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Abend für Abend, das ganze lange Jahr hindurch, saßen regelmäßig vier von uns in dem kleinen Gastzimmer zum »George« in Debenham – der Leichenbestatter, der Wirt, Fettes und ich. Bisweilen waren auch noch andere dort versammelt; doch schön oder schlecht, Regen oder Schnee oder Frost, wir vier saßen unentwegt dort, jeder in seinem besonderen Lehnstuhle. Fettes war ein alter, versoffener Schotte, offenbar ein Mann von Bildung und ein Mann mit einigem Vermögen, der sein Leben in Müßiggang verbrachte. Vor Jahren hatte er sich in Debenham niedergelassen, damals noch ein junger Mann, und war dann lediglich durch die Dauer seines hiesigen Aufenthaltes ein anerkannter Bürger der Stadt geworden. Sein blauer Kamelottmantel gehörte zu den Altertümern der Stadt, genau wie der Kirchturm. Sein Hocken in der Wirtsstube des »George«, sein Fernbleiben von der Kirche, seine alten, üblen, schimpflichen Laster betrachtete man in Debenham als ganz natürliche Dinge. Er besaß gewisse unklare, eingewurzelte Anschauungen, eine gewisse oberflächliche Ungläubigkeit, deren er sich ständig rühmte und die er mit unsicheren Schlägen auf den Tisch verkündete. Er trank Rum – regelmäßig jeden Abend seine fünf Gläser; und die meiste Zeit während seiner abendlichen Besuche im »George« saß er, mit dem Glas in der rechten Hand, in einem Stadium trübsinniger alkoholischer Zufriedenheit. Wir nannten ihn den Doktor, denn es hieß, er besäße ein gewisses medizinisches Wissen und verstände zur Not, einen Bruch einzurichten oder eine Verrenkung wieder in Ordnung zu bringen Doch abgesehen von diesen wenigen Einzelheiten wußten wir eigentlich nichts über seinen Charakter und sein Vorleben.

An einem trüben Winterabend – es hatte bereits vor einiger Zeit neun geschlagen, bevor sich der Wirt zu uns setzte – war ein Kranker in den »George« gebracht worden, ein bekannter Hausbesitzer aus der Nachbarschaft, der plötzlich auf dem Wege zum Parlament einen Schlaganfall erlitten hatte. Des großen Mannes noch größerer Londoner Arzt war telegraphisch an sein Bett berufen worden. Es war das erstemal, daß sich so etwas in Debenham ereignet hatte, denn die Bahn war erst kürzlich in Betrieb genommen worden. Natürlich erregte dieser Zwischenfall unser Interesse.

»Er ist angekommen«, sagte der Wirt, nachdem er sich seine Pfeife gestopft und angezündet hatte.

»Er?« fragte ich. »Wer – doch nicht der Doktor?«

»Gewiß«, erwiderte unser Wirt.

»Wie heißt er?«

»Dr. Macfarlane«, entgegnete der Wirt.

Fettes war mit seinem dritten Glase beinahe fertig und ziemlich angetrunken. Bald nickte er ein, bald glotzte er wieder verwirrt um sich.

Doch bei dem letzten Wort schien er aufzuwachen und wiederholte den Namen »Macfarlane« zweimal; das erste Mal bedächtig, das zweite Mal aber in plötzlicher Erregung.

»Ja«, sagte der Wirt, »so heißt er. Dr. Wolfe Macfarlane.«

Fettes war im Augenblick nüchtern. Seine Augen weiteten sich, die Stimme wurde klar, laut und fest, seine Sprache bestimmt und ernst. Wir alle waren über diese Veränderung so erschrocken, wie wenn ein Mensch von den Toten auferstanden wäre.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe Ihrer Unterhaltung nicht genügend Aufmerksamkeit gezollt. Wer ist dieser Wolfe Macfarlane?« Als er die Erklärung des Wirtes gehört hatte, fügte er hinzu: »Es kann nicht sein; es kann nicht sein; und doch würde ich ihm gern Aug' in Aug' gegenübertreten.«

»Kennen Sie den Doktor?« erkundigte sich der Leichenbestatter und hielt vor Erstaunen den Atem an.

»Das verhüte Gott!« lautete die Antwort; »und doch, der Name ist selten. Es wäre ein zu erstaunlicher Zufall, zwei Verschiedene anzunehmen. Sagen Sie mir, ist er alt?«

»Hm«, meinte der Gastwirt. »Er ist kein junger Mann mehr, das ist sicher, und sein Haar ist weiß, aber er sieht jünger aus als Sie.«

»Trotzdem ist er älter, Jahre älter, aber«, mit einem Schlag auf den Tisch, »es ist der Rum, der aus meinem Gesicht spricht – Rum und Sünde. Dieser Mann hat vielleicht ein leichtes Gewissen und eine gute Verdauung. – Gewissen! Hört, was ich Euch sage. Ihr glaubt vielleicht, ich wäre ein guter alter ehrlicher Christenmensch? Das denkt Ihr doch? Nein, wahrlich nicht. Ich habe nie scheinheilig geplärrt. Wenn Voltaire in meinen Schuhen gesteckt hätte, würde er vielleicht zu heucheln angefangen haben. Doch das Hirn« – dabei schlug er derb gegen seinen kahlen Schädel –, »das Hirn war stets klar und rührig, und ich machte und mache mir niemals Flausen vor.«

»Falls dieser Doktor der gleiche ist, den Sie kennen«, wagte ich nach einer etwas bedrückenden Pause zu bemerken, »so will es mir scheinen, daß Sie die gute Meinung des Wirtes nicht teilen.«

Fettes schenkte mir keinerlei Beachtung.

»Ja«, sagte er dann mit plötzlichem Entschluß, »ich muß ihm Angesicht in Angesicht gegenübertreten.« Wieder entstand eine Pause, dann wurde im ersten Stock eine Türe ziemlich laut geschlossen und man hörte einen Schritt auf der Treppe.

»Das ist der Doktor!« rief der Wirt. »Passen Sie gut auf, dann bekommen Sie ihn vielleicht zu Gesicht.«

Es waren nur zwei Schritte aus dem kleinen Wirtszimmer zur Türe des alten »George«-Gasthauses. Die breite Eichenstiege mündete fast unmittelbar auf die Straße. Zwischen der Haustürschwelle und der letzten Windung der Treppe war grade noch Platz für einen türkischen Teppich und für nichts anderes. Aber dieser kleine Raum war jeden Abend hell erleuchtet durch eine Lampe im Treppenhaus und die große Laterne unter dem Wirtshausschild, und außerdem durch den warmen Widerschein des Fensters der Schenkstube. Auf diese Weise zog der »George« schon von weitem die Aufmerksamkeit der auf der kalten Straße Vorübergehenden auf sich. Eilig schritt Fettes dorthin, und wir, die wir zurückblieben, sahen die beiden Männer einander Aug' in Aug' gegenübertreten, wie der eine von ihnen es sich gewünscht hatte. Dr. Macfarlane schritt rasch und kräftig aus, das weiße Haar umrahmte ein bleiches, sanftes, aber energisches Gesicht. Er war elegant gekleidet, der Anzug aus feinstem schwarzen Tuch, die Wäsche blendend weiß; dazu eine große goldene Uhrkette und Manschettenknöpfe und Brille aus dem gleichen kostbaren Material. Um den Hals hatte er einen breiten weiß und lila getupften Schal geschlungen und über seinem Arm hing ein behaglicher, pelzgefütterter Reisemantel. Kein Zweifel, er nahm eine seinen Jahren angemessene Stellung ein, und jeder Zug kündete Reichtum und Bedeutung. Es war ein erstaunlicher Kontrast, unseren Saufkumpan – kahlköpfig, schmierig, blatternarbig, in seinem alten Kamelottrock – ihm am Fuße der Treppe gegenübertreten zu sehen.

»Macfarlane!« sagte er mit ziemlich lauter Stimme, mehr wie ein Ausrufer als wie ein Freund.

Der große Arzt blieb unvermittelt auf der vierten Treppenstufe stehen, als fühle er sich durch die Familiarität der Anrede überrascht und in seiner Würde gekränkt.

»Toddy Macfarlane!« wiederholte Fettes.

Der Herr aus London taumelte zurück. Nur den Bruchteil einer Sekunde starrte er den Mann vor sich an, dann blickte er sich ängstlich um und stammelte mit gepreßter Flüsterstimme: »Fettes! Du!«

»Ja«, sagte der andere, »ich. Dachtest du, ich wäre auch tot? Unsere Bekanntschaft endet nicht so leicht.«

»Still, still!« rief der Doktor, »still, still! Diese Begegnung ist so unerwartet – ich verstehe, daß du die Fassung verloren hast. Im ersten Augenblick erkannte ich dich kaum, weißt du. Aber ich bin entzückt – einfach entzückt über diesen Zufall. Zunächst muß es allerdings bei einem ›wie geht's und Lebewohl‹ verbleiben, denn mein Wagen wartet, und ich darf den Zug nicht versäumen. Aber du – laß mich überlegen – ja – du wirst mir deine Adresse aufschreiben, und du kannst bestimmt sehr bald auf eine Nachricht von mir rechnen. Wir müssen etwas für dich tun, Fettes. Ich fürchte, du befindest dich nicht in guten Verhältnissen, aber um der schönen alten Zeiten willen, wie wir einst beim Essen sangen, muß dagegen etwas geschehen.«

»Geld!« schrie Fettes. »Geld von dir! Das Geld, das ich von dir bekam, liegt noch immer dort, wo ich's im Regen hinschmiß.«

Dr. Macfarlane hatte in einem etwas verlegenen und vertraulichen Tone gesprochen, aber die ungewöhnliche Energie dieser Zurückweisung stürzte ihn wieder in Verwirrung.

Ein furchtbarer, böser Ausdruck kam und ging über sein fast ehrwürdiges Gesicht. »Mein lieber Junge«, sagte er, »halte das ganz wie du magst. Ich hatte nicht die leiseste Absicht, dich zu beleidigen, und dränge mich niemandem auf. Ich werde dir meine Adresse geben, jedoch – –«

»Ich will nicht – nein, ich wünsche nicht das Dach zu kennen, das dich schützt!« unterbrach ihn der andere. »Ich hörte deinen Namen, ich fürchtete, du könntest es sein. Ich wollte wissen, ob es trotz allem einen Gott gäbe. Jetzt weiß ich, es gibt keinen. Scher dich fort!«

Er stand noch immer mitten auf dem Teppich zwischen Treppe und Haustor. Der große Londoner Arzt wäre gezwungen gewesen, zur Seite zu treten, um vorbeizukommen. Es war klar, daß er bei dem Gedanken an diese Demütigung zögerte. Kreideweiß, wie er dastand, kam ein gefährliches Funkeln in seine Augen. Aber während er noch unentschieden zögerte, bemerkte er, daß der Kutscher auf seinem Wagen von der Straße aus diese etwas ungewöhnliche Szene beobachtete, und gleichzeitig fing er auch die Blicke unserer kleinen, in der Ecke der Schenke zusammengedrängten Gesellschaft auf. Die Gegenwart so zahlreicher Zeugen bestimmte ihn zu sofortiger Flucht. Er kauerte sich zusammen, schmiegte sich eng an die Täfelung und machte einen Sprung wie eine Schlange, um den Ausgang zu gewinnen. Aber seine Prüfung war noch nicht zu Ende, im Moment, als er vorüberschlüpfen wollte, packte Fettes seinen Arm, und flüsternd und doch peinlich verständlich sprach er folgende Worte: »Hast du es wieder gesehen?«

Der große, reiche Londoner Doktor stieß einen scharfen, erstickten Schrei aus, schleuderte den Frager quer über den offenen Platz und floh mit hocherhobenen Händen wie ein ertappter Dieb zur offenen Tür hinaus. Ehe noch einer von uns eine Bewegung machen konnte, ratterte die Kutsche bereits dem Bahnhof zu. Wie ein Traum war das Schauspiel vorübergezogen, aber der Traum hatte Beweise und Spuren seines Vorüberziehens hinterlassen. Am nächsten Tage fand der Hausknecht die schöne, goldene Brille zerbrochen auf der Türschwelle, und am gleichen Abend noch standen wir alle atemlos an dem Gasthausfenster, neben uns Fettes, nüchtern, bleich und mit entschiedenem Ausdruck.

»Gott schütze uns, Mr. Fettes«, sagte der Wirt, der zuerst wieder seine Fassung gewann. »Was in aller Welt hat das zu bedeuten? Das sind seltsame Dinge, die Sie da gesprochen haben.«

Fettes wandte sich uns wieder zu, blickte jedem von uns der Reihe nach ins Gesicht und sagte: »Seht zu, daß Ihr den Mund haltet! Dieses Mannes Macfarlanes Weg kreuzt man nicht ohne Gefahr. Alle, die es einmal gewagt, haben es zu spät bereut!«

Und dann, ohne auch nur sein drittes Glas zu leeren, geschweige denn auf die beiden anderen zu warten, bot er uns »Gute Nacht« und schritt hinaus unter der Laterne des Wirtshauses in die dunkle Nacht.

Wir drei kehrten auf unsere Plätze in der Wirtsstube vor dem großen roten Feuer und zu den vier hellen Kerzen zurück. Und als wir dann noch einmal alles, was sich ereignet hatte, durchsprachen, verwandelte sich der erste Schauder der Ueberraschung in brennende Neugier. Noch lange saßen wir so. Es war die längste Sitzung, die ich in dem alten »George« erlebt habe. Bevor wir auseinandergingen, hatte jeder Einzelne seine bestimmte Theorie, die zu beweisen er sich anheischig machte. Und niemand von uns hatte etwas Dringenderes auf der Welt zu tun, als der Vergangenheit unseres verfemten Kameraden nachzuspüren und das Geheimnis aufzudecken, das ihn mit dem berühmten Londoner Doktor verband. Es ist kein großer Ruhm, aber ich glaube, ich verstand es besser als meine beiden Genossen im »St. George«, jemandem eine Geschichte herauszulocken, vielleicht lebt heute kein zweiter Mensch auf dieser Welt, der euch die nachstehenden widerwärtigen und widernatürlichen Ereignisse zu erzählen vermöchte:

In seiner Jugend studierte Fettes auf der Edinburgher Hochschule Medizin. Er besaß eine gewisse Begabung, jene Begabung, die rasch auffaßt, was sie hört, und es schleunigst als eigene Weisheit wiedergibt. Zu Hause arbeitete er wenig, aber er war höflich, dienstbeflissen und verständig in Gegenwart seiner Lehrer. Bald hatten sie herausgefunden, daß er ein Bursche war, der aufmerksam zuhören konnte und sich gut der Dinge erinnerte. Ja, so merkwürdig es mich berührte, als ich zuerst davon hörte: sein Aeußeres nahm damals für ihn ein und machte ihn beliebt. Zu jener Zeit gab es in Edinburgh außerhalb der Universität noch einen zweiten Lehrer der Anatomie, den ich hier mit dem Buchstaben K. bezeichnen werde. Später wurde sein Name nur allzu bekannt. Der Mann, der diesen Namen trug, durchschlich verkleidet die Straßen Edinburghs, während der Pöbel der Hinrichtung Burkes zujauchzte und laut nach dem Blut seines Auftraggebers verlangte. Aber Mr. K. stand damals auf dem Gipfel seines Ruhms. Er erfreute sich einer großen Popularität, teils dank seines Talentes und seiner Lebensart, teils wegen der Unfähigkeit seines Rivalen, des Universitätsprofessors. Die Studenten wenigstens schworen auf ihn. Fettes war daher überzeugt, und auch die anderen glaubten es, daß der Grundstein für eine erfolgreiche Laufbahn gelegt wäre, sobald man sich die Gunst dieser meteorgleichen Berühmtheit erworben hätte. Mr. K. war ein ebenso großer Bonvivant wie vorzüglicher Lehrer. Er liebte eine versteckte Anspielung nicht weniger als ein sorgfältig hergestelltes Präparat. In dieser doppelten Hinsicht erfreute sich Fettes seiner Beachtung und verdiente sie auch. Und im zweiten Jahre seiner Kollegzeit wurde ihm die halboffizielle Stellung eines zweiten Prosektors oder Hilfsassistenten in des anderen Klasse übertragen. In dieser Eigenschaft ruhte vor allem die Aufsicht über den Anatomiesaal und das Vorlesungszimmer auf seinen Schultern. Er war für die Sauberkeit der Räumlichkeiten und die Führung der anderen Studenten verantwortlich. Es gehörte ferner zu seinem Pflichtenkreis, die verschiedenen notwendigen Objekte zu beschaffen, sie in Empfang zu nehmen und zu verteilen. In Hinsicht auf diese letzte Obliegenheit – damals eine äußerst delikate Sache – wurde er bei Mr. K. in dem gleichen Flügel und zuletzt in dem nämlichen Gebäude einquartiert, in dem sich auch der Seziersaal befand. Hier wurde Fettes häufig nach einer Nacht wüster Ausschweifungen, mit noch zitternden Händen, der Blick trübe und verwirrt, in der dunkelsten Stunde vorm Dämmern eines Wintertages durch die unsauberen und verwegenen Ruhestörer aus dem Bett geschreckt, die den Anatomietisch mit Material versorgten. Gewöhnlich öffnete er nachts die Pforte drei Männern, seither berüchtigt im ganzen Lande. Er half ihnen beim Heraufschaffen ihrer traurigen Last, bezahlte ihnen den schmutzigen Lohn und blieb, wenn sie gegangen waren, mit den unholden Ueberresten verblichenen Menschentums allein. Von solch einer Szene pflegte er dann wieder in sein Bett zurückzukehren, um sich noch eine oder zwei Stunden Schlummer zu stehlen, die Schändung der Nacht wieder wettzumachen und sich für die Arbeit des Tages zu stärken.

Kaum ein anderer Mensch wäre derart unempfindlich für die Eindrücke eines Lebens gewesen, das so ständig unter den Zeichen der Sterblichkeit verlief. Sein Geist war allen allgemeinen Erwägungen verschlossen. Er war unfähig jeglichen Interesses an dem Geschick und Glück anderer, nur Sklave seiner eigenen Begierden und eines niederen Ehrgeizes. Kalt, leichtsinnig und selbstsüchtig bis zum äußersten, besaß er jenen Funken Bedachtsamkeit, mißbräuchlich Moralität genannt, der einen Mann zurückhält von sinnloser Trunkenheit oder strafwürdigem Verbrechen. Daneben erstrebte er auch ein gewisses Maß von Achtung und Beachtung bei Lehrern und Mitschülern und wollte um keinen Preis, was die äußeren Lebensumstände betraf, Schiffbruch leiden. Es war daher sein Streben, sich bei seinen Studien auszuzeichnen, und er leistete seinem Auftraggeber, Mr. K., tagaus, tagein, tadelfreien Augendienst. Für die Plackerei des Tages entschädigten ihn lärmende, gemeine nächtliche Vergnügungen. Zog er dann die Bilanz, so erklärte sich das Organ, das er sein Gewissen nannte, für befriedigt.

Die Beschaffung von Leichen bedeutete für ihn sowohl wie für seinen Chef eine ständige Sorge. In der großen, fleißigen Klasse fehlte es ständig an anatomischem Rohmaterial, und die dadurch erforderliche Geschäftigkeit war nicht nur an sich unerfreulich, sondern bedrohte auch alle, die damit zu tun hatten, mit gefährlichen Folgen. Es war Mr. K.'s Politik, bei seinen Aufträgen den Händlern keine Fragen zu stellen. »Sie bringen den Leichnam, und wir bezahlen den Preis – quid pro quid«, pflegte er zu sagen, und auch seinen Assistenten riet er frivol: »Stellt um Eurer Gewissensruhe willen keine Fragen.« Nie wurde die Vermutung geäußert, die Leichen könnten womöglich durch Mord beschafft worden sein. Hätte man diesen Gedanken in klaren Worten ihm gegenüber geäußert, er wäre entsetzt zurückgefahren. Aber schon die Leichtfertigkeit seiner Reden war angesichts des Ernstes dieser Angelegenheit ein Verstoß gegen die guten Sitten und eine Versuchung für die Leute, mit denen er es zu tun hatte. Fettes hatte sich schon wiederholt über die merkwürdige Frische der Leichen Gedanken gemacht. Wieder und wieder hatte er sich vor den Galgengesichtern und widerlichen Blicken der Räuber, die früh vor Tagesgrauen kamen, entsetzt. Indem er im geheimen eine Tatsache an die andere reihte und diese mit den leichtfertigen Reden seines Lehrers in Verbindung brachte, gelangte er allmählich zu einer abstoßenden und kategorischen Theorie. Nach seiner Ansicht umfaßte sein Pflichtenkreis, kurz gesagt, drei Aufgaben: in Empfang zu nehmen, was gebracht wurde, den Preis zu entrichten und die Augen vor der Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens zu verschließen.

An einem Morgen im November wurde diese Politik des Schweigens auf eine besonders harte Probe gestellt. Die ganze Nacht hatte er mit rasenden Zahnschmerzen durchwacht – gleich einem gefangenen Raubtier war er in seinem Zimmer auf und ab gerannt, um sich dann wieder wütend aufs Bett zu werfen – und endlich war er in jenen tiefen, unerquickenden Schlaf gesunken, der so oft auf eine Nacht des Leidens folgt, als er durch die dritte oder vierte ungestüme Wiederholung des vereinbarten Signals aufgeschreckt wurde. Der Mond schien dünn und hell, es war bitter kalt, windig und schneidend; noch war die Stadt nicht erwacht, aber ein undefinierbares Gesumme verkündete bereits des Tages Lärm und Geschäftigkeit. Die Vampire waren später als gewöhnlich gekommen und schienen auch besorgter als gewöhnlich, sich wieder entfernen zu können. Schlaftrunken leuchtete Fettes ihnen die Treppe hinauf, wie im Traum hörte er das Gemurmel ihrer irischen Stimmen, und während sie den Sack von seinem traurigen Inhalt befreiten, wartete er verschlafen mit der Schulter gegen die Wand gelehnt. Er mußte sich zusammenreißen, um das Geld für die Leute zu finden. Dabei fielen seine Augen auf das tote Antlitz. Er stutzte und trat mit erhobener Kerze zwei Schritte näher:

»Allmächtiger Gott!« rief er, »das ist ja Jane Galbraith!«

Die Männer schwiegen und schlichen zur Türe. »Ich kenne sie, sage ich Euch«, fuhr er fort; »gestern lebte sie noch und war kerngesund. Es ist unmöglich, daß sie gestorben ist. Unmöglich könnt Ihr Euch diesen Leichnam auf ehrliche Weise beschafft haben.«

»Da sind Sie ganz auf dem Holzwege«, brummte einer der Kerle. Der andere jedoch blickte Fettes finster in die Augen und forderte auf der Stelle das Geld.

Es ging nicht an, die Drohung mißzuverstehen oder die Gefahr zu übertreiben. Fettes entsank der Mut. Er stammelte ein paar Entschuldigungen, bezahlte die Summe und sah seine verhaßten Besucher abziehen. Kaum waren sie fort, da eilte er auch schon, seine Zweifel zu bestätigen. An einem Dutzend unzweifelhafter Kennzeichen erkannte er das Mädchen, mit dem er noch gestern gescherzt hatte. Mit Schauder sah er an ihrem Körper Merkmale, die auf eine Gewalttat hinwiesen. Panische Furcht ergriff ihn, und er flüchtete in sein Zimmer. Dort dachte er lange über die von ihm gemachte Entdeckung nach, überlegte nüchtern die Tragweite von Mr. K.'s Verhaltungsmaßregeln, und die Gefahr, die ihm selbst aus seiner Verstrickung in ein derart verbrecherisches Geschäft drohte, und entschloß sich endlich in seiner furchtbaren Bestürzung, den Rat seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Klassenassistenten, einzuholen. Der Assistent war ein junger Doktor, Wolfe Macfarlane, der besondere Liebling aller etwas leichtsinnigen Studenten, geschickt, ausschweifend und skrupellos bis zum äußersten. Er war im Ausland gewesen und hatte dort studiert. Sein Benehmen war leicht, nur etwas anmaßend, und in Theatersachen galt er als Autorität. Auch war er gewandt auf der Eisbahn und den Spielplätzen mit Schlittschuhen und Golfkeule, kleidete sich mit gewagtester Eleganz und hielt sich, um seinem Ruhme den letzten Glanz zu verleihen, ein Gig und einen kräftigen Traber. Mit Fettes verkehrte er auf freundschaftlichem Fuße. In der Tat verlangte ja ihre beiderseitige Position eine gewisse Gemeinschaftlichkeit der Lebensführung. Wenn Leichen knapp wurden, pflegte das Paar in Macfarlanes Gig über Land zu fahren, um irgend einen einsamen Friedhof aufzusuchen und zu entweihen; vor Morgengrauen kehrten sie dann mit ihrem Raube zu der Pforte des Seziersaales zurück. An diesem unheilschwangeren Morgen stellte sich Macfarlane früher ein, als es seiner Gewohnheit entsprach. Fettes hörte ihn kommen, traf ihn bereits auf der Treppe, erzählte ihm die Geschichte und zeigte ihm die Veranlassung seiner Sorge. Macfarlane prüfte die Male an dem Körper.

»Ja«, sagte er mit einem Nicken, »das sieht faul aus.«

»Nun, was soll ich tun?« fragte Fettes.

»Tun?« erwiderte der andere. »Warum willst du etwas tun? Je weniger man über diese Sache spricht, desto besser.«

»Aber die Male könnten doch auch anderen auffallen«, widersprach Fettes. »Das Mädel war so bekannt wie Castle Rock.«

»Hoffen wir, daß das nicht geschieht!« entgegnete Macfarlane. »Na und wenn die Strangulierungszeichen wirklich jemand auffallen – was tut's! Du hast sie jedenfalls nicht bemerkt, verstanden! Und damit Schluß. Tatsache ist, dieses Geschäft dauert schon allzu lange. Stöbere den Schlamm auf, und du bringst K. in die tollste Klemme. Und auch du selbst gerätst in eine verzweifelte Patsche und ich ebenfalls. Möchte wissen, wie wir uns vor einer christlichen Zeugenschranke ausnehmen würden oder was zum Teufel wir zu unserer Entschuldigung anführen sollten. Für mich, weißt du, steht etwas absolut fest – daß, praktisch gesprochen, alle unsere Leichen durch Mord beschafft worden sind.«

»Macfarlane!« schrie Fettes.

»Na, hör mal«, höhnte der andere; »als ob du das nicht schon selbst vermutet hättest!«

»Vermuten ist eine Sache für sich –«

»Ja, und Beweise wieder was anderes, das weiß ich. Ich bin übrigens genau so beunruhigt wie du, daß man dies hier«, dabei schlug er mit seinem Stock auf den Leichnam, »zu uns geschafft hat. Das Beste, was man tun kann, ist, die Leiche nicht zu erkennen, und«, fügte er kaltblütig hinzu, »ich erkenne sie tatsächlich nicht. Du kannst ja tun, was dir beliebt. Ich mache dir keine Vorschriften. Aber ich bin überzeugt, ein Mann von Welt würde genau so handeln wie ich, und ich möchte noch hinzufügen, daß vermutlich auch K. ein solches Verhalten von uns erwartet. Warum wählte er gerade uns beide zu seinen Assistenten? Darauf antworte ich: ›Weil er keine alten Weiber gebrauchen konnte.‹«

Das war gerade der richtige Ton, um auf den Geist eines Burschen wie Fettes zu wirken. Er versprach, Macfarlanes Verhalten nachzuahmen. Die Leiche des unglücklichen Mädchens wurde vorschriftsmäßig zerlegt, und niemand bemerkte etwas oder schien sie wiederzuerkennen.

Eines schönen Nachmittags, als das Tagewerk beendet war, schlenderte Fettes in eine bekannte Kneipe und traf dort Macfarlane in Gesellschaft eines Fremden. Der Unbekannte war ein kleiner Mann, auffallend bleich und finster, mit kohlschwarzen Augen. Die Züge seines Gesichts verrieten Verstand und eine gewisse Kultur. In seinem Verhalten kamen aber diese Eigenschaften nur schwach zum Ausdruck und bei näherer Bekanntschaft erwies er sich sogar als roh, gewöhnlich und dumm. Trotzdem übte er auf Macfarlane eine erstaunliche Herrschaft aus; ja, er erteilte Befehle wie der Großpascha, wurde bei dem leisesten Widerspruch oder Verzug wütend und nahm die Unterwürfigkeit, mit der ihm gehorcht wurde, als etwas Selbstverständliches hin. Diese äußerst widerwärtige Persönlichkeit faßte sofort eine Zuneigung zu Fettes, trank ihm eifrig zu und beehrte ihn mit einem außergewöhnlichen Vertrauen hinsichtlich seiner früheren Laufbahn. Wenn auch nur der zehnte Teil von dem, was er ihm beichtete, stimmte, so wäre er ein mit allen Wassern gewaschener Schurke gewesen. Die Aufmerksamkeit eines so erfahrenen Mannes schmeichelte der Eitelkeit des jungen Menschen.

»Ich bin selbst ein ziemlich schlimmer Bursche«, bemerkte der Fremde, »aber Macfarlane ist ein ganz schwerer Junge – Toddy Macfarlane, wie ich ihn nenne. Toddy, bestell für deinen Freund ein neues Glas«, oder auch, »Toddy steh auf und mach die Tür zu. Toddy haßt mich«, sagte er dann wieder, »o gewiß, Toddy, das tust du.«

»Nenne mich nicht bei dem verdammten Namen«, brummte Macfarlane.

»Hören Sie ihn! Haben Sie je eine Messerstecherei mit angesehen? Mit Begeisterung würde Toddy sein Messer an meinem Leibe ausprobieren«, bemerkte der Fremde.

»Wir Mediziner haben eine bessere Methode«, entgegnete Fettes. »Wenn wir einen unserer toten Freunde nicht schätzen, sezieren wir ihn.«

Macfarlane blickte scharf auf, als wäre dieser Scherz nicht nach seinem Geschmack.

Der Nachmittag ging vorüber. Gray, das war der Name des Fremden, lud Fettes ein, ihm beim Abendessen Gesellschaft zu leisten und bestellte ein so üppiges Festmahl, daß die ganze Kneipe in Bewegung geriet, und als sie damit fertig waren, befahl er Macfarlane, die Rechnung zu bezahlen. Als sie sich trennten, war es schon spät. Gray war sinnlos betrunken. Macfarlane, den die Wut ernüchtert hatte, konnte seinen Aerger über das Geld, das zu vergeuden er gezwungen worden war, und über die Nichtachtung, die er hatte hinunterschlucken müssen, nicht verwinden. Fettes, dessen Kopf von den zahlreichen Likören brummte, kehrte schwankenden Schrittes und völlig benebelt nach Hause zurück. Am nächsten Tage blieb Macfarlane den Vorlesungen fern und Fettes lachte sich ins Fäustchen bei der Vorstellung, wie jener noch immer den unerträglichen Gray von Kneipe zu Kneipe begleiten mußte. Sobald die Stunde der Freiheit geschlagen hatte, eilte er auf der Suche nach seinen nächtlichen Kumpanen von Ort zu Ort, doch nirgends konnte er die beiden finden. So kehrte er zeitig nach Hause zurück, ging früh zu Bett und schlief den Schlaf des Gerechten.

Um vier Uhr in der Früh wurde er durch das wohlbekannte Signal aufgeschreckt. Als er zur Tür herunterkam, überraschte es ihn, dort Macfarlane mit seinem Gig zu finden und in dem Gig eines jener langen schaurigen Pakete, die er nur zu genau kannte.

»Was?« rief er. »Bist du alleine fort gewesen? Wie hast du das fertig gekriegt?«

Aber Macfarlane gebot ihm grob den Mund zu halten und forderte ihn auf, mit zuzugreifen. Sobald sie die Leiche nach oben geschafft und auf den Seziertisch gelegt hatten, traf Macfarlane Anstalt, sich sofort wieder zu entfernen. Dann blieb er jedoch stehen, schien zu zögern und sagte in einem etwas erzwungenen Tone:

»Du hättest dir das Gesicht besser ansehen sollen!«

Und als Fettes ihn erstaunt anstarrte, wiederholte er:

»Du tätest gut daran.«

»Aber wo, wie und wann bist du dazu gekommen?« rief der andere.

»Schau dir das Gesicht an!« war die einzige Antwort.

Fettes war verblüfft. Seltsame Zweifel bestürmten ihn. Er blickte von dem jungen Doktor auf den Leichnam und dann wieder auf den anderen. Endlich, mit einem Ruck, tat er, wozu man ihn aufgefordert hatte. Fast hatte er den Anblick, der sich seinen Augen bot, erwartet, dennoch war er vor Entsetzen fassungslos. Selbst in dem gedankenlosen Fettes regten sich Gewissensängste, als er den gleichen Mann, den er gut gekleidet und strotzend von Gesundheit und Laster, auf der Türschwelle der Kneipe verlassen hatte, jetzt in der Starre des Todes, nackt und bloß, auf dem rohen Lager von Sackleinwand hingestreckt liegen sah. Ein »Cras tibi!« widertönte in seiner Seele. Zwei, die er gut gekannt, waren auf diesen eisigen Tisch niedergelegt worden. Doch das waren nur nebensächliche Erwägungen. Seine Hauptsorge konzentrierte sich auf Wolfe. Unvorbereitet auf eine so ungeheuerliche Herausforderung, wußte er nicht, wie er seinem Kameraden ins Gesicht blicken sollte. Er wagte es nicht, seinen Augen zu begegnen und Wort und Stimme versagten ihm.

Macfarlane selbst machte den ersten Vorstoß. Er kam aus dem Hintergrund hervor und legte seine Hand leicht, aber bestimmt auf des anderen Schulter.

»Richardson«, sagte er, »kann den Kopf haben.«

Nun war Richardson ein Student, der schon seit langem darauf brannte, diesen Teil des menschlichen Körpers zur Präparation angewiesen zu erhalten. Es kam keine Antwort, und der Mörder fuhr fort: »Um vom Geschäft zu sprechen, du mußt mir den Leichnam bezahlen. Deine Abrechnungen, verstehst du, müssen stimmen.«

Endlich fand Fettes seine Stimme wieder, doch war es nur der Schatten seiner Stimme. »Dich bezahlen!« rief er, »bezahlen dafür?«

»Warum nicht? Natürlich mußt du das. Unter allen Umständen und in jeder Hinsicht mußt du das!« erwiderte der andere. »Ich kann nicht wagen, so etwas umsonst zu liefern, und du nicht, es kostenlos anzunehmen. Wir würden uns beide kompromittieren. Es ist der gleiche Fall wie bei Jane Galbraith. Je mehr Sachen nicht stimmen, um so mehr müssen wir den Schein wahren, als ob alles in Ordnung sei. Wo bewahrt der alte K. sein Geld auf?«

»Dort!« antwortete Fettes heiser und zeigte auf einen Schrank in der Ecke.

»Dann gib mir den Schlüssel«, versetzte der andere ruhig und streckte seine Hand aus.

Ein kurzes Zögern und der Würfel war gefallen. Macfarlane konnte ein nervöses Zucken nicht unterdrücken, ein kaum merkliches Zeichen seiner ungeheuren Erleichterung, als er den Schlüssel in der Hand hielt. Er öffnete den Schrank und nahm Feder und Tinte und ein Schreibheft heraus, die in dem einen Abteil lagen, außerdem von dem Gelde in einer Schieblade eine der Gelegenheit angemessene Summe.

»Paß jetzt auf«, sagte er. »Die Zahlung ist geleistet der erste Beweis für unseren guten Glauben: der erste Schritt zu deiner Sicherheit. Jetzt mußt du die Sache durch einen zweiten bekräftigen; trage die Zahlung in dein Buch ein, dann brauchst du dich den Teufel um das Weitere zu scheren!«

Die nächsten Sekunden verliefen für Fettes in völliger Geistesabwesenheit. Aber als er seine Befürchtungen abwog, triumphierte die unmittelbare Sorge. Jede künftige Sorge schien ihm fast willkommen, falls sich nur ein sofortiger Streit mit Macfarlane vermeiden ließ. Er stellte den Leuchter hin, den er die ganze Zeit herumgeschleppt hatte, und trug mit fester Hand Datum, Art und Höhe des Geschäftes ein.

»Und jetzt«, sagte Macfarlane, »ist es nur billig, daß du den Gewinn einstreichst. Ich habe meinen Anteil bereits empfangen. Doch nebenbei: wenn ein Mann von Welt einmal Glück hat und ein paar Schillinge extra in seiner Tasche trägt – ich schäme mich fast, es auszusprechen –, dann gibt es für diesen Fall bestimmte Verhaltungsmaßregeln: kein Freihalten, kein Kauf von teuren Lehrbüchern, keine Bezahlung alter Schulden; borgen, aber nichts verleihen.«

»Macfarlane«, begann Fettes noch immer etwas heiser, »ich habe meinen Hals in eine Schlinge gesteckt, um dir zu dienen.«

»Um mir zu dienen«, rief Wolfe. »Ach, geh doch. Soweit ich die Sache zu beurteilen vermag, tatest du genau das, was du zur Selbstverteidigung tun mußtest. Angenommen, ich geriete in Schwierigkeiten, was würde dann wohl aus dir? Diese zweite kleine Angelegenheit ist die logische Folge der ersten. Mr. Gray ist die Fortsetzung von Miß Galbraith. Du kannst nicht etwas beginnen und dann plötzlich aufhören. Wenn du dich auf so etwas einläßt, mußt du einfach bei der Stange bleiben. Das ist nackte Wahrheit. Keine Ruhe für den Gottlosen!«

Ein furchtbares Gefühl des Unheils und der Treulosigkeit des Schicksals senkte sich schwer auf die Seele des unglücklichen Studenten.

»Mein Gott!« rief er, »was habe ich nur getan! Und wann fing es an? Zum Hilfsassistenten ernannt werden – im Namen der Vernunft – darin liegt doch kein Unrecht? S. hat die Stellung auch gewollt. Er hätte sie statt meiner erhalten können. Würde er dann auch dort stehen, wo ich jetzt stehe?«

»Mein lieber Junge«, sagte Macfarlane, »was bist du doch für ein Kind. Was ist dir Schlimmes passiert? Was kann dir Uebles geschehen, wenn du den Mund hältst? Höre Mensch, weißt du überhaupt, was dieses Leben bedeutet? Es gibt zwei Klassen von Menschen – die Löwen und die Lämmer. Wenn du zu den Lämmern gehörst, wirst du einst, genau wie Gray oder Jane Galbraith, auf diesem Tisch liegen. Bist du aber Löwe, so wirst du leben und dein Pferd lenken, wie ich, wie K., wie alle in der Welt, die Witz und Mut besitzen. Du bist zunächst beunruhigt, aber sieh dir K. an. Mein lieber Junge, du bist doch geschickt. Du hast Mut. Ich liebe dich und K. liebt dich. Du bist zum Führer geboren. Und ich erkläre dir bei meiner Ehre und bei meiner Lebenserfahrung: laß drei Tage vergehen, und du wirst über diese Schreckgespenster lachen wie ein Schuljunge über eine Posse.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Macfarlane und fuhr in seiner Gig die Allee hinunter, um noch vor Tagesanbruch seine Wohnung zu erreichen. Fettes blieb also allein mit seinen Schmerzen. Er erkannte die schreckliche Gefahr, in die er verstrickt war. Mit unaussprechlicher Bestürzung sah er, daß für Schwächlichkeit kein Raum blieb und daß er durch Zugeständnis über Zugeständnis aus dem Herrn über Macfarlanes Geschick zu dessen bezahltem und hilflosem Spießgesellen gesunken war. Die ganze Welt würde er hingegeben haben, hätte er sich zur richtigen Zeit etwas unerschrockener benommen. Daß er auch jetzt noch Mut beweisen könnte: dieser Gedanke kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Das Geheimnis der Jane Galbraith und die verwünschte Eintragung in sein Geschäftsbuch verschlossen ihm den Mund.

Stunden verstrichen, die Klasse begann sich zu füllen, die Gliedmaßen des unglücklichen Gray wurden an den einen und den anderen ausgeteilt und ohne Bemerkung übernommen. Richardson wurde mit dem Kopf beglückt, und noch ehe die Stunde der Freiheit schlug, zitterte Fettes vor innerem Frohlocken, als er sah, welch gute Fortschritte sie in bezug auf ihre Sicherheit gemacht hatten. Mit wachsender Freude beobachtete er während der nächsten zwei Tage den furchtbaren Prozeß der Zerstörung.

Am dritten Tage erschien Macfarlane wieder auf der Bildfläche. Er war, wie er behauptete, krank gewesen. Aber durch die Energie, mit der er die Studenten antrieb, holte er die verlorene Zeit wieder ein. Besonders Richardson förderte er durch wertvolle Hilfeleistungen und Ratschläge, und der junge Student, ermutigt durch das Lob des Prosektors, sonnte sich in ehrgeizigen Träumen und sah die Medaille bereits in Greifweite. Ehe noch die Woche verstrichen war, hatte sich Macfarlanes Prophezeiung erfüllt. Fettes Besorgnis war zerronnen, die Gemeinheit vergessen. Er fing an, sich mit seinem Mute zu brüsten und hatte bereits die ganze Geschichte in seinem Geist so schön geordnet, daß er mit ungekränktem Stolz auf diese Vorgänge zurückblickte. Seinen Spießgesellen sah er nur flüchtig. Natürlich trafen sie sich bei der Klassenarbeit und empfingen dort ihre Anweisungen von Mr. K. Bisweilen tauschten sie auch privat ein oder zwei Worte aus, und Macfarlane benahm sich vom ersten bis zum letzten Moment besonders freundlich und jovial. Aber es war offensichtlich, daß er jede Anspielung auf ihr gemeinsames Geheimnis vermied. Selbst als Fettes ihm zuflüsterte, daß er sein Geschick mit den Löwen verbunden und die Lämmer abgeschworen hätte, bedeutete er ihm nur lächelnd durch ein Zeichen, den Mund zu halten.

Bald bot sich eine neue Gelegenheit, die das Paar noch enger aneinander fesseln sollte. Mr. K. klagte wieder über Mangel an Leichen, die Schüler waren voller Eifer, und es bildete den Ehrgeiz dieses Lehrers, stets reichlich mit Material versehen zu sein. Gleichzeitig kam die Mitteilung von einem Begräbnis auf dem ländlichen Friedhof von Glencorfe. Die Zeit hat den fraglichen, Ort nur wenig verändert. Er lag damals wie heute an einem Kreuzweg, außer Rufweite von jeder menschlichen Wohnung und klaftertief unter dem Gezweige von sechs mächtigen Zedern verborgen. Das Blöken der Schafe auf den benachbarten Hügeln, die kleinen Flüßchen zu beiden Seiten, von denen der eine laut unter Pappeln sang, der andere sich verstohlen von Weiher zu Weiher schlängelte, das Rascheln des Windes in den alten weitausladenden blühenden Kastanien und einmal in sieben Tagen die Stimmen der Glocken und die alten Melodien des Kantors waren die einzigen Laute, die das Schweigen rund um die ländliche Kirche störten. Die Auferstehungsleute – um die zu jener Zeit übliche Bezeichnung zu gebrauchen – ließen sich durch die gebotene Unverletzlichkeit von Pietätsbezeugungen nicht abschrecken. Es gehörte zu ihrem Geschäft, die Wappen und Abzeichen alter Gräber, den von den Füßen der Andächtigen und Leidtragenden getretenen Pfad und die Gaben und Inschriften verwaister Liebe zu verachten und zu entweihen. Weit davon entfernt, sich durch natürliche Ehrfurcht abhalten zu lassen, besaßen ländliche Gegenden, wo Liebe treuer als sonst bewahrt wird und Bande des Bluts und der Gemeinschaft die gesamten Mitglieder einer Gemeinde verknüpfen, für den Leichenräuber infolge der Leichtigkeit und Sicherheit der Aufgabe eine besondere Anziehungskraft. Plötzlich schien auf die Leichen, die in hoffnungsvoller Erwartung einer so ganz anderen Auferstehung in die Erde gebettet worden waren, jener flüchtige Laternenschimmer, kam die angstbeflügelte Auferweckung durch Spaten und Spitzhacke. Der Sarg wurde erbrochen, das Leichentuch herausgerissen und die melancholischen Ueberreste, umhüllt mit Sackleinwand, wurden endlich nach stundenlanger ratternder Fahrt über mondlose Seitenwege der schimpflichsten Verunglimpfung seitens einer Klasse gaffender Knaben ausgesetzt.

Wie zwei Geier auf ein sterbendes Lamm wollten sich Fettes und Macfarlane auf ein Grab in jenem grünen, friedlichen Ruheplatz stürzen. Die Frau eines Bauern, ein Weib, die sechzig Jahre gelebt hatte und nur bekannt war wegen ihrer guten Butter und ihrer gottgefälligen Reden, sollte um Mitternacht ihrer Gruft entrissen und starr und nackt in jene ferne Stadt entführt werden, die sie stets nur in ihrem Sonntagsstaat beehrt hatte. Bis zum Anbruch des jüngsten Gerichts sollte der Platz neben ihrer Familie leer bleiben, und ihr unschuldiger, ja fast ehrwürdiger Leib der üblen Neugier der Anatomen ausgeliefert werden.

Spät an einem Nachmittag machte sich das Paar auf den Weg, fest in Mäntel gehüllt und ausgerüstet mit einer riesigen Flasche. Ohne Unterlaß strömte der Regen ein, kalter, dichter, peitschender Regen. Dann und wann fegte ein Windstoß über die Erde, aber die Flut stürzenden Wassers hielt ihn nieder. Trotz Flasche und allem war es bis Penicuik, wo sie den Abend verbringen wollten, eine trübselige schweigsame Fahrt. Einmal hielten sie an, um in einem dichten Buschwerk, unfern des Friedhofes, ihre Werkzeuge zu verbergen; ein zweites Mal bei Fishers Tryst, um am Küchenfeuer Toast zu rösten und den Whiskybrandy durch ein Glas Bier abzulösen. Als sie das Ziel ihrer Reise erreichten, wurde das Gig eingestellt, das Pferd gefüttert und versorgt, und die beiden jungen Doktoren ließen sich in einem Privatzimmer beim besten Essen und dem besten Weine die das Haus zu bieten vermochte, nieder. Die Kerzen, das Feuer, der gegen das Fenster klopfende Regen, das kalte finstere Werk, das vor ihnen lag, verlieh den Genüssen ihres Mahls besondere Würze. Jedes Glas steigerte ihre Ausgelassenheit. Nach einiger Zeit händigte Macfarlane seinem Gefährten einen kleinen Haufen Goldstücke aus.

»Meinen Glückwunsch«, sagte er. »Unter Freunden sollten diese verdammten kleinen Gefälligkeiten so selbstverständlich wie die Fidibusse sein.«

Fettes steckte das Geld ein und applaudierte diesem Kernspruch. »Du bist ein Philosoph!« rief er. »Und ich war ein Esel, bevor ich dich kennenlernte. Du und K., ihr seid Kerle, zum Henker! Ihr werdet noch einen Mann aus mir machen!«

»Natürlich werden wir das«, stimmte Macfarlane zu. »Einen Mann? Ich sage dir, es erfordert schon einen ganzen Kerl, sich am nächsten Morgen wieder hochzubringen. Es gibt manchen großen, lärmenden, vierzig Jahre alten Schurken, dem es beim Anblick jenes verdammten Dinges schlecht geworden wäre; dir jedoch nicht – du behältst deinen Kopf oben. Ich habe dich genau beobachtet.«

»Na, warum auch nicht?« entgegnete Fettes prahlerisch. »Was ging mich die Sache eigentlich an? Auf der einen Seite war nichts zu gewinnen, höchstens Verdrießlichkeiten; andererseits konnte ich aber auf deine Dankbarkeit rechnen. Das siehst du ja jetzt«, und er klopfte gegen seine Tasche, daß die Goldstücke klangen.

Macfarlane empfand bei diesen unerfreulichen Worten eine gewisse Besorgnis. Vielleicht bedauerte er es, seinen jungen Gefährten mit allzu gutem Erfolg unterrichtet zu haben. Aber er kam gar nicht dazu, eine Meinung zu äußern, denn der andere fuhr lärmend in dem gleichen ruhmseligen Tone fort:

»Die Hauptsache ist, keine Angst zu haben. Na, und was dich und mich anbetrifft, so möchte ich eben nicht gern hängen – das ist mal Tatsache, und für jede Art Heuchelei, Macfarlane, habe ich von Geburt an nur. Verachtung gehabt. Hölle, Gott, Teufel, Recht, Unrecht, Sünde, Verbrechen, kurz die ganze uralte Raritätensammlung, – die kann vielleicht Knaben in Angst versetzen, aber Männer von Welt wie du und ich, haben für solche Kindereien nur Verachtung. Komm, Prost! Auf das Andenken Grays!«

Mittlerweile war es ziemlich spät geworden. Das Gig wurde der Anweisung entsprechend vorgefahren, beide Lampen wurden angezündet, die beiden jungen Leute bezahlten ihre Rechnung und machten sich auf den Weg. Sie erzählten, sie müßten nach Peebles fahren; sie hielten diese Richtung auch ein, bis die letzten Häuser des Städtchens hinter ihnen lagen. Dann löschten sie die Laternen, kehrten den gleichen Weg zurück und folgten einer Seitenchaussee nach Glencorfe. Kein Laut war zu hören außer dem Rattern ihres eigenen Gefährts und dem unaufhörlichen schneidenden Geräusch des Regens. Es war stockfinster. Hier und dort nur leitete sie ein heller Zaun oder ein weißer Stein in der Mauer eine kurze Strecke durch die Nacht. Meist mußten sie im Schritt, ja fast kriechend, ihren Weg durch das tönende Dunkel zu dem geheiligten und einsamen Bestimmungsort tasten. In den tiefen Wäldern, die die Umgebung des Gottesackers durchziehen, schwand auch der letzte Schimmer, und es erwies sich als nötig, ein Streichholz anzuzünden und wieder eine der Giglaternen anzustecken. So erreichten sie unter tropfenden Bäumen, umringt von gewaltigen schwankenden Schatten, den Schauplatz ihrer unheiligen Arbeit.

Beide besaßen in solchen Dingen Erfahrung und wußten den Spaten zu gebrauchen. Sie waren noch kaum zwanzig Minuten bei ihrem Werk, als sie durch ein dumpfes Klappern auf dem Sargdeckel belohnt wurden. Im gleichen Moment schleuderte Macfarlane, dem ein Stein in die Hand geraten war, diesen sorglos hoch über seinen Kopf hinaus. Das Grab, in dem sie jetzt fast bis zu den Schultern standen, befand sich dicht am Rande des Kirchhofplateaus, und die Wagenlaterne stand, um ihnen bei der Arbeit besser zu leuchten, gegen einen Baum gelehnt, hart am Rande des steilen Abhanges, der zum Flusse abfiel. Der Zufall hatte dem Stein ein sicheres Ziel gegeben, das Klirren zerbrochenen Glases ertönte. Nacht senkte sich auf sie. Abwechselnd dumpfe und klirrende Geräusche verkündeten das Herabstürzen der Laterne den Hang hinunter und ihren gelegentlichen Anprall gegen die Bäume. Ein oder zwei Steine, die sie bei ihrem Fall mitgerissen hatte, kollerten hinter ihr drein in die Tiefen der Schlucht. Sie mochten ihr Gehör bis zum Aeußersten anspannen, nichts ließ sich vernehmen: nur der Regen, jetzt gejagt vom Winde, jetzt ruhig fallend über Meilen offenen Landes.

Ihr scheußliches Werk war fast beendet. Sie hielten es daher für das Klügste, die Arbeit im Dunkeln zu vollenden. Der Sarg wurde der Erde entrissen und aufgebrochen, der Leichnam in den triefenden Sack getan, und nun trugen sie ihn gemeinsam zum Wagen. Einer stieg auf, um ihn an seinem Platz zu verstauen; der andere ergriff das Pferd beim Zügel und tastete sich an Mauer und Gebüsch entlang, bis sie bei Fishers Tryst die breite Straße erreichten. Hier leuchtete ein schwacher, unsicherer Widerschein, den sie wie das Tageslicht begrüßten. Sie setzten das Pferd in scharfen Trab und begannen vergnügt in Richtung auf die Stadt weiter zu rattern.

Beide waren während ihrer Arbeit bis auf die Haut durchnäßt worden, und als das Gig jetzt über die ausgefahrenen Geleise startete, fiel das Ding, das zwischen ihnen gelehnt stand, bald auf den einen, bald auf den anderen. Bei jeder Wiederholung dieser scheußlichen Berührung stießen sie es instinktiv mit größerer Hast wieder zurück. So natürlich dieser Vorgang war, begann er doch den beiden Komplicen auf die Nerven zu gehen. Macfarlane machte über das Bauernweib einige rohe Witze, aber sie kamen nur mißtönend über seine Lippen und verhallten schweigend. Noch immer taumelte ihre widernatürliche Last von einer Seite zur anderen. Jetzt lehnte sie fast vertrauensvoll ihren Kopf gegen ihre Schultern, jetzt klatschte ihnen die durchweichte Sackleinwand eisig ins Gesicht. Schleichende Kälte begann von Fettes Seele Besitz zu ergreifen. Er schielte auf das Bündel, und es erschien ihm etwas größer als zuerst. Im ganzen weiten Lande und aus jeder Entfernung begleiteten die Bauernköter ihre Fahrt mit klagendem Geheul. Und stärker und stärker festigte sich in Fettes Geist der Gedanke, daß sich etwas Uebernatürliches begeben hätte, daß eine unbekannte Aenderung mit dem toten Körper vorgegangen wäre, daß die Hunde, aus Furcht vor ihrer unheiligen Last, so heulten.

»Um Gottes willen«, sagte er, nur mühsam die Worte hervorstoßend, »um Gottes willen, laß uns Licht machen!«

Macfarlane kämpfte anscheinend mit einer ähnlichen Erregung; obwohl er keine Antwort gab, parierte er das Pferd, gab seinem Gefährten die Zügel, stieg ab und machte sich daran, die ihnen verbliebene Laterne anzuzünden. Sie waren erst bis zu dem Kreuzwege nach Auchenclinny gekommen. Der Regen strömte noch immer, als wäre die Sintflut zurückgekehrt. Es war keine leichte Aufgabe, in einer Welt so voller Feuchtigkeit und Finsternis Licht zu machen. Als endlich das flackernde blaue Flämmchen auf den Docht übertragen war und aufzublühen und sich zu klären begann und einen weiten Kreis trüben Lichtes rund um den Wagen zog, ermöglichte es den beiden jungen Leuten, einander und das Ding, das sie bei sich hatten, genauer zu betrachten. Der Regen hatte den groben Sack gleich einer Gußform über den darunter befindlichen Leichnam gezogen, der Kopf trat scharf hervor und die Schultern waren deutlich abgezeichnet. Etwas Geisterhaftes und Menschliches zugleich hielt ihre Augen auf den gespenstischen Fahrtkameraden gefesselt.

Macfarlane stand eine Weile regungslos mit hocherhobener Lampe. Ein namenloses Entsetzen schlang sich wie ein nasser Lappen um den Körper Fettes und straffte die fahle Haut auf seinem Antlitz. Eine Angst, die sinnlos war, ein Grauen vor dem, was kommen würde, nahm sein Hirn gefangen; ein Sekundenschlag der Uhr und er hätte gesprochen, doch sein Spießgeselle kam ihm zuvor.

»Das ist kein Weib«, sagte Macfarlane mit leiser Stimme.

»Es war aber ein Weib, als wir es hineinsteckten«, flüsterte Fettes.

»Halte die Laterne«, versetzte der andere, »ich muß ihr Gesicht sehen.«

Und als Fettes die Lampe genommen hatte, löste sein Gefährte die Stricke des Sackes und zog die Hülle herunter von dem Haupte. Scharf fiel das Licht auf die düsteren, wohlgestalteten Züge, auf die glatt rasierten Wangen eines nur zu bekannten Gesichts, das diese beiden jungen Leute oft in ihren Träumen verfolgt hatte. Ein wilder, geller Schrei klang durch die Nacht. Beide sprangen von der Seite des Wagens auf die Straße, die Lampe fiel, zerbrach und verlöschte, und das Pferd, erschreckt durch diese ungewohnte Bewegung, bäumte sich und raste im Galopp gen Edinburgh, mit sich führend als einzigen Insassen des Wagens den Leichnam des toten, lange zerstückelten Gray.

 


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