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Die letzte Nacht

Utterson saß eines Abends nach dem Essen an seinem Kaminfeuer; da erhielt er zu seiner Überraschung einen Besuch von Poole.

»Herrje, Poole! Was bringt Sie her?« rief er; und als er einen zweiten Blick auf ihn geworfen hatte, setzte er hinzu:

»Was fehlt Ihnen? Ist der Doktor krank?«

»Herr Utterson,« sagte der Bediente, »da ist irgendwas nicht in Ordnung.«

»Nehmen Sie einen Stuhl, und hier ist ein Glas Wein für Sie,« sagte der Anwalt. »Lassen Sie sich nur Zeit und sagen Sie mir ganz offen, was Sie wünschen.«

»Sie wissen ja, wie Herr Doktor ist, Herr Utterson,« antwortete Poole, »und wie er sich immer einschließt. Nun, er hat sich jetzt wieder in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, und mir gefällt's nicht. Herr – ich will auf der Stelle tot sein, wenn's mir gefällt. Herr Utterson – ich hab Angst!«

»Na, mein guter Mann,« sagte der Anwalt, »erklären Sie sich deutlich. Wovor haben Sie Angst?«

»Ich habe schon seit ungefähr einer Woche Angst,« antwortete Poole, ohne die Aufforderung des Anwalts zu beachten, »und ich kann es nicht länger aushalten.«

Das Aussehen des Mannes bestätigte seine Worte deutlich; er benahm sich nicht so gemessen und freundlich wie sonst immer und hatte außer im ersten Augenblick, als er von seiner Angst gesprochen hatte, dem Anwalt nicht ein einziges Mal ins Gesicht gesehen. Auch jetzt saß er, sein unberührtes Glas Wein auf dem Knie, und sah in eine Ecke des Zimmers hinein.

»Ich kann's nicht mehr aushalten,« wiederholte er.

»Nu nu,« sagte der Anwalt, »ich sehe, Sie haben irgendeine gute Ursache, Poole; ich sehe, es ist irgend etwas Ernstes vorgefallen. Versuchen Sie, mir zu erzählen, was es ist!«

»Ich denke, da sind faule Sachen los,« sagte Poole heiser.

»Faule Sachen?« rief der Anwalt, wirklich erschrocken und infolgedessen geneigt, böse zu werden. Was redet er von faulen Sachen? Was meint der Mann damit? dachte er bei sich selber.

»Ich wage es nicht zu sagen, Herr,« war die Antwort; »aber wollen Sie nicht mitkommen und selber mal nachsehen?«

Uttersons einzige Antwort bestand darin, daß er aufstand und seinen Hut und Mantel nahm; aber er bemerkte mit Verwunderung, welche große Erleichterung sich auf dem Gesicht des Dieners zeigte, und vielleicht mit nicht geringerer, daß der Wein noch immer unberührt war, als der Mann das Glas hinsetzte, um ihm zu folgen.

Es war eine wilde, kalte Märznacht, ganz der Jahreszeit angemessen; eine blasse Mondsichel lag auf dem Rücken, wie wenn der Sturm sie umgeworfen hätte – ein Mond wie von ganz durchsichtigem, dünnem Gespinst. Der Sturm machte Sprechen schwierig und trieb den beiden das Blut ins Gesicht. Er schien außerdem die Straßen in ungewöhnlicher Weise von Menschen leergefegt zu haben; denn es kam Utterson vor, wie wenn er diesen Teil von London niemals so verlassen gesehen hätte. Ihm wäre lieber gewesen, Menschen zu sehen; niemals in seinem Leben hatte er sich so sehr gesehnt, seine Mitgeschöpfe zu sehen und zu berühren; denn so sehr er auch dagegen ankämpfte, auf seiner Seele lag eine drückende Vorahnung von Unheil.

Als sie auf den Platz kamen, an dem des Doktors Haus lag, war alles voll von Wind und Staub und die dünnen Bäume in den Anlagen bogen sich über das Gitter.

Poole, der die ganze Zeit über ein paar Schritte voraus gewesen war, blieb jetzt mitten auf dem Pflaster stehen, nahm trotz der scharfen Kälte seinen Hut ab und wischte sich mit einem roten Taschentuch die Stirne ab. Aber die Schweißtropfen, die er wegwischte, hatte nicht das schnelle Laufen herausgetrieben, sondern irgendeine ihn erstickende Angst; denn sein Gesicht war weiß, und seine Stimme, als er nun sprach, war rauh und gebrochen.

»Nun, Herr Utterson,« sagte er, »da sind wir – und Gott gebe, es möge nichts Schlimmes sein.«

»Amen, Poole!« sagte der Andere.

Dann klopfte der Bediente sehr leise und vorsichtig an; die Tür wurde geöffnet, soweit die Kette reichte, und eine Stimme fragte von drinnen:

»Sind Sie das, Poole?«

»Alles in Ordnung, öffnet die Tür.«

Die Halle, die sie nun betraten, war hell erleuchtet; im Kamin brannte ein hochaufgestapeltes Feuer, und ringsherum stand die ganze Dienerschaft, Männer und Weiber, aneinandergedrängt wie eine Herde Schafe. Bei Uttersons Anblick brach das Stubenmädchen in ein hysterisches Wimmern aus, und die Köchin schrie auf: »Gott sei Dank – da ist Herr Utterson!« und lief auf ihn zu, wie wenn sie ihn umarmen wollte.

»Nanu? Seid ihr alle hier?« sagte der Anwalt verdrießlich. »Sehr ungehörig, sehr unpassend! Eurem Herrn würde das durchaus nicht gefallen!«

»Sie haben alle Angst,« sagte Poole.

Totenstille folgte – niemand sagte etwas dagegen; nur das Stubenmädchen erhob ihre Stimme und weinte jetzt laut.

»Halt deinen Mund!« sagte Poole zu ihr mit einer Grobheit, die ein Beweis war, wie nervös er selber war. Und in der Tat, als das Mädchen so plötzlich ihr Jammergeschrei erhoben hatte, waren sie alle aufgefahren und blickten mit Gesichtern voll von erschrockener Erwartung nach der Innentür.

»Und nun,« fuhr Poole fort und wandte sich an den Messerputzer, »gib mir eine Kerze, wir wollen der Sache jetzt sofort auf den Grund gehen.«

Dann bat er Herrn Utterson, ihm zu folgen, und ging ihm voran nach dem Hintergarten. Dort sagte er:

»Nun, Herr Utterson, gehen Sie bitte so leise, wie Sie können. Ich möchte, daß Sie hören, aber nicht gehört werden. Und dann – verzeihen Sie, Herr! – sollte er zufällig Sie zu sich hereinbitten – dann gehen Sie nicht!«

Diese ganz unerwartete Aufforderung gab Uttersons Nerven einen Stoß, daß er beinahe aus seinem Gleichgewicht gekommen wäre; aber er nahm seinen Mut zusammen und folgte dem Diener in das Laboratoriumsgebäude und durch das chirurgische Amphitheater mit seinem Plunder von Kistendeckeln und Flaschen bis an den Fuß der Treppe. Hier gab Poole ihm einen Wink, auf die Seite zu treten und zu horchen, während er selber die Kerze auf den Fußboden setzte, mit einem großen Entschluß, den Utterson ihm deutlich ansah, seinen ganzen Mut zusammennahm, die Stufen hinaufstieg und mit einer etwas unsicheren Hand an den roten Fries der Tür zum Arbeitszimmer klopfte.

»Herr Utterson, Herr, wünscht Sie zu sehen,« rief er und machte dabei dem Anwalt noch heftigere Zeichen, ja genau zuzuhören.

Eine Stimme antwortete von drinnen in klagendem Ton:

»Sag ihm, ich könne keinen Menschen sehen.«

»Danke, Herr,« sagte Poole und in seiner Stimme klang etwas wie Triumph; dann nahm er seine Kerze auf und führte Utterson über den Hof zurück und in die große Küche, in der das Feuer ausgegangen war und die Schwaben über den Fußboden huschten.

»Herr Utterson,« sagte er, dem Anwalt fest in die Augen blickend, »war das meines Herrn Stimme?«

»Sie schien sehr verändert zu sein,« antwortete Utterson, sehr blaß, aber den Blick des Haushofmeisters fest erwidernd.

»Verändert? Nu ja, das meine ich auch,« sagte dieser. »Bin ich zwanzig Jahre im Hause meines Herrn gewesen, daß ich mich in seiner Stimme täuschen könnte? Nein, Herr! Unser Herr ist auf die Seite gebracht worden; vor acht Tagen wurde er auf die Seite gebracht – da hörten wir ihn laut Gottes Namen anrufen! Und wer an seiner Stelle drinnen ist, und warum er drinnen ist – das ist ein Ding, das zum Himmel schreit, Herr Utterson!«

»Was Sie da sagen, Poole, ist sehr sonderbar; das ist eigentlich eine wahnsinnige Geschichte, mein guter Mann,« sagte Utterson und biß sich dabei auf den Finger. »Angenommen, es wäre so, wie Sie annehmen, – angenommen, Dr. Jekyll wäre … na ja, ermordet – was könnte den Mörder veranlassen, drinnen zu bleiben? Eine solche Annahme ist nicht stichhaltig, läßt sich nicht mit der Vernunft zusammenreimen.«

»Nun, Herr Utterson, Sie sind schwer zu überzeugen, aber ich werde Sie doch überzeugen!« sagte Poole: »Sie müssen wissen, diese ganze letzte Woche hat er, oder es, oder was auch immer da in dem Arbeitszimmer hausen mag, Tag und Nacht nach irgendeiner Medizin geschrien und kann sie nicht so kriegen, wie er sie haben will. Er hatte es so manchmal an sich – unser Herr nämlich – seine Befehle auf ein Blatt Papier zu schreiben und dieses auf die Treppe zu werfen. Diese ganze letzte Woche haben wir nichts anderes gehabt – nichts als Papiere, und dazu eine verschlossene Tür, und sogar das Essen wurde auf die Treppe gestellt und heimlich hereingeholt, wenn's niemand sah. Nun, Herr, jeden Tag – ja sogar zweimal und dreimal an demselben Tage, hat es Befehle und Beschwerden gegeben, und ich habe bei allen großen Apothekern in der Stadt herumlaufen müssen. Jedesmal, wenn ich das Zeug brachte, kam ein neues Papier: ich sollte es wieder zurückbringen, denn es wäre nicht rein – und ein neuer Auftrag an eine andere Firma. Diese Droge wird bitter notwendig gebraucht, Herr – mag es sein, wozu es will.«

»Haben Sie eins von diesen Papieren bei sich?« fragte Utterson.

Poole suchte in seinen Taschen und brachte einen verknitterten Zettel zum Vorschein, den der Anwalt sorgfältig prüfte, indem er ihn nahe an die Kerze hielt. Der Inhalt lautete:

»Dr. Jekyll sendet den Herren Maw seine Empfehlungen. Er versichert ihnen, daß ihre letztgesandte Probe unrein und für seine augenblicklichen Zwecke ganz wertlos ist. Im Jahre 18.. kaufte Dr. J. eine ziemlich große Quantität von den Herren M. Er bittet sie jetzt, mit der größten Sorgfalt nachsuchen zu lassen und, wenn noch etwas von derselben übrig sein sollte, ihm diese sofort zu liefern. Kosten spielen keine Rolle. Die Wichtigkeit der Lieferung für Dr. J. kann kaum genügend bezeichnet werden.«

Soweit war der Brief ganz vernünftig abgefaßt; aber an dieser Stelle war die Aufregung des Schreibers plötzlich durchgebrochen: die Feder hatte einen großen Klecks gemacht, und eine Nachschrift lautete:

»Um Gottes willen! Finden Sie mir etwas von der alten Sorte!«

»Das ist ein sonderbarer Brief,« sagte Utterson; dann fragte er in scharfem Ton:

»Wie kommen Sie dazu, daß Sie ihn offen bei sich haben?«

»Der Angestellte bei Maws war ganz wütend, Herr Utterson, und warf mir den Zettel zu, wie'n Stück Dreck!« antwortete Poole.

»Es ist doch unfraglich Herrn Doktors Handschrift, nicht wahr?« begann der Anwalt nach einer kleinen Weile wieder.

»Es kam mir so vor,« sagte der Diener ziemlich verdrießlich; dann aber flüsterte er mit veränderter Stimme:

»Aber was kommt es auf die Handschrift an! Ich habe ihn gesehen!«

»Ihn gesehen?« wiederholte Utterson. »Nun?«

»Jawohl, gesehen,« sagte Poole. »Es war so: Ich kam plötzlich vom Garten her ins Amphitheater. Er war, scheint's, rausgeschlüpft, um nach dieser Droge zu sehen oder nach sonst was, denn die Tür zum Studierzimmer stand offen, und er stand am andern Ende des Raumes und kramte unter den Kistendeckeln herum. Er sah auf, als ich hineinkam, stieß eine Art von Schrei aus und witschte die Treppe hinauf in sein Zimmer hinein. Es war bloß die eine einzige Minute, daß ich ihn sah – aber die Haare standen mir auf dem Kopf wie Federposen. Herr Utterson – wenn das mein Herr war, warum hatte er eine Maske vor seinem Gesicht? Wenn das mein Herr war, warum quiekte er auf wie eine Ratte und lief vor mir weg? Ich habe ihm lange genug gedient und dann …« Der Mann stockte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Das sind lauter sehr sonderbare Umstände,« sagte Utterson, »aber ich denke, ich fange an Tageslicht zu sehen! Euer Herr, Poole, ist offenbar von einer jener Krankheiten befallen, die große Schmerzen machen und zugleich den Leidenden entstellen; daher, nach meiner Meinung, die Veränderung der Stimme; daher die Maske und die Sucht, Begegnungen mit seinen Freunden zu vermeiden; daher der Eifer, diese Droge zu erhalten, durch deren Anwendung die arme Seele noch eine kümmerliche Hoffnung zu haben glaubt, schließlich wieder gesund zu werden – gebe Gott, daß er sich nicht täuschen möge! Das ist meine Erklärung – sie ist traurig genug, Poole, gewiß, und geradezu schrecklich, wenn man sie recht überdenkt; aber sie ist einfach und natürlich, paßt in allen Stücken gut zusammen und befreit uns von allen unnatürlichen Beunruhigungen.«

»Herr Utterson,« sagte der Diener und auf seinem bleichen Gesicht rief die Aufregung rote Flecken hervor: »Das Ding war nicht mein Herr – und das ist die Wahrheit! Mein Herr« – hier sah er sich rund um und senkte seine Stimme zum Flüstern – »ist ein großer, schöngewachsener Mann, und diese Gestalt war beinahe ein Zwerg.«

Utterson machte einen Versuch, ihn von diesem Gedanken abzubringen, aber Poole rief:

»Oh! Herr! Glauben Sie, ich kenne meinen Herrn nicht, jetzt nach zwanzig Jahren? Glauben Sie, ich wisse nicht, wie hoch sein Kopf an dem Türpfosten seines Zimmers hinaufreicht, wo ich ihn jeden Morgen meines Lebens sah? Nein, Herr! Das Ding mit der Maske war nie und nimmer Dr. Jekyll – Gott weiß, was es war, aber Dr. Jekyll war es nie und nimmer; und ich glaube steif und fest: da ist ein Mord vollbracht worden.«

»Poole,« antwortete der Anwalt, »wenn Sie mir das sagen, wird es meine Pflicht sein, den Tatbestand festzustellen. So sehr ich auch wünsche, Ihres Herrn Gefühle zu schonen – und so rätselhaft mir auch dieser Brief ist, der zu beweisen scheint, daß er noch am Leben ist, so werde ich es doch als meine Pflicht ansehen, mit Gewalt seine Zimmertür erbrechen zu lassen.«

»Ach, Herr Utterson, das ist einmal vernünftig gesprochen!« rief der Diener.

»Und jetzt kommt die zweite Frage,« fuhr Utterson fort: »Wer soll das tun?«

»Nun, Herr – Sie und ich!« antwortete Poole ohne Zögern.

»Das war brav gesprochen,« sagte der Anwalt, »und welche Folgen dann auch noch kommen mögen, ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht dabei zu Schaden kommen.«

»Im Theater ist ein Beil,« fuhr Poole fort; »und Sie könnten für sich selber den Küchenschürhaken nehmen.«

Der Anwalt nahm das plumpe, aber schwere Werkzeug und wog es in der Hand; dann sagte er, indem er den Diener ansah:

»Wissen Sie auch, Poole, daß wir beide im Begriff stehen, uns in eine ziemlich gefährliche Lage zu bringen?«

»Das können Sie wohl sagen, Herr Utterson.«

»Nun, dann ist's auch richtig, daß wir offen miteinander sprechen! Wir denken uns beide mehr, als wir gesagt haben; wir wollen doch lieber frei von der Leber weg reden: diese maskierte Gestalt, die Sie sahen – erkannten Sie die?«

»Tja, Herr, – sie lief so geschwind, und das Geschöpf war so zusammengeduckt, daß ich kaum drauf schwören könnte, wen ich sah. Aber wenn Sie fragen wollen: war es der Herr Hyde? – na ja, ich denke, er war es! Sehen Sie: die Größe war so ziemlich dieselbe, und es waren auch seine schnellen, leichten Bewegungen; und dann – wer anders hätte durch die Laboratoriumstür hineinkommen können? Sie haben wohl nicht vergessen, Herr Utterson, daß er zur Zeit, als der Mord geschah, immer den Schlüssel bei sich hatte? Aber das ist noch nicht alles! Ich weiß nicht, Herr Utterson, ob Sie jemals diesem Herrn Hyde begegnet sind?«

»Ja,« sagte der Anwalt, »ich sprach einmal mit ihm.«

»Dann wissen Sie so gut wie all wir andern, daß an dem Herrn etwas Sonderbares war – etwas, wovor einem schauderte – ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, Herr; ich möchte sagen: man fühlte in seinem Mark eine Art Kälte und Schwäche.«

»Ich gestehe, daß ich so etwas fühlte, wie Sie es da beschreiben,« sagte Utterson.

»Ganz recht, Herr! Nun, als dieses maskierte Ding wie ein Affe von den chemischen Apparaten fortsprang und in das Arbeitszimmer witschte, da rann es mir wie Eis am Rückgrat herunter. Oh – ich weiß, das ist kein gültiger Zeugenbeweis, Herr Utterson; soviel habe ich auch aus Zeitungen und Büchern gelernt – aber ein Mensch hat seine Gefühle, und ich gebe Ihnen mein Bibelwort: es war Herr Hyde!«

»Ja, ja!« sagte der Anwalt. »Meine Befürchtungen gehen in dieselbe Richtung. Auf Bösem, fürchte ich, war diese Verbindung begründet – und Böses mußte die sichere Folge davon sein. Ja, in allem Ernst – ich glaube Ihnen, ich glaube, mein armer Henry ist ermordet worden; und ich glaube, sein Mörder haust immer noch im Zimmer des Opfers – zu welchem Zweck, das kann Gott allein sagen! Nun, so wollen wir die Rache vollziehen! Rufen Sie Bradshaw!«

Der Lakai kam auf die Aufforderung, aber sehr bleich und ängstlich.

»Rappeln Sie sich zusammen, Bradshaw!« sagte der Anwalt. »Ich weiß wohl, diese ungewisse Erwartung geht euch allen auf die Nerven; aber wir gedenken jetzt der Sache ein Ende zu machen. Poole und ich wollen mit Gewalt in das Zimmer eindringen. Wenn alles in Ordnung ist, sind meine Schultern breit genug, um die Verantwortung dafür auf mich zu nehmen. Indessen für den Fall, daß wirklich etwas Böses im Werk ist oder daß ein Verbrecher versuchen sollte, durch die Hintertür zu entkommen, müssen Sie und der Junge mit ein paar guten Stöcken um die Straßenecke herumgehen und sich an der Laboratoriumstür aufstellen. Wir geben euch zehn Minuten Zeit, um auf euren Posten zu kommen.«

Als Bradshaw ging, sah der Anwalt nach seiner Uhr; dann sagte er: »Und nun, Poole, wollen wir auf unsere Posten gehen!« – nahm den Schürhaken unter den Arm und ging dem Diener voran in den Hof.

Die Regenwolken hatten sich über den Mond gezogen, und es war jetzt vollständig dunkel. Der Sturm, der nur stoßweise in den Hof eindrang, welcher zwischen den Gebäuden wie ein tiefer Brunnen lag, ließ das Licht ihrer Kerze hin und her flattern, bis sie in den Windschutz des Amphitheaters kamen, wo sie sich schweigend hinsetzten und warteten. Rings in der Runde brauste der ungeheure Lärm Londons, zu einem feierlichen Klang abgedämpft; aber ganz nahe bei ihnen wurde die Stille nur durch das Geräusch von Schritten unterbrochen, die im Studierzimmer unaufhörlich auf und ab gingen.

»So wandert es den ganzen Tag, Herr!« flüsterte Poole; »ja, und auch den größeren Teil der Nacht; nur wenn eine neue Probe vom Apotheker kommt, gibt es eine kleine Unterbrechung. Oh! das ist ein böses Gewissen, das solch ein Feind der Ruhe ist! O Herr – in jedem dieser Schritte ist reichlich vergossenes Blut! Aber horchen Sie, kommen Sie doch etwas näher – horchen Sie mit Ihrem ganzen Herzen, Herr Utterson, und sagen Sie mir: ist das des Doktors Schritt?«

Die Schritte waren leicht und unregelmäßig; es war ein gewisser Schwung in ihnen, obgleich sie langsam waren; der Schritt war tatsächlich verschieden von dem schweren Auftreten Henry Jekylls. Utterson seufzte und fragte:

»Hörten Sie niemals etwas anderes als diese Schritte?«

Poole nickte und sagte:

»Einmal. Einmal hörte ich es weinen!«

»Weinen, wieso?« rief der Anwalt, und ein kalter Schauder überrann ihn plötzlich.

»Weinen wie ein Weib oder eine verlorene Seele!« antwortete der Haushofmeister. »Es schnitt mir selber so ins Herz, daß auch ich hätte weinen mögen.«

Aber die zehn Minuten waren jetzt zu Ende. Poole holte das Beil unter einem Haufen Packstroh hervor; die Kerze wurde auf den nächsten Tisch gesetzt, um ihnen bei dem Sturmangriff zu leuchten. Dann gingen sie mit angehaltenem Atem bis an die Tür heran, hinter der jener unermüdliche Fuß immer noch auf und ab ging – auf und ab, in der Ruhe der Nacht.

»Jekyll!« rief Utterson mit lauter Stimme, »ich wünsche dich zu sehen.«

Er schwieg einen Augenblick, aber es kam keine Antwort.

»Ich warne dich allen Ernstes: Wir haben Verdacht, und ich muß und werde dich sehen – wenn nicht mit deiner Zustimmung, dann mit Gewalt!«

»Utterson,« sagte die Stimme, »um Gottes willen, habe Erbarmen!«

»Ah! Das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hydes Stimme!« schrie Utterson. »Nieder mit der Tür!«

Poole schwang das Beil über seiner Schulter; der Schlag erschütterte das Gebäude, und die rote Friestür krachte gegen Schloß und Angeln an. Ein fürchterliches Kreischen, wie in reiner tierischer Angst, erklang aus dem Studierzimmer. Wieder ging das Beil hoch, und wieder krachten die Bretter und wankten die Pfosten. Viermal fiel der Schlag; aber das Holz war zäh, und die Tür war ausgezeichnet gearbeitet; und erst beim fünften Schlage sprang plötzlich das Schloß auf und die Trümmer der Tür fielen ins Zimmer hinein auf den Teppich.

Die Belagerer überfiel ein plötzliches Entsetzen in der Stille, die auf den von ihnen gemachten Lärm gefolgt war; sie traten ein wenig zurück und spähten in das Zimmer hinein. Da lag es vor ihren Augen in dem ruhigen Lampenlicht. Ein gutes Feuer leuchtete und knisterte im Kamin; der Teekessel summte seine feinen Melodien; ein paar Schubladen waren herausgezogen; auf dem Schreibtisch lagen die Papiere in guter Ordnung und näher am Feuer war alles sauber zum Teetrinken hergerichtet – man hätte sagen mögen: das friedlichste Zimmer in ganz London in dieser Nacht.

Mitten auf dem Teppich lag der Körper eines Mannes, dessen Glieder grausig verschlungen waren und noch zuckten. Die beiden Männer gingen auf den Fußspitzen heran, legten den Körper auf den Rücken und erblickten das Antlitz von Edward Hyde. Er trug Kleider, die ihm viel zu groß waren – Kleider für einen Mann von der Größe des Doktors; die Muskeln seines Gesichtes zuckten, wie wenn er noch lebte – aber das Leben war bereits ganz entschwunden, und an der zerbrochenen Phiole, die er in der Hand hielt, und an dem scharfen Geruch von bitteren Mandeln, der die Luft erfüllte, erkannte Utterson, daß er den Leichnam eines Selbstmörders vor sich sah.

»Wir sind zu spät gekommen,« sagte er ernst: »zu spät zu Rettung wie zu Bestrafung. Hyde ist gegangen, um seine Rechenschaft abzulegen; und uns bleibt nur noch übrig, die Leiche Ihres Herrn zu finden.«

Bei weitem der größere Teil des Gebäudes wurde von dem Amphitheater eingenommen, das fast den ganzen Raum ausfüllte und von oben her sein Licht empfing, und von dem Arbeitszimmer, das an dem einen Ende ein oberes Stockwerk bildete und auf den Hof hinausging. Ein Korridor verband den Anatomiesaal mit der Hintertür in der Nebenstraße, und mit diesem Korridor stand auch das Arbeitszimmer noch außerdem durch eine zweite Treppe in Verbindung. Sonst waren nur noch ein paar dunkle Kammern und ein geräumiger Keller vorhanden. Alle diese Räume wurden jetzt von ihnen genau durchsucht. Jede Kammer erforderte nur einen Blick; denn sie waren alle leer und waren alle seit langer Zeit nicht geöffnet worden, wie aus dem Staub hervorging, der vor ihren Türen beim Öffnen herabfiel. Der Keller war allerdings mit allerlei Gerümpel angefüllt, das zum größten Teil noch von dem Chirurgen, Jekylls Vorgänger, herstammte; aber in dem Augenblick, als sie die Türe öffneten, wurde ihnen die Zwecklosigkeit einer weiteren Nachforschung im Keller klar, denn es fiel ein großes Spinngewebe herab, das seit Jahren schon diesen Eingang übersponnen hatte. Nirgends war eine Spur von einem toten oder lebenden Jekyll.

Poole stampfte auf die Fliesen des Korridors, lauschte auf den Klang und sagte:

»Er muß hier vergraben sein.«

»Oder er kann auch geflohen sein,« sagte Utterson und wandte sich nach der Hintertür, um auch diese zu untersuchen. Sie war verschlossen, und dicht neben ihr auf den Fliesen fanden sie den Schlüssel, der bereits verrostet war.

»Der sieht nicht danach aus, wie wenn er gebraucht worden wäre.«

»Gebraucht?« wiederholte Poole. »Sehen Sie nicht, Herr Utterson, daß er zerbrochen ist? wie wenn jemand darauf herumgetrampelt hätte!«

»Jawohl,« bestätigte Utterson, »und die Bruchstellen sind auch schon verrostet.«

Die beiden Männer sahen einander entsetzt an.

»Dies geht über meine Begriffe, Poole!« sagte der Anwalt; »wir wollen wieder ins Arbeitszimmer gehen.«

Schweigend stiegen sie die Treppe hinauf und gingen daran, mit einem gelegentlichen schaudernden Seitenblick auf den Leichnam, die Gegenstände in dem Zimmer gründlicher zu untersuchen. Auf dem einen Tisch befanden sich Spuren chemischer Arbeiten: verschiedene abgemessene Häufchen eines weißen Salzes waren auf kleine Glasschalen gelegt, wie für ein Experiment, in welchem der unglückliche Mensch unterbrochen worden wäre.

»Das ist dieselbe Droge, die ich ihm fortwährend brachte,« sagte Poole; und er hatte diese Worte noch nicht beendigt, da kochte plötzlich der Teekessel mit starkem Zischen über. Dies veranlaßte sie, sich dem Kamin zuzuwenden, an den der Lehnstuhl bequem herangerückt war; das Teegeschirr stand fertig neben der Armlehne; der Zucker war sogar schon in die Tasse getan. Auf einem kleinen Gestell lagen mehrere Bücher; ein anderes Buch lag aufgeschlagen neben dem Teegeschirr, und Utterson fand zu seinem Erstaunen, daß es ein Andachtsbuch war, von welchem Jekyll zu verschiedenen Malen mit hoher Achtung gesprochen hatte – und dieses Buch war in seiner eigenen Handschrift am Rande mit entsetzlichen Gotteslästerungen versehen!

Ihre Durchsuchung des Zimmers führte sie hierauf zunächst an den Drehspiegel, in dessen Tiefen sie mit unwillkürlichem Schauder blickten. Aber er war so gedreht, daß er ihnen nichts zeigte, als den rötlichen Feuerschein, der auf der Zimmerdecke spielte, das lodernde Kaminfeuer, das sich hundertmal auf den Glasscheiben der Schränke ringsum wiederholte, und ihre eigenen bleichen, angstvollen Gesichter, die sich über ihn beugten.

»Dieser Spiegel hat manche seltsamen Dinge gesehen, Herr!« flüsterte Poole.

»Und gewiß ist nichts seltsamer, als dieser Spiegel selbst,« sagte der Anwalt in demselben Flüsterton. »Wozu brauchte Jekyll –« bei diesem Wort fuhr er unwillkürlich zusammen; aber er überwand seine Schwäche und beendigte den Satz: »wozu konnte Jekyll ihn nötig haben?«

»Das mögen Sie wohl sagen!« sagte Poole.

Sodann wandten sie sich zu dem Arbeitstisch. Auf der Schreibmappe, die zwischen den sorgfältig geordneten Papieren lag, sahen sie obenauf einen großen Briefumschlag liegen, worauf in des Doktors Handschrift Uttersons Name geschrieben stand. Der Anwalt erbrach das Siegel, und verschiedene Einlagen fielen auf den Fußboden. Die erste war ein Testament, in denselben exzentrischen Ausdrücken abgefaßt, wie jenes, das er vor sechs Monaten zurückgegeben hatte; dieser Letzte Wille sollte als Testament im Falle des Todes und als Schenkung im Falle des Verschwindens dienen; aber statt des Namens Edward Hyde las der Anwalt zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson. Er blickte auf Poole, und dann wieder auf das Papier, und zuletzt auf den toten Verbrecher, der auf dem Teppich ausgestreckt lag.

»Mir wirbelt der Kopf!« sagte er. »Er ist alle diese Tage über im Besitz dieses Testaments gewesen; er hatte keine Ursache mich zu lieben; er muß innerlich gewütet haben, sich selber als Erben verdrängt zu sehen – und trotzdem hat er dieses Schriftstück nicht vernichtet!«

Er nahm das nächste Papier auf; es war ein kurzer Brief in des Doktors Handschrift und am oberen Rande mit dem Datum versehen.

»Oh! Poole!« rief der Anwalt; »er war heute noch am Leben und hier in diesem Zimmer, er kann in einem so kurzen Zeitraum nicht beiseite geschafft worden sein – er muß noch am Leben, muß geflohen sein! Aber freilich – warum kann er geflohen sein? und wie? Und können wir in diesem Fall es wagen, diesen Selbstmord anzuzeigen? Oh, wir müssen vorsichtig sein. Ich sehe voraus, daß wir vielleicht Ihren Herrn in irgendeine schreckliche Katastrophe hineinverwickeln.«

»Warum lesen Sie den Brief nicht, Herr Utterson?« fragte Poole.

»Weil ich Furcht habe,« antwortete der Anwalt feierlich; »gebe Gott, ich möge keine Ursache dazu haben!«

Und er hielt das Blatt dicht an seine Augen und las folgendes:

 

»Mein lieber Utterson – wenn dies in Deine Hände gerät, werde ich verschwunden sein; unter was für Umständen, das vorauszusehen ist mein Scharfsinn nicht imstande; aber mein Instinkt und alle Umstände meiner unbeschreiblichen Lage sagen mir, daß das Ende gewiß ist und bald kommen muß. So lies denn zuerst den Bericht, den Lanyon, wie er mir mitteilte, Deinen Händen anzuvertrauen gedachte; und wenn Du dann noch mehr hören magst, lies auch die Beichte

Deines unwürdigen und unglücklichen Freundes
Henry Jekyll.«

 

»Es war noch eine dritte Einlage da?« fragte Utterson.

»Hier, Herr!«

Und Poole reichte ihm ein ziemlich dickes Paket, das an verschiedenen Stellen versiegelt war.

Der Anwalt steckte es in seine Tasche und sagte zu dem Haushofmeister:

»Ich will von diesem Papier nichts sagen. Wenn Ihr Herr entflohen oder tot ist, wollen wir doch wenigstens seinen guten Namen retten. Es ist jetzt zehn Uhr; ich muß nach Hause gehen und diese Schriftstücke in Ruhe lesen; aber ich werde vor Mitternacht wieder hier sein, und dann wollen wir nach der Polizei schicken.«

Sie gingen hinaus und verschlossen die Tür des Amphitheaters hinter sich. Die Dienerschaft blieb am Kamin in der Halle, in Grauen und Angst sich zusammendrängend. Utterson aber eilte in seine Wohnung zurück, um die beiden Berichte zu lesen, durch die dieses Geheimnis jetzt seine Aufklärung finden sollte.


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