Schweigen hörte man das Ticken vieler Uhren in dem bunten Kram des Ladens und das gedämpfte Rasseln der Droschken in einer nahen Hauptstraße.

»Na, Herr,« sagte der Händler, »mag es so sein. Sie sind ja doch ein alter Kunde; und wenn Sie, wie Sie sagen, Aussicht auf eine gute Heirat haben, so sei es ferne von mir, Ihnen dabei im Wege zu sein. Hier habe ich auch was Hübsches für eine Dame,« fuhr er fort; »hier diesen Handspiegel – fünfzehntes Jahrhundert, garantiert echt; stammt sogar aus einer guten Sammlung, aber den Namen behalte ich für mich, im Interesse meines Kunden, der genau wie Sie, mein werter Herr, der Neffe und einzige Erbe eines bedeutenden Sammlers war.

Während der Trödler so mit seiner trockenen sarkastischen Stimme sprach, hatte er sich gebückt, um den Spiegel hervorzuholen; und als er dies tat, verspürte Markheim einen Stoß, der ihm durch den ganzen Körper fuhr: ein Zucken in Hand und Fuß, ein plötzliches Zuströmen vieler aufrührerischen Leidenschaften in seinem Antlitz. Es ging so schnell vorüber, wie es gekommen war, und hinterließ keine Spur außer einem leisen Zittern der Hand, die jetzt den Spiegel in Empfang nahm.

»Ein Spiegel?« sagte er heiser, stockte dann und wiederholte das Wort deutlicher: »Ein Spiegel? Zu Weihnachten? Gewiß doch nicht?«

»Und warum nicht?« rief der Trödler. »Warum nicht ein Spiegel?«

Markheim sah ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an; dann sagte er:

»Sie fragen mich: warum nicht? Nun, sehen Sie doch – sehen Sie hinein, sehen Sie sich selber an! Mögen Sie so etwas sehen? Nein! ich auch nicht – und überhaupt kein Mensch.«

Das Männchen war zurückgesprungen, als Markheim ihm so plötzlich den Spiegel vorhielt; jetzt aber kicherte er wieder, als er bemerkte, daß nichts Böses beabsichtigt war.

»Ihre zukünftige Frau Gemahlin, Herr, muß wohl nicht allzuviel Schönheit mitbekommen haben!«

»Ich ersuche Sie um ein Weihnachtsgeschenk, und Sie geben mir dies – diesen verdammten Erinnerer an die Flüchtigkeit der Jahre, an Sünden und Torheiten – dieses Hand-Gewissen! War das Ihre Absicht? Hatten Sie einen besonderen Gedanken dabei im Sinn? Sagen Sie mir das! Es wird für Sie besser sein, wenn Sie das tun. Hören Sie mal, sagen Sie mir etwas über sich selber! Ich möchte auf gut Glück annehmen, daß Sie im geheimen ein sehr mildtätiger Mensch sind?«

Der Trödler sah seinen Besucher scharf an. Es war sehr sonderbar: Markheim schien nicht zu scherzen, in seinem Gesicht war so etwas wie ein Funke von Hoffnung, aber gar keine Heiterkeit.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Trödler.

»Nicht wohltätig?« versetzte der andere düster. »Nicht wohltätig; nicht fromm; nicht gewissenhaft; nicht liebend, ungeliebt; eine Hand, Geld einzunehmen – ein Geldschrank, es aufzubewahren. Ist das alles? Gütiger Gott – Mann, ist das alles?«

»Ich will Ihnen sagen, was es ist!« begann der Trödler ziemlich scharf; dann aber kicherte er wieder: »aber ich verstehe – Sie heiraten aus Liebe und haben auf der Dame Wohl getrunken!«

»Ah!« rief Markheim mit einem merkwürdigen Interesse. »Ah, Sie sind einmal verliebt gewesen? Erzählen Sie mir davon!«

»Ich!« rief der Trödler. »Ich verliebt! Dazu habe ich niemals Zeit gehabt, und ich habe auch heute keine Zeit für all diesen Unsinn. Wollen Sie den Spiegel nehmen?«

»Wozu so eilig? Es ist so nett, hier zu stehen und zu plaudern; und das Leben ist so kurz und so unsicher, daß man sich von keinem Vergnügen so schnell trennen sollte – wäre es auch nur ein so harmloses Vergnügen, wie dies Geplauder. Eigentlich sollten wir uns anklammern – anklammern an jedes bißchen, das wir kriegen können, wie ein Mensch an die Zacke einer Klippe. Jede Sekunde ist eine Klippe, wenn man darüber nachdenkt – eine Klippe, die eine Meile hoch ist, hoch genug, daß wir aus der Menschheit spurlos verschwinden, wenn wir herunterstürzen, darum ist es das beste, gemütlich zu plaudern. Wir wollen uns etwas voneinander erzählen: warum sollen wir diese Maske tragen? Lassen Sie uns vertraulich miteinander sprechen. Wer weiß, ob wir nicht Freunde werden könnten?«

»Ich habe Ihnen bloß ein Wort zu sagen,« sprach der Trödler; »entweder kaufen Sie etwas oder verlassen Sie meinen Laden!«

»Freilich, freilich,« sagte Markheim. »Genug des Schwätzens. Ans Geschäft! Zeigen Sie mir etwas anderes.«

Der Trödler bückte sich abermals – dieses Mal, um den Spiegel wieder auf das Bord zu legen, und dabei fiel ihm sein dünnes blondes Haar über die Augen. Markheim bewegte sich etwas näher heran, die eine Hand in der Tasche seines Mantels; er reckte sich empor und füllte seine Lungen mit Luft; und viele verschiedene Gefühle malten sich gleichzeitig auf seinem Antlitz: Furcht und Grausen und Entschlossenheit, unwiderstehlicher Trieb und körperliches Zurückschaudern; seine Oberlippe krümmte sich empor, so daß die Zähne sichtbar wurden.

»Dies hier möchte vielleicht passend sein!« bemerkte der Trödler. Und dann, als er sich wieder aufzurichten begann, sprang Markheim mit einem Satz von hinten auf sein Opfer. Der lange spießähnliche Dolch blitzte und fiel nieder. Der Trödler schlug mit den Armen, wie ein Huhn mit den Flügeln, streifte mit der Schläfe das Gestell und sank in einen Haufen auf den Boden zusammen.

Frau Zeit hatte etliche Dutzend leiser Stimmen in diesem Laden – einige feierlich und langsam, wie es sich für ihr hohes Alter gehörte – andere geschwätzig und eilig. Alle diese Stimmen kündeten die Sekunden in einem verworrenen Ticktack-Chor.

Ein junger Bursche lief mit schweren Schritten draußen eilig über das Straßenpflaster; seine Tritte übertönten die leiseren Stimmen und brachten Markheim mit einem Ruck zum Bewußtsein seiner Umgebung.

Traurig sah er sich um. Die Kerze stand auf dem Ladentisch; ihre Flamme schwankte in einem Luftzug langsam hin und her; und durch diese unbedeutende Bewegung wurde der ganze Raum von einem geräuschlosen Schattentanz erfüllt, der wie Meereswogen schwankte; die langen Schatten nickten, große Flecken von Finsternis breiteten sich aus und zogen sich zusammen wie in regelmäßigen Atemzügen; die Gesichter auf den Porträts und die chinesischen Götzenbilder schwankten hin und her und auf und ab, wie wenn sie im Wasser schwämmen.

Die innere Tür stand halb offen und stieß in diese Schattenmassen einen langen Streifen Tageslicht wie einen Finger hinein.

Von diesen angsterfüllten Wanderungen kehrten Markheims Augen zu dem Leichnam seines Opfers zurück: dort lag er, zusammengeballt und nur einige Teile von Gliedmaßen von sich streckend, unglaublich klein und auffallend viel schäbiger aussehend als im Leben. In diesen armseligen Kleidern eines Geizhalses, in dieser grausigen Verrenkung seines Körpers lag der Trödler da wie ein Haufen Sägespäne.

Markheim hatte vor diesem Anblick Furcht gehabt, und siehe da, es war gar nichts.

Und doch, wie er so darauf hinstarrte, da begannen dieses Dunkel alter Kleider und diese Blutlache beredte Stimmen zu finden: der Haufen mußte dort liegen; niemand war da, durch ein Wunder ihn von der Stelle zu bewegen; dort mußte er liegen bleiben, bis er gefunden wurde.

Gefunden! natürlich. Und dann?

Dann würde dieses tote Fleisch einen Schrei erheben, der über ganz England erschallen würde, der die ganze Welt mit dem Widerhall der Verfolgungsrufe erfüllen würde.

Ja – tot oder nicht: dieser Leichnam war immer sein Feind.

Der Mensch ist tot – die Zeit bleibt, dachte Markheim.

Und dieses Wort »Zeit« blieb in seinen Gedanken haften: Zeit war jetzt, da die Tat vollbracht war, für den Mörder wichtig; den Ermordeten ging sie nichts mehr an.

Dieser Gedanke war noch in seinem Sinn, als plötzlich, erst eine, dann eine andere, dann unendlich viele in allen möglichen Geschwindigkeiten und Klängen: eine tief und langsam wie eine Kirchturmuhr, eine andere hell und lustig und flink wie im Walzertakt, alle Glocken die dritte Stunde zu schlagen begannen.

Es war drei Uhr nachmittags.

Das plötzliche Sprechen so vieler Zungen in dieser stummen Kammer rüttelte ihn auf.

Er begann sich zusammenzunehmen, ging mit der Kerze in dem Laden hin und her, von schwankenden Schatten verfolgt und von allerlei Gedanken in seiner Seele gepeinigt.

In vielen prachtvollen Spiegeln, zum Teil englischen, zum Teil venezianischen oder holländischen, sah er sein Antlitz in unzähliger Vervielfachung, wie wenn eine Armee von Spionen um ihn wäre. Seine eigenen Augen erblickten und entdeckten ihn, und der Schall seiner eigenen Schritte, so leise er auch ging, störte unheimlich die Ruhe, die ringsum war.

Und während er so unablässig seine Taschen füllte, zeigte sein Verstand ihm, mit einer Hartnäckigkeit, die ihm übel machte, die tausend Fehler, die er begangen hatte: Er hätte eine ruhigere Stunde wählen sollen; er hätte ein Alibi vorbereiten sollen; er hätte kein Messer benutzen dürfen; er hätte vorsichtiger sein, den Trödler nur binden und knebeln, nicht töten sollen; er hätte kühner sein und auch das Dienstmädchen ermorden sollen, er hätte alles, alles anders machen sollen.

Ein schmerzhaftes, trauriges Denken, unaufhörliches Überlegen, wie etwas zu ändern wäre, das doch nicht zu ändern war – Pläne zu schmieden, die jetzt zwecklos waren –, die unabänderliche Vergangenheit anders zurechtzuzimmern.

Und hinter all diesem hastigen Denken erfüllte eine gräßliche Angst die weiter entlegenen Kammern seines Hirns mit einem Lärm, wie wenn Ratten auf einem unbewohnten Dachboden rumpeln: die Hand des Schutzmanns würde sich schwer auf seine Schulter legen, und seine Nerven würden dabei zappeln wie ein gefangener Fisch am Angelhaken. Oder er sah allerlei Bilder an sich vorübergaloppieren: die Anklagebank, das Gefängnis, den Galgen und den schwarzen Sarg.

Furcht vor den Menschen auf der Straße umringte seinen Geist wie eine Belagerungsarmee. Es könnte nicht anders sein, dachte er, als daß ein Geräusch des Kampfes an ihre Ohren gedrungen wäre und ihre Neugierde gereizt hätte. Und er stellte sich vor, wie jetzt in allen Nachbarhäusern Menschen regungslos und mit gespitzten Ohren dasäßen, einsame Menschen, die am Weihnachtsfest nur ihre Erinnerungen an die Vergangenheit hätten und in dieser lieben Beschäftigung plötzlich gestört wären; glückliche Familiengesellschaften, die rund um den Tisch herum auf einmal verstummten, als die Mutter den Finger erhob: Menschen jedes Standes und Alters und Temperaments – aber alle saßen sie in ihrem eigenen Heim und horchten und lauschten und bewegten den Strick, an dem er hangen sollte.

Manchmal schien es ihm, wie wenn er sich gar nicht leise genug bewegen könnte: das Klingen der großen böhmischen Glaspokale erscholl so laut wie eine Kirchenglocke. Die Uhren tickten so laut, daß er daran dachte, sie zum Stillstehen zu bringen.

Und dann wieder, in einem blitzschnellen Übergang schien ihm gerade in der Stille des Ortes die Gefahr zu liegen; gerade sie mußte die Vorübergehenden beunruhigen und erschrecken. Dann trat er kühner auf den Fußboden, kramte geräuschvoll unter den Sachen im Laden herum und ahmte mit erkünstelter Tapferkeit die Bewegungen eines fleißigen Menschen nach, der sich in seinem eigenen Hause unbekümmert zu schaffen macht.

Aber alle diese Ängste rissen ihn so zusammen, daß nur ein Teil seines Verstandes noch munter und schlau war, der andere aber am Rande des Wahnsinns zitterte.

Besonders war es ein ganz bestimmtes Trugbild seiner Sinne, das ihn verstörte. Der Nachbar, der mit bleichem Gesicht hinter dem Fenster lauschte, der Passant, den ein grausiger Verdacht plötzlich auf dem Straßenpflaster festgebannt stehen ließ – diese konnten im schlimmsten Fall einen Verdacht haben, wissen konnten sie nichts; durch die Ziegelmauern und die verschlossenen Fensterläden konnten nur Töne hindurchdringen. Aber hier drinnen im Hause – war er hier wirklich allein?

Er wußte, er war allein. Er hatte das Dienstmädchen beobachtet, wie sie in ihrem ärmlichen Sonntagsstaat zum Bräutigam eilte: »Frei für den ganzen Tag!« stand auf jedem Bande ihres Putzes geschrieben; drückte sich in jedem Lächeln ihres Antlitzes aus.

Ja – er war allein, natürlich war er allein. Und doch – in dem leeren Hause über ihm konnte er deutlich leise Schritte hören; er hatte das ganz bestimmte Bewußtsein, freilich ein unerklärliches Bewußtsein, daß irgend jemand da sei. Jawohl, ganz sicher war etwas da; in jedem Raum und Winkel des Hauses folgte seiner Phantasie dieses Etwas: jetzt war es ein Ding ohne Gesicht und hatte doch Augen, damit zu sehen; dann wieder war es ein Schatten seiner selbst; und dann, siehe! es war das Abbild des toten Trödlers, zu neuem Leben erweckt, voll Schlauheit und Haß.

Manchmal warf er mit einer starken Willensanstrengung einen Blick auf die offene Tür, die immer wieder seine Augen zurückzuweisen schien. Das Haus war hoch, das Glasfenster im Dach klein und schmutzig, der Tag war trübe von Nebel; und das Licht, das bis zum Erdgeschoß herunterdrang, war außerordentlich schwach und dämmerte nur auf der Schwelle des Ladens. Und doch – hing nicht in jenem Streifen von zweifelhafter Helle ein schwankender Schatten?

Plötzlich begann draußen auf der Straße ein sehr munter aufgelegter Herr mit einem Stock an die Ladentür zu klopfen; er begleitete seine Schläge mit Rufen und Neckereien, in denen der Name des Trödlers fortwährend vorkam.

Markheim erstarrte zu Eis und warf einen Blick auf den Toten.

Aber nein – der lag ganz stille, er war weit außer Hörweite diesem Klopfen und Rufen entronnen; er war tief unter Meere von Schweigen gesunken; und sein Name, den er einstmals durch heulenden Sturmwind hindurch gehört haben würde, war ein leerer Schall geworden.

Plötzlich ließ der muntere Herr von seinem Klopfen ab und entfernte sich.

Dies war ein deutlicher Wink, schnell zu erledigen, was noch zu tun übrigblieb: diese ihn anschuldigende Nachbarschaft zu verlassen, sich in das Londoner Treiben der Menge wie in ein Bad zu stürzen, und auf der anderen Seite des Tages den Hafen der Sicherheit und anscheinender Unschuld zu erreichen: sein Bett. Ein Besucher war gekommen – jeden Augenblick konnte ein anderer folgen und hartnäckiger sein. Die Tat vollbracht zu haben und trotzdem nicht den Nutzen einzuheimsen, das wäre ein zu gräßlicher Fehlschlag. Des Trödlers Geld, darauf hatte Markheim es jetzt abgesehen; und das Mittel, zu diesem Gelde zu gelangen, waren die Schlüssel.

Er sah über seine Schulter weg nach der offenen Tür, wo noch immer der Schatten lauerte und schwankte; sein Verstand war sich keines Widerstrebens bewußt, aber in seinen Gedärmen verspürte er ein Unbehagen, als er sich der Leiche seines Opfers näherte. Der menschliche Charakter der Leiche war ganz verschwunden: wie alte Kleider, die halb mit Kleie ausgefüllt waren, lagen die Glieder ausgestreckt auf dem Fußboden, der Rumpf war gekrümmt. Trotzdem hatte das Bild etwas Abstoßendes für ihn. Obwohl es so erbärmlich und kümmerlich anzusehen war, fürchtete er sich, es anzurühren. Er faßte den Leichnam an den Schultern und legte ihn auf den Rücken. Er war merkwürdig leicht und geschmeidig, und die Glieder nahmen die seltsamsten Lagen an, wie wenn sie gebrochen wären.

Dem Gesicht war jeder Ausdruck genommen; aber es war so bleich wie Wachs und um die eine Schläfe herum greulich mit Blut beschmiert.

Dies war für Markheim der einzige unangenehme Umstand. Er versetzte ihn augenblicklich in seiner Erinnerung zu einem gewissen Ferientag in einem Fischerdorf zurück: ein grauer Tag, ein pfeifender Sturm, ein Menschengedränge auf der Straße, das Geschmetter von Blechmusik, das Rollen von Trommeln, die näselnde Stimme eines Moritatensängers. Und in all diesem Getöse ging ein Junge hin und her, in der Menge verschwindend, halb voll Neugier, halb voll Furcht, bis er auf den Hauptplatz des Jahrmarktes kam und dort eine Bude und einen großen Vorhang mit scheußlich gezeichneten, in grellen Farben gemalten Schildereien erblickte: die Brownrigg mit ihrem Lehrling; die Familie Manning mit ihrem ermordeten Gast Weare mit der Mörderfaust Thurtells an der Kehle – und noch ein Dutzend anderer berühmter Verbrechen.

Er sah es so deutlich wie ein Bild vor sich, er war wieder jener kleine Junge; er sah wieder und mit der gleichen Empfindung körperlichen Abscheus auf diese gemeinen Sudeleien; er war noch immer betäubt von dem Bumbum der Pauken. Eine Melodie, die die Musik an jenem Tage gespielt hatte, kam ihm wieder ins Gedächtnis – und in diesem Augenblick übermannte ihn zum erstenmal eine Übelkeit, wie wenn er sich erbrechen müßte, eine plötzliche Schwäche der Glieder, die er augenblicklich besiegen mußte.

Er hielt es für klüger, diesen Erwägungen ins Gesicht zu sehen, als vor ihnen zu fliehen; er mußte dem Toten ins Antlitz blicken, er mußte seinen Verstand zwingen, sich der Art und Größe seines Verbrechens bewußt zu werden.

Vor einer so kurzen Weile erst hatte dieses Gesicht sich bei jedem Wechsel der Empfindung bewegt; dieser bleiche Mund hatte gesprochen; dieser Körper hatte von lenkbaren Energien geglüht; und jetzt, und zwar durch seine Tat, war dieses Stück Leben zum Stillstand gebracht worden, wie der Uhrmacher den Pendelschlag einer Uhr anhält, indem er seinen Finger ausstreckt.

So sprach er zu seinem Verstande, aber vergeblich; er konnte in seinem Bewußtsein keine Reue mehr erwecken; dasselbe Herz, das vor den gemalten Bildern von Verbrechen geschauert hatte, sah ungerührt auf die Wirklichkeit. Höchstens fühlte er einen Schimmer von Mitleid, nein, für einen Menschen, dem vergeblich alle jene Gaben verliehen waren, die die Welt zu einem Zaubergarten zu machen vermögen – für einen, der niemals gelebt hatte und jetzt tot war. Aber Reue – nein, keine Spur!

Und so schüttelte er alle diese Erwägungen von sich ab. Er fand die Schlüssel und ging auf die offene Türe des Ladens zu. Draußen hatte es heftig zu regnen begonnen, und das Prasseln des Regenschauers hatte das bisherige Schweigen verscheucht.

Wie eine Tropfsteinhöhle waren die Gemächer des Hauses von einem unaufhörlichen Widerhall durchrauscht, der das ganze Ohr füllte und sich mit dem Ticken der Uhren mischte. Und als Markheim sich der Tür näherte, war es ihm, wie wenn er eine Antwort auf seine eigenen vorsichtigen Schritte hörte: die Schritte eines anderen Fußes, der die Treppe hinaufging. Der Schatten schwankte immer noch über der Stelle. Er wälzte einen zentnerschweren Entschluß auf seinen Muskeln und zog die Tür an sich.

Das schwache neblichte Tageslicht schien dämmerig auf den leeren Flur und die Treppe; auf die blankgeputzte Ritterrüstung, die mit der Hellebarde in der Hand auf dem Treppenabsatz stand; auf die dunklen Holzschnitzereien und eingerahmten Gemälde, die an den gelben Brettern der Treppenwand hingen.

So laut klang das Prasseln des Regens durch das ganze Haus, daß Markheims Ohr eine ganze Anzahl verschiedener Abtönungen unterschied: Fußtritte und Seufzer, das Aufstampfen von Regimentern, die in der Ferne marschierten, das Klirren von Geldmünzen auf einem Zahltisch, das Knarren von Türen, die sich in ihren Angeln bewegten – dies alles schien sich mit dem Prasseln der Regentropfen gegen die Glaskuppel und mit dem Rauschen des Wassers in den Dachröhren zu vermischen.

Das Gefühl, daß er nicht allein sei, wurde so stark in ihm, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Auf allen Seiten war er von gespenstigen Wesen umringt und eingeschlossen. Er hörte, wie sie sich in den oberen Zimmern bewegten; vom Laden her hörte er, wie der Tote sich auf seine Beine stellte; und als er mit großer Anstrengung die Treppe zu ersteigen begann, da flohen Füße leise vor ihm her und folgten ihm verstohlen. Wenn er nur taub wäre, dachte er bei sich selber, wie ruhig würde dann seine Seele sein!

Und dann horchte er wieder mit immer frischer Aufmerksamkeit und pries sich selber glücklich wegen dieses rastlosen Sinnes, der auf Vorposten stand und als zuverlässige Schildwache sein Leben behütete.

Fortwährend wandte sein Kopf sich zurück; seine Augen, die aus ihren Höhlen hervorzuquellen schienen, spähten nach allen Seiten und machten zur Belohnung auf allen Seiten halbe Entdeckungen, wie wenn da etwas Namenloses verschwände. Die vierundzwanzig Stufen bis zum ersten Stock hinauf waren ein vierundzwanzigfacher Todeskampf.

In diesem ersten Stockwerk standen die Türen halb offen: drei Türen waren es, wie drei Hinterhalte, die ihn wie mit Kanonenschlünden bedrohten. Er fühlte, daß er niemals wieder sich vor beobachtenden Menschenaugen hinreichend gesichert und beschützt fühlen würde; er sehnte sich danach, zu Hause zu sein, von Wänden umschlossen, unter Bettüchern begraben, unsichtbar für alle, außer für Gott.

Und bei diesem Gedanken wunderte er sich ein wenig: er erinnerte sich an Geschichten von anderen Mördern und von der Angst, die sie, wie man sagte, vor himmlischen Rächern gehabt haben sollten. Dies war wenigstens bei ihm nicht der Fall: er fürchtete die Naturgesetze, die unerbittlichen und unwandelbaren, die einen Schuldbeweis seines Verbrechens bestehen lassen würden. Zehnmal mehr aber fürchtete er, mit einer sklavischen, abergläubischen Furcht, daß bei ihm eine Ausnahme von den menschlichen Erfahrungen stattfinden könnte: eine willkürliche Abweichung der Natur von ihren Gesetzen.

Er spielte ein Spiel, wobei es auf Geschicklichkeit ankam: er verließ sich dabei auf die Regeln, berechnete die Wirkungen aus den Ursachen – wie nun, wenn die Natur plötzlich die festgesetzte Form zerbräche, wie jener mattgesetzte Tyrann die Schachfiguren zusammenwarf? So war es Napoleon gegangen – die Geschichtsschreiber behaupteten es – als der Winter zu einer Zeit eintrat, die nicht naturgemäß war. So konnte es Markheim ergehen: die festen Wände konnten durchsichtig werden und sein Tun enthüllen, wie man das Treiben der Bienen in einem gläsernen Stock beobachtet; die starken Planken konnten unter seinem Fuß nachgeben wie Triebsand und ihn in ihrer Umklammerung festhalten.

Ja, auch alltäglichere Ereignisse konnten ihn vernichten: das Haus zum Beispiel könnte zusammenstürzen und ihn zum Gefangenen an der Seite seines Opfers machen; oder das Nebenhaus konnte in Brand geraten und die Feuerwehr von allen Seiten in das Mordhaus eindringen. Solche Dinge fürchtete er – und diese Dinge konnten in gewissem Sinne die Hände Gottes genannt werden, die sich nach dem Sünder ausstreckten. Aber um Gott selber machte er sich keine Sorgen: sein Tun war ohne Zweifel außerordentlich, aber außerordentlich waren auch seine Entschuldigungen, und die kannte Gott. Vor Gott, nicht vor den Menschen, fühlte er sich der Gerechtigkeit sicher.

Als er endlich glücklich in das Wohnzimmer gelangt war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fühlte er eine Erleichterung seiner Unruhe. Das Zimmer hatte ganz kahle Wände, hatte auch keinen Teppich; Holzkisten und wunderlicher Hausrat standen herum: verschiedene große mehrteilige Spiegel, in denen er sich in verschiedenen Stellungen erblickte, wie einen Schauspieler auf der Bühne; viele Gemälde, gerahmte und ungerahmte, standen mit den Bildseiten gegen die Wand gelehnt; ein schöner Sheraton-Tisch, ein eingelegter Holzschrank und ein großes altes Bett mit Gobelinvorhängen.

Die Fenster gingen nach dem Flur hinaus; aber ein großer Glücksfall hatte es gefügt, daß die unteren Läden geschlossen waren, so daß die Wohnungsnachbarn ihn nicht sehen konnten.

So schob Markheim denn nun eine Holzkiste vor den Schrank und begann unter den Schlüsseln zu suchen. Es war ein zeitraubendes Geschäft, denn die Schlüssel waren zahlreich; es war auch eine unangenehme Arbeit – denn schließlich war der Schrank vielleicht leer, und die Zeit drängte. Aber die angestrengte Beschäftigung machte ihn nüchtern. Aus den Augenwinkeln blickte er nach der Tür, von Zeit zu Zeit drehte er sich sogar ganz herum, wie ein belagerter Feldherr, dem daran liegt, sich von dem guten Zustande seiner Verteidigungswerke zu überzeugen. Aber in Wirklichkeit war er ruhig. Der Regen, der draußen auf der Straße fiel, klang natürlich und angenehm. Plötzlich wurde in der Wohnung nebenan auf einem Klavier ein Weihnachtslied gespielt, und viele Kinderstimmen sangen die Weise und die Worte. Wie feierlich, wie tröstlich tönte die Melodie! Wie frisch waren die jugendlichen Stimmen!

Markheim lauschte ihnen lächelnd, während er die Schlüssel versuchte, und in seinem Geiste erwachten verwandte Gedanken und Bilder: Kinder, die in die Kirche gingen, und feierlicher Orgelton; Kinder in Wald und Feld, Badende an einem Bach, Ausflügler im Heidekraut, die Papierdrachen im Winde zu dem Himmel emporsteigen ließen, über denen die Wolken segelten. Und dann, als ein anderer Choral gesungen wurde, fühlte er sich wieder in die Kirche versetzt, in die Schläfrigkeit eines Sommersonntags, und er hörte die wohlklingende hohe Stimme des Pfarrers, deren er sich mit einem leisen Lächeln erinnerte, und er sah die bemalten jakobaischen Grabmäler und die verwischte Schrift der Zehn Gebote an der Kanzel.

Und wie er so saß, geschäftig und zugleich geistesabwesend, gab es ihm plötzlich einen Stoß, und er sprang auf. Ein eiskalter Hauch, ein feuerheißer Hauch blies ihn an; ihm war, wie wenn ein Blutstrom über ihn hinwegginge, und bewegungslos entsetzt stand er da: ein Schritt kam langsam und fest die Treppe hinauf; dann legte sich eine Hand auf den Türknopf, und das Schloß klinkte, und die Tür öffnete sich.

Angst hielt Markheim wie in einem Schraubstock, was er zu erwarten hatte, wußte er selber nicht: ob der Tote zu ihm hereinkäme, oder die amtlichen Diener menschlicher Gerechtigkeit, oder ob irgendein zufälliger Zeuge blindlings erschiene, ihn zum Galgen zu befördern. Aber als ein Gesicht sich zur Türspalte hineinschob, sich im Zimmer umsah, einen Blick auf ihn warf, nickte und lächelte, wie zum freundlichen Erkennungszeichen, und dann wieder verschwand, und wie die Tür sich wieder hinter ihm schloß – da siegte die Angst über seine Selbstbeherrschung und er stieß einen heiseren Schrei aus.

Auf diesen Schrei kehrte der Besucher wieder um.

»Riefen Sie mich?« fragte er freundlich, und mit diesen Worten trat er in das Zimmer ein und schloß die Tür hinter sich.

Markheim stand da und starrte ihn mit allen seinen Augen an. Vielleicht lag ein Schleier vor seinen Blicken – aber die Umrisse des Neugekommenen schienen sich zu verändern und zu schwanken wie die der Götzenbilder in dem flackernden Kerzenlicht im Laden; manchmal dachte er, er kenne ihn; manchmal dachte er, er habe eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm selber; aber immer und immer lag wie ein Klumpen lebendig gewordener Angst in seiner Brust die Überzeugung: dieses Wesen ist nicht von der Erde und ist nicht von Gott.

Und doch hatte das Geschöpf ein seltsam alltägliches Aussehen, als es so dastand und Markheim mit einem Lächeln ansah. Und als er weiter fragte: »Sie suchen wohl nach dem Gelde, denke ich mir?« – da geschah dies in dem Tone landläufiger Höflichkeit.

Markheim antwortete nicht.

»Ich möchte Sie warnen,« fuhr der andere fort. »Das Dienstmädchen hat ihren Bräutigam zeitiger als für gewöhnlich verlassen und wird bald hier sein. Wenn Herr Markheim in diesem Hause gefunden würde, so brauche ich ihm die Folgen nicht auszumalen.«

»Sie kennen mich?« rief der Mörder.

Der Besucher lächelte und sagte:

»Sie sind seit langer Zeit ein Liebling von mir; ich habe Sie lange beobachtet und oft Ihnen zu helfen versucht.«

»Wer sind Sie?« rief Markheim, »der Teufel?«

»Wer ich auch immer sein mag,« versetzte der andere, »hat nichts mit dem Dienste zu tun, den ich Ihnen zu leisten beabsichtige.«

»O doch! Es hat damit zu tun! Mir von Ihnen helfen lassen? Nein, niemals! Nicht von Ihnen! Sie kennen mich noch nicht; Gott sei Dank, Sie kennen mich nicht!«

»Ich kenne Sie,« antwortete der Besucher mit einem gewissen freundlichen Ernst, aber fest, »ich kenne Sie bis in Ihre Seele hinein.«

»Mich kennen! Wer kann mich kennen? Mein Leben ist nur ein Mummenschanz, ein Spott über mich selbst. Ich habe gelebt, um meine Natur zu belügen, das tun alle Menschen; alle Menschen sind besser als die Verkleidung, die um sie herumwächst und sie erstickt. Sie sehen jeden Menschen vom Leben davongeschleppt, wie einen, den Banditen gepackt haben und dessen Stimme sie in einem Mantel ersticken. Wenn die Menschen selber bestimmen könnten – wenn sie ihre Gesichter sehen könnten, dann würden sie ganz anders sein: wie Helden und Heilige würden sie strahlen! Ich bin schlimmer als die meisten: über meinem eigentlichen Ich liegt eine dickere Schicht; meine Rechtfertigung kennen ich und Gott. Aber hätte ich die Zeit, ich könnte auch mich so zeigen, wie ich wirklich bin.«

»Mir?« fragte der Besucher.

»Ihnen vor allen!« erwiderte der Mörder. »Ich nahm an, Sie wären klug, ich dachte – da Sie nun einmal vorhanden sind – Sie würden sich als einen Leser menschlicher Herzen bewähren. Und doch wollten Sie mich nach meinen Handlungen beurteilen! Bedenken Sie: nach meinen Handlungen! Ich wurde geboren und lebte in einem Lande von Riesen; Riesen haben mich an den Handgelenken geschleift, seit jenem Augenblick, da meiner Mutter Schoß mich gebar, und Sie wollten mich nach meinen Handlungen beurteilen! Aber können Sie denn nicht in mein Inneres blicken? Können Sie nicht verstehen, daß Böses mir verhaßt ist? Können Sie nicht in meinem Inneren die deutliche Handschrift des Gewissens sehen, die niemals durch willkürliche Sophisterei verwischt wurde, obgleich ich sie oft genug unbeachtet ließ? Können Sie nicht in mir etwas erkennen, was sicherlich in der ganzen Menschheit angetroffen werden muß: den Sünder wider Willen?«

»Das ist alles sehr gefühlvoll ausgedrückt,« war die Antwort, »aber es geht mich nichts an. Diese Fragen nach den Zusammenhängen liegen außerhalb meines Bereiches, und ich mache mir nicht das geringste daraus, durch welchen Zwang Sie vielleicht fortgerissen wurden. Für mich kommt es nur darauf an, daß es in der rechten Richtung geschieht. – Aber die Zeit entflieht. Das Dienstmädchen versäumt sich: sieht den Leuten unterwegs in die Gesichter, gafft die Bilder in den Schaufenstern an – sie kommt aber doch immer näher. Und bedenken Sie: es ist, wie wenn der Galgen selbst durch die weihnachtlichen Straßen zu Ihnen heranschreitet! Soll ich Ihnen helfen, ich, der alles weiß? Soll ich Ihnen sagen, wo Sie das Geld finden können?«

»Um welchen Preis?« fragte Markheim.

»Ich biete Ihnen diesen Dienst als Weihnachtsgeschenk an.«

Markheim mußte unwillkürlich in einer Art von bitterem Triumph lächeln.

»Nein!« rief er, »ich will nichts aus Ihren Händen empfangen! Wenn ich verdursten sollte und Ihre Hand den Becher an meine Lippen setzte, ich würde trotzdem den Mut finden, ihn zurückzuweisen. Es mag beschränkt sein – aber ich werde nichts tun, um mich dem Bösen hinzugeben.«

»Ich habe nichts gegen eine Reue auf dem Totenbett,« bemerkte der Besucher.

»Weil Sie eine solche Reue für unwirksam halten!« rief Markheim.

»Das will ich nicht sagen; aber ich sehe diese Dinge von einer anderen Seite an, und wenn das Leben aus ist, hört mein Interesse auf: der Mensch hat in seinem Leben mir gedient, unter dem Vorwande der Religion Unheil zu stiften, oder – wie Sie – Unkraut unter den Weizen zu säen, indem Sie schwächlich Ihren Wünschen nachgeben. Wenn der Mensch seinem Ende so nahe ist, kann er mir nur noch einen einzigen Dienst leisten: bereuen, lächelnd sterben und dadurch die ängstlichen unter meinen am Leben bleibenden Dienern in Zuversicht und Hoffnung bestärken. Ich bin kein so harter Herr. Versuchen Sie es mit mir. Nehmen Sie meine Hilfe an! Lassen Sie sich's im Leben wohl sein, wie Sie es bis jetzt getan haben; lassen Sie es sich noch mehr wohl sein, setzen Sie sich mit breiten Ellbogen an den Tisch des Lebens! Und wenn die Nacht hereinbricht und die Vorhänge zugezogen werden, dann werden Sie – ich sage Ihnen dies zu Ihrem Troste – es sogar leicht finden, den Zwist mit Ihrem Gewissen beizulegen, sich zu ducken und Ihren Frieden mit Gott zu machen. Ich komme gerade jetzt von einem solchen Totenbett: das Zimmer war voll von aufrichtig trauernden Menschen, die des Mannes letzten Worten lauschten; und als ich in dieses Gesicht sah, das kieselhart sich jedem Erbarmen verschlossen hatte, da fand ich lächelnde Hoffnung darauf.«

»Und halten Sie mich denn wirklich für so ein Geschöpf?« rief Markheim. »Glauben Sie denn, ich habe kein edleres Streben, als zu sündigen und zu sündigen und zu sündigen und zu guter Letzt mich in den Himmel zu schleichen? Mein Herz empört sich bei dem Gedanken. Sind dies denn wirklich Ihre Erfahrungen, die Sie mit der Menschheit gemacht haben? Oder nehmen Sie solche Gemeinheit bei mir an, weil Sie mich hier mit roten Händen finden? Und ist dies Verbrechen des Mordes in der Tat so ruchlos, daß es alle Quellen des Guten versiegen läßt?«

»Mord ist für mich keine Besonderheit!« antwortete der andere. »Alle Sünden sind Mord, wie alles Leben Krieg ist. Ich sehe in euch Menschen verhungernde Seeleute auf einem Floß, die dem Hunger verschimmelte Brotrinden aus den Händen reißen und schließlich ihresgleichen essen. Ich gehe Sünden weiter nach: über den Augenblick ihrer Vollbringung hinaus, und ich finde bei allem, daß die letzte Folge Tod ist. Das hübsche Mädchen, das um eines Balles willen mit so liebenswürdiger Anmut den Willen der Mutter durchkreuzt, in meinen Augen trieft es nicht weniger sichtbar von Menschenblut, als ein Mörder wie Sie. Sagte ich, ich gehe Sünden weiter nach? Ich gehe auch Tugenden nach: sie unterscheiden sich nicht um eines Haares Breite – beide sind Sicheln für den mähenden Todesengel. Sünde, für die ich lebe, besteht nicht in einer Handlung, sondern liegt im Charakter. Der böse Mensch ist mir teuer, nicht die böse Tat, deren Früchte im Strom der Jahrhunderte sich oft vielleicht als segensreicher erweisen möchten, als die der seltensten Tugenden! Und nicht, weil Sie einen Trödler ermordet haben, sondern weil Sie Markheim sind, biete ich Ihnen an, Ihnen zum Entrinnen zu verhelfen.«

»Ich will mein Herz offen vor Sie hinlegen,« antwortete Markheim. »Dieses Verbrechen, über welchem Sie mich finden, ist mein letztes. Auf meinem Wege bis zu diesem Verbrechen habe ich viele Lehren gelernt; es ist selber eine Lehre, eine ungeheuer wichtige Lehre. Bis jetzt wurde ich, innerlich mich empörend, zu dem getrieben, was ich nicht wollte: ich war ein gehetzter, gepeitschter Fronknecht der Armut. Es gibt robuste Tugenden, die in solchen Versuchungen bestehen können; so war meine Tugend nicht: mich verzehrte ein brennender Durst nach Genuß. Aber heute, und aus dieser Tat, trage ich Warnung und Reichtum davon – einen frischen Entschluß nicht nur, sondern auch die Macht: Ich zu sein. Von nun an stehe ich in der Welt als ein freier Mann, der handeln kann wie er will; ich beginne mich ganz verändert zu sehen – dieses Herz wird ruhig sein, diese Hände werden Gutes wirken. Irgend etwas kommt aus der Vergangenheit über mich: etwas, wovon ich an Sabbatabenden bei den Klängen der Kirchenorgel träumte – etwas, das ich ahnte, wenn ich über edle Bücher Tränen vergoß, oder wenn ich als unschuldiges Kind mit meiner Mutter plauderte. Da liegt mein Leben – ich bin ein paar Jahre in die Irre gegangen, aber jetzt sehe ich wieder die Stadt meiner Bestimmung vor mir.«

»Sie gedenken dieses Geld an der Börse zu verwenden, nicht wahr?« bemerkte der Besucher, »und doch haben Sie, wenn ich mich nicht irre, bereits etliche Tausende verloren?«

»Ah!« rief Markheim, »aber diesmal habe ich was Sicheres!«

»Auch diesmal werden Sie wieder verlieren,« versetzte der Besucher ruhig.

»Oh, aber ich behalte die Hälfte zurück!« rief Markheim.

»Auch diese werden Sie verlieren.«

Schweißtropfen rannen Markheim über die Stirn. Er rief aus:

»Nun, und was macht es denn? Möge es verlorengehen, möge ich wieder in Armut versinken – soll deshalb der eine Teil verlieren, und zwar der schlechtere bis zum Ende den besseren Teil niederdrücken? Böse und Gut, es sind beide stark in mir – jedes zieht mich auf seinen Weg. Ich liebe nicht das eine – ich liebe alles! Ich kann mir vorstellen, daß ich große Taten vollbringe, ich weiß zu entsagen, ich kann ein Märtyrer sein, und wenn ich auch so tief gesunken bin, daß ich ein solches Verbrechen, einen Mord begangen habe, so ist doch Mitleid meinen Gedanken nicht fremd. Ich habe Mitleid mit den Armen, wer kennt ihre Nöte besser als ich? Ich habe Mitleid mit ihnen, helfe ihnen; ich schätze Liebe hoch; ich liebe ehrliches, fröhliches Lachen; es gibt auf Erden nichts Gutes oder Wahres, das ich nicht von ganzem Herzen liebte. Und sollten nur meine Laster mein Leben bestimmen, sollten meine Tugenden wirkungslos daliegen, wie ein unnützer Plunder des Geistes? O nein! Auch aus Gutem entspringen Handlungen.«

Aber der Besucher hob seinen Zeigefinger hoch und sagte:

»Sechsunddreißig Jahre lang, die Sie auf dieser Welt gelebt haben, durch viele Wechsel des Glückes und durch mannigfaltige verschiedene Stimmungen hindurch habe ich Sie beobachtet, wie Sie beständig immer tiefer gesunken sind: Vor fünfzehn Jahren würden Sie vor den Gedanken an einen Diebstahl zurückgeschaudert sein; vor drei Jahren würden Sie gestutzt haben bei dem Klange des Wortes ›Mord‹. Gibt es ein Verbrechen, gibt es eine Grausamkeit oder eine Niedrigkeit, vor der Sie noch zurückschrecken? In fünf Jahren werde ich Sie durch Ihre Taten überführen! Abwärts, abwärts führt Ihr Weg, und nichts als der Tod vermag Sie anzuhalten.«

»Es ist wahr,« sagte Markheim mit dumpfer Stimme. »Ich habe mich zum Mitschuldigen des Bösen gemacht. Aber so ist es mit allem: sogar Heilige werden, bloß dadurch, daß sie leben, weniger bedenklich und nehmen den Ton ihrer Umgebung an.«

»Ich will Ihnen eine einfache Frage vorlegen,« sagte der andere, »denn aus Ihrer Antwort will ich Ihnen Ihr moralisches Horoskop stellen: Sie sind in manchen Dingen schlaffer geworden; möglicherweise haben Sie recht, daß Sie so sind; und jedenfalls ist es mit allen Menschen ebenso. Aber dies zugegeben – sind Sie in irgendeiner, wenn auch noch so unbedeutenden Besonderheit in bezug auf Ihre eigene Aufführung schwerer zufriedenzustellen, oder lassen Sie alles mit loserem Zügel gehen?«

»In irgendeiner Besonderheit?« wiederholte Markheim in angstvoller Nachdenklichkeit. »Nein!« rief er dann voll Verzweiflung, »in keiner! Ich bin in allen Dingen gesunken!«

»Dann begnügen Sie sich mit dem, was Sie sind – denn Sie werden sich niemals ändern, und die Worte Ihrer Rolle, die Sie auf dieser Bühne zu spielen haben, stehen unwiderruflich niedergeschrieben!«

Markheim stand eine lange Weile schweigend. Der Besucher war der erste, der dieses Schweigen brach:

»Da es nun einmal so ist – soll ich Ihnen das Geld zeigen?«

»Und Gnade?« rief Markheim.

»Haben Sie sich damit versucht?« erwiderte der andere. »Sah ich Sie nicht vor zwei oder drei Jahren auf der Plattform bei Versammlungen der ›Erweckten‹? Und war nicht Ihre Stimme die lauteste beim Gesang des Chorals?«

»Es ist wahr,« sagte Markheim, »und ich sehe jetzt klar und deutlich, welchen Weg zu gehen mich die Pflicht weist. Ich danke Ihnen von ganzer Seele für diese Lehren; meine Augen sind geöffnet, und ich sehe endlich selber, wozu ich da bin.«

In diesem Augenblick klang die Türglocke schrill durch das Haus; wie wenn dies ein verabredetes Zeichen gewesen wäre, auf das er gewartet hätte, änderte der Besucher sofort seine Haltung.

»Das Dienstmädchen!« rief er. »Sie ist nach Hause gekommen, wie ich es Ihnen vorher gesagt hatte, und jetzt liegt noch eine schwierige Aufgabe vor Ihnen: Sie müssen sagen, ihr Herr sei krank; mit ruhiger, dabei aber ziemlich ernster Miene müssen Sie sie einlassen – kein Lächeln, keine Übertreibung, und ich bürge Ihnen für den Erfolg! Ist das Mädchen einmal drinnen, ist die Tür geschlossen, so wird dieselbe Geschicklichkeit, mit der Sie den Trödler auf die Seite geschafft haben, auch diese letzte Gefahr aus Ihrem Wege räumen. Dann haben Sie den ganzen Abend vor sich – die ganze Nacht sogar, wenn's nötig sein sollte –, um die Schätze des Hauses zu plündern und sich in Sicherheit zu bringen. Hilfe kommt zu Ihnen in Gestalt von Gefahr! Auf!« rief er. »Auf, Freund! Ihr Leben liegt in dieser Wagschale zitternd: Auf, und handeln Sie!«

Markheim sah seinen Ratgeber mit einem festen Blick an; dann sagte er:

»Sollte ich dazu verdammt sein. Böses zu tun, so steht mir noch eine Tür zur Freiheit offen: ich kann aufhören zu handeln. Ist mein Leben ein übles Ding, ich kann es von mir tun. Wenn ich auch, wie Sie richtig sagen, in jeder kleinen Versuchung unterliege, so kann ich doch, kraft einer entschlossenen Tat, mich ihnen allen entziehen. Meine Liebe zum Guten ist zur Fruchtlosigkeit verdammt; das ist möglich, und mag es so sein! Aber ich habe noch meinen Haß gegen das Böse; und aus diesem Haß – Sie werden es zu Ihrer bitteren Enttäuschung sehen – kann ich Tatkraft und Mut setzen!«

Im Antlitz des Besuchers ging eine merkwürdige und liebliche Veränderung vor sich: es leuchtete auf und wurde sanft in einem zärtlichen Triumph – und in diesem Aufleuchten verschwand und verflüchtigte sich die Gestalt.

Aber Markheim wartete nicht, um diese Verwandlung zu bemerken oder zu begreifen. Er öffnete die Tür und ging ganz langsam die Treppen herab und dachte dabei an sich selber: seine Vergangenheit sah er mit klaren Augen vor sich; er sah sie wie sie war – häßlich und unruhig wie einen Traum, willkürlich wie einen Zufalls-Mischmasch –: ein verfehltes Leben.

Ein Leben, wie er es in diesem Augenblick erkannte, führte ihn nicht länger in Versuchung; aber am jenseitigen Ufer erblickte er einen ruhigen Hafen für sein Schifflein.

Er blieb im Gang stehen und sah in den Laden hinein, wo immer noch die Kerze neben dem Leichnam brannte. Es war seltsam still. Gedanken an den Trödler umschwärmten seinen Sinn, als er so dastand und auf die Leiche sah. Und dann schrillte wieder die Türglocke ungeduldig, laut.

Er trat dem Dienstmädchen auf der Schwelle mit einem halben Lächeln entgegen und sagte zu ihr:

»Sie tun gut, die Polizei zu holen: ich habe Ihren Herrn ermordet.«

 

*

 


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