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Dritter Teil. Florian Geyer marschiert

Die deutsche Passion war noch nicht zu Ende, als die Osterprimeln ihre goldnen Köpfe durch das Altlaub steckten und als die heimkehrenden Vogelschwärme in der kahlen Esche am Kniephagener Weg ihren Frühlingssang anhoben. Das Land litt unter den scharfzahnigen Eisnächten und das Wachstum der Saaten wollte nicht eintreten. Auch das deutsche Volk ging trotz Osterpalmen und Auferstehungslied noch immer unter seiner großen Passion.

Die Menschen trugen schwer daran und die Freude an den Tagen des wachsenden Lichts wollte nicht kommen. Marianne Cedergren verließ in diesen Tagen die Heimat ihres Mannes und der Kinder; die zarte Linie ihrer abfallenden Schultern, auf denen sie ihr schönes stolzes Haupt trug, war eckig geworden und wie verbogen unter einer großen Last. Man erzählte, der Zwangsverwalter von St. Jürgenshof, ein kaltäugiger Mann, habe ihr den Wagen zur Bahn verweigert. Aber das war nicht richtig. Nur Ackerpferde hatte er ihr zur Verfügung gestellt.

Und noch mehr Menschen gingen unter der großen Passion. Das waren nicht nur die Herren von Rosenau, Plessow und anderen Herrensitzen, sondern die vielen Männer und Frauen, deren Höfe von dem allgemeinen Verfall bedroht waren. Denn nachdem die Steuerbehörden lange gezögert hatten, auf die Steuerverweigerung mit harten Maßnahmen zu antworten, folgten jetzt die abgestempelten Drohbriefe wie ein Schlag dem andern. Es war, als hätte der Geist dieser Welt sich just die Karwoche ausgesucht, um die Menschen zu beunruhigen und zu quälen. Aber wenn der leitende Mann sagte, man habe nun lange genug gewartet und müsse endlich den Griff in den Nacken der Säumigen tun, so konnte man ihm, der sein Zöllnergewissen mit solchen Reden beschwichtigen wollte, nicht einmal Unrecht geben. Es gab viele in der großen Passion des deutschen Volks, die den Bösewichtern Handreichung leisteten und mit Schlagen und Schelten auf ihre Volksgenossen eindrangen.

Aber an dieser deutschen Passion trugen auch Menschen, denen es gegeben war, unter einem Druck zu erstarken und im bitteren Kampf die Süße des Siegs zu schmecken. Zu diesen gehörte Prätorius und ihm wurde die Zeit nicht nur für sein Selbst zum Gewinn, sondern er verstand auch, den andern davon mitzuteilen. Seine aufflammende Freude verriet immer den Bürger zweier Welten, der einen, der man entstammt, und der anderen, in der man als Besucher weilt. Und dieser Glanz eines Wesens litt auch nicht unter Widrigkeiten. Er versah, da Asmus noch immer krank war, zwei große Kirchspiele, die seine Kraft auf eine harte Probe stellten und deren entlegene Ortschaften seine Zeit verzettelten. So war er bald hier, bald dort und nirgends mit Sicherheit anzutreffen. Trotzdem war sein Geist bald überall da merkbar, wo es nottat.

Und was das Wunderbare war: die leeren Kirchen füllten sich, wenn er auf der Kanzel stand. Es beschränkte sich nicht darauf, daß er zu den Leuten kam, sondern die Leute kamen zu ihm. Das machte, er hatte immer etwas von Hoffnung und Liebe bereit und er wußte den Ton zu treffen, der in dieser Passionszeit eines Volkes der rechte war.

So stand er denn, als der Ostertag da war, auf seinem Platz in der Kirche zu Wendisch-Bukow und seine Worte fielen auf ein gedrängt harrendes Volk: »Deutsches Bauerntum ist oft den Todesweg gegangen. Man glaubte oft, nun sei es aus mit ihm, aber immer fand es seinen Auferstehungstag. Und der Grund dafür? Bauerntum ist wie die Erdkrume: man kann sie zerreiben und zerschlagen, aber ihr die Kraft nehmen, die das göttliche Samenkorn zum Keimen bringt, das kann man nicht.«

Auferstehung? Gab es das noch? Gab es das wirklich noch? Seit wieviel Jahren war eigentlich das Verderben losgelassen auf das Volk? Waren es achtzehn Jahre oder war es eine Ewigkeit? Nein, diese Spanne zwischen einst und jetzt war mit zeitlichem Maß nicht zu erfassen. Erst Volk wider Volk in grauenhaftem Ringen und Abtöten blühenden Lebens mit unerhörten Mitteln; dann Stand wider Stand, ein langsames Erwürgen. Und endlich Partei wider Partei, der Totschlag des Wahnsinns, der Besessenheit. Es war ein Leben voller Schrecken und Ängste, in dem eine Kluft nach der andern aufsprang, mochte man eben eine auszufüllen begonnen haben. Und dies alles sollte enden? Der Unfriede in Frieden, der Tod in Auferstehen? Was wußte der junge Mann davon, der dort oben auf der Kanzel stand! Aber wenn man ihn ansah, so verstummte der Zweifel. Es war etwas in ihm, das überzeugte und bezwang. Es war etwas in ihm, das nicht nur Wort wurde, und als er seine Rede mit dem alten Karfreitagslied schloß, da ging durch die Menschen leise der Osterglaube:

»Lehr, Wald mich scheiden aus der Welt,
Froh wie im Herbst dein Laub abfällt.
Ein schön'rer Lenz wird tagen.
Dann wird mein Baum in frischem Grün
Und ew'gem Sommer fröhlich blüh'n
Und tiefe Wurzeln schlagen.

Als Prätorius als letzter die Kirche verließ und den besonnten Friedhof betrat, sah er einen Teil der Gemeinde noch an der Kirchhofsmauer stehen. Die Leute scharten sich um einen sauberen Wohnwagen, der in hellen, aber nicht marktschreierischen Buchstaben die Aufschrift »Evangeliumswagen« trug. Der Wagen war auf das dreieckige Stück Kirchenland gefahren, das außerhalb der granitnen Mauer lag. Ein Mann, dessen Aussehen an das eines Quäkers erinnerte, kam den Mittelweg herauf auf Prätorius zu. Er zog den Hut, nannte seinen Namen, erklärte die Ankunft und bat den Pfarrer, den Wagen einstweilen hier aufstellen zu dürfen. »Eigentlich habe ich hier nichts zu erlauben, Herr Rohde«, entgegnete Prätorius. »Ich bin nämlich hier sozusagen nur ein Aushelfer. Aber lassen Sie Ihren Wagen ruhig dort stehen, es wird niemand daran Anstoß nehmen.« Und er fragte den Fremden teilnehmend nach dem Verlauf seiner Reise.

Darin freilich irrte Prätorius, daß niemand an dem Standort der fahrbaren Wohnung Rohdes Anstoß nehmen würde. Denn kaum hatte er, nachdem er den Talar abgelegt, dem kranken Asmus davon erzählt, als dieser mit allen Kräften sich dagegen auflehnte und seinen jungen Amtsbruder mir dem Vorwurf bedachte, Dinge erlaubt zu haben, die ihn nichts angingen. So kam unsauberes Wasser in den Wein seiner Osterpredigt. Ihm blieb nur übrig, zu dem Besitzer des Evangeliumwagens zu gehen und ihn zu bitten, er möge um des Friedens willen den Platz neben der Kirchhofmauer räumen. Rohde lächelte, er kannte den Widerspruchsgeist gewisser Pastoren gegen seine Arbeit. Er versprach, den Umzug bald zu bewerkstelligen, und damit nur ja kein Ärgernis werde, ließ Prätorius die beiden Braunen, die vor seinem auf ihn wartenden Wagen gespannt waren, vor den Wohnwagen legen und diesen nach dem Gemeindeplatz fahren.

*

Schließlich ist es eine Vogelschwinge, die die Schneeflocke in Bewegung setzt, die zur Lawine anwächst, und es ist die Umlagerung eines Sandkorns endlich der letzte Grund, daß ein Berg ins Gleiten gerät. Eine so winzige Ursache war es, die die Spannung im Hause Johannes Dykes zur Entzündung brachte.

Die Tochter der Posthalterin Marie Rauchfuß fühlte sich am Mittwoch nach Ostern nicht wohl, und so geschah es, daß die Posthalterin den kleinen Nachbarsjungen rief und ihn beauftragte, die für Wendisch-Bukow eingegangenen Briefe und Zeitungen auszutragen. Der Junge, der sich auf den kleinen Nebenverdienst freute, war bald zur Hand und trabte mir seinem gefüllten Schulranzen davon. Er wußte wohl um die besonderen Wünsche der Empfänger von früheren Gängen her. Doch die Bestellung bei Dykes versah er nicht auftragsgemäß. Anstatt nämlich die Posteingänge auf den kleinen Tisch im Hausflur zu legen, ging er im Gefühl seiner Würde in die Stube zur rechten Hand, grüßte den Bauer mit lautem Guten Morgen und händigte ihm die Zeitung aus. Das Ungewöhnliche veranlaßte Dyke, die feste Ordnung seines Tages zu ändern. Er zog das Blatt, das ihm sonst immer erst am Abend vorgelesen wurde, näher an sich heran und begann die erste Seite mit den amtlichen Verfügungen zu studieren. Es war das Blatt, in dem säumige Steuerzahler vom Amt aufgefordert wurden, bis zu einem nahen Termin zu zahlen, wenn sie sich nicht der Pfändung aussetzen wollten. Dann folgte eine Liste der Namen derer, die ihren Zeitpunkt hatten verstreichen lassen und auf deren Höfen die Zwangsversteigerung angesetzt war.

Seine Stirn legte sich in Falten: diese Reihe von Namen! Es war das richtige Strafgericht. Nun ja, solche Aufzählung kam zustande durch den allgemeinen Beschluß, keine Steuer zu zahlen. Hermann hatte ihm davon gesagt. Gottlob, daß es ihn nicht anging. Ein öffentliches An-den-Pranger-stellen würde er nicht ertragen. Sogar der alte Henneke in Ükershof war dabei.

Plötzlich weiteten sich seine Augen, das war doch er! Da stand doch gedruckt: Johannes Dyke in Wendisch-Bukow! Ihm wurde ganz dunkel vor den Augen. Er wischte mit dem Handrücken einige Male darüber hin. Dann sah er es wieder, zweimal, dreimal. Es half ihm nichts, was da schwarz auf weiß stand, das blieb stehen; und das besagte, daß am Sonnabend auf seinem Hof eine Zwangsversteigerung zur Beitreibung der fälligen Einkommensteuer stattfinden werde. Ein Irrtum, ein Druckfehler! Aber Johannes Dyke sagte sich, daß dieser billige Einwand nicht zutreffe, daß es schon seine Richtigkeit damit habe. Dann also blieb nur übrig, daß man ihn hintergangen habe, planmäßig hintergangen. Während man ihm vorlog, alles sei gut, hatte man seinen ehrenhaften Namen dem Amt preisgegeben, daß dieses ihn an das Schandmal hefte. Der Mann stöhnte auf und bedeckte gleich erschrocken seinen Mund, damit keiner seinen Verzweiflungsausbruch höre. Wie lange er so verharrte, wußte er nicht, plötzlich sah er Hermann über den Hof gehen. Er klopfte gegen die Scheibe und winkte ihm zu kommen.

Der Sohn trat ein. »wir haben ein krankes Schwein, Vater. Die Schwarzbunte, sie frißt seit gestern nicht.« Dyke winkte ab und wies auf die Zeitung, die zur Erde gefallen war. Jetzt erst blickte Hermann ihn genau an. Die fahle Gesichtsfarbe, die aufgelöste Haltung und das Blatt sagten ihm alles: irgend etwas war herausgekommen. Er hob die Kreiszeitung auf und legte sie vom Vater entfernt auf den Tisch. »Lies doch, lies.« Der Sohn nahm das Blatt und las. Es war die übliche Hinrichtungsliste. Zu dumm, daß gerade sie dem Vater in die Hand kam. Aber im Grunde fühlte er etwas wie Erleichterung. Es mußte der Tag kommen, der alles offenbar machte; wenn schon heute, dann nur zu!

»Ja, Vater, das ist nun einmal so gekommen und wir können nicht verlangen, daß wir eine Ausnahme bilden, wo der ganze Bauernstand leidet. Sei nur ganz ruhig, davon sterben wir noch lange nicht, und man würde es uns nur verdenken, wenn wir günstig daständen.« Dyke griff an seinen Hals, als würge ihn der Kragen: »So also steht's! Antworte mir, so also ist es um uns bestellt?« Der Sohn schwieg, die Stimme war ihm völlig verschlagen. Dyke aber fühlte den Willen in sich, alle Hüllen herunterzuzerren und die Wahrheit zu schauen. »Antworte mir jetzt: sind wir am Ende, geht uns auch der Atem aus wie allen diesen, in die wir eingereiht sind?«

Hermann riß sich zusammen: »Sei doch nur ruhig, Vater, reg dich um Gotteswillen nicht so auf. Was heißt denn heute am Ende sein und den Atem verlieren? Wir sind natürlich alle im Argen, aber das liegt in der Zeit und mit ihr ...«

Dyke fühlte: Hinter diesen Worten stand alles das, was er heimlich geahnt und uneingestanden gefürchtet hatte. Die ganze Qual seines gelähmten Zustandes, dieses Ausgesondertsein, diese Wolfsbisse einsamer Stunden, alles brach plötzlich wie eine schwärende Wunde in ihm auf, und er konnte nicht anders, diese giftigen Gedanken mußte er ausschütten. »So, so, nun, da ich hineingetreten bin, könnt ihr den Unrat vor mir nicht länger verbergen. Aber bisher ... Ich habe es ja lange gefühlt, daß ich wie ein Pestkranker ausgewiesen bin. Ich zähle ja nicht mehr mit, mein Rat gilt euch nichts. Ich bin der Überfällige, ich bin eine Last an eurem Hals.« Dyke wußte: jedes seiner Worte traf den Jungen wie ein Hieb, aber er konnte nicht anders. Diese dumpfe Atmosphäre, in der ihn das Ersticken bedrohte, mußte gewaltsam zum Weichen gebracht werden. Er blickte auf, als das Türschloß leise einschnappte. Da sah er, daß Hermann das Zimmer verlassen hatte.

Der Junge ging durch die Küche. Die Mutter, die am Herde stand, sah ihn bedeutsam an; sie hatte offenbar etwas gehört. Er strich an ihr vorüber: »Komm in die Scheune, Mutter!« Als er in den Hof trat, sah er Lotte auf sich zukommen. Er nahm auch sie mit. Als sie die Tenne betreten hatten, schloß er die Tür hinter der Mutter. Die sah bekümmert in sein verstörtes Gesicht. »Ja, Mutter, nun hat all unsre Kunst doch nichts genützt. Vater weiß nun alles.« Und er berichtete, was er soeben erlebt hatte. Die Frauen schwiegen, jede dachte an den unglücklichen Mann in der vorderen Stube, der jetzt aufs tiefste geschlagen war. Jede fühlte sich von Mitleid bewegt, aber keine wagte es, zu ihm zu gehen und es ihm kund zu tun. Das Mädchen sprach: »Ich habe es kommen sehen. Nun, vielleicht ist es gut, daß es nicht später eintraf.«

Auf der dämmrigen Tenne war es beängstigend still; sie hörten die Mäuse im Stroh rascheln. Jeder von den Dreien sann angestrengt nach, welchen Vorschlag er machen könne; aber was war hier zu tun! Die Täuschung länger aufrechthalten wollte niemand, und doch wagte keiner einzugestehen, daß er so lange die Maske vor dem Gesicht getragen hatte. Und wie es oft geschieht, wenn Menschen ihre Schuld nicht eingestehen mögen, so war es auch hier: man suchte nach einem Schuldigen. Hermann erklärte, der Junge, der die Zeitung ausgetragen, sei ein Dummkopf; man könne den Vater nimmer unbeaufsichtigt lassen. Aber nun hatte die Bäuerin sich gesammelt. Ihr mutiger Sinn, der sie durch alle Ängste der letzten Monate begleitet hatte, hob nun wieder das Haupt. »Was nützt es, dem Jungen Vorwürfe zu machen, Hermann, ich weiß von meiner Mutter: solche kleinen Vorkommnisse fallen nicht von selbst, dahinter steht Gottes Wille. Aber wenn ihr schon einen Sündenbock haben wollt, dann sucht ihn in euren eigenen Reihen.« Das, was die helläugige Frau in wachen Nachtstunden überdacht hatte, das sprang ihr jetzt von den Lippen. Die fliegende Röte stieg ihr bis in die Stirn und ihre Augen glänzten. Die kleine Scheunentür sprang auf und in dem einfallenden Licht sahen die beiden Jungen die Mutter, wie der Zorn in ihrem Gesicht blitzblank funkelte. »Ja, ihr seid schuld, ihr, die ihr noch den Pflug führt. Wenn ihr das Erbe der Alten und von Krankheit Geschlagenen antreten wollt, so zeigt euch auch wenigstens, wie jene es waren. Aber ihr redet und redet und faßt Beschlüsse und darin bleibt ihr auf halbem Weg stecken. Wo sind denn eure Taten? Wann führt ihr eure Ratschläge aus? Nirgends und nimmermehr. Warum haben wir das Unglück mit dem Krieg gehabt; warum hat man gewagt, unser erspartes Geld einfach zu entwerten; warum regieren Narren und Leute, von denen man nur Schlechtes kennt? Weil ihr euch alles bieten laßt, weil ihr redet und nicht handelt. Wir, deren Blut aus unserer Scholle gesogen ist, wir hätten längst Schluß gemacht und von neuem angefangen. Aber so ...« Die Frau, die sonst so gelassen war und an der jetzt jedes Äderchen sprühte, machte eine verächtliche Gebärde. In dieser Stunde zeigte sich der verborgene Adel ihres Blutes. Es schien, als wolle sie den Saum ihres Kleiderrocks aufraffen, aber sie ging nur in einer unnachahmlichen Haltung aus der Scheune. Der Sohn und die Schwiegertochter blickten ihr nach, als sei sie ein fremdes Wesen. So hatten sie die Mutter nie gesehen.

Nun sie sich heiß geredet hatte, fühlte sie ihren Mut wieder wachsen, und wie jemand, der das Wunder in der Wüste sah, entschlossen weiterwandert, so war sie bereit, ihren Weg bis zu Ende zu gehen. Sie durchschritt die Küche und den Hausflur; an der Stubentür zögerte sie einen Augenblick, dann legte sich ihre Hand auf die Klinke und sie trat ein. Noch nie in ihrem Leben war die Frau mit einem Geständnis vor jemand getreten. Jetzt, da sie auf der Schwelle stand, fühlte sie doch ein leises Beben ihrer Knie. Der Mann saß mit abgewandtem Gesicht an seinem Fenster, es schien, als folge sein Auge einem Vorgang auf dem Hof. Nicht um einer Linie Breite wandte er sich ihr zu. »Johannes!« Es klang bittend, aber auch die innere Festigkeit klang mit. Dyke rührte sich nicht. »Johannes.« Es kam dringlicher an sein Ohr, aber er rührte sich nicht. Was wollte sie eigentlich? Er konnte ihre Worte nicht wissen, die sie nun gebrauchen würde, aber der Sinn ihrer Rede war ihm offenbar. Er zögerte, weil er seine Entgegnung noch nicht bereit hatte.

Doch bevor sie ihn ein drittes Mal anrief, wandte er ihr sein Gesicht zu. Sie sah, daß seine Augen feucht waren. Da brach der neu errungene Stolz in ihr zusammen. Die Frau, die sich jeder Gefühlsäußerung längst begeben hatte, lag plötzlich neben seinem Stuhl auf den Knien. Kein Wort sagte sie, nur den Druck ihrer Hand fühlte Dyke. »Also doch, also doch! Ja, was soll ich nun glauben?« Die Frau erwiderte: »Du weißt es, Johannes, dein Herz sagt es dir sicher, warum ich es tat.« »Als ich dich fragte, Grete, welches der Weg sei, den du gingst, und du ihn mir nanntest, da glaubte ich dir auch, und doch war es Lüge.« Die Bäuerin schüttelte langsam den Kopf: »Nein, Johannes, du glaubtest mir nicht; dein Zweifel war genau so stark wie vorher. Und gelogen habe ich auch nicht, und wenn Menschen es so nennen, vor Gott fühle ich mich rein von Schuld. Denn was ich tat, geschah aus Liebe.«

Die fliegende Röte huschte wieder über ihr Gesicht; die reife Frau, die vor ihrem Mann das Wort Liebe nie gebraucht hatte, sah plötzlich jung wie ein Mädchen aus. Und Johannes Dyke blickte überrascht auf sie nieder. Er hatte es ja gewußt, aber daß seine Grete es ihm bestätigte, das gehörte zu den schönsten Erfahrungen in seinem krüppelhaften Dasein.

Sie hörten das Klopfen an der Tür nicht, sie wurden des Eintretenden erst gewahr, als die Klinke hinter ihm einschnappte. Da blickte Dyke auf und erkannte Rohde, den er seit langem erwartete. Der Menschenkundige erkannte sofort, daß eine Lösung alter Hemmung hier vor sich gegangen war. Und seine Einfügung in das menschliche Wesen ließ ihn erraten, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen dem Heute und jenem Bekenntnis, das Dyke ihm bei seinem letzten Besuch gemacht hatte. »Grüß Gott, und so er will, komme ich grade zur rechten Stunde. Zwar hat mich die Verzögerung meiner Reise hierher schon beunruhigt, denn Kranke sind selten geduldig. Nun aber sehe ich wohl, wie töricht mein Drängen war. Denn Gottes Zeit ist allewege.« Und ohne sich mit weiteren Erklärungen aufzuhalten, begann er sofort eine Ruhebank für den Kranken herzurichten und diesen mit Strichen und Streicheln seiner Hand zu behandeln. Und sein Tun fand bei Dyke ein zuträgliches Aufgeschlossensein.

*

Niemand, am wenigsten die Bäuerin, hätte geglaubt, daß die Frucht dieser freudigen Stunde auf Dykes Hof neben dem süßen Kern der allgemeinen Entspannung noch einen zweiten bergen konnte, der gallenbitter war, und der auf eigene Weise dazu bestimmt war, das Schicksal der Dykes mit dem Notstand der Bauernschaft zu verflechten.

Am letzten Tag der Osterwoche wanderte Hermann Dyke nach Bukow. Er hatte in der Stadt wohl allerlei zu schlichten, aber was ihn eigentlich dahin trieb, das war der Gang aufs Amt. Daß eine Versteigerung auf seines Vaters Hof angesetzt war und daß diese Ankündigung gleich im Kreisblatt veröffentlicht war, wurmte ihn mächtig. Als er das letztemal in Steuersachen auf dem Amt gewesen war, hatte ihn der freundliche Beamte versichert, er dürfe wegen seiner Angelegenheit unbekümmert sein. Da wäre eine Menge von Schuldnern, die vor ihm heran kämen, und nun diese heimtückische Art! Und gleich diese Bekanntmachung! Nein, man erkannte es klar. Diese Beamten, mochten sie auch noch so leutselig reden, waren doch nicht vertrauenswürdig. Aber dies alles, was des jungen Bauern Inneres verstört hatte, das war letzten Endes nicht, das ihn auf das Amt trieb. In seiner Seele saß wie eine Angel mit sechsfachem Widerhaken die Rede der Mutter, die ihm diese auf der Tenne gehalten hatte. Zwar, es war ja nun alles gut geworden, aber es zog und zerrte an seiner Wunde wie schwärendes Gift. Ärgerlich war es, daß diese Worte ihm in Gegenwart seiner Braut zugeschleudert waren; die Lotte hatte ihn so eigenartig mitleidig angesehen, und Mitleid vertrug er schlecht. Aber auch ohne das fühlte er sich in seiner Mannesehre gekränkt. Die Wahrheit in den Worten der Mutter ließ ihm keine Ruhe. Immer aufs neue fuhr sie wie bissige Hunde auf ihn los: Ihr redet und ratet, aber zur Tat fehlt's euch. Und es war richtig. Howe und Wittmüs und der alte Henneke gaben sich redlich Mühe, die Sache des Landvolks zu verfechten. Aber eine wirkliche Besserung war nicht erreicht. Da waren die friesischen Bauern andere Kerle. Die griffen zu und gingen aufs Ganze.

Die Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum, sie machten, daß er rot vor den Augen sah. Er war es zufrieden, daß er in Wobeser den jungen Appelmann traf, neben dem er ein paar Jahre auf der Schulbank gesessen hatte. Die jungen Leute sprachen zuerst von der nahen Bestellzeit. Die Frühjahrsbestellung des Ackers würde bald einsetzen. Wenn nur die Eisnächte aufhören möchten! Dann fragte Hermann nach dem Ergehen des alten Appelmann, und der Sohn schloß an seine Antwort den Satz »Nun, im übrigen könnt ihr euch von seinem Befinden alle Tage überzeugen, denn er steht noch immer am Zaun und sieht nach Wobeser hinüber.« Der Junge lachte dabei auf eine Art, die Hermann als Spott deutete. Und da er trotz aller Zeitströmungen auf seine Eltern mit Ehrfurcht blickte, so begriff er diesen Ton des jungen Appelmann nicht. Er wußte aber, daß dieser mir der gleichen Inbrunst an seinem Land hing wie sein Vater und entschuldigte ihn vor sich. Nach einer Weile stellte es sich heraus, daß Appelmann wie Hermann auf das Amt wollte, und da sie zur gleichen Abteilung gehörten, so beschlossen sie, gemeinsam die Schreibstube aufzusuchen.

Der blasse stille Mensch, den Hermann als den Freundlichen erkannte, hatte an diesem Tage ernstlichen Verdruß gehabt. Als ihm der junge Dyke gemeldet wurde, war er soeben von seinem Vorgesetzten gekommen, der ihn wegen einer geringen Unachtsamkeit hart angelassen, ja, ihm Bestrafung angedroht hatte. Diese Rüge hatte in dem Mann das Oberste zu Unterst gekehrt. Er war überarbeitet, da Arbeit sich häufte und die Zahl der Beamten andauernd verringert wurde. Noch schlimmer aber war der Ansturm auf das Amt seit den Erlassen gegen die säumigen Zahler. Täglich kamen die Leute, beschwerten sich, klagten an, schalten oder bettelten. Und doch war eine Zurücknahme der Drohung nicht möglich. Man stahl den Beamten die Zeit und diese, denen der ständige Worthagel auf die Nerven ging, zeigten sich oft schon durch das bloße Erscheinen eines Besuchers gereizt. So erhielt das freundliche Gesicht des Herrn Braun einen gespannten Zug, als er Hermann Dyke den Stuhl neben seinem Tisch anbot. Er sah etwas scheel auf den jungen Appelmann, sagte aber nichts. »Es ist ein Irrtum vorgekommen, Herr Braun«, begann Hermann. »Ein Irrtum, warum?« Hermann fühlte seine Zunge schwer im Mund. Es lag ihm gar nicht, jemandem Vorhaltungen zu machen, aber heute überwand er alle Beengungen. »In der Zeitung waren unter anderen auch wir aufgeführt als solche, denen die Zwangsversteigerung auf den Hals rückt. Sie versprachen mir, unsere Angelegenheit noch hinauszuschieben.« Die Starre auf dem Gesicht des Beamten vertiefte sich. Er hatte ein Aktenbündel aufgeschlagen und blätterte eifrig darin, »versprochen hätte ich das, sagen Sie, Herr Dyke?« »Jawohl, versprochen«, wiederholte Hermann. »Nun, ein Versprechen gab ich Ihnen nicht, schon deshalb nicht, weil mir das gar nicht gestattet ist. Aber ich machte Ihnen Aussicht auf eine Verzögerung, wollen wir sagen, nicht wahr?« »Ach, das sind ja nur Worte. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, ich dürfe nicht besorgt sein. Statt dessen steht unser Name groß und breit da unter den Bekanntmachungen, und da ich vertrauensvoll auf die Zeitung nicht achte, so gerät sie in meines Vaters Hände und sofort entdeckt er die Veröffentlichung. Ich dachte, der Schlag rührt ihn aufs neue.« Der Beamte wurde ein wenig ungeduldig. Auf was sollte man Rücksicht nehmen. Es gab grade genug zu bedenken. »Das tut mir sehr leid, Herr Dyke«, entgegnete er. »Aber die Verfügung erließ der Vorsteher: es sollte mit allem aufgeräumt werden. Und da war ich natürlich machtlos, das werden Sie begreifen.« Zu einer anderen Zeit hätte Hermann Dyke den Vorfall als erledigt angesehen, hätte sich wohl noch bedankt und wäre gegangen. Aber heute glomm in seinem Blut der Funke und stachelte ihn auf. »Wir sind von dem Amt nicht viel Besseres gewohnt. Es wird wirklich Zeit, daß wir unsere Sache selbst in die Hand nehmen, denn das, was bisher geschah, haben die Herren nicht als Warnung angesehen.«

Braun schaute mit schnellem Seitenblick auf Hermann. Die kaum zurückgedrängte Erregung lebte wieder auf. Seine Hand blätterte beschleunigter in den Akten und er sagte: »Seien Sie vorsichtig, mir dem, was Sie sagen, Herr Dyke, ich will dieses Mal nichts gehört haben, aber eine Drohung ... »Ich habe gar keine Veranlassung, über Dinge zu schweigen, die jedermann weiß.« Braun schob das Aktenbündel weg. »Wir beenden wohl am besten das Gespräch, oder wünschen Sie noch etwas? ? Was wollen Sie eigentlich hier? Gehen Sie gefälligst hinaus!« fuhr er Appelmann an, den der Ärger des Beamten zu belustigen schien. Seine verspätete Aufforderung, die Appelmann umständlich befolgte, ärgerte Braun. Seine Augen wurden klein und bösartig, seine Sicherheit verließ ihn. »Wollen Sie noch etwas, Herr Dyke?« plötzlich erwachte in ihm der Groll eines mißhandelten Menschen. Er bedachte, daß die ihm erteilte Rüge seines Vorgesetzten den Fall Dyke betraf. Dazu schwoll in ihm das Selbstgefühl des Beamten als eines bevorzugten Staatsdieners. Was wollte dieser Bauernjunge eigentlich noch von ihm. Er machte eine Handbewegung gegen die Tür: »Gehen Sie!« In Hermann Dyke aber schlug nun der Jähzorn seine wilden Wellen; die seit Monaten aufgestaute Erregung brach sich nun einen Ausweg. «Wie, Sie wollen mir die Tür weisen? Wissen Sie nicht, daß Sie für uns da sind und nicht wir für Sie? Nein, ich bleibe hier und bleibe so lange, bis Sie sich entschuldigt haben. Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen verlange. Aber Sie, vom Amt, die Sie schon so manchen Menschen auf dem Gewissen haben, Sie geben nicht eher Ruhe als bis wieder ein Opfer fällt. Und warum? Wegen solches jämmerlichen Plunders.«

Er war aufgesprungen, er schrie, daß man meinte, die Adern am Halse müßten ihm reißen. Jetzt hob er den Stock und ließ ihn so heftig auf die Aktenbündel fallen, daß die Papiere platzten. Und als schüre diese Zerstörung seine Wut, schlug er mit dem Stock wieder und wieder auf die Protokolle ein. Der Beamte war auch aufgefahren und bis an das Fenster zurückgewichen. Sein Gesicht war kalkweiß. Kein Zweifel, der junge Dyke hatte einen Tobsuchtsanfall. Doch wie sich retten vor ihm? Das Fenster aufreißen und auf die Straße einen Hilferuf senden? Aber man war im dritten Stockwerk. Neben diesem Zimmer war die Kanzlei. War in dieser nicht zufällig jemand, so konnte der Verrückte ihn totschlagen, ohne daß es jemand merkte. Und Hermann fuhr fort, seine Anklagen gegen die Amtsbehörde herauszuschreien; er fuhr fort, mit Stockschlägen die amtlichen Dokumente zu zerfetzen; schon flogen die Papierreste durch das Büro.

Plötzlich bei einem starken Hieb fiel der Stock aus der Hand. Er bückte sich und nahm ihn auf; aber diesen Augenblick benutzte Braun: Mit der Gewandtheit einer gehetzten Katze, der sich plötzlich ein rettender Ausweg öffnet, war er an der Tür und hinaus. Auf dem Flur standen schon die Lauscher, es war hier jedenfalls sicherer als da innen.

»Ein Toller! Ein Verbrecher!« keuchte er. »Sofort die Polizei holen!« Es fanden sich sofort welche, die die Treppe hinabliefen. Einer von ihnen stürzte in das Büro der Auskunftei; die andern liefen auf die Straße. Zufällig ging grade vor dem Amt der Landjäger vorüber, und die erregten Menschen zogen ihn fast in das Haus, während sie einen verworrenen Bericht von einer Schreckenstat, die nicht geschehen war, in überstürzten Worten gaben. Der Hüter der Ordnung folgte ihnen und stieg mit schweren Schritten die Treppen empor. Droben hatten sich um Braun beinahe alle Beamten versammelt. Fragen und Ausrufe in gedämpftem Ton flogen hin und wieder. Die der Tür zunächst Stehenden warteten darauf, daß diese plötzlich aufgestoßen würde und der Rasende mir geschwungenem Stock sich einen Ausgang bahnen werde. Aber drinnen blieb alles ruhig und einer flüsterte dem andern zu, der Übeltäter habe seinem Leben ein Ende gemacht. Der Landjäger hielt sich nicht mit Fragen auf. Es war seine Sache nicht, die Angelegenheit aufzuhellen. Er fühlte an seinem Mantel entlang, ob er die Handfessel bei sich trage, und trat ein. Hinter ihm drängte die Menge nach. Man war enttäuscht. Papierfetzen lagen umher, aber der vermeintliche Bösewicht saß ruhig auf seinem Stuhl und stützte sein Gesicht in die Hand. Als er den Landjäger bemerkte, erhob er sich und grüßte. Dieser blickte fragend auf den Sekretär; dann fragte er Hermann: »Aber, Herr Dyke, was machen Sie denn?« Er, der erwartete, einen Kassenräuber oder einen gefährlichen Einbrecher zu treffen, sah sich plötzlich einem Bauernsohn gegenüber, mit dem er in Wendisch-Bukow oft genug geplaudert hatte.

»Nun, hier bin ich wohl nicht am Platze, Herr Braun. Ihre Auseinandersetzung war ein wenig erregt, nicht wahr? Herr Dyke wird sich auf dem Heimweg beruhigen und ein anderes Mal wiederkommen.« Seine besonnenen Worte veränderten mit einem Schlag die Lage: Die müßigen Zuschauer entfernten sich, Braun kehrte achselzuckend in seine Schreibstube zurück und Hermann Dyke verließ bleich zwar, aber wieder völlig beruhigt das Amt.

Der junge Appelmann war nicht mehr da, Hermann war es zufrieden, daß er den Rückweg durch das lenzende Land allein machen konnte. In seinem Innern war eine dunkle Stimme erwacht, die ihn warnte, froh zu sein, weil ihn etwas erwartete, was mit Bedrohung und Beamtenbeleidigung zu tun hatte. Aber diese Stimme verstummte vor der Genugtuung, daß er auf dem Amt zum erstenmal seinen Mann gestanden, daß seiner Mutter Blut sich in ihm geregt hatte.

Die Beruhigung, wie sie der Landjäger vollzogen, blieb auf einige wenige beschränkt. Die übrigen Menschen fanden es viel ergötzlicher, den Gerüchten zu lauschen. Diese bliesen das Geschehnis zu einer ungeheuerlichen Tat auf: Der junge Dyke habe auf dem Amt alles kurz und klein geschlagen; er habe die Herren einzeln herausgefordert; ja, man behauptete, Braun sei von dem erregten Bauernsohn totgeschlagen worden und am Nachmittag würde das Landvolk geschlossen anrücken und das Steueramt bis auf den Grund zerstören. Diese Gerüchte erhielten sich, obgleich man Braun um die Mittagszeit auf der Straße begegnete und obschon kein Bauer mehr in die Stadt kam. Die Spannung lag eben in der Luft und wer den Funken weckte, der konnte eine Entzündung hervorrufen. An dem Nachmittag des Tages kam Jesko Cedergren auf den Dyke-Hof und ließ sich von Hermann eine genaue Schilderung des Vorgangs geben.

Wo wohnte er eigentlich? Und wo trieb er sein Wesen, der Jesko? Keiner konnte auf diese Fragen genauen Bescheid geben. Er war überall und nirgends, jedenfalls wohnte er nicht mehr auf St. Jürgenshof. Fragte man aber jemand nach seiner Tätigkeit, so zeigte der Gefragte ein verschlossenes Gesicht und die Sprache sank zu einem Flüstern hinab. Es war ein Geheimnis um den jungen Baron, und doch irrten die wohl nicht, die behaupteten, er sei der Führer des Landvolks. Als er den Dyke-Hof verließ, gab er Hermann die Hand und sagte: »Heut abend redet der Evangeliumsmann. Man muß einmal hören, was er zu sagen hat. werden Sie auch nach Kniephagen kommen?« Und als Hermann eine unbestimmte Antwort gab, sah der alte Dyke von seinem Fenster aus, wie der junge Baron, der vor kurzem noch stolz durch Wendisch-Bukow gefahren war, seinem Sohn kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.

*

Der Tag, der diesem Abend voranging, hatte das erste Atemholen des Frühlings gebracht. Die Natur hatte einen Lobpsalm gedichtet und keiner konnte sagen, welche die schönste Strophe war: die, die der Wald gedichtet oder die der Wiesen. Ohne Aufhören waren die Bekassinen, die man Himmelsziege hierzulande nennt, zu ihren Flügen aufgestiegen und hatten beim Niederfallen ihren meckernden Laut hören lassen; die Frösche hatten sich in den alten Torflöchern gerührt, die Bussarde hatten ihren gellen Balzlaut ausgestoßen und bei den Weiden am Feldrande hatte es nach Honig geduftet. Und unablässig hatte die Sonne gesegnet, Stunde um Stunde, bis das grämlichste oder sorgenvollste Gesicht ganz aufgehellt war.

Und nun kam der Abend, der linde, milde Frühlingsabend. Im Westen hing ein blaues Gewölk, das verhieß einen sanften Nachtregen. Morgen würde das Scharbockskraut und der goldene Huflattich blühen.

Der Evangeliumsmann stand vor seinem Wagen in Kniephagen. Er war bereit, auch an diesem Abend seine Sendung zu erfüllen. Aber würden die Menschen kommen? Es war heut ein reges Wirken auf den Äckern gewesen; die Wintersaat sproßte mächtig. Jetzt waren Tiere und Menschen müde, sie saßen beim Abendessen und der letzte Rauch des Tages stieg in die stille Luft. Eigentlich sollte Rohde jetzt drüben im Richterhof sitzen, die Käte hatte ihn zum Essen eingeladen. Sie hatte es ausdrücklich getan, obgleich sie bei seiner Ankunft ihm gesagt hatte, er sei ihr immer willkommen. Aber Rohde hatte abgelehnt, er wollte nicht zu oft dort sein. Die Dankbarkeit der Frau, die ihr Kind in seiner Behandlung genesen sah, war zuweilen überschwenglich. Etwas warnte ihn, auf der Hut zu sein: Sein Verantwortungsgefühl war gesteigert, seit er in Gottes Diensten stand. So hatte er wie immer, seit ihm Frau und Kinder gestorben, allein für seine Bedürfnisse gesorgt. Er stand nun da und wartete, daß Menschen kamen. Er überlegte nicht, was er sagen wollte, das fiel ihm im Augenblick, da er vor die Versammlung trat, zu.

Allmählich stellten sich einige ein, die, als sie sahen, daß sie die ersten waren, scheu um den Platz strichen: einige Jungknechte, die wohl nur ihren Spaß in der Sache suchten, einige Mädchen; dann aber auch ein paar ältere Männer und Frauen. Rohde holte seine Trompete aus dem Wagen und blies eine alte Volksweise über das Dorf hin. Da er die dritte Strophe geendet hatte, war der Platz gefüllt. Die Menschen standen oder hockten in Gruppen und blickten mit ernsten Gesichtern auf, die Jungen verbargen ihre Verlegenheit hinter platten Witzen. Einige Frauen hatten einen Stuhl mitgebracht, andere hockten auf ihrem Melkschemel. Das Schweigen der Leute erinnerte Rohde daran, daß er beginnen konnte. Irgendwo in einem der Gärten sang noch eine Amsel, und er lauschte hingegeben dem Lied. Dann raffte er sich zusammen und bestieg die Treppe, die zu seinem Wagen führte. Er hatte die junge Frau Richter bemerkt. Sie stand in seiner Nähe und blickte unverwandt zu ihm auf. Irrte er nicht, so war sie gekommen, um für eine Stunde ihre Sorgen zu vergessen. Als er sie sah, wußte er, über was er reden sollte. Er sprach von der großen Dankbarkeit, nicht von der gefühlsseligen, die für besondere Gaben dankt, sondern von der, die auch das Alltägliche wertet. Und er erklärte in wenigen Worten, wie gleichgültig wir oft das tägliche Brot empfangen, ohne zu bedenken, daß jedes Essen ein Opfer des Lebens für uns bedeutet. Er redete in der Sprache des Volks ohne Pathos, aber durch seine Schlichtheit überzeugend.

Seine Hörer folgten ihm, wohin er sie führte. Die Albernheiten der Jungen waren bald verstummt, nur im Zaunwinkel spürte Rohde eine geheime Widersetzlichkeit. Er fühlte sie, ohne den Grund dafür zu wissen. Dort stand ein mittelgroßer Mann mit blondem Lippenbart. Der blickte ihn unentwegt an und lächelte höhnisch. Ohne Widerwort, ohne eine Bewegung der Ablehnung stand er da, aber seine bloße Gegenwart war eitel Widerspruch. Und dann kam es. Im Verlauf seiner Rede sprach Rohde auch von den Anzeichen dieser Zeit, es konnte nicht ausbleiben, daß er sagte, der Teufel gehe wieder um. Plötzlich rief eine durchdringende Stimme: »Der Teufel? Was für Dinge tischst du hier auf? Einen Teufel gibt's nicht.« Der Einwurf kam aus dem Zaunwinkel. Und als Rohde hinblickte, sah er jenen Mann, dessen Gegenwart ihm sich aufgedrängt hatte, wie er ihm mit beiden erhobenen Fäusten drohte. Nun war der Wanderprediger auf Feindliche Äußerungen gefaßt. Er erwiderte kurz: »Der Teufel hat zwar seine Todesanzeige veröffentlicht, aber das tut er immer, wenn er sich einen besonderen Streich vorgenommen hat.« Einige Leute lachten, andere nickten dem Redner zu. Der Störenfried jedoch hatte es darauf abgesehen, die Versammlung zu sprengen. Er begann sinnlose Lästerworte gegen Gott, Obrigkeit und den pfäffischen Redner zu schleudern.

Der Redner schwieg. Er pflegte solchem Widerspruch seinen sanften Mut entgegenzusetzen. Aber die Leute wurden unruhig. Sie wanden die Köpfe nach jener Richtung, einige riefen um Ruhe; eine Stimme rief: »Hinweg mit dem, der nicht zu uns gehört.« Und in der Stille, die diesen Worten folgte, löste sich ein Mann aus der äußersten Reihe und ging langsam durch die Menge auf den Zaunwinkel zu. Es war Waldemar Schindler. Alle, die den Bruderzwist kannten, erschraken, da sie dies sahen. Der Störenfried hatte seine Rede eingestellt. Er sah dem Kommenden entgegen, als fürchte er nichts, aber zwischen den beiden Männern schien es wie eine rote Flamme hinüber- und herüberzuschlagen. Jetzt standen sie einander gegenüber, einer maß den andern mit kaltem Blick. »Geh weg von hier, du Schandfleck!« sagte Waldemar Schindler. Es war so leise gesprochen, daß es kaum die Nächsten verstanden. Aber alle wußten, daß es nur eine bittere Kränkung sein konnte. Und bevor der andere nur etwas entgegnen konnte, ward er von dem Älteren gepackt, fühlte sich im Griff zweier kräftiger Fäuste, war umgedreht und vorwärtsgeschoben. Es schien, als versuche er gar keinen Widerstand. Er war so überrascht, daß er wie gelähmt dem furchtbaren Druck der Bauernfäuste nachgab; so brannte ihn die Scham, daß er sich mit geschlossenen Augen durch die Menge schieben ließ. Als der Druck sich von seinen Armen löste, fand er noch kein Wort. Er wandte sich um und spie vor dem Bruder aus. Dann ging er eilig davon.

Rohde fühlte, daß sich hier etwas abgespielt hatte, was mehr als gewöhnlich war. Er war erschüttert, aber er mußte trachten, den zerrissenen Faden wieder aufzugreifen und die erregten Seelen zu beschwichtigen. Plötzlich fühlte er die Kraft, seine Ansprache fortzusetzen. »Als ich noch auf meiner eigenen Scholle saß, war da neben meinem Acker ein sumpfiges Stück Wiesenland. Es galt als ganz wertlos, denn das Vieh mochte die sauren Gräser nicht fressen. Da machte ich mich einmal dazu, dieses Land mit Kosten und Mühe zu entwässern. Wohlgemerkt, ich besamte es nicht. Aber als im nächsten Jahr der Sommer kam, da fand ich die sauren Gräser nicht mehr, aber an ihrer Statt sproßten Klee und Thimotee. Woher kam der edle Wuchs? Die Samen hatten durch Menschenalter im Boden gelegen und nur auf ihre Wachstumsbedingungen gewartet. Seht, so liegen in jedem Menschenherzen unter dem Bösen, das da blüht, die Samen des Guten und warten ihrer Zeit, da wir sie wecken.

Und auch dafür laßt uns dankbar sein.«

Als die Zuhörer auf dem Heimweg waren, ging die Rede nur von dem Schindlerschen Streit. Einige tadelten das Verhalten des ältesten Bruders: er habe den ärgerlichen Zank, der am besten hinter den Wänden des eignen Hauses verborgen bliebe, öffentlich gemacht; der Konrad werde ihm dies nie vergeben. Die meisten aber billigten Waldemars Verhalten: das Betragen des Kommunisten werde nachgerade unerhört und verdiene Zurechtweisung. Wittmüs, der aus Wernersbrunn herübergekommen war, mißbilligte in starken Worten das Betragen des Konrad, der so aus der Art geschlagen sei, daß er es verdiene, öffentlich abgetan zu werden. verprügeln müßte man den Kerl, das Gericht habe seine Klage abgewiesen; wenn er fortfahre, die Sache seiner Standesgenossen zu verunehren, so werde man mit ihm Auge in Auge abrechnen müssen. ?

Es war Sitte geworden, daß nach Schluß der Versammlung um Rohdes Wagen Menschen, die Besonderes in der Seele trugen, oder solche, die durch die Worte des Wanderpredigers gepackt waren, sich nach dem Weggang der Menge bei Rohde einfanden, um Rat oder Zuspruch von ihm zu erhalten. An diesem Abend bestieg den Wagen Waldemar Schindler. Er schloß hinter sich die Wagentür und nahm auf dem Bänklein Platz, das ihm Rohde zurechtrückte. »Mein Bruder war es, der die Störung herbeiführte. Ich wollte um Entschuldigung bitten für meinen Bruder und für mich.« Rohde versicherte ihm, daß solche ärgerlichen Störungen für ihn nichts Seltenes seien. Waldemar fuhr nach einer Pause zögernd fort: »Ich wollte fragen, ob Sie im Ernst meinten, was Sie da sagten vom verborgenen Guten im Menschenherzen. Mein Bruder nämlich fiel so sehr seinen Verführern anheim, daß ich bei ihm an das Gute nicht glauben kann. Dennoch blieb Ihr Wort wie ein Widerhaken in mir hängen. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mir vorgenommen habe: Kommt mir der Mensch, der unser Leben vergiftet, noch einmal auf den Hof, so schlage ich ihn nieder wie ein schädlich Tier.« Rohde spürte die Hitze des Hasses, die wie eine Flamme nach ihm leckte. Beschwichtigend legte er seine Hand auf die Faust, die Waldemar geballt vor sich hinhielt. »Es ist nicht das Erbe der Zankapfel, sondern die Partei, nicht wahr?« »So ist es, aber in ihm steckt ein Satan, der ihn zum Schlimmsten fähig macht.« »Und was verlangen Sie nun von mir?« Eine Weile zögerte Waldemar, dann sagte er leise: »Ihren Rat, ob ich das tun darf. Ihre Worte haben mich stutzen gemacht.« »Nun und nie dürfen Sie die Hand gegen ihn erheben. Mann. Ich, der ich Christi Botschaft trage durch das Land, kann Ihnen nur mir Christi Wort antworten: Nicht ausreißen das Unkraut, sondern lassen Sie beides miteinander wachsen.« Er sprach lange noch auf ihn ein und es war spät geworden, als Waldemar den Wagen verließ.

Rohde blieb auf der oberen Treppenstufe stehen und lauschte den Schritten, die sich entfernten. Da sah er noch jemand aus dem Schatten des Platzes treten und auf sich zukommen. »Sind wir allein?« fragte eine Männerstimme, »wir sind es«, erwiderte Rohde und trat in den Wagen zurück. Der Eintretende war gekleidet wie ein Landmann, aber die Bildung seines Gesichts verriet eine andere Herkunft. Rohde entsann sich: diesen jungen Menschen hatte er schon einmal gesehen, man hatte auf ihn gewiesen, doch was von ihm erzählt war, hatte Rohde vergessen. »Cedergren«, stellte sich der späte Gast vor. »Ich komme ein wenig unzeitig, wie Nikodemus in der Nacht.« Der Bauer schüttelte abweisend den Kopf. Dann deutete er auf das Bänklein. »Dies ist wohl die Bußbank, auf der Ihre armen Sünder beichten. Nun, zu dem Zweck kam ich freilich nicht, aber wir wollen sehen, ob wir einig werden.« Jesko nahm Platz und blickte sich um, er wollte noch etwas über die Gemütlichkeit des kleinen Raumes sagen, doch er merkte, daß der Evangeliumsmann seinen Späßen nicht zugänglich war. »Sagen Sie mir, wie ich Ihnen dienen kann«, entgegnete Rohde. »Also, ich habe Sie heute abend gehört, und was Sie sagten, das gefiel mir. Da kam mir der Gedanke, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Oder besser, Ihr altes Bauernblut wachzurufen. Sie wissen, es gärt in unserm Landvolk, hier wie überall. Aber der Sinn des Volks ist hier ein anderer wie bei Ihnen. Der Bauer in kolonisierten Ländern blieb immer klein, mühselig und überbedächtig gegenüber dem Bauer in den deutschen Stammländern. Darum entscheidet er sich schwer, obwohl die Not ihn brennt. Man muß ihn immer vorwärts stoßen, verstehen Sie mich?« Rohde nickte nur, seine Augen blickten den Gast forschend an; es war kein Glanz in ihnen. Jesko fragte: »Jetzt wollen Sie wissen, wie kommt der Mann dazu, für der Bauern Sache zu reden? Das darf ich Ihnen nicht erklären, genug, ich setze Gut und Blut für die gemeinsame Sache ein. Also zurück zum Wecken unsrer Landsleute. Ich bitte Sie, in Ihren abendlichen Reden darauf hinzuwirken, daß die Zeit da ist, aufzustehen gegen Gewalt und Unrecht der Obrigkeit; das Gott verlangt, der Bauernstand soll endlich frei sein. Verstehen Sie mich, Sie sollen die Männer warm machen für ihre Sache. Sie sollen sie aufklären, daß ihr Werk Gottes Werk ist. Sie können es, Sie haben die Verbindung mit dem Volk und seine Sprache, und wenn Sie dies nützen, so treiben Sie den rechten Dienst an Ihren Nächsten.«

Jesko sprach weiter in diesem Sinne. Er fühlte sich berufen, den Mann, der ihm gefiel wie selten einer, für seine Sache anzuwerben. Was taten schließlich Howe, Wittmüs und er selbst? Sie fochten für ihren Hof. Wenn aber dieser von allem Besitz losgelöste Mann des Volkes Sache zu Gottes Sache machte, dann würde eine ganz andre Wirkung erzielt werden. Darum berauschte er sich an seinen Worten und achtete auf ihre Wirkung nicht. Hätte er es getan, er hätte eher abgebrochen.

Rohde saß da ohne sich zu rühren. Sein Gesicht verschloß sich, seine Hände ballten sich in seinem Schoß, als wolle er etwas zerdrücken. Nur seine Brauen zuckten. Er antwortete auch nicht, als Jesko endlich schwieg. Erst als dieser eine ermunternde Gebärde machte, atmete er tief auf, als solle er eine Last von sich wälzen. »Herr,« antwortete er und seine Stimme klang leise, aber in verhaltener Erregung, »für was halten Sie mich eigentlich? Glauben Sie, ich sei ein Schwätzer, der seine Reden verkauft und heute diese und morgen jene Sache anpreist? Ich bin auf höheres Geheiß dazu bestellt, das Evangelium in einer dunklen, wirren Zeit zu verkünden und diene nicht den Zwecken menschlicher Gewalt.« Jesko nahm die Antwort gelassen auf. War der Mann ehrgeizig oder hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? »Ich denke von Ihnen hoch, Herr Rohde. Sie müssen nur einsehen, daß unsere Bestrebungen zur Befreiung von unerträglichem Joch von Gott gewollt sind.« Der Bauer schüttelte energisch den Kopf: »Das vermag ich nun und nimmermehr, Herr. Mein Auftrag fußt auf das Wort der Bergpredigt: Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.« Der junge Edelmann fuhr empor, als habe eine Hand nach ihm geschlagen. »Genug, genug, Sie sind ein Verkündiger jenes Christentums, das die Menschen weich und feige macht, das die Litanei von Sünden und Sanftmut und Demut predigt. Ich danke Ihnen.« Und schon war er an der Tür und riß sie auf, um grußlos davonzustürzen. Aber einen Augenblick stutzte er und sah auf den Mann, der sich erhoben hatte und jetzt den ganzen Raum zu füllen schien. Er blickte nicht auf den Gast, der so plötzlich entwich, er sprach wie zu sich selbst: »Wenn sie nur wüßten, welcher Mut dazu gehört, sanftmütig und demütig zu sein und Schuld einzugestehen.«

Er trat in die Tür, um die Treppe aufzuziehen. Draußen war die Nacht. Im Dorf erlosch das letzte Licht. Am Firmament aber hing die funkelnde Pracht des gestirnten Himmels.

*

Sie säten den letzten Hafer. Die Drillmaschine zog über den Acker, Strich auf, Strich nieder. Hinter ihr schritt der Säer durch den dürren Ackerboden. Nun konnte die Müdigkeit, die in dieser Bestellzeit riesengroß wurde, bald wieder feiern, wenn man unter feiern eine Herabminderung der hitzigsten Arbeit verstand. Denn schon wartete der Landmann ein wenig ungeduldig darauf, daß er die Kartoffeln legen konnte. Die Eisnächte hatten die Frühjahrsbestellung zu lange verzögert. Sie fielen auch jetzt noch ein und der Bauer blickte mit sorgenvollem Ernst auf die junge Saat, die unter steigender Sonne während des Tags wuchs und sich unter der Frostnachtgeißel wand und kräuselte.

Es war die Unruhe, die mehr denn je die Menschen beherrschte, gewachsen. Was wird werden? Was wird sein, wenn dieses junge Gewächs seine Ähren in der Sommersonne reifen läßt? Bestand oder Untergang? Es war über den Menschen eine zitternde Ungewißheit. ?

Frau Grete Dyke war gekommen, ihre Mutter zu besuchen, was sie in jeder sechsten Woche zu tun pflegte. Sie saß in der Sofaecke, wo die besuchenden Frauen sitzen; die alte Richter hatte auf einem Stuhl Platz genommen. Ihre immer in unbestimmte Fernen zielenden Augen hatten die Tochter kaum gestreift. Die Alte nahm Kenntnis und Wissen hauptsächlich durch das Ohr auf. Die Tochter erzählte: Johannes ergehe es jetzt gut, er sei nun, da er die Wahrheit erfahren, gar nicht mehr erregt, sondern gelassen, ja man könnte sagen sanftmütig. Aber weiß Gott, da war ein neues Kreuz auf sie gelegt worden: dieses Ereignis mit Hermann. Die Mutter wisse darum? Die Alte bejahte. Nun, was die Leute darüber redeten, das sei übertrieben, dennoch wolle man dem Jungen einen Prozeß anhängen wegen Gewalttat und Beleidigung. Der Rechtsanwalt habe gesagt, es stehe Gefängnis darauf. Man hätte ja mit den Herren vom Amt verhandeln können, aber ? der Mann krank und sie auf dem Hof unabkömmlich ? der Weg war ungangbar.

»Sei ruhig, Grete, es wird ihm nichts geschehen«, sagte die Alte. Sie sagte das mit so seltsamer Betonung, daß die Tochter aufmerksam wurde. Aber sie wagte nicht zu fragen, von ihrer Mädchenzeit her wußte sie, daß man das Wissen der Mutter durch unzeitige Fragen nicht stören durfte. »Ja, und ihrem Mann scheine die Behandlung durch den Evangelisten wirklich gut zu tu. Rohde warne vor übertriebenen Hoffnungen: Eines solchen Leidens werde er nie Herr werden; es sei genug, wenn er ihm den Zugang seelischer Kräfte öffne, daß er sein Leiden würdig tragen könne. Wie es nun Kind Heinrich gehe? Die Mutter erhob sich und holte aus der Ofenröhre die Kaffeekanne. Als sie eingeschenkt hatte, sagte sie mit ihrem in die Weite gehenden Blick: »O, Kind Heinrich geht es gut und Käte geht es auch gut.« Da war wieder der Unterton in der Mutter Stimme, der Grete Dyke aufhorchen ließ. Was hatte die Mutter nur? Von dem spät geborenen Kind ihres spät geborenen Sohns, dessen Tod sie nie verwinden würde, sprach sie sonst so ängstlich, als hätte die Gabe des zweiten Gesichts ihr Furchtbares über das Kind angezeigt. »Wo ist denn die Käte?« forschte die Bäuerin nach ihrer Schwägerin. Die Alte rührte lange in ihrer Tasse, dann sagte sie wie beiläufig: »Sie macht einen Gang für den Rohde.« Das klang wieder so bedeutsam. »Sie wird dem Mann dankbar sein, der auf ihr Kind so viel Sorge verwendet.« Die Alte nickte ein paarmal: »Sie weiß nicht, was sie ihm Gutes erweisen soll. Sie breitet sich recht eigentlich vor ihm aus. Die Käte, die sonst nicht Zeit fand vor aller Arbeit, die ist immer bereit, wenn der Mann einen Wunsch hat.« Die Tochter schwieg. Sie begriff ihre viel jüngere Schwägerin, die früh verwitwete, die ihre ganze Kraft für den Hof und die Pflege des kränkelnden Kindes eingesetzt hatte. Leicht hatte sie an dem Zusammenleben mit der hellsichtigen alten Frau auch nicht zu tragen. Es war kein Wunder, wenn sie nach dem Mann verlangte, der ihr Beistand und Hilfe war. Daß ihr Sinn grade auf den Fremden verfiel, war vielleicht nicht unbedenklich. Und wie zur Bestätigung sagte die alte Richter zu ihrer Tochter: »Der Evangeliumsmann mag ja brav sein, aber als Nachfolger unsres Heinrich wünschte ich ihn mir nicht.«

*

Rufe gingen durch das Land, die von wenigen verstanden und von einigen mißdeutet wurden. Aber andere wußten, daß diese Rufe die Reife einer großen Stunde anzeigten. Das Land rief: Ihr gabt mir, was ihr konntet, euren Schweiß und euren Fleiß. Sehet, ich bin bereit, Frucht zu tragen hundertfältig und euch zu lohnen. Und ein anderer Ruf ging aus von den stillen Menschen, die nun, nachdem die Einsaat vollendet, den Pflug ruhen ließen und die Hacke ergriffen. Und ihr Ruf war: Wird unser Opfer gelohnt werden? Sie gingen mir gesenkten Blicken über ihr Arbeitsfeld und lauschten, ob eine Antwort käme aus der Stadt, wo in den Schreibstuben Männer saßen, die ihnen feindlich gesinnt waren. Und die Antwort kam nicht. Denn der alte Gegensatz, den Neid und Haß schufen, dieser Gegensatz zwischen dem Mann auf freier Scholle und dem in die Stadt Gewanderten, war wieder einmal laut geworden und alle Rauheit von hüben und drüben kehrte sich widereinander. Und wie lange mochte es dauern, bis diese stumme Verbissenheit zur Tat wurde! vorläufig waren nur Gänge von Dorf zu Dorf und ein Bereden hinter behüteten Türen und ein Ratschlagen am Hünenhügel. Und der Inhalt aller Reden war: Strecken sie ihre Hand aus nach Hermann Dyke, so sei dies das Zeichen, daß wir losschlagen.

Und Rufe gingen auch aus von den Kanzeln, auf denen der Pfarrverweser Prätorius stand. Seine Stirn war nicht ganz so hell wie bei seiner Ankunft, seine Worte waren nicht ganz so unmittelbar und zielsicher wie sonst. Ein grüblerischer Zug war um seinen Mund und seine Sätze fielen oft wie zögernde Tropfen in ein dumpftönendes Becken. Aber das war wohl nur, wenn er aus der Einsamkeit seiner Behausung kam. Sprach er erst eine Weile, so rang er sich durch und alles Gewölk verging und seine helle jubelnde Freude stand immer am Ende wie der lichte Ausgang aus einer dunklen Bergeshöhle.

Er hatte ein seltsames Erlebnis gehabt, von dem er nie sprach, das aber einige wußten. Die junge Frau auf Rosenau war gestorben. An einer verborgenen Krankheit, sagten einige; am Gram über den Verlust ihres Erbguts, sagten andere. Und diese hatten wohl recht, denn es war nur eine Frage der Zeit, wie lange sie noch auf Rosenau wohnen sollten. Man erzählte aber von dem Schicksalsring der Rosens, in dem ein seltener Stein funkelte und von dem man wußte, das Geschlecht werde solange dauern, als die Herrin des Hauses das goldbraune Juwel an ihrer Rechten trage. In den Tagen, da die ersten Stare Einzug hielten, lief das Gerücht durch das Land, der Schicksalsring sei verloren. Es war nur eine Anzeige in der Zeitung, die in wenigen Worten von dem Verlust sprach, und die Menschen wunderten sich, daß die Rosens, denen es doch wahrlich schlecht genug ging, soviel Aufhebens von einer alltäglichen Sache machten und sogar eine Belohnung aussetzten. Dann wurde bekannt, daß ein Glaube an dem Ring hafte. Plötzlich fühlten alle die Schicksalsgemeinschaft und forschten nach dem Kleinod, als hinge von seinem wiederfinden ihre eigene Zukunft ab. Herr von Rosen hatte Prätorius davon erzählt. Eine Woche später war die junge Frau tot, und da der Pfarrer Aßmus noch bei seiner Heilquelle war, sollte Prätorius die Gedächtnisrede halten. Rosen hatte ihn nicht daheim getroffen und der junge Pfarrer in seiner bereiten und dienstwilligen Art war sofort nach Rosenau geeilt, um das Nötige zu besprechen.

Es war dunkel, da er auf Rosenau eintraf. Er verließ seinen Wagen und stieg die Treppe empor. Seine Ankunft war unbemerkt geblieben, niemand war da, ihn zu empfangen; die Stille des Sterbehauses lag über allem wie ein dämpfendes Tuch. Prätorius fand sich endlich bis zu dem Saal hin, in dem die Tote aufgebahrt war. Sie lag wie ein unirdisches verklärtes Bild unter Lichterglanz und jungem Grün in dem offenen Totenschrein. Ihr Gatte saß zu ihren Füßen und hielt die Totenwache. Er blickte auf, als Prätorius eintrat, erhob sich nach einiger Zeit und winkte dem Pfarrer, mit ihm in das anstoßende Gemach zu treten. Die nötigen Fragen waren bald beantwortet. Prätorius erbot sich zu helfen, obgleich seine Zeit äußerst beschränkt war. Die Herren saßen so, daß sie in den Saal blicken konnten; der Vorhang in der Türfüllung war halb zurückgeschoben. Sie tauschten ihre leisen Worte vorsichtig, als könnten sie den Schlaf der Toten stören. Die Flammen der Kerzen, die um den Sarg standen, verbreiteten einen ruhigen Schein. Plötzlich brach Rosen seine Rede mitten im Wort ab; es war eine Starre über ihm, die der junge Pfarrer fühlte. Er blickte seinen Nachbar an, dessen weitgeöffnete Augen auf den Eingang zum Saal gerichtet waren. Und als Prätorius diesem Blick folgte, sah er, was auch ihn versteinte: in den Rand der verblichenen Seide griff eine Hand, eine weiße, schmale Frauenhand. Es sah aus, als wolle sie den Vorhang zurückschieben und sei durch einen Schreck daran gehindert worden. Diese Hand trug am Ringfinger einen Stein von einer altertümlicher Form in der Farbe dunklen Honigs. Es war keine augenblickliche Erscheinung, die plötzlich in die Augen fällt und dem erregten Sinn jählings wieder entgleitet. Diese Hand war eine Wirklichkeit. Wie lange sie dort hing, das wußte nachher keiner der beiden Männer, die sich der Zeit enthoben fühlten. Aber plötzlich war sie verschwunden. Es ging wie ein Aufatmen durch das Zimmer, dessen Stille nicht einmal der Perpendikel einer Uhr störte. Die beiden blickten einander an, als seien sie aus einem schweren Traum aufgewacht. Dann nickte der Hausherr seinem Gast zu und dieser wiederholte die Bewegung; zu sprechen war ihnen versagt. Sie gingen hinüber in den Saal: Da lag die Tote still und unberührt, die weißen Hände um das Kreuz gefaltet, Prätorius ging und Rosen begleitete ihn. Der Kutscher begegnete ihnen auf der Treppe. Er kam, um seinen Herrn in der Wache abzulösen. Unten öffnete Rosen die Tür: »Wir haben nun wohl nichts mehr zu verabreden?« Und als der Pfarrer verneinte, fuhr Rosen leise fort: »Sie ahnen, was die Erscheinung bedeutete? Die Tote wollte den Lebenden sagen, daß sie den Ring mit ins Grab nehme. Nun sind unsre Tage auf Rosenau gezählt.«

Es ist gewiß, daß Prätorius nichts davon gesprochen hatte. Er fragte sich selbst: Hast du jemandem davon gesagt? Aber er wußte es nicht. Dennoch lief das Gerücht von jenem Vorkommnis um, und auch die, die keinen Ring verloren hatten, wußten sich eins mit dem Mann, den das Schicksal von seiner Schwelle schied.

Es war bald genug anderes da, was die Gedanken beschäftigte. Zwar das Gericht säumte, die Anklage gegen Hermann Dyke zu erheben. Es schien, als sei der Ruf von der großen Spannung, die im Landvolk war, bis in die Schreibstuben der kleinen Stadt gedrungen und mahne dort zur Vorsicht. In Wahrheit hatte sich der Kaufmann Corswand, von dem Fäden zu allen Behörden liefen, des jungen Dyke angenommen. Kurz entschlossen hatte er mit seinem Vertrauten, David, eine kurze Rücksprache gehabt, hatte dann Hut und Stock ergriffen und war aufs Amt gegangen. Er konnte sehr liebenswürdig und gewinnend sein, wenn er es für nötig hielt, und an diesem Tage ließ er alle Künste spielen, und als er vom Amt zurückkam, sah er höchst befriedigt aus.

*

Rohde stand in seinem Wagen und rieb die Messinglampe blank, die an der Decke aufgehängt wurde. Der helle Sonnenschein fiel durch die kleinen Fenster, draußen sangen die Vögel in dem Baumgarten des Nachbars und vom Schulplatz her drang das Stimmengewirr feiernder Kinder. Dem Mann war sehr froh zumut. Da vernahm er eine Stimme: »Ist es erlaubt, einzutreten?« Als er sich umwandte, erblickte er Käte Richter. Er setzte die Lampe nieder und legte das Tuch zusammen: »Ist es was mit dem Heinrich?« »Dem Heinrich geht's wohl; ich kam, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Einen Augenblick«, sagte Rohde. Er ging auf sie zu, nahm einen Schemel mit und setzte sich selbst auf eine Treppenstufe. Er vermied unter allen Umständen den Zutritt einer Frau zu seinem Wagen. Die Bäuerin blieb stehen und sagte: »Sie hätten immerhin heut eine Ausnahme machen können. Die Leute haben jetzt keine Zeit auszuspähen und es wäre nicht gut, wenn jemand hörte, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Rohde zuckte mit den Schultern. Er ging von der Regel nie ab, in diesem Fall wollte er sie besonders streng befolgen. Er spürte, daß er in der Frau etwas weckte, was seinem Wege gefährlich werden konnte, war diese Hinneigung zu ihm nun aus reiner Dankbarkeit entsprungen oder nicht ? ihn warnte eine Stimme, auf der Hut zu sein. Sein weg schien ihm durch die Art seiner Führung fest vorgeschrieben und nichts durfte ihm diesen Plan durchkreuzen. »Was ist's, das Sie mir zu sagen haben?« fragte er und deutete noch einmal auf den Schemel. Aber die Bäuerin übersah auch jetzt wieder den Wink und blieb mit gefalteten Händen vor ihm stehen. Es fiel ihr offenbar schwer, zu ihm zu reden; die verlegene Art ihres Zögerns und ihr Erröten verjüngte ihr feines Gesicht. »Ich habe lange überlegt, ob ich's Ihnen sagen soll, aber schließlich behielt doch das letzte Wort ...« Sie wand ihre Finger umeinander und fuhr stockend fort: »Gestern abend war der Howe bei uns, wissen Sie, der Howe aus Unheim. Er hat lange mit Größing geredet von den Dingen, die jetzt in der Luft liegen. Als ich dazu kam, erzählte er grade, daß die Männer scharf obacht geben müßten. Es sei ein Verräter unter ihnen. Sie haben sich lange gegen den Glauben gesträubt, aber nun liegen die Beweise in ihren Händen. Er sagte, sie haben Verdacht auf Sie. Denn seit Sie hier sind, haben die Angebereien begonnen. Ich habe darauf nichts erwidert, sondern ging aus der Stube, wie ich eingetreten war. Aber Sie, Herr Rohde, sollen es wissen, damit Sie sich danach richten können.

Der Mann war bleich geworden unter diesen Worten. Er war gewöhnt, Schimpf auf sich zu nehmen und Verdächtigungen ausgesetzt zu sein. Dies forderte sein entsagungsvolles Amt. Aber daß man ihm die Rolle eines Judas zutraute, das griff ihn an. Seine Ehre mochte er nicht verlieren wie jene Leute auf Rosenau ihren Ring verloren hatten. Er dankte der, die ihn gewarnt hatte, aber als die Bäuerin lange gegangen war, saß er noch immer auf der Treppe seines Wagens und erwog, was er zu tun hatte.

Endlich stand er auf, schloß die Tür ab und begab sich auf den Schindlerhof. Er wollte Waldemar bitten, ihm Vorspann für den Wagen zu geben. Er wollte seinen Wohnsitz nach Unheim verlegen. Gerade unter die Augen des Mannes, der ihn verdächtigt hatte.

Es traf sich, daß die Pferde des Bauern heute im Stall standen. Dieser rief einen fremden Arbeiter, der am Dach einen Schaden ausflickte, und trug ihm auf, den Pferden die Sielen aufzulegen und den Evangeliumswagen nach Unheim zu fahren. Er hielt Rohde zurück, als dieser sich unter Dankworten verabschieden wollte. Er sagte: »Geben Sie gut auf den Menschen acht, denn dieser russische Flüchtling Jellinek treibt gerne einen Unfug. Ich stellte ihn vor der Bestellung ein; er ist ein fixer Arbeiter, aber seit dem letzten Hiersein meines Bruders ist er diesem verfallen. Ich glaube gewiß, er heftet sich an mich, weil er bestochen ist und mich umlauert.« Als Rohde bedauerte, daß diese unselige Feindschaft des Bruders noch immer Schatten werfe, zeigte Schindler eine tiefe Bekümmernis: »Ja, Herr Rohde, das wird erst enden, wenn einer von uns beiden das Feld geräumt hat.«

Als Rohde von Unheim zurückkehrte und zur Behandlung des kleinen Heinrich auf dem Richterschen Hof erschien, empfing ihn die Bäuerin mit einem schmerzlichen Aufblick; sie wußte bereits um seinen Weggang und sagte, während sie Handreichungen tat und den Knaben entkleidete: »Nun werden Sie Kind Heinrich auch nicht mehr lange behandeln.« »Ich bleibe so lange, bis ich erkenne, daß ich nichts mehr tun kann«, erwiderte Rohde. »Aber freilich ist der Zeitpunkt nahe. Freuen Sie sich darüber nicht, Frau?« Die Bäuerin machte eine zweideutige Gebärde, und nun wurde es ihm klar, wohin ihr Wünschen zielte.

Die Erwartung des Volkes auf das Ereignis, das da kommen sollte, hatte sich gesteigert. Die Tat des Hermann Dyke schien keine Folgen zu haben: das Amt und die Behörden schwiegen. Gut, so wollte man auf eine andere Tat warten. Und man wartete. Die Sommersaaten waren gesät, gingen auf und gediehen unter dem Wechsel von Sonnenschein und Regenwolken. Nun, mochten sie wachsen und eine gute Ernte verheißen, wenn die Regierung es bei der Weigerung der Steuerzahlung bewenden ließ, wohlan, so wußte der Bauer wohl den weg, der zur Rettung führte.

Da endlich geschah unerwartet, was man ersehnte. Am Abend des Tages, da der Evangeliumsmann nach Unheim gefahren war, machte Waldemar Schindler zeitig Feierabend. Er bürstete den Staub aus seiner Joppe, zog seine Sonntagsstiefel an, band einen weißen Kragen um und knotete sorgfältig sein Halstuch. Also feierlich geziert begab er sich in das Richtersche Haus. Er traf die junge Bäuerin auf dem Hausflur, sie sah ihn ein wenig verwundert an, weil ihr sein ungewöhnliches Auftreten auffiel, und beeilte sich, ihn zu ihrer Schwiegermutter zu führen. »Nein, heut gilt dir mein Besuch, Käte«, sagte er. »Bist du fertig mit dem Tagewerk?« Sie sah aufs neue verwundert auf und öffnete dann die Tür zu der Stube, die auf der andern Flurseite lag. Hier ließ sie ihn in dem alten Ohrenlehnstuhl Platz nehmen, setzte sich auf den Fensterplatz und erwartete seine Rede. Der Waldemar begann denn auch nach seiner Art etwas umständlich von dem Weggang Rohdes zu reden, erzählte, wie der Mann, den er wegen seiner Tätigkeit hochschätze, zu ihm gekommen sei, wie er ihm Vorspann gegeben, wie Jellinek ihn nach Unheim gefahren habe. Er endete mit der Frage nach dem Befinden Kind Heinrichs und schwieg dann plötzlich. Die Bäuerin, die nicht ahnte, worauf er hinaus wollte, hatte weder ja noch nein gesagt. Das Gespräch über Rohde war ihr unangenehm. Es war ihr nicht entgangen, daß das Geschwätz sich ihres Verhaltens zu dem Wanderprediger bemächtigt hatte. Um so erstaunter war sie, als Waldemar Schindler nach einigem Hin- und Herreden begann, davon zu reden, wie er seit seinen Jugendtagen auf sie gesehen als auf etwas Besonderes, und wie ihm ihre Art Achtung abgenötigt habe. Die Pflege ihres kranken Mannes, ihre Hingabe an Kind Heinrich und ihre Emsigkeit in der Wirtschaftsführung habe ihm die Augen geöffnet, daß sie die Rechte sei, die er auf seines Vaters Hof als Hausfrau einführen könne. Er erklärte gleich, die Rechte seines Stiefsohns nicht antasten zu wollen. Ihm sei es nur darum zu tun, an seiner Seite die Frau zu haben, die ihm mit ihrer guten Art das Leben leichter und fröhlicher mache.

Er hielt inne und wartete. Eine Antwort auf solche Frage forderte Überlegung. Aber Käte Richter gebrauchte viel Zeit zur Antwort. Sie saß unbeweglich auf ihrem Platz und blickte auf den Hof, der halb im Mondlicht lag. Ihre Antwort war fertig, seit sie gemerkt hatte, auf was der Waldemar hinaus wollte. Aber sie zögerte. Waldemar Schindler war ein Mann, auf dem kein Tadel haftete; sie wußte auch, daß er es redlich meinte und daß auf ihn für ein Leben Verlaß sei. Der Zwist in seinem Hause freilich ... Aber auch da hatte er sich nach dem Urteil aller Verständigen redlich gehalten. Vielleicht, wenn nicht die Unruhe in ihr gewesen wäre, die sie zu dem reifen fremden Mann trieb ... Aber diese Wallung entschied.

Sie wandte ihm endlich ihr Gesicht auf einen Augenblick zu; dann blickte sie wieder hinaus. »Danke dir, Waldemar, daß du an mich gedacht hast, als du mit dir zu Rate gingst, wen du freien wolltest. Aber ich muß dir offen sagen, was ich denke. Ich glaube, Größing und Kind Heinrich wären keine Gründe, die dagegen sprechen. Aber ich selbst kann nicht ja sagen dazu. Ich würde ein zu tiefes Grauen empfinden, wenn ich in ein Haus einziehen sollte, in dem ein solcher Unfriede herrscht wie in deinem.« Schindler senkte sein Gesicht. Er erwiderte nichts; auf diese Absage hatte er nicht gerechnet. Es gab ja in vielen Häusern Zwist zwischen alt und jung, und dabei wurde doch gefreit. Aber freilich, die Käte hatte immer etwas Besonderes und Behütetes dargestellt. Er erhob endlich seine Stirn: »Ja, Käte, wenn dies der wahre und einzige Grund deiner Weigerung ist ...« Die junge Witfrau errötete. Sie fühlte sich ob ihrer Unaufrichtigkeit vor diesem ehrlichen Gesicht beschämt. Aber ihre Verlegenheit bemerkte er wohl nicht in der Dämmerung, und sie beantwortete seine Worte nicht. Sie saßen einander gegenüber ohne zu sprechen, wie es die Art unverbildeter Menschen ist, die einander nichts mehr oder nur noch zuviel zu sagen haben. »Ja, dann will ich gehen, Käte. Entschuldige meine Anfrage.« Sie gab ihm die Hand und sagte: »Habe Dank, Waldemar. Und wir wollen darum doch gute Freunde bleiben.«

Sie blickte ihm nach, als er aus dem Schatten der Stallung in das helle Mondlicht trat. Kein leisestes Bedauern rührte sie an, aber sie dachte daran, wie wunderbar es doch zugehe, daß zwischen drei Menschen das Spiel der Herzen keinen Gewinn abwerfe, weil Wunsch und Bestimmung einander durchkreuzten.

Der junge Bauer ging die Dorfstraße entlang. Er hielt sich im Schatten der Häuser, er mochte nicht gesehen werden. Jemand ging vorüber und grüßte; er schritt ohne zu danken weiter. Diese Ablehnung der jungen Frau erschütterte ihn mehr, als er geglaubt hatte. Freilich, er hatte damit gerechnet, daß sie nein sage, aber im Ernst hatte er es nicht für möglich gehalten. Nun ging er dahin wie ein Mensch ohne Heimat; wie einer, der den Ring verloren, der seines Lebens Glück verbürgt. Er schlug den Feldweg ein und ging zwischen den Äckern wie ein Träumender. Er fühlte die ganze Schwere seiner Verlassenheit, obgleich er sich sagte, daß Frauenwort nicht unwiderruflich sei. Was hatte er vom Leben gehabt? Bis vor kurzem hatte er unter dem Alten gestanden. Gut und gerecht war der Alte gewesen, aber er hatte sich doch nur als ein Knecht gefühlt. Nun, da er das Leben als freier Mann anpackte, gingen ihm seine Pläne gleich in Scherben. – Er war bis zum Dreiwegestein gelangt. Der uralte narbige Geselle stand wie eine Last der Vergangenheit dunkel und drohend im Mondlicht. Drüben ragte das Hünengrab auf, dort, wo die Gemarkung drei Dörfer schied. Gegen die Frau, die ihn fortgeschickt hatte, empfand er keinen Groll. Eigentlich hatte sie ja recht: sie verlangte nach einem ruhigen Leben; das aber vermochte er ihr nicht zu versprechen. Wer trug die Schuld? Wieder dieser Konrad, der auch sein Leben vergiftete. Er fühlte, wie der Haß gegen den Bruder in ihm aufstieg. Wie hatte der Evangeliumsmann gesagt? Die Sünde ruht vor der Tür, und nach dir verlangt sie; du aber herrsche über sie. War das möglich? Den Haß auszurotten gegen den, der einem alles zerbrach? Waldemar lehnte an dem Stein und blickte über die Felder hin, die ein leichter Dunst zu verschleiern begann. Endlich raffte er sich auf und trat den Heimweg an. Hatte ihm der alte Runenstein Trost zugesprochen? Keiner weiß es. Keiner hat ihn heimkehren sehen.

*

Am nächsten Morgen stand Rohde in der Schreibstube des Gemeindevorstands; er stand da wie ein Bittender. Howe saß an seinem Schreibschrank und vollzog ein Schriftstück. Endlich blickte er auf, behielt aber die Feder in der Hand. »Also was wollen Sie?« »Ich wollte um die Erlaubnis bitten, hier eine Woche lang abends Andacht zu halten.« Der Bauer erwiderte scharf: »Sie fragen um Erlaubnis und nahmen sie sich bereits.« »Mein Wagen hat vier Räder. Wenn ich nicht bleiben darf, ist er leicht zu bewegen.« »Was wollen Sie eigentlich hier?« »Den Menschen ein wenig Hoffnung auf Besserung machen. Der Parteihaß schlägt Wunden, die langsam heilen.« »Dafür haben wir einen Pastor.« »Ihr junger Pastor ist gut, aber zwei können mehr wie einer.« Der Bauer warf die Feder hin und lehnte sich in seinen Stuhl zurück; dabei sah er Rohde durchdringend an: »Viel zu viel wird geredet, wir gebrauchen Taten. An den Pastoren hätten wir grade genug, jetzt fangen die Bauern auch an zu predigen.« »Daran sehen Sie, wie not es dem Menschen tut, wenn Gott den Bauern gebietet, zu euch Landleuten zu reden.« Howe nahm die Feder wieder auf und setzte seinen Namen unter das beendete Schriftstück. Für ihn schien die Angelegenheit erledigt. Rohde wartete stehend auf den Bescheid. Als der Gemeindevorsteher das Löschblatt vom Bogen hob, begann der Fremde aufs neue: »Also ich bleibe hier, nicht wahr, Herr Howe? Sie hätten mir die Erlaubnis schließlich auch schriftlich erteilt. Doch ich kam selbst, weil ich Ihnen etwas zu sagen habe. Sie sind in Sorgen, weil einer hinter Ihre Pläne sieht und sie aufdeckt. Ich erkläre Ihnen feierlich und auf mein Wort: der Verräter bin ich nicht.« Howe starrte den Gast erstaunt an. »Aber Sie kennen ihn?« »Um Ihre Dinge kümmre ich mich grundsätzlich nicht. Ich treibe Besseres als Ihre Politik fordert.« Plötzlich erhob sich Howe, die Männer standen dicht, fast Brust an Brust, sich gegenüber.

»Wohlan«, sagte Howe. »Sie mögen bleiben. Aber als Gegenleistung verlange ich von Ihnen, daß Sie mir den Namen des Verräters sofort mitteilen, sobald Sie ihn erfahren. Das wird Ihnen nicht schwer fallen, da allerlei Leute zu Ihnen kommen.«

Diese Zumutung verschlug Rohde die Sprache. Da war dieses Ansinnen schon wieder, das sich zwischen ihn und seinen innersten Beruf drängte. Jetzt wollte man ihn zu dem machen, dessen man ihn vor kurzem beschuldigt hatte. Aber er kam nicht dazu, seine Antwort auszusprechen. Auf der Dorfstraße war plötzlich eine Bewegung der Unruhe. Gerade vor Howes Hof sprang ein Radfahrer, der in schnellster Fahrt ankam, ab und um ihn sammelten sich Menschen mit den Anzeichen eines Schreckens. Howe wandte sich um, schaute hinaus, trat an das Fenster und öffnete es. Verworren klangen die Stimmen herüber. Der Mensch, der eine Nachricht brachte, kam auf Howes Haus zu, ihm folgte die Menge. Einen hörte man sagen: Wie war das nur möglich? Der Bote zuckte die Achseln.

Die beiden Männer im Zimmer empfanden die Spannung als unerträglich. Howe rief aus dem Fenster: »Aber zum Kuckuck, was habt ihr nur! Geht's an mich, so beeilt euch!« Endlich trat der Bote ein, es war ein Besitzerssohn aus Kniephagen. Sein Gefolge drängte nach, der kleine Raum war mit Menschen angefüllt. Von der eiligen Fahrt erhitzt, von der Schreckenskunde erregt, sah der junge Mensch völlig verstört aus und rang nach Atem. »Nun, was gibt's, Moritz?« fragte Howe. Da schrie ihm der Mann entgegen: »Herr Howe, sie haben eben bei uns im Dorf den Waldemar Schindler ermordet gefunden. Sie möchten bald kommen, Sie sollen als Zeuge zugegen sein.« – Es war, wie es immer ist: der Bote hatte seine Botschaft maßlos übertrieben. Als Howe den Schindlerhof betrat, fand er aufgeregte Gruppen von Menschen und erfuhr, daß Waldemar zwar überfallen war, da er am letzten Abend seine Kammer betrat, und daß man ihn übel zugerichtet am Morgen in seinem Blute gefunden hatte, daß aber sein Leben nicht gefährdet sei. Die Herren vom Gericht waren bei ihm, aber er sollte nicht vernehmungsfähig sein. Wenigstens war der Arzt, der ihn verbunden hatte, noch bei ihm. Die Frage nach dem Täter habe Waldemar wohl beantwortet. – Nein, er habe niemand erkannt. Auch könne er nicht vermuten, wer der sei, der ihm aufgelauert habe. Der Landjäger, der Howe dies berichtete, meinte, der Verwundete werde wohl Bescheid wissen. Aber fürs erste müsse man sich damit begnügen. Man sei schon einem auf der Spur. Nein, der Konrad Schindler käme nicht in Frage, der sei seit einigen Tagen in Berlin und noch nicht zurück. Aber ein anderer! Und der Wachtmeister ließ durchblicken, wen er meine: den Jellinek, der am gestrigen Abend von Schindler entlassen war und dessen mörderisches Messer man am Tatort gefunden habe. In diesem Augenblick ging eine Bewegung durch die Menge. Man reckte die Köpfe und drängte zum Hofeingang. Dort hielt ein Wagen. Zwischen den beiden Landjägern saß der Russe, von dem eben gesprochen war. Als er abstieg, sah man, daß er gefesselt war. Der arme Schächer blickte verängstigt auf die Menschen, die ihn drohend umstanden. Böse Blicke stachen ihn wie spitze Waffen. Plötzlich begann er zu schreien: »Ich bin unschuldig, ich war es nicht. Ich kehrte nur zurück, um mein Messer zu holen, das ich hier vergessen hatte.«

Man hörte nicht auf ihn. Seine Begleiter schoben den Schreienden in das Haus.

*

Die erschütternde Tat, die an Waldemar Schindler geschehen, schien vergessen, als man ihn in das Krankenhaus eingeliefert hatte. Das machte, es gingen zu viele und schwere Wellen über die Seelen der Menschen hinweg. Da war zuerst die Angst vor dem nahenden Johannistermin, an dem die meisten ihre Schuldenzinsen zu entrichten hatten. Wie sollten die beschafft werden? Und wenn man sie nicht aufbrachte, was dann, was dann? – Und dann war der sengende Ostwind gekommen, der in unsern Küstenstrichen beinah in jedem Frühjahr einfällt und der der Vernichter der sprossenden Felder ist. Er trägt den Geruch östlicher Steppen mit sich, trinkt jede Wasserlache auf, dringt erkältend durch jede Türritze und singt brausend sein schauriges Lied bei Tag und bei Nacht. Dann liegen die blaßblauen Hyazinthen wie niedergestampft am Boden der Vorgärten und die Narzissen zittern wie frierende Waisenkinder in ihren dünnen Sonntagskleidern. Aber noch übler ergeht's den Feldern. Die Halme der Brotfrucht, die sich nicht bestocken, liegen unter seinem Atem wie gemäht und das Sommerkorn wagt nicht sich aufzurichten. Dann werden die schweigsamen Menschen stumm und in ihren Augen brennt die Frage: Wird der Boden unsre Mühe in diesem Jahr lohnen oder verdorrt seine Kraft unter der Faust des Würgers?

Aber in diesen Tagen war es noch eine dritte Welle, die über die Menschen des flachen Landes ging und sie für andere Fragen taub machte. Jesko von Cedergren war aus der Hauptstadt zurückgekehrt und hatte eine Runde mitgebracht, die den verschlossensten Bauern aufhorchen ließ und aus dem starrsten Angesicht einen Funken schlug. Denn es wurde in Deutschland damals ein Name genannt, dessen Klang vielen Ohren vertraut war, der aber jetzt plötzlich mit der großen Not des Volkes in Verbindung gebracht wurde. Und der junge Cedergren hatte es gewagt und hatte diesen seltenen Mann aufgesucht. Was er dort gesprochen und was ihm jener geantwortet hatte, das lag wie unter Riegeln in seiner Seele verschlossen. Aber das sagte er: Haltet aus, ihr Männer, haltet noch ein wenig aus. Der Mann, dessen Namen ihr kennt, der wird euch helfen, und der Tag, da er es kann, der ist nahe. Sie standen um ihn her, wenn er so redete, blickten ihn von unten herauf an und zuweilen wurden ihre Gedanken laut: Wie kann uns der helfen, der keiner von den unsern ist? Wie will uns ein Fremder erretten?

Und Jesko hörte diese stummen Fragen. Aber er antwortete nur: »Habt Geduld bis zum nächsten Sonnabend, da will ich euch mehr sagen.« –

Aber am Abend des Versammlungstages wurde die Frage nach der Täterschaft doch wieder rege.

Als es schon dunkel war, kam Lotte, die mit Hermann Dyke versprochen war, eilig laufend auf den Dykehof. Der junge Bauer stand am Fenster, um den Vorhang niederzuziehen, als er die Tritte hörte; die klangen, als kämen sie von einem Menschen, der auf der Flucht war. In dem Schatten, der sich hastig dem Hause näherte, erkannte er sein Mädchen. Da lief er zur Tür und fing sie in seinen Armen auf. Sie war völlig verstört. Mit gelöstem Haar und weiten Augen, in denen das Entsetzen stand, hing sie an ihm, als wolle sie zusammenbrechen. Auf alle Fragen, die er tat, antwortete sie nur mit einem: Ach, mein Gott! Er führte sie in die Stube, wo die Lampe auf dem Tisch brannte; hier sank sie völlig entkräftet auf den nächsten Stuhl. Allmählich erst fand sie die Worte, um das Gräßliche zu schildern, das sie erlebt hatte. »Sie waren hinter ihm her. Oh, es war gräßlich, wie sie ihn jagten.« Sie war bei einer Tante aus ihrer mütterlichen Verwandtschaft in Ükershof gewesen. Auf dem Hinweg hatte sie Hermann getroffen, der ihr geraten hatte, vor dem Dunkelwerden heimzukehren. Doch hatte die Kranke, die sie besuchte, ihre Hilfe beansprucht und die Besorgungen hatten sie Hermanns Rat vergessen lassen. Als sie auf dem Heimweg in die Nähe des Heidengrabes gekommen war, hatte sie gemerkt, daß Männer dort eine Zusammenkunft hatten, die trotz Wind und Wetter von vielen besucht war. Sie war aber mit abgewandtem Gesicht vorübergegangen, hatte getan, als bemerke sie nichts und war von denen, die dort ihr Wesen trieben, unbehelligt geblieben. Da, als sie schon bei den witten Kierl, den Schlehenbüschen an der Kniephäger Feldmark gewesen, habe sie plötzlich eine starke Bewegung hinter sich vernommen. Ihr war, als sei ein Pferd aus der Koppel ausgebrochen und jage in vollem Galopp auf sie zu. Als sie stehen blieb und sich umwandte, habe sie freilich erkannt, daß der Flüchtling ein Mann sei. Ja, ein Flüchtling! Denn hinter ihm drein seien drei oder vier andere gesprungen, die ihn in nicht zu fernem Abstand verfolgten. Das Gewölk vor der Mondsichel war grade vom Wind zerrissen, so daß ein schwaches Licht den Weg auf kurze Sicht erhellte. Da war auch schon der Verfolgte heran und an ihr vorüber. Erkannt hatte sie ihn nicht; ihr schien, als habe er etwas vor seinem Gesicht getragen, aber das wisse sie nicht genau. Jedenfalls war der Mann im Hui an ihr vorbei. Die Männer, die hinter ihm her waren, hätten still gestanden, da sie ihr nahegekommen, hätten ihre Stöcke kurz gefaßt und kehrt gemacht. So sei sie ohne ihr Verdienst dem Gejagten eine Retterin geworden. Aber als dieser längst vor ihr verschwunden war, habe sie erst das Entsetzen gepackt, die Angst vor etwas Gewaltsamem, Heimlichem, dem man nicht nachforschen dürfe, das aber wie eine böse Macht über dem Land gelegen habe und das nun sie in die Flucht getrieben, die gottlob schnell geschehen konnte, weil sie den Wind im Rücken hatte.

Die Männer schwiegen, als sie ihren Bericht beendet hatte. Auf der Schwelle aber stand die Bäuerin: »Es war der Mörder.« Und als die andern verwundert aufblickten, fuhr sie fort: »Ich weiß es von Mutter: er ist nicht in der Stadt, er läuft hier umher. Wer? Ihr wißt es alle, wer es ist. Den Jellinek aber werden sie bald entlassen müssen.«

Am nächsten Abend saßen Vater und Mutter Dyke mit Hermann am Tisch. Der Jungbauer blätterte in der Zeitung, denn es war noch zu früh, um seine Braut aufzusuchen. Die Bäuerin strickte, Johannes Dyke saß über die Bibel gebeugt. Aber er war heute ein unachtsamer Leser. Die Gedanken fuhren durch ihn hin wie windgejagte Vögel. Er dachte an die Erzählung von dem Ring auf Rosenau. Dann fuhr sein Finger über die Zeilen: Ihr seid es nicht, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet. Dann wieder gingen die Gedanken zu dem Mörder, der im Dunkel schlich. Bei diesem Wetter unstät und flüchtig sein. Er horchte auf. Es war so ruhig draußen. War der Sturm zur Ruhe gekommen? Und er las: Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten ... Er ertappte sich gleich darauf, daß seine Gedanken bei der Botschaft waren, die Jesko gebracht hatte. War es denn denkbar, daß dies Elend ein Ende nahm? Daß es einen Menschen gab, der den Mut besaß, diese Schlammflut eindämmen zu wollen? Johannes Dyke las das Wort: Wer bis an das Ende beharret, der wird selig.

In diesem Augenblick hörte man ein Krachen und den Hall eines furchtbaren Schlages. Der Sohn sprang auf und lief in den Hof. Er kam nach kurzer Zeit zurück: »Der Wind hat die Pappel vor Appelmanns Hof umgeworfen.« Dyke fragte: »Der Sturm? Aber der hat ja längst aufgehört.« Der Junge zuckte die Schulter: »Ja, Vater, sie liegt quer über die Straße.«

*

Ja, der Wind hatte gute Arbeit gemacht: der gestürzte Baum sperrte den Weg vollkommen. Oder war es der Sturm gar nicht? Die Nachbarn, die den Schaden besahen, deuteten stumm auf die weißen Späne, die von Abschlägen herrührten, und auf das Sägemehl. Und übrigens war die Straße auf der andern Seite des Waterstradschen Hofes durch einen breiten Graben gesperrt. Das hatte sicher kein Sturm getan. Die Männer nickten Waterstrad zu, als dieser an seinem Tor erschien, und wandten sich stumm ab. Worte waren hier vom Übel. Und übrigens war heute der Tag, der allerlei bringen konnte, vor allem die zwangsweise vollzogene Ausweisung Waterstrads von dem Boden seiner Väter. Waterstrad ging in das Haus. Die Frau blickte mit scheuen Augen an ihm vorbei. Aus der Stube drang das Weinen eines Kindes. Dem Mann lief ein Zucken über das Gesicht. Er blieb unschlüssig einen Augenblick stehen und erhob die Hand zur Türklinke. Dann aber ging ein gewaltsames Zusammenreißen durch seinen Körper. Er verließ das Haus durch den Küchenausgang und betrat den Kornboden. Die Blicke der Bäuerin folgten seinem planlosen Hin- und Herwandern. Seitdem die Mitteilung von der zwangsweisen Räumung seines Hofs an ihn gelangt war, hatte der ohnehin schweigsame Mann kaum noch gesprochen. Selbst die beiden Kinder, an denen doch sein Herz hing, hatten ihm keinen Laut abgenötigt. Seit sechs Tagen lief der Mann ziellos auf dem Hof und in den Gebäuden umher, packte einen Spaten an, stellte ihn wieder in den Winkel, lehnte im Schweinestall stundenlang über leere Buchten, kramte auf dem Hausboden zwischen altem spinnwebenbedecktem Gerümpel. Und hinter ihm drein lauschte und spähte die Frau: Wenn er sich nur kein Leid antut! Der Gedanke ließ ihr bei Tag und Nacht keine Ruhe mehr; dieses bange Hüteramt trieb sie vom Herd fort und vom Lager auf.

Es war hier gegangen, wie es in dieser argen Zeit zahllosen Menschen erging, die mit dem weißen Stab heimatberaubt durch das Land zogen. Der große Menschheitsbetrug, den sie Inflation nennen und der die größte Vergiftung einer Kulturzone darstellt, hatte Waterstrads Hof zunächst einmal schuldenfrei gemacht. Aber die Freude hatte kurze Dauer. Die Bedürfnisse waren gestiegen, und man mußte neue Gelder aufnehmen, deren Zinsen unberechenbar hoch waren. Die Anforderungen wuchsen in dem gleichen Maß, als die Steuern wuchsen und die Kornpreise sanken. Vor allem, es war den Menschen das Urteil über das, was recht und unrecht, nützlich und unnütz, gut und böse war, völlig abhanden gekommen oder verwirrt. Man lebte in den Tag hinein mit dem Galgentrost, der nächste Tag würde die Mängel von gestern beheben, während der feste Grund unter den Füßen wie Flugsand zerrann. Und dann war es plötzlich soweit: Alles zu Ende! Die Hofstatt, die Stuben, in denen er die ersten Schritte getan, in die er seine junge Frau führte, gehörten nicht mehr ihm, waren von fremden Händen ihm entrissen. Er ging über den Acker, der ihm jahrelang Brot gegeben, sagte laut vor sich hin: Der ist nicht mehr dein, und glaubte es doch nicht.

Der Bauer sah durch die Bodenluke in den Hof hinab und maß den Abstand, ob ein Sprung genüge, ihm den Rest zu geben. Nein, er genügte nur, ihm die Glieder zu zerbrechen. Halbe Arbeit!! Wozu von den Bedrängern verlangen, daß sie einen Krüppel davonfahren sollten? Aufrecht wollte er von dannen gehen. Er erblickte den jungen Appelmann, der jetzt den Hof betrat. Er trug einen Packen unter dem Arm, blickte zu ihm auf und nickte ihm ernsthaft zu. Dann hörte Waterstrad ihn die Treppe emporkommen. Droben warf er den Packen zu Boden und reichte dem Bauer die Hand. »Die schwarze Fahne! Die Stange, um sie aufzuziehen, müßten Sie geben.« Waterstrad zuckte die Schultern. Er wies auf ein Bündel Latten, die im Dachwinkel lagen, und sah dann zu, wie Appelmann das Fahnentuch entfaltete, die Schnur an der Stange befestigte und diese aus der Dachöffnung heraussteckte. »So, nun wissen die Herrschaften gleich, was los ist. Die bewaffneten Hüter der Ordnung werden bald eintreffen, und zwar ziemlich zahlreich; aber wir werden ihnen aufwarten. Haben Sie heute schon auf die Straße geblickt? Nun also, so werden Sie wissen, daß Roß und Rad nicht passieren kann.« »Wer hat die Pappel umgelegt?« fragte der Bauer. »Natürlich der Wind; aber Späne fielen wie von der Axt.« Er lachte laut; Waterstrad wußte, daß jener der Haupttäter beim Sperren der Straße gewesen war. Aber die Art, wie er es zugab, verdroß den Bauer. Überhaupt diese ganze Machenschaft mit der schwarzen Fahne und anderem! Was wollten denn die Nachbarn und die Standesgenossen rundum? Sie wollten ihre eigne Sache führen, auf ihre Not aufmerksam machen. Er, der Waterstrad, war trotzdem seinem Elend verfallen, und keine Fahne und kein gefällter Baum würde den Ablauf seines Schicksals aufhalten. »Da kommt schon der erste Landjäger«, sagte Appelmann, der auf den Hof gesehen hatte. »Also auf keinen Fall wird die Fahne eingezogen. Schließen Sie die Bodentür ab und werfen Sie den Schlüssel in die Jauchetonne. Sie riskieren ja nichts dabei.«

Der Landjäger, der zu Rad vor den andern eintraf, hatte die Unglücksfahne wohl bemerkt; er tat aber, als sähe er sie nicht. Er trat in das Haus und ging in die Küche, wo die Frau mit den Kindern auf der Waschbank hockte. Das Feuer auf dem Herd war erloschen. Der unentbehrliche Hausrat hing an den Wänden. Die Auszugstimmung beherrschte das Haus, vor einiger Zeit war schon einmal die Räumung des Hofes amtlich angeordnet, aber durch eine Kundgebung verhindert worden. Seitdem lebten die Waterstrads ein Leben peinvoller Erwartung. Die Frau vor allem wünschte, daß dieser Zustand zwischen Hoffen und Wahrscheinlichkeit ein Ende nehme. Schließlich war dieser Aufschub nichts als das Leben eines verurteilten, für den ein Gnadengesuch eingereicht war. Die Frau sah angstvoll auf den Beamten, der während der letzten Monate hier aus und ein ging. Er war ein freundlicher, mitfühlender Mensch, aber doch derjenige, der den Stoß auf sie führen mußte. »Guten Morgen, Frau Waterstrad,« begann er, »wo ist Ihr Mann?« Sie machte eine Gebärde der Ungewißheit. Der Landjäger fuhr fort: »Was ist denn nun wieder gemacht? Ein Baum umgelegt, die Straße aufgerissen und aus dem Dach hängt die schwarze Fahne.« »Wir sind daran nicht beteiligt«, antwortete sie mit leisem Trotz, aber sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme in einem Schluchzen brach. Der Landjäger wußte, wie der Frau ums Herz war; sein Elternhaus lag in Schleswig und der Hof, auf dem er groß geworden, war auch bedroht. Er hatte eine Strafpredigt in Bereitschaft, wie das seine Stellung verlangte, aber angesichts dieser verzweifelnden Mutter erkannte er, daß er besser schweige. Er war vor den andern gekommen, um den Auszug vorzubereiten.

»Was wollen Sie denn nun mit uns anfangen?« fragte die Frau. Im Grunde war ihr alles gleich, sie war innerlich so zerbrochen und in ihr Schicksal ergeben, daß sie keine Hand rühren mochte, um ihre Lage zu verbessern. Zudem hatte ihr Mann ihr aufgetragen, alles, was noch da war, an seinem Ort zu lassen; wenn die Polizei räumte, so mochte sie sorgen, wie die Möbel und Gerätschaften fortgeschafft würden. Der Landjäger sagte begütigend: »Nun, ich weiß, daß Sie den Baum nicht schlugen, sondern diese widerhaarigen Menschen aus den andern Dörfern. Aber Sie haben doch zuletzt den Schaden davon. Das Amt hat einen Wagen gestellt und Leute, die Ihre Sachen aufladen. Wenn dies nun alles umständlich wird, so ist es Ihr Nachteil.«

Die Bäuerin fragte nur: »Wohin?« Aber darauf konnte der Landjäger keinen Bescheid geben.

Jetzt wurde die Haustür geöffnet, es kam jemand in die Küche. Der Landjäger entfernte sich. Es war nicht nötig, daß jemand sah, wie er mit der Frau sprach. Er war im Dienst und der Dienst schloß Vertraulichkeiten aus. Er war erstaunt, als er in dem Eintretenden den Pfarrer Prätorius erkannte. Er grüßte und ging vorüber.

Er traute seinen Augen nicht, als er den Hof betrat: die ganze Hofstatt war erfüllt von Männern, die ihn feindselig betrachteten oder an ihm vorüberblickten. Er kannte die meisten: Leute aus Ükershof scharten sich um den alten Henneke. Da waren Männer aus Neu-Bukow, aber auch Tagelöhner von Rosenau und Plessow. Was wollten diese Kerle hier, wo es um Bauerngrund und -boden ging! Wollten die Männer wirklich bezeugen, daß alle, die von der Scholle waren, zusammenhielten, jetzt, wo es um Sein oder Nichtsein der Menschen von der Scholle ging? Nun, die würden schon Augen machen, wenn das Kommando der andern Landjäger anrückte.

Und er drückte sich unauffällig von dem Hof, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er wollte jedenfalls im Krug, wo ein Fernsprecher war, eine Meldung aufgeben.

Der junge Pfarrer war in dem Drang, helfen zu wollen, gekommen. Der Gedanke an die Waterstrads hatte ihm keine Ruhe gelassen. Nun stand er in der Küche, streichelte den Kindern das Haar und sagte dann und wann ein gutes Wort zu der Frau, von dem er nicht wußte, ob sie es aufnahm. Diese steinerne Ruhe der Frau war ihm unheimlich. Als dann der Bauer eintrat, reichte er ihm die Hand: »Behalten Sie Ihre Zuversicht. Der Hof ist voll von Ihren Leuten, die kamen, um Ihnen beizustehen. Und überdies, Gott sitzt im Regimente.« Waterstrad zuckte die Schultern: »Gott läßt täglich viele deutsche Bauern von Haus und Hof jagen. Glauben Sie, er mache mit mir eine Ausnahme?« Prätorius hielt die harte Hand des Mannes in der seinen fest. Er wollte ihm nicht sagen, daß er Jesko Cedergren getroffen, der zum Landrat geeilt war, um wegen irgendeiner Formalität den Aufschub der Exmission zu erlangen. Warum sollte er dem Mann Hoffnung machen; er selbst glaubte wenig an diesen Erfolg.

In diesem Augenblick erklang auf der Straße der Ruf einer Hupe und man hörte einen Kraftwagen abstoppen. Gleichzeitig erschienen im Hofeingang sechs Landjäger, die beim Anblick der Menge stehen blieben und sich berieten. Man sah jetzt auch, daß ein Lastwagen vor der gefällten Pappel am Rande der Straße hielt, neben dem ein Trüpplein Männer stand, die wohl den Erwerbslosen zuzuzählen waren. Der gefällte Baum und der Quergraben hatten den Plan der Polizei geändert. Man konnte nun nicht daran denken, den Rollwagen auf den Hof fahren zu lassen, dann alle bewegliche Habe schnell aufzuladen und in Kürze davonzufahren. Ein Polizist winkte die Lader herbei; man gab ihnen Verhaltungsmaßregeln und führte sie auf das Wohnhaus zu, ein Landjäger vorn, einer hinten. Die übrigen verteilten sich auf verschiedene Posten. Eine Gasse öffnete sich für die Lader. Die Worte, die man ihnen zurief, hörten anfangs nur sie: »Ehrlose! Spitzel! Verräter!« Den Männern, die diesen Dienst unfreiwillig übernommen hatten, stieg die Röte in die Stirn. Einer zuckte die Schultern, die andern sahen starr vor sich zu Boden. Der Polizist an der Spitze blieb stehen und sah in die Richtung, wo ein beschimpfendes Wort gefallen war, aber er erkannte die Unmöglichkeit, unter den vielen Angesichtern, die ihn böse anstarrten, den Rufer herauszufinden. Die Träger betraten das Haus und kehrten nach einer Weile mit Geräten in den Händen zurück. Es war ein langer Weg bis zu dem Wagen. Und wieder führte er durch die enge Menschengasse, wieder fielen die beißenden Worte und Fäuste hoben sich drohend vor ihnen. Wo sie gingen war ein Murren des Unwillens und Reden des Hasses und der Verachtung. Es war unerträglich. Als sie das zweite Mal das Haus verließen, kamen sie mir leeren Händen. »Beeilen Sie sich und nehmen Sie die Arme voll«, mahnte der Führer der Landjäger, der stumm und in scheinbarer Gelassenheit vor der Haustür Posten gefaßt hatte. Aber die Träger blieben stehen und erklärten, daß sie ihren Dienst aufsagten: unter diesen Umständen sei es unmöglich zu arbeiten und sein Versprechen zu halten, man müsse gewärtig sein, später von dem Landvolk kurz und klein geschlagen zu werden. Der Oberlandjäger wollte erwidern, wozu er und seine Leute denn da seien; ein Wort wie Feigling schwebte ihm auf den Lippen. Aber er ließ die Weigerung unerwidert. »Gut, gut, gehen Sie schon, gehen Sie mitsamt Ihrem Wagen. Wenn die Leute verhindern, daß Waterstrad seine Möbel mitnimmt, so werden sie ihn doch nicht halten.

Er öffnete die Haustür und trat mit einigen seiner Leute ein. Eine große Stille war auf dem Hof, als sich die Tür hinter ihnen schloß. Was dort innen vorging, es war nicht auszudenken: die Wurzeln einer Familie wurden aus dem Erdreich ihrer Heimat ausgerissen.

Jetzt war die Tür aufgetan, der Landjäger betrat die Schwelle und wandte sich, um nach denen zu sehen, die ihm folgen sollten. Der Hausvater trat heraus, eingeknöpft in seinen Rock, die Mütze schief aufgestülpt, den Stock in der Hand, das abgewandte Gesicht dunkel und verschlossen. Dann kam die Frau, sie trug das kleine Mädchen auf ihrem Arm. Und dann folgte Prätorius, der den fünfjährigen Jungen an der Hand führte. Als die Frau die Menge der Männer sah, die den Hof besetzt hielten, war es, als träfe sie ein Schlag: sie blieb stehen, ihre freie Hand griff in die Luft, wie die Hand eines Ertrinkenden nach dem überhängenden Ast greift. Sie sank in sich zusammen und ein Schrei stieg ihr vom Munde, ein Schrei, der wie ein Messer die Luft durchschnitt. Mehr als dieser Frauenschrei war nicht nötig, die wie leblos verharrende Menge in Fluß zu bringen. Alle empfanden es jetzt, was dieser Ruf bedeute. Waren sie nicht gekommen, der regierenden Macht zu zeigen, daß der deutsche Bauer nicht mit sich scherzen lasse? Jetzt aber bei dem Zusammenbruch des mütterlichen Weibes empfanden sie das Geheiligte ihres Tuns in seiner Tiefe. In diesem Ruf klangen die Stimmen ihrer Väter wieder, die, Geschlecht um Geschlecht, mit ihrem Acker gelebt und gelitten hatten; sie hörten den Laut des Bodens, den sie bebauten und der ihren Schweiß getrunken; sie vernahmen den Schrei ihrer Mütter, die ihrer Kinder beraubt wurden: »Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.« Dieses alte Bibelwort war es, das wie Gottes Ruf in der Tiefe ihrer Brust widerhallte.

Die Landjäger hatten die Frau aufgerichtet, man redete ihr gut zu: Draußen sei ein Wagen, sie werde gefahren werden. Aber vor dem Draußen stand die Menschenmauer von einem Willen geballt und wankte nicht. »Machen Sie Platz! Gehen Sie fort!« Keine Antwort kam, aber keiner der Männer wich um Fingersbreite. Blicke fuhren auf die Beamten, die sagten mehr als Worte. »Geben Sie Raum!« Die Nächsten zuckten die Schultern. Wohin sollten sie weichen? Und wenn sie zur Seite getreten wären, hinter ihnen stand es Schicht um Schicht. Die Beamten sahen ein, so erreichten sie nichts. Sie waren von jeder Verbindung mit der Straße abgeschnitten. Aber ihre Hilflosigkeit reizte sie und stachelte lange zurückgedrängten Grimm auf. Einer von ihnen lockerte die Waffe, andere griffen zum Gummischläger. Es war nicht zweifelhaft, es mußte in Kürze zum Handgemenge kommen.

Keiner auf dem Hof hatte acht gegeben, welcher Vorgang sich auf der Straße abspielte. Ein Kraftwagen war gekommen, der vor dem Sperrgraben plötzlich halt machte. »Was ist's, Röder?« rief der Herr, der hinten im Wagen saß. »Beinah Hals- und Beinbruch« kam es zur Antwort. »Ein grober Unfug, aber nein, hier ist etwas los. Sehen Sie nur: die schwarze Fahne und diese Männermenge.« Der Herr hatte sich bereits aus dem Wagen geschoben; eine Warnung seiner Fahrtgenossen, sich lieber fernzuhalten, hatte er mit einem unwilligen Achselzucken abgetan. »Das wäre etwas! Man geht, um Bauernnot kennenzulernen, und wenn man sie trifft – husch vorüber.« Die Herren ließen den Wagen stehen und gingen zur Einfahrt des Waterstradschen Hofs. Hier bestieg der Führer, der zuletzt gesprochen hatte, den großen Prellstein, von dem aus er die Vorgänge betrachten konnte, ohne selbst beachtet zu werden. Die Erregung erfaßte ihn auch, und in dem Augenblick, da polizeiliche Gewalt und Bauerntum aufeinanderplatzen wollten, schien er bereit, einen Entschluß auszuführen. In diesem Augenblick stoppte auf der Straße ein Motorrad ab. Der junge Cedergren kam eilends herbei. Er beachtete den Fremden an der Torfahrt gar nicht, er sah nur, daß er noch nicht zu spät kam. »Sieh da,« sagte der Fremde, »unser Freund, der uns einlud!« Jesko zwängte sich durch die Masse der Männer bis nahe an das Haus. Dort sprang er auf den Hauklotz, schwenkte ein Papier und rief: »Ruhe, ihr Männer und Volksgenossen. Die Räumung des Hofs ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Aber wann sie auch stattfinden soll – wir sind bereit.« Er sprang nieder und wies dem führenden Landjäger ein Schreiben. Dieser las und rief seinen Leuten einen Befehl zu. »Es ist ja nur ein Aufschub der Qual, Herr Baron!« Jesko antwortete nicht. Er wandte sich, die Bauern zu beruhigen und fortzuschicken, da erblickte er den Fremden, der ihm ernsthaft zunickte. »Alle Welt, der hat aber sein Versprechen pünktlich eingelöst.« Er nannte einigen von denen, die ihm zunächst standen, den Namen des Mannes, der seit wenigen Monaten in aller Munde war. Und ehrerbietig zog das Landvolk an ihm vorüber.

Und Waterstrad? Und der junge Pfarrer?

Es war das Erstaunliche, Wunderbare geschehen: Es ging einer vorüber an dem Ort, wo ein Menschenbruder in größter Not lag; und er fragte nicht nach dem, was die Leute sagten oder ob es seiner Stellung schaden könne, sondern er blieb stehen und streckte seine Hand nach dem Verlassenen aus und half ihm.

Als dem jungen Pfarrer Prätorius diese Erkenntnis ward, da ging über sein Herz eine brausende Flut hoher Freude. Am liebsten hätte er gesungen oder allen die Hand geschüttelt. Aber da beides sich jetzt nicht mit der Würde eines Pfarrers vertrug, so ergriff er den Knaben, der ihm zunächst stand, und hob ihn mit ausgestreckten Armen hoch in die Luft.

*

Eine Woche vor Pfingsten wurde der kleine Heinrich Richter sehr krank. Rohde, den die Bäuerin herbeiholte, wußte, daß das Kind schon frühzeitig an seinem leiblichen Vätererbe zu tragen haben werde. Er empfahl dringend, einen Arzt zu rufen. Aber Käthe Richter, die nie etwas unterließ, wenn es um Kind Heinrich ging, war dieses Mal säumig. Als sie aber am Freitag den Kleinen halb erloschen sah, packte sie plötzlich die Angst und sie beschloß, sofort Hilfe herbeizuholen.

Also schleunigst in die Krugwirtschaft, wo ein Fernsprecher war. Aber hier erhielt sie den Bescheid, daß der Arzt weit über Land geholt sei; er habe dort bei einer Wöchnerin zu tun und es sei ungewiß, wann er zurückkomme. Die Frau stand wie geschlagen da, als ihr die Wirtin die Antwort mitteilte und den Hörer aus der Hand legte. Käthe Richter hörte noch, wie die Frau ihr riet, den jungen Doktor in Bukow anzurufen, dem man besondere Geschicklichkeit nachrühmte. Nein, sie wollte keinen Fremden; dann müßte sie eben einen andern Weg gehen. Ob die Wirtin wisse, wo der Evangeliumswagen stehe, der ja wohl gestern an einen andern Ort gefahren sei? Dann lief sie, während die Wirtin noch sprach, davon und eilte nach dem bezeichneten Ort.

Sie fand Rohde zum Glück vor, aber sie ließ ihm kaum Zeit, Fragen zu stellen. »Kommen Sie, auf dem Weg sage ich alles, was Sie wissen wollen.« Und Rohde, der die Angst der Frau sah, beeilte sich, ihr zu folgen. Der Abend war dunkel, Wolken verbargen den Himmel und die matte Helle vor der heraufziehenden Finsternis hatte etwas Furchterregendes. Rohde ordnete sofort an, den jungen Arzt zu benachrichtigen und begann, seine heilsamen Striche zu ziehen. In dem Gesicht des Knaben zeigte sich, daß das langsam rinnende Leben in regeren Fluß kam. Nach einer Stunde schlief Kind Heinrich schon und Rohde schickte die Großmutter zu Bett, da fürs erste nichts zu beginnen war. Er selbst wollte die Ankunft des Arztes erwarten und setzte sich in die vordere Stube. Käthe Richter, die wußte, daß er noch nicht zur Nacht gegessen hatte, trug Brot und Fleisch auf. Er aber nahm nur ein wenig trockenes Brot. Die Bäuerin ging wiederholt zu der angelehnten Kammertür und lauschte auf die Atemzüge des Kindes. Endlich sank sie auf einen Stuhl, ihre Arme hingen wie zerbrochen an ihr nieder. Die Erregung der letzten Stunden hatte sie mehr erschöpft als die tägliche Last der Arbeit. Die beiden schwiegen; zuweilen streifte ein scheuer Blick des einen die Züge des andern, aber das Wort, das eine Antwort gefordert hätte, fand keiner.

Plötzlich begann die Bäuerin zu sprechen. Seltsam, sie sprach von sich. Rohde blickte die Frau verwundert an; die Menschen des flachen Landes vermeiden es fast schamhaft, von ihrem Erleben zu berichten. Allmählich wurde er aufmerksam. Die Frau sagte: »Ich habe in meinem Leben nie Glück gekannt, nicht daheim im Elternhaus und hier nicht. Immer war etwas hinter mir, das mich wie mit der Peitsche vorwärts trieb. Arbeit, Arbeit. Sparen, sparen. Vielleicht wäre es in meiner Ehe einmal besser geworden, wenn Größing nicht mehr bei uns gewesen wäre. Aber des Mannes Siechtum kam zu bald und als er starb, blieb mir das kränkelnde Kind. Wissen Sie nun, Herr Rohde, wie es möglich war, als ich Sie sah und Ihre Worte hörte, daß ich bei Ihnen die Zuflucht fand und den Glauben an ein glückliches Leben? Mir war bei Ihrem Anblick, als sagte mir eine Stimme vom Himmel: Der ist's, der dich erlösen kann. Und wenn Sie wollten ... Unser Haus entbehrt den Wirt ... Und Sie ziehen ruhelos in der Welt umher ...« Sie war von ihrem Stuhl in die Knie gesunken, sie fühlte eine brennende Scham, als entkleide sie sich vor diesem Mann. Aber wenn sie auch bis in die Wurzel ihres Frauentums von diesem Bekenntnis erschüttert wurde, ja, wenn sie alles aufs Spiel setzte – sie mußte es ihm einmal sagen, sonst hätten sie diese Gedanken erstickt. Sie hatte ihre Hände wieder wie im Schmerz auf ihren Mund gepreßt. Aufzusehen wagte sie nicht. So lag sie wie eine Büßerin auf dem Boden. Einige Zeit verging, ehe Rohde eine Antwort fand. »Sie tun mir von Herzen leid, Frau, und Gott weiß, wenn ich Ihnen helfen könnte aus Ihrer inneren Not, wie gern ich es tun würde. Aber über allem, was mein Leben regiert, steht der Befehl meiner Sendung. Gott selbst berief mich, da er mir Weib und Kind nahm und meinen Pflug zerschlug und mich in seinen Dienst rief. Daraus kann ich nie treten, ohne untreu zu sein. Es ist auch nimmermehr so, daß ich ruhelos in der Welt umherfahre, wie Sie meinen. Es ist vielmehr ein Dank gegen Gott, den ich ihm darbringen darf und den ich nie unterlassen kann.«

Er hatte eindringlich, aber ruhig gesprochen und Käthe hatte ihm mir abgewandtem Gesicht gelauscht. Seine Worte hatten eine zwingende Macht über sie, aber da sie jetzt die Augen zu ihm erhob und ihn in seiner gütigen Haltung erblickte, da war ihr, als könne sie niemals von diesem Mann lassen. Sie meinte, er nähme ihr Bestes fort, wenn er so von ihr ginge. »wenn Sie so an Ihrem Leben hängen, – ich ginge mit Ihnen, wohin Sie auch immer wollen und wäre es bis ans Ende der Welt.« Es war, als erschrecke er vor dieser schrankenlosen Hingabe. Er schloß seine Lippen fest, als wolle er jeder weiteren Erklärung vorbeugen und seine Stimme klang anders als vorher: »Nein, nein, nein, Frau, was Sie denken, das kann nimmer geschehen, denn es wäre eine Behinderung meines Dienstes. Und auch Sie würden bald inne werden, daß ein besonderer Ruf dazu gehört, um dieses Leben zu tragen. Sie wollen nach harten Jahren glücklich sein. Keine Vereinigung zweier Menschen aber zwingt für sie das Glück herbei. Glück steht an unserm Weg und Unglück steht an unserm Weg und an beiden müssen wir vorübergehen. Wenn zwei sich ganz gehören, dann mögen sie eines überwinden und das andere gemeinsam kosten, erspart aber bleibt ihnen nichts. Um das zu bewältigen, müssen wir stärkere Kräfte als Bundesgenossen haben.« Er erhob sich und ging zur Kammertür. Dort blieb er stehen und sprach zu ihr: »Sie könnten wohl ein gutes Werk tun, Frau Richter. Es kommt morgen einer aus dem Krankenhaus zurück, dem wurde nicht nur von Mörderhand eine Wunde geschlagen. An jenem Abend, da er sie empfing, hatten Sie seine Seele tief gebeugt. Helfen Sie ihm zur völligen Genesung. Er wird Ihnen ein treuer Helfer und für Kind Heinrich ein guter Vater sein.«

Er trat in die Kammer und fand den Knaben in Schweiß und mit den Zeichen der Genesung. Als der Arzt kam, war er verwundert, das Kind so wohl zu finden.

Rohde ging durch die Morgenstille des Samstags vor dem Pfingstfest nach Hause. Sein Wagen stand beim Dorfe Plessow. Es war die Zeit, da die Nacht in nordischen Breiten kaum Macht gewinnt. Die Vögel in den Weidenbäumen schienen ihren Gesang zu dämpfen, nur ein Häher flog schreiend auf und ließ die blauen Querbinden seiner Flügel spielen. Der einsame Wanderer war von dieser gedämpften Feierlichkeit der Frühe wie von einem Traum benommen. Das lag wohl an dem merkwürdigen Licht, das über der pfingstlichen Welt lag und in dem die junggrünen Birken wie Opferkerzen standen: Die Sonne mußte schon aufgegangen sein, aber es war eine leichte weiße Schicht über sie wie ein Vorhang gezogen, so daß es aussah, als brenne ihr Strahlenkranz hinter einer Scheibe von Milchglas.

Dies alles nahm der Mann wahr, der an den Ährenfeldern entlang wie ein Träumender schritt. Kein Zweifel beherrschte ihn mehr, es stand für ihn fest, er sollte abreisen. Sobald die Festtage vorüber waren, würde er es tun. Er gehorchte der inneren Weisung, die ihm geworden war, als das Weib sich ihm antrug und ihm den breiten Weg zeigte, der in das Leben zurückführte, das er verlassen hatte. Einen Augenblick lang hatte er die Lockung betrachtet, wie ein Kind den bunten Kieselstein, den ihm das Meer vor die Füße rollt, einen Augenblick nur – dann war er wieder Herr seiner selbst. Seine Absage hatte vielleicht herbe geklungen, aber so und nicht anders hielt er sein Gelöbnis. Er, der Heimatlose, wollte von der einmal gelobten Treue nun und nie lasten.

Bei Johannes Dyke, mit dem Rohde wegen des Vorspanns für seinen Wagen verhandelte, erfuhr er zweierlei. Zuerst, daß der junge Appelmann, der sich selbst bezichtigt hatte, die Pappel vor Waterstrads Hof gefällt und den Graben ausgehoben zu haben, verhaftet sei. Man wollte gegen ihn Anklage erheben wegen Beschädigung öffentlichen Guts. Dyke erzählte, es werde dem Jungen wohl nicht zu arg an den Kragen gehen; im übrigen habe seine Festsetzung einen glücklich gemacht: Der alte Appelmann stehe nun nicht mehr am Zaun und blicke sehnsüchtig nach Wobeser hinüber, sondern er sei, um seinen Sohn zu vertreten, in dessen Wohnstatt eingezogen und wirtschafte dort.

Die andere Nachricht berührte Rohde tief: Pfarrer Prätorius war abgerufen und würde am Tage nach dem Fest schon seinen Wirkungskreis verlassen. So ging denn Rohde zum Gottesdienst des ersten Festtages nach Unheim, wo der junge Pfarrer ein letztes Mal predigen sollte.

Wie Rohde es gewollt, so geschah es. Und auf der Schwelle der von Menschen entleerten maienduftenden Kirche nahmen die beiden Abschied. Prätorius blieb in der Tür stehen und blickte dem Davonschreitenden nach. Er würde ihn wohl nie mehr sehen. Und plötzlich schnitt ihm die Gewißheit schmerzhaft in die Seele: Was war schließlich er, der in seinem Amt den Broterwerb hatte, gegen jenen, dessen Leben ein einziges Opfer war.

*

Nun war also alles für den Abschied Rohdes gerüstet. Zum letztenmal hatte Rohde von seinem Wagen aus gesprochen, viele waren dagewesen, die meisten hatten ihm zum Abschied die Hand gereicht und sich bedankt. Wofür? Das hatte keiner gesagt. Aber Rohde hatte gespürt, daß sein Weggehen manchem leid tat, und das war ihm genug. Zum letztenmal hatte er seine Stimme über die Dorfflur schallen lassen. Zum letztenmal hatte er auf seiner Trompete das Lied geblasen, das so vielen gefiel: »Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl.« Morgen in der Frühe würde Hermann Dyke mit den Pferden kommen, und der Wagen würde die Landschaft, in der er durch Wochen gestanden, verlassen. Rohde saß auf der Zugangstreppe und überdachte die letzte Zeit. Kein großes Ereignis würde in seiner Erinnerung ihn an diese Stätten binden, und doch fiel ihm der Abschied schwer. Land, das bald unter der Gewalt östlicher Stürme lag, bald unter dem leise verschleierten Himmel, an dem man die Sonne mehr ahnte als ihrer Wärme froh wurde! Volk mit den verschlossenen Gesichtern und den zusammengepreßten Lippen, Volk, das in harter Siedlungsarbeit stumm geworden, das von seinen Vätern einen schweigsamen Ernst übernommen hatte und das seines Lebens eigentlich nie so recht froh wurde. Man konnte diese Menschen nicht lieben, dazu ließen sie den Fremden nicht nahe genug an sich heran. Aber wer sich die Mühe gab, in ihr Wesen zu dringen, der lernte doch ihren Wert schätzen. Mit einem Seufzer erhob sich Rohde, er betrat seinen Wagen und wollte die Treppe einziehen, als er in der unsicheren Dämmerung eine Gestalt gewahrte, die sich aus dem Schatten eines Gebüsches löste. »Ist es noch erlaubt?« fragte eine Stimme, und als Rohde keine Antwort gab, trat der späte Besucher näher. »Ich bin der Konrad Schindler von Kniephagen. Wenn es Ihnen paßt, so möchte ich Sie gern sprechen.« Es blieb Rohde nichts anderes übrig, er forderte den späten Gast auf, einzutreten, und entzündete die Lampe. Der Schindler fragte: »Wozu, Herr Rohde? Sie dürfen keine Furcht haben, es ist ja draußen noch hell.« Rohde hielt mir seiner Beschäftigung inne und blickte den Ankömmling an: »Furcht? Die kenne ich nicht; aber wenn Sie mir etwas zu sagen haben, so will ich Sie auch sehen.«

Die Männer saßen einander gegenüber, keiner fand das erste Wort. Endlich begann der Konrad zu reden: »Also morgen wollen Sie fort. Ich hörte zufällig davon, als ich hier durchkam.« Rohde nickte und schwieg. »So kam ich, Ihnen Lebewohl zu sagen. Wir sind ja grade nicht alte Freunde, aber ich habe immer Achtung vor Ihnen gehabt, weil Sie den Reichen nicht zu Munde redeten.« Rohde schwieg. Der Konrad machte viele Worte, aber Rohde merkte, daß jener nur in Verlegenheit sprach. »Wollten Sie mir dies sagen?« fragte er. »Ja, warum nicht. Aber richtig, ich wollte Ihnen noch etwas sagen.« Er schluckte ein paarmal heftig.

»Von Ihnen kam das Wort: von Erde zur Erde. Ja, Sie sagten es, um die Vergänglichkeit der Menschen zu beschreiben. Nicht wahr, Sie meinen damit, der Mensch ist von Erde gemacht und wird wieder dazu? Wie eine Fliege, die sich vor mir niedersetzt. Ein Schlag, klapps, und sie ist gewesen.« – »Das Wort stammt nicht von mir«, entgegnete Rohde.« – »Das ist ja schließlich gleichgültig, von Ihnen habe ich es aber gehört.« – »Und die Auslegung, die Sie diesem Wort geben, die ist meine ganz und gar nicht. Wir, das heißt unser Leib, wurden freilich von Erde genommen und werden natürlich wieder, was wir waren. Aber das, was wir unser Leben nennen, ist wie die Anlage eines Gartens auf dem uns zugemessenen Erdfleck: Wir können Blumen darauf ziehen oder nützliche Kräuter, oder wir können es dem Wildwuchs der Nesseln überlassen. Und unser Lohn wird die Ernte sein, von dem, was wir hegten.« Das seltsame Lächeln auf Konrads Gesicht wurde zur Grimasse. Rohde senkte die Augen vor diesem Anblick einer jämmerlichen Verlegenheit. Dabei fielen seine Blicke auf Schindlers Hände, die geballt in seinem Schoß lagen. Es waren seltsame Hände, nicht die Werkzeuge eines arbeitenden Menschen, sondern anders geartet, rundlich und nicht eben groß, mit kurzen, abgestumpften Daumen und seltsam rot durchblutet. War der Grund dafür das Licht der Lampe? Schindler merkte plötzlich, daß Rohde seine Hände beachtete. Er zog sie an sich und in den Schatten, als fürchte er, sie könnten zum Verräter werden. »Das ist nicht wahr«, rief er plötzlich laut und knüpfte damit an Rohdes Worte an. Dieser antwortete: »Sie können meine Worte ablehnen oder annehmen, Herr Schindler; wahr aber bleiben sie darum doch und später werden Sie es erfahren.«

»Später? Was heißt später? Sie gehen morgen fort und wir treffen uns nie mehr. Heute aber ...« »Heute aber wollten Sie mir ein Geständnis machen.« »Geständnis? Ich? Warum?« »Weil Sie allein sind und einen Freund gebrauchen, dem Sie sich anvertrauen können. Soll ich Ihnen helfen? Ich weiß, was Sie mir sagen wollen.« Und leise und eindringlich fuhr er fort: »Sie waren es, der die Tat an Ihrem Bruder verübte.« Der Konrad machte Miene, entrüstet hochzufahren. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln, das aber nur eine Grimasse war. »Erraten«, sagte er. »Sie sind wirklich ein Prophet.« Und in diesem Gemisch von Spott und Vernichtung sprach er weiter: Wie er seinem Bruder den Ackerbesitz mißgönnt habe; wie er sich von der Scholle seiner Väter habe losreißen wollen und dem neuen Evangelium des Kommunismus folgen. Wie er aber darüber schier wahnsinnig geworden sei. Denn wer zum Acker gehöre, den lasse er nicht los, und Neid und Haß haben ihn zurückgetrieben, den Waldemar totzuschlagen. Und dennoch habe er keine Ruhe gefunden. Und nun sei er hier und frage, was er tun solle?

Rohde nahm dies Bekenntnis schweigend hin. Was jener sagte, war ja nur die Bestätigung dessen, das er wußte. »Es gibt nur ein Mittel, das Sie entlasten kann«, sagte er endlich. »Gehen Sie hin und bekennen Sie Ihre Schuld denen, gegen die Sie sündigten.«

Es war ein hartes Für und Wider zwischen den Männern. Aber als die Sonne aufging, da wußte Rohde, daß sein Hiersein wenigstens eine Frucht gezeitigt hatte.

*

Dort, wo sich der mit Weißdorn und wilden Kirschbäumen bestandene Feldweg nach Ükerhof mit dem Unheimer Weg kreuzte, lag die Feldscheune, die das gemeinsame Eigentum der Gebrüder Bruhn war. Sie lag auf einer Erdwelle und beherrschte darum weithin das flache Land. Sie war von Jesko Cedergren als Sammelort der heutigen Versammlung bezeichnet worden. Wohl wogte der Roggen und Weizen um das Hünengrab, so daß die Ankommenden gute Deckung hatten. Aber man mußte den Ort meiden, seitdem man den Verräter ertappt hatte und dieser flüchtig geworden war. Ein Torflügel der Scheune, die jetzt leer war, war nach der dem Wege abgekehrten Seite weit geöffnet, das Innere des Raums gähnte wie ein finsteres Loch. Der volle Mond stand am Himmel hinter einer leichten Dunstschicht. Sein gedämpftes bläuliches Licht fiel auf die Ackerbreiten, auf denen das Brot des kommenden Jahres reifte. Der würzige Ruch stieg aus den Ähren wie die tröstliche Verheißung einer unfaßbaren Güte. Nicht der leiseste Luftzug strich über die Halme, die ihre Ähren noch stolz aufrecht trugen. Da, wo der schwärzliche Saum des Waldes den Horizont abschloß, schreckte ein Reh. Der Laut des Tieres klang in dieser gleichsam verdichteten Stille beinah unwirklich. Die Schrecklaute verstummten, klangen noch einmal auf und waren dann nicht mehr vernehmbar. Gleich danach begann der Chor der Unheimer Hunde anzuschlagen. Das Bellen ging in ein Geheul über, dann zog die Nacht ihren leisen Mantel auch über diesen Lärm und die Landschaft lag wieder in wartender Bereitschaft da. Nichts war um die ihrem Ziel zuschreitenden Männer als der Duft der Ebene und der bittere Geruch des Ginsters, dessen Blüte ihren Höhepunkt erreicht hatte. An der nördlichen Giebelseite der Feldscheune war ein Platz, wohin man die Sammelsteine des findlingreichen Landes gefahren hatte. Diese sahen in dem dunklen Schatten der kahlen Mauer wie ein Chaos inmitten der sauberen Ordnung der Äcker aus.

Die Männer, die ein hartes Tagewerk hinter sich hatten und von dem abendlichen Gang ermüdet waren, saßen mit gebeugtem Rücken auf den Zementblöcken, die die Dachstützen trugen. Einige hatten aus einem Winkel ein wenig Stroh geholt und sich darauf ausgestreckt. Sie sprachen von dem, was ihre Seele erfüllte, von der Botschaft, die Jesko ihnen heute ausrichten wollte und deren Inhalt gleich nach Jeskos Rückkehr von Mund zu Mund und von Dorf zu Dorf getragen war. Ein kleiner Ansiedler ging von Gruppe zu Gruppe: »Wißt ihr es schon, der Baron verläßt uns? Es soll ihm eine gute Stelle geboten sein. Nun mögen wir sehen, wie wir allein fertig werden.« Nicht bei allen fand er Entgegenkommen; viele beachteten den Schwätzer nicht, der sich mit einer Runde wichtig machte, die bereits alle kannten. Er aber ließ nicht ab, und kaum, daß er einige verlassen hatte, hörte man aus einem anderen Winkel seine blecherne Stimme: »Wißt ihr schon? Der Baron Cedergren ...« Erst als er zu der Gruppe kam, die sich um Henneke und Howe gebildet hatte, erfuhr der Austräger eine Abfuhr; denn Howe erwiderte ihm in ungeduldigem Ton: »Weiß schon, weiß schon. Nun laß die Leute endlich in Ruhe.« Und zu den andern gewendet fuhr er fort: »Er war uns sehr viel wert, der Cedergren, denn er hat wirklich mit redlichem Bemühen sich unsrer Sache angenommen. Nun aber wird es Zeit, daß wir wieder unter uns sind.« Und Henneke nickte zu diesen Worten. Er wußte, was Jesko bewog, den Ruf anzunehmen. Der kommende Mann, nach dem sich alle sehnten, sollte ihn berufen haben. Nun, man würde ja hören.

In diesem Augenblick trat Jesko in die Scheune. Keiner hatte seine Ankunft bemerkt. Er schien es eilig zu haben, beantwortete nur kurz die an ihn gerichteten Fragen und stand bald darauf in der Lichtbahn, die das geöffnete Scheunentor in den dunklen Raum warf. Hinter ihm lag das schweigende Land mit seiner reifenden Ernte. Der Geruch nach frischem Brot füllte auch die Scheune und die Seelen der Männer, die der Stunde ihrer Befreiung entgegenharrten. Und Jesko Cedergren sprach zu ihnen, deren Hoffen im Erlöschen war wie ein Kleeacker in der Dürre:

»Ihr wißt, meine lieben Landsleute, daß ich das letztemal vor euch trete, um Abschied zu nehmen. Ich verlasse euch, deren vertrauen mich auf kurze Zeit zu eurem Führer machte, nicht, weil mir die Arbeit am Werk der Befreiung von unerträglichem Zwang leid geworden wäre. Ich gehe, um in eine Stellung zu treten, die eine größere Verantwortung fordert. Und zum Abschied sage ich euch dies: vergeßt nun und nimmer, daß kein Volk so gequält wurde wie unser Volk, daß aber auch kein Volk auf seinem Passionsweg so von innerem Hader zerrissen wurde wie wir.«

Die müden Köpfe der Männer um ihn nickten beistimmend zu seinen Worten. Ja, das hatte er ihnen immer wieder eingehämmert, das wußten sie alle. Vergessen, diese Notzeit, vergessen? Wer konnte dies wohl? Aber ihre Seelen waren gespannt, das Neue zu hören, das er ihnen brachte. Man konnte auf die Dauer von der Hoffnung allein nicht leben, man wollte eine Sicherheit, daß es nun besser würde. Und als Cedergren eine Pause machte, drang aus dem Dunkel des Hintergrundes eine Stimme zu ihm: »Und nun? Was wird nun?« Und jetzt konnte der junge Baron von dem reden, was seine Seele seit Tagen erfüllte und beschwingte, er konnte ihnen sagen von dem Namen des Mannes, den man nie laut nannte und der doch in aller Seelen war. Und als er davon zu ihnen sprach, da wurden die müden Geister lebensvoll. Eine Zuversicht erfüllte sie und sie sagten Amen, als der Junge, der zu ihnen sprach, es laut bekundete, daß nur die, die hoher Gesinnung und reinen Herzens wären, in die neue Zeit eingehen könnten.

Jesko war gegangen und Howe hatte noch einige Mitteilungen zu machen. Während er redete, ging der jüngere Bruhn, der an diesem Abend die Aufsicht führte, aus der Scheune.

Plötzlich blieb er am Giebel stehen. Im Schatten zwischen den Feldsteinen war er völlig unsichtbar; er aber spähte ins Land hinaus. Wie immer um Mitternacht verflüchtigte sich das Gewölk auf kurze Zeit und die fast volle Mondscheibe gab ihr Licht unverhüllt her. Der Mann blickte auf einen Fleck in der Richtung des Hünengrabes. Dort, wo eine eingesprengte Wiese lag, die als Koppel genutzt wurde, hatte sich etwas bewegt. Jetzt sah er es nicht, er hatte wohl einen Koppelpfahl in dem trügerischen nächtlichen Licht für einen Menschen gehalten. Er wollte seinen Spähergang fortsetzen, als von jener Koppel her das Brüllen einer Kuh herüberklang; und nun sah er es deutlich: Auf dem engen Fußsteig an den schiefen Pfählen vorüber bewegte sich eine Gestalt. Der Fußweg führte auf die Feldscheune. War es einer, der sich verspätet hatte? Das war kaum anzunehmen; man war pünktlich zur festgesetzten Stunde da, und wer sich verspätete, der blieb eben daheim. Der Mensch, der dort nahte, hatte entweder nichts mit ihrer Sache zu schaffen oder es war einer, dem nichts Gutes zuzutrauen war. Jetzt führte ihn der Weg durch einen Roggenschlag. Das Korn war so hoch, daß er darin verschwand, und der Wächter glaubte, er habe sich doch täuschen lassen. Aber plötzlich war der Spätling wieder sichtbar. Er stand auf der Stelle, wo der Fußweg in den Fahrweg mündete. Es schien, als lausche er auf die Worte, die in der Scheune gesprochen wurden, obschon die Entfernung reichlich fünfzig Schritte maß. Jedenfalls war es der Horcher, der an der Sache der Bauern zum Verräter geworden war. Dieses Mal sollte er ihnen nicht entkommen. Der Wächter drückte sich fest in den Scharten des abgeworfenen Feldgesteins. Jetzt kam jener näher, sein Gang war zögernd, die Füße schienen ihm den Dienst zu verweigern. Da sprang der Lauernde vor, packte ihn im Nacken und stieß ihn, der sich nicht zur Wehr setzte, vor sich her in das Scheunentor: »Hier haben wir den Verräter!«

Lähmendes Erstarren. Dann aber zeigte sich eine lebhafte Regsamkeit in den Männern, die Zunächststehenden drängten herbei und schlossen einen Kreis um den beschuldigten Mann; seinen Stock trug jeder locker in der Hand, zum Schlagen bereit. Sie suchten in dem Gesicht des Mannes zu lesen, aber dieser blieb beharrlich im Schatten der Wand. Dann zog einer seine Taschenlampe und ließ ihren Lichtkegel auf ihn fallen. Konrad Schindlers Gesicht zeigte sich auch in diesem Augenblick in verzerrtem Lächeln. »Er ist es«, sagte jemand. »Laßt mich zu ihm«, sagte Wittmüs. Und er trat in den Kreis nahe an Schindler heran. Sie blickten einander an. In diesem Augenblick las Konrad sein Urteil in den Zügen seines Richters. Da war nichts von Erbarmen, da war nur scharfes Verdammen. »Drück dich nur in den Schatten, du ... Du bist nicht wert, daß dich der Mond bescheint.«

»Haben wir dich endlich bei deiner Verräterei erwischt?« fragte Wittmüs. »Nicht bei der Verräterei«, entgegnete Schindler. »Ich bin hierhergekommen frei und öffentlich und auf keinem Schleichweg. Ich bin auch aus einer ganz andern Ursache hier.« Wittmüs machte eine Bewegung mit der Hand, als schiebe er ein lästiges Kerbtier von sich: »Willst du etwa leugnen, daß du der schändliche Mensch warst, der unsere Zusammenkünfte belauerte und Zeit und Ort verriet?« – »Ich leugne nur, daß ich heute kam, um etwas zu erkunden.« Ein Murmeln kam aus den Winkeln der Scheune: »Was fragt ihr viel? Hängt den Kerl auf, er hat den Strick verdient.« Ein schneller Blick aus Wittmüs Augen flog dahin, wo gemurrt war, dann fuhr er fort: »Du gibst also unumwunden den Verrat zu. Willst du uns sagen, warum du so gemein handeltest? Denn gemein ist es, wenn deine Standesgenossen sich gegen ihre mörderische Unterdrückung wehren wollen, hinzugehen und den Judas zu spielen. Hast du nie daran gedacht, daß du deine Väter verrätst?« Einer der Männer, die dem Konrad zunächst standen, spie bedeutungsvoll auf die Erde. »Es ist der gleiche Grund wie der, der mich bewog, meinen Bruder Waldemar niederzustechen«, erwiderte der Konrad. »Ja, ich bin es gewesen. Und euch dies zu bekennen, bin ich heut hierhergekommen. Das ist die Buße, die mir der Evangeliumsmann auferlegt hat.«

Die Natur schien in ihren leisesten Regungen zu verstummen, da der Konrad dies Geständnis ablegte. Keiner sprach ein Wort, keiner rührte ein Glied. Wohl hatten viele geglaubt, der Konrad sei der Täter. Aber diesem Bekenntnis gegenüber erstarrten alle.

Jetzt brach ein Stimmengewirr los. Das Unerwartete entfesselte nun die Erregung, die bisher vom Schweigen verriegelt war. Man hörte nur einzelne Worte: »So schlagt ihn doch tot, den Hund.« – »Ihr hört ja, er selbst will es so.« – »An dem ist nichts verloren.«

Und ehe noch Wittmüs ein Wort geäußert hatte, fuhr eine Faust herzu, und dem, der Ankläger und Schuldner zugleich war, mitten in das Gesicht. Keiner mag sagen, was aus Konrad Schindler geworden wäre, wenn in diesem Augenblick nicht der alte Henneke eine Wendung herbeigeführt hätte. Denn diese Männer alle waren durch die Ereignisse der letzten Monate so reizbar geworden, daß sie nach einem Gegenstand suchten, an dem sie ihr wildes, mühsam gebändigtes Gelüst hätten auslassen können. Und dieses Gelüst war auf Blut gerichtet.

Dies alles durchschaute der alte Henneke, der bisher kein Wort geäußert hatte. Mit seinen Ellenbogen schob er die voneinander, die Schulter an Schulter gedrängt vor ihm standen. Er wunderte sich, wie seinen alten Armen diese Kraft kam. So drang er in den Kreis, der sich um Schindler zusammengezogen hatte. Gerade hob sich auf der andern Seite eine Faust, die den Handstock aus Eichenholz hielt. Der Alte erhob die Hand: »Männer, seid ihr toll geworden? Sind wir dazu hier, einen Totschlag zu rächen oder um in unserer Sache zu richten? Ich meine, das letztere trifft zu.

Einer schrie dem Alten ein unflätiges Wort zu; es war ein wüster Kerl, der sich heimlich betrank und bei den andern nicht eben in Ansehen stand. Aber nun, da die Menge blutdürstig war, fand er Beifall in der Runde. Henneke hob aufs neue die Hand, die Ruhe gebot. Aber da war kein Einhalten, und der Alte schrie mit einer Anstrengung, die ihm die Adern am Halse schwellen machte: »Männer, auf was kommts an? Ein Unschuldiger sitzt, den des Schindlers Wort entlasten kann. Wollt ihr Jellinek ins Verderben bringen, wenn ihr den totschlagt, der ihn allein befreien kann?« Da war es plötzlich wieder still in der Scheune. Der Alte nutzte seinen Vorteil und wollte weitersprechen, als ihm der Konrad in die Rede fiel: »Ihr wollt wissen, wie es kam, daß ich zu den Roten ging, daß ich mich soweit verlor, daß ich an euch zum Spion wurde. Und dann das Letzte, daß ich meinen Bruder Waldemar auflauerte und ihn mit Jellineks Messer niederstach. Ihr könnt mich jetzt totschlagen, die Wahrheit ist es, die ich euch sage! Ich haßte die Erde nicht, ich liebte sie zu sehr. Aber nach eurem Recht wurde sie mir nicht als Vätererbe, sondern dem, der zufällig vor mir geboren war. Ich konnte in die Stadt ziehen und mich auf dem Pflaster zu Tode sehnen. Ja, als Knecht hättet ihr den Bauernsohn wohl genommen, aber dagegen sträubte ich mich. Und ihr alle saht das und ließt das Unrecht geschehen, daß man mich mit etwas Geld abspeiste. Und darum habe ich euch alle gehaßt, ihr Dünkelvollen. Und darum bin ich zu euren ärgsten Feinden gegangen. So, nun wißt ihr, warum ich es tat: Nicht aus Verachtung gegen eure Scholle, sondern aus unbezwinglicher Sehnsucht nach ihr habe ich verraten und ermordet. So, und nun schlagt mich tot, wenn ihr könnt.«

Der alte Henneke sah über ihn hin, als wäre er ein Nichts. »Das wäre wohl für dich das einfachste, aber so leicht kommst du nicht davon. Einen Brudermörder totschlagen – was ist das groß? Nein, leben sollst du mit deiner Unruhe, mit dem Fluch, der sich an deine Sohlen heftet, mit dem Grauen, das alle frohen Menschen, zu denen du trittst, erstarren läßt.« Ein Mann, der im Dunkel stand, seufzte tief auf; es klang wie eine Klage. Der alte Henneke wandte sich an die Menge, seine langen eisgrauen Brauen schienen sich zu sträuben: »Brüder, unser Tun um die Wohlfahrt unsrer Äcker ist vergebens, wenn wir den nicht aus unsrer Gemeinschaft tun, der verflucht ist auf der Erde, die ihr Maul aufgetan hat und Bruderblut trank. Er kann den Acker nicht mehr bauen, weil die Felder einem Mörder keine Ernten tragen.«

Keiner antwortete dem Alten, vielleicht war mancher in der Versammlung, den Hennekes Worte an einen Bibeltext erinnerten, vielleicht wunderte sich mancher, daß der alte Gemeinschaftler Henneke das rechte Wort für den fand, der sich zu seiner Tat bekannte. Doch ein jeder in dieser Bauernversammlung wußte, daß die Rede des Führers aus uralten unversiegbaren Brunnen geschöpft war.

Jetzt breitete der Alte seine Arme aus, als wolle er Raum schaffen für den Angeklagten: »Gebt ihm den Weg frei, auf dem er sein schuldiges Leben durch seine Zeit schleppt. Du aber, du ... du Konrad Schindler, tritt an deinen Gang, denn wir stoßen dich aus und lösen jede Gemeinschaft mit dir. Unstät und flüchtig wirst du sein auf Erden, bis du abgebüßt hast deine Schuld.«

Der Ring, der sich um Schindler geschlossen hatte, öffnete sich und Konrad fühlte sich herumgedreht und aus dem Scheunentor gedrängt. Keiner hob die Hand wider ihn, niemand warf ihm ein Wort des Abscheus oder des Mitleids nach.

Sie drängten aus der Feldscheune, blieben auf dem Vorplatz stehen und blickten dem Davongehenden nach. Obgleich der weiße Erddunst sich vor dem Nachtgestirn wieder zusammengezogen hatte, sah man Konrad Schindler deutlich auf dem Weg, den er vor kurzem gekommen war. Jetzt trat er aus dem Roggenfeld, jetzt ging er neben der Koppel hin und wieder stieß eins der weidenden Rinder beim Anblick des Wanderers seinen Ruf aus.

Keiner der Männer sprach ein Wort. Schweigend löste sich die Menge auf. Die Worte des Alten lagen wie Zentnerlasten auf ihnen und jeder fühlte, daß es alte Weistümer waren, die Henneke aus dem Dunkel der Vergangenheit gehoben hatte. Diese Worte von Fluch und Sühne stellten das Wechselspiel dar zwischen Mensch und Erde, von der jener genommen war und zu der er wieder wurde.

Ausklang.

Hier endet die Erzählung von deutscher Erde Notzeit, die immer eine Notzeit derer ist, die deutschen Boden pflegen. Denn Gedeihen der Scholle ist die Freude dessen, der sie bebaut und ihre Dürftigkeit ist die seine.

Darum: sei Triebsand oder duftende Walderde, sei steiniger Grund oder sei fruchtbare Ackerkrume, – alles kommt darauf an, daß du Frucht trägst, die dauert.

Wer aber von den Menschen wird die Notzeit seines Ackers überstehen? wer reinen Herzens ist und reiner Hände, denn der wird immer die segnende Hand Gottes schauen; und dessen Scheunenfächer werden nie völlig geleert sein, der in dem Zeitlichen, das er schafft, das Gleichnis des Ewigen sieht.


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