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Viertes Kapitel

Die Erziehung zum Philosophen

Der adoptierte Stalljunge war somit glücklich in den Haushalt aufgenommen, und das Getriebe des Lebens im Doktorhause setzte seinen Lauf reibungslos fort. Jean-Marie lag am Morgen seinen Stallpflichten ob, half mitunter im Hause, oder ging auch wohl mit dem Doktor spazieren, um aus der Quelle der Weisheit zu schöpfen; abends wurde er dann in die Wissenschaften und in die toten Sprachen eingeführt. Hierbei behielt er die außergewöhnliche innere und äußere Gelassenheit seines Wesens bei; er war selten zu tadeln, machte hingegen in seinen Studien nur recht mäßige Fortschritte und blieb im großen und ganzen ein Fremder in der Familie.

Der Doktor war ein Muster an Gewissenhaftigkeit. Den ganzen Vormittag arbeitete er an seinem großen Werke: »Vergleichende Pharmacopoea, oder historisches Diktionär der medizinischen Wissenschaften«, das vorläufig in der Hauptsache aus Zetteln und Klammern bestand. Später sollte es dann zahlreiche höchst persönliche Bände füllen und antiquarisches Interesse mit wissenschaftlicher Brauchbarkeit vereinen. Allein der Doktor liebte den literarischen Stil und das Pittoreske; eine Anekdote, eine Eigenart, ein moralischer Vorzug oder ein klingendes Epitheton wurden von ihm unfehlbar wissenschaftlichen Qualitäten vorgezogen; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte die »Vergleichende Pharmacopoe‹ in Versen geschrieben. Der Artikel ›Mummia‹ war zum Beispiel schon ganz fertig, obwohl das übrige Werk bis über den Buchstaben ›A‹ nicht gediehen war. Das Ganze war äußerst umfangreich und amüsant, originell und lebendig geschrieben, exakt, gelehrt, eine literarische Abhandlung, hätte indes einem modernen praktischen Arzt wohl schwerlich als Leitfaden gedient. Mit weiblicher Einsicht und Vernunft hatte seine Frau sich denn auch hinreißen lassen, ihm unverblümt über diesen Punkt die Wahrheit zu sagen, denn selbstverständlich wurde ihr das Diktionär auf seinem endlosen Weg zur Vollendung Stufe für Stufe vorgelesen, während sie zwischen Schlafen und Wachen schwebte; ja, der Doktor war in Punkto Mumien ein wenig empfindlich, und pflegte auf Anspielungen in dieser Richtung mitunter sogar mit Heftigkeit zu reagieren.

Nach dem Mittagessen und nach Ablauf einer angemessenen Verdauungsfrist ging er, mitunter allein, mitunter mit Jean-Marie spazieren, da Madame jede andere Art von Strapaze dieser vorzog.

Sie war, wie gesagt, überaus geschäftig, unausgesetzt um ihr leibliches Wohl bemüht und stets bereit, wenn sie nichts zu tun hatte, über einem Romane einzuschlafen, was um so weniger störend wirkte, als sie niemals schnarchte oder während des Schlafes häßlich oder abgespannt aussah. Im Gegenteil, sie war das Bild üppigen, appetitlichen Behagens und pflegte, wenn sie dann plötzlich erwachte, sofort munter zu sein und alle fünf Sinne beisammen zu haben. Eigentlich war sie nicht viel mehr als ein Tier, aber ein liebes Tier, das man gern um sieh hatte. Darin hatte Sie wenig mit Jean-Marie gemein, trotzdem blieb die Sympathie, die am ersten Abend zwischen ihnen entsprungen war, ungeschwächt fortbestehen. Sie unterhielten sich auch dann und wann, meist über hauswirtschaftliche Fragen, und zogen sogar mitunter, zur bittersten Enttäuschung des Doktors, selbander in jenen Tempel entwürdigenden Aberglaubens: die Dorfkirche. Zweimal im Monat fuhren Madame und er, in ihren besten Sonntagskleidern, nach Fontainebleau, von wo sie mit Einkäufen beladen heimkehrten. Mit einem Wort, obwohl der Doktor fortfuhr, sie als zwei unversöhnlich antipathische Naturen zu betrachten, standen sie doch so freundschaftlich, intim und vertraut miteinander, wie ihre Charaktere es gestatteten.

Zwar ist zu befürchten, daß Madame in ihrem tiefsten Herzen den Jungen auf ihre gutmütige Weise verachtete und bemitleidete. Sie hatte für seine Art von Vorzügen nichts übrig; ihr gefielen die aufgeweckten, höflichen, naseweisen, schelmischen Bürschchen, die, schnellfüßig, die Mütze in der Hand, ihr ohne Schüchternheit in die Augen sahen. Sie liebte Redseligkeit, Charme, ein wenig Laster – kurz einen zweiten Doktor Desprez en miniature. Außerdem war es ihr unerschütterlicher Glaube, daß Jean-Marie dumm sei. »Armer lieber Junge,« sagte sie bei einer Gelegenheit, »wie traurig, daß er so dumm ist.« Sie wiederholte diese Bemerkung jedoch niemals, denn Dr. Desprez tobte wie ein wilder Stier, warf ihr die viehische Stumpfheit ihres Gehirns vor, bejammerte sein Los, das ihn so ungleich mit einer Eselin gepaart hatte, und drohte, was Anastasie vor allem naheging, durch feine wütenden Gestikulationen das Tafelservice zu zerschmettern. Sie hielt jedoch im Stillen an ihrer Ansicht fest, und wenn Jean-Marie in stoischer, gedankenloser Ruhe, ohne jedoch unglücklich zu sein, über seinen unvollendeten Aufgaben brütete, benutzte sie die Abwesenheit des Doktors, um zu ihm hinzugehen, die Arme um seinen Hals zu legen, ihre Wange an die seine zu lehnen und ihm ihr Mitgefühl für seine Nöte zu bezeigen. »Nimm es dir nicht zu Herzen,« pflegte sie zu sagen, »auch ich bin gar nicht klug, und du kannst mir glauben, es macht im Leben nichts aus.« Der Doktor war natürlich ganz anderer Ansicht. Dieser liebenswürdige Herr ward es nie müde, sich selbst reden zu hören, und er hatte ja in der Tat eine recht angenehme Stimme. Jetzt endlich hatte er einen Zuhörer gesunden, der nicht Anastasiens zynischen Gleichmut besaß, und der ihn überdies durch die treffendsten Einwände auf dem Qui Vive erhielt. Und galt es nicht außerdem, den Jungen zu erziehen? Darin find sich sämtliche Philosophen einig, daß die Erziehung der Jugend die philosophischste aller Pflichten ist. Und kann den armen Sterblichen etwas Himmlischeres passieren, als wenn ihr Steckenpferd sich zu einer Staatsbürgerpflicht auswächst? Dann, wahrlich, verwandeln sich die Gewohnheiten des Lebens zu Genüssen. Noch nie hatte der Doktor so sehr Ursache gehabt, mit seiner Begabung zufrieden zu sein. Die Philosophie floß ihm nur so von den Lippen. Er war ein so gewandter Dialektiker, daß er seinen Unsinn, wenn nötig, auf irgend einen sinnvollen Ursprung zurückzuführen vermochte und ihn als Blüten seines Systems verkleidete. Den Antinomien entschlüpfte er wie ein Fisch und versetzte seinen Junger in Erstaunen über des Rabbis Abgründigkeit.

Überdies war er in der tiefsten Tiefe seines Herzens enttäuscht über den Mißerfolg seines formalen Unterrichts. Ein Junge, den ein so scharfsinniger Beobachter aus Grund seiner Fähigkeiten auserlesen hatte, und dem ein so philosophischer Erzieher den Weg zur Weisheit wies, mußte nach den Gesetzen des Universums offensichtlichere und gründlichere Fortschritte machen. Nun war aber Jean-Marie in allen Dingen schwerfällig und in manchen Dingen unergründlich; und sein Talent zum Vergessen hielt mit seinem Talent zum Lernen Schritt. Daher legte der Doktor ganz besonderen Wert auf die peripatetischen Vorträge, denen der Junge beiwohnte, die ihm gewöhnlich Freude machten, und aus denen er nicht selten lernte. Viele, viele solche Unterhaltungen fanden zwischen den beiden statt, und Gesundheit und Mäßigung waren der Gegenstand von Doktor Desprez Abschweifungen. Zu ihm kehrte er immer wieder zurück.

»Ich führe dich,« pflegte er zu sagen, »durch grüne Triften. Mein System, mein Glaube, meine Medizin lassen sich in einen einzigen Satz zusammenfassen – meide den Exzeß. Natur, die göttliche, gesunde, mäßige Natur verabscheut und vernichtet den Exzeß. Die menschlichen Gesetze eisern, wenn auch in großen Abständen, darin ihren Bestimmungen nach, und an uns ist es, die Gesetze in ihren Bestrebungen zu unterstützen. Jawohl, Junge, wir müssen uns selbst und unseren Mitmenschen gegenüber das Gesetz darstellen – lex armata – das bewaffnete, gebieterische, tyrannische Gesetz. Siehst du ein gebrechliches menschliches Wesen Schnupftabak nehmen, so schlage ihm die Dose aus der Hand! Der Richter ist mir, obwohl er gleichfalls eine Konzession an das Übel darstellt, doch ein geringeres Greuel als der Arzt oder der Priester. Vor allem der Arzt – der Arzt und der ganze faule Plunder und Trödel seiner Pharinacopoea! Reine Luft – vorzüglich aus der Nähe eines Fichtenhaines, wegen des Terpentins, – unverschnittenen Wein und die Betrachtungen eines arglosen Gemütes angesichts der Werke der Natur – diese, mein Junge, sind die besten Medikamente – und die trefflichste Erbauung. Ihnen gib dich hin. Horch! Sind das nicht die Glocken von Bourron? (Der Wind steht im Norden, es wird also schönes Wetter werden). Welch klarer, luftiger Ton! Die Nerven legen sich zur Ruhe; der Geist ist auf Schweigen gestimmt. Bemerke nur, wie leicht und regelmäßig dein Herz klopft! Der unaufgeklärte Arzt würde diesen Empfindungen zwar nichts entnehmen; du selbst jedoch erkennst sie als die Zeichen der Gesundheit. – Hast du übrigens heute morgen an deine Chinarinde gedacht? Gut! Chinarinde ist gleichfalls ein Werk der Natur; es ist schließlich nur ein Teil eines Baumes, und wir könnten sie uns selbst sammeln, wenn wir in jenen Gegenden lebten. – Welch eine wunderbare Welt! Mir als überzeugtem Atheisten ist es dennoch eine Freude, für die Welt Zeugnis ablegen zu können. Denk an die Heilmittel und Genüsse, die kostenlos unsern Pfad umgeben! Am Saume unseres Gartens fließt der Fluß vorbei, unser Bad, unser Fischteich, unsere natürliche Drainageanlage. Im Hofe ist ein Brunnen, der funkelndes Wasser in Hülle und Fülle aus dem Herzen der Erde emporschickt, sauberes, kühles Wasser, das mit ein wenig Wein vermischt äußerst zuträglich ist. Der Bezirk ist als gesund berühmt; Rheumatismus ist das einzige endemische Übel, und ich selbst habe bisher nicht das geringste davon gespürt. Ich sage dir – und meine Ansicht stützt sich auf die kühlsten, klarsten Schlüsse der Logik – solltest du oder ich je diesen Ort der Freude verlassen wollen – es wäre die Pflicht, ja das Vorrecht unseres besten Freundes, uns daran zu hindern, und wenn er uns eine Kugel in die Brust schösse.«

Eines schönen Junitages saßen sie auf dem Hügel außerhalb des Dorfes. Der Fluß schimmerte, blau wie der Himmel, hier und dort zwischen den Zweigen hindurch. Die unermüdlichen Vögel kreisten und flatterten um den Gretzer Kirchturm. Vom Walde her blies ein gesunder Wind, und das Geräusch abertausender von grünen Wipfeln und Millionen und Millionen grüner Blätter schwirrte durch die Luft und füllte das Ohr mit einem Klang, der zwischen Flüstern und Singen schwankte. Es war, als wenn jeder Grashalm ein Heimchen verborgen hielte, die Felder sangen ihr lustiges Lied, klingelten weit und breit wie das Schlittengeläut der Feenkönigin. Von ihrem Platze am Bergesabhang umfaßte das Auge auf der einen Seite ein großes Stück der pappelumsäumten Ebene und auf der anderen Seite die welligen Waldhügel zwischen beiden lag Gretz, eine Handvoll Dächer. Unter dem weiten blauen Himmelsbogen war das Dorf wie zu Spielzeuggröße zusammengeschrumpft. Es fehlen kaum glaublich, daß in diesem winzigen Erdenwinkel tatsächlich Menschen hausen und Raum zum Atmen finden könnten. Dieser Gedanke kam dem Jungen vielleicht zum erstenmal, und er verlieh ihm Worte.

»Wie klein es aussieht!« seufzte er.

»Jawohl,« erwiderte der Doktor, »heute sieht es recht klein aus. Und doch war es einmal eine blühende Stadt mit Mauern, voll pelzgekleideter Bürger und waffentragender Männer, voll geschäftigen Treibens, mit hohen Türmen und festen Zinnen und was weiß ich. Tausend Schornsteine hörten beim Abendläuten zu rauchen auf. Vor den Toren standen die Galgen so dicht wie Vogelscheuchen. In Kriegszeiten rannten die Stürmenden mit Leitern gegen die Wälle an, die Pfeile schwirrten dicht wie Blätter, die Verteidiger machten stürmische Ausfälle über die Zugbrücke hinaus, jede Partei ließ während des Ringens ihren Kampfruf erschallen. Weißt du, daß die Wälle sich bis zu der Commanderie erstreckten? Die Sage will es. Ach, wie fern liegt dies Getümmel heute – nichts ist davon übrig geblieben, die paar stillen Worte ausgenommen, die ich dir jetzt sage – und die Stadt selbst ist zu jenem Dörfchen zu unseren Füßen zusammengeschrumpft. Dann kamen die englischen Kriege – von den Engländern wirst du später noch mehr erfahren, ein dummes Volk, das indes mitunter trotz aller Tolpatschigkeit einiges Gute geschaffen hat – und Gretz wurde erobert, geplündert und gebrandschatzt. Das ist so die Geschichte vieler Städte, aber Gretz hat sich niemals davon erholt. Es wurde nicht wieder aufgebaut; seine Ruinen dienten aufstrebenden rivalisierenden Städten als Steinbruch; die Steine von Gretz stehen jetzt aufrecht entlang den Straßen von Nemours. Es freut mich, daß unser altes Haus als erstes aus dem Staub aufblühte; nach dem Fall der Stadt wurde es der Grundstein zu dem Dorfe.«

»Ich bin auch froh darüber,« sagte Jean-Marie.

»Es müßte zum Tempel aller schlichten Tugenden werden,« entgegnete der Doktor mit feinschmeckerischem Behagen. »Vielleicht liebe ich den kleinen Ort nur darum so, weil er die gleiche Geschichte hat wie ich. Habe ich dir schon erzählt, daß ich früher einmal reich war?«

»Ich glaube, nein,« antwortete Jean-Marie. »Ich glaube, das hätte ich nicht vergessen. Es tut mir leid, daß Sie Ihr Vermögen verloren haben.«

»Leid?« rief der Doktor. »Ich sehe, daß ich trotz allem nicht einmal die Anfangsgründe zu deiner Erziehung gelegt habe. Achte auf das, was ich sage. Würdest du lieber in dem alten Gretz oder in dem neuen wohnen, ohne die Schrecken des Krieges, umgeben von grünen Wiesen, ohne Lärm und Pässe, ohne die Erhebungen der Soldateska und das Gebimmel der Abendglocken, die uns schon bei Sonnenuntergang ins Bett schicken würden?«

»Wahrscheinlich lieber in dem neuen,« war des Jungen Antwort.

»Sehr richtig,« entgegnete der Doktor, »ich auch. Und ebenso ziehe ich mein bescheidenes Vermögen von heute meinem früheren Reichtum vor. Goldene Mittelmäßigkeit! riefen die bewunderungswürdigen Alten; und ich teile ihre Begeisterung. Habe ich nicht guten Wein, gutes Essen, gute Luft, Wald und Feld zum Spazierengehen, ein Haus, eine ausgezeichnete Frau und einen Jungen, den ich buchstäblich wie einen Sohn liebe? Wäre ich indes noch reich, so würde ich meinen Wohnort ganz zweifellos in Paris aufschlagen – du kennst natürlich Paris – Paris und Paradies sind nicht ein und dasselbe Wort. Das angenehme Geräusch des Windes in den Zweigen verwandelt in das geisttötende babylonische Stimmengewirr der Straße, ödes grelles Pflaster anstelle dieses ruhigen Musters in Grün und Grau, kaputte Nerven, gestörte Verdauung – welch ein Sturz! Du siehst bereits die Konsequenzen; der Geist wird aufgepeitscht, das Herz klopft nach einem anderen Rhythmus, der Mensch hört auf, er selbst zu sein. Ich habe mich selbst mit Hingebung studiert – das ist das wahre Studium des Philosophen. Ich kenne meinen Charakter wie der Musiker die Griffe auf seiner Flöte. Sollte ich nach Paris zurückkehren, ich würde mich durch das Spiel ruinieren; mehr noch – meiner Anastasie durch meine Untreue das Herz brechen.«

Das war für Jean-Marie zuviel. Daß irgendein Ort den trefflichsten aller Männer derart zu verwandeln vermöchte, überstieg selbst seine Gläubigkeit. Paris, meinte er, sei sogar eine recht angenehme Stadt. »Und als ich dort wohnte, habe ich keinen großen Unterschied gefühlt,« meinte er beschwörend.

»Was?« rief der Doktor. »Hast du nicht gestohlen, während du dort warst?«

Allein der Junge war nicht zu bewegen, einzugestehen, daß er mit Stehlen Unrecht getan hatte. Noch war, in der Tat, der Doktor davon überzeugt; aber dieser Herr pflegte ja, wenn um eine Antwort verlegen, zu keiner Zeit sonderlich gewissenhaft zu sein.

»Und,« fuhr er fort, »fängst du jetzt an, zu begreifen? Meine einzigen Freunde waren die, die mich ruinierten. Gretz ist meine Akademie, mein Sanatorium, mein Himmel unschuldiger Freuden gewesen. Und wenn mir Millionen geboten würden, ich würde sie zurückweisen: Apage, Satanas! Hebe dich hinweg von mir, Böser! Betrachte eingehendst mein Beispiel; verachte den Reichtum, vermeide den demoralisierenden Einfluß der Städte. Hygiene, Hygiene, und ein mittelmäßiges Vermögen – dies sei deine Parole des Lebens!«

Des Doktors System von Hygiene entsprach in überraschender Weise seinen Neigungen; und sein Bild eines vollkommenen Lebens war ein getreues Abbild des Lebens, das er zur Zeit führte. Es ist indes leicht, einen Knaben zu überzeugen, den man selbst mit allem notwendigen Tatsachenmaterial für die Diskussion versieht. Überdies hatte seine Philosophie einen Vorzug, und das war die Begeisterung des Philosophen. Niemals gab es jemanden mit einem festeren Vorsatz, froh und zufrieden zu sein, und verfügte er auch über keine starke Logik und somit auch nicht über das Recht, den Intellekt zu überzeugen, so war er doch zweifellos etwas von einem Dichter, mit dem Zauber, Herzen zu verführen. Was er nicht in der bei ihm üblichen Stimmung strahlender Bewunderung seiner selbst und seiner Lebensumstände zu erreichen vermochte, bewirkte er mitunter in seinen Anfällen von Trübsinn.

»Junge,« pflegte er dann zu sagen, »geh mir heute aus dem Wege. Wäre ich abergläubisch, ich bäte dich sogar um einen Anteil an deinen Gebeten. Ich bin in meiner schwarzen Stimmung; der böse Geist König Sauls, die Vettel des Kaufmanns Abudah, der persönliche Teufel des mittelalterlichen Mönchs weilt bei mir, – in mir,« sich auf die Brust schlagend. »Die Laster meines Wesens haben jetzt die Oberhand; unschuldige Freuden locken mich vergebens; ich sehne mich nach Paris, danach, mich im Kote zu suhlen. Sieh,« fuhr er dann fort und holte eine Handvoll Silbermünzen hervor, »ich entblöße mich selbst, man darf mir nicht einmal das Reisegeld anvertrauen. Nimm es, hebe es für mich auf, verschwende es an entartete Bonbons, wirf es in den tiefsten Teil des Flusses – ich werde deiner Handlungsweise beistimmen. Rette mich von dem Teil meines Ichs, den ich nicht anerkenne. Siehst du mich straucheln, so zaudere nicht; wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen! Ich spreche natürlich in Parabeln. Jedes Unglück wäre besser, als daß ich lebend Paris erreiche.«

Zweifellos genoß der Doktor diese kleinen Szenen, da sie eine Variante seiner Rolle bildeten; sie stellten das Byronsche Element in der etwas künstlichen Poesie seines Daseins dar; dem Jungen indes waren sie, obwohl auch er unklar das Theatralische dabei empfand, mehr. Der Doktor machte sich vielleicht zu wenig, der Junge indes zu viel aus der Realität und Bedeutung dieser Versuchungen.

Eines Tages kam Jean-Marie eine große Erleuchtung. »Läßt sich Reichtum nicht auch gut anwenden?« fragte er.

»Der Theorie nach schon,« entgegnete der Doktor, »aber die Erfahrung lehrt, daß niemand das wirklich tut. Ein jeder denkt, er wird eine Ausnahme sein, wenn er erst reich geworden ist; allein der Besitz wirkt erniedrigend, neue Begierden keimen, und der alberne Hang zur Prahlerei zehrt die Seele des Genusses auf.«

»Dann wären Sie also auch besser dran, wenn Sie weniger hätten,« sagte der Junge.

»Durchaus nicht«, versetzte der Doktor; aber seine Stimme zitterte dabei.

»Warum nicht?« fragte die erbarmungslose Unschuld. Doktor Desprez sah im Augenblick sämtliche Farben des Regenbogens vor sich; das stabile Weltall um ihn her schien zusammenstürzen zu wollen. »Weil,« sagte er, und gab sich nach einer merklichen Pause den Anschein der Überlegung, »weil ich mein Leben nach meinem gegenwärtigen Einkommen eingerichtet habe. Es ist für Männer meines Alters nicht gut, gewaltsam aus ihren Gewohnheiten gerissen zu werden.«

Die Sache war heikel gewesen. Der Doktor atmete schwer und verfiel den Nachmittag über in Schweigen. Was den Jungen betraf, so war er entzückt über die Lösung seiner Zweifel; ja, er wunderte sich sogar, daß er die naheliegende und bündige Antwort nicht vorausgesehen hatte. Sein Glaube an den Doktor war eine solide Sache. Desprez pflegte nach Tisch, besonders nach Rhoner Wein, seinem Lieblingslaster, einige Ähnlichkeit mit einer Wetterfahne zu besitzen. Er verweilte dann bei der Wärme seiner Gefühle für Anastasie, debattierte, mit brennenden Wangen und einem lockeren, unsicheren Lächeln über alle möglichen Dinge und versuchte, auf eine schwache und indiskrete Weise witzig zu sein. Allein der adoptierte Stalljunge gestattete sich nie einen Zweifel, der nach Undankbarkeit hätte schmecken können. Ein Mann kann sehr wohl wie ein zweiter Vater sein und dennoch gern etwas über den Durst trinken; doch das sind Wahrheiten, die von den besten Naturen stets zuletzt akzeptiert werden.

Der Doktor herrschte unumschränkt über sein Herz, wenn er auch seinen Einfluß auf Jean-Maries Geist vielleicht überschätzte. Zwar machte sich dieser zweifellos einige der Ansichten seines Herrn zu eigen, aber niemand hat je erfahren, daß er eine seiner eigenen aufgegeben hätte. Überzeugungen lebten in ihm, wie Gott sie ihm eingegeben hatte; sie waren jungfräulich, ungeschliffen, rohes Metall. Er konnte zwar neue hinzufügen, nicht aber welche hinwegnehmen; auch war es ihm gleichgültig, ob sie sich untereinander vertrugen, und seine geistigen Freuden bestanden keineswegs darin, an ihnen Kritik zu üben oder sie mit Worten zu rechtfertigen. Worte waren für ihn nichts als eine Kunst, wie zum Beispiel das Tanzen. Wenn er allein war, waren seine Freuden fast vegetabilisch. Er pflegte in die Wälder bei Achères zu entschlüpfen und am Eingang einer Höhle unter grauen Birken zu sitzen. Seine Seele starrte ihm geradewegs aus den Augen; er rührte sich weder, noch faßte er einen Gedanken; Sonnenlicht, schlanke, schwankende Schatten im Wind, die Umrisse der Tannen gegen den Himmel abgezeichnet, erfüllten und bannten seine Sinne. Er war eine vollkommene Einheit, ein völlig losgelöster Geist. Eine einzige Stimmung nahm ihn ganz gefangen, zu der alle durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge beitrugen, wie die Farben des Spektrums alle in Weiß zusammenfließen und verschwinden.

Also versank, während der Doktor sich an Worten berauschte, der angenommene Stalljunge in Sinnen und Schweigen.


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