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Das Gymnasialgebäude zu Böblingen im Großherzogtum Baden war im höchsten Grade reparaturbedürftig gewesen, und so hatten sich denn die Herren Kuratoren der Anstalt entschlossen, zunächst einmal wenigstens das Notwendigste vorzunehmen. Bei allem Hin und Her des Ueberlegens war aber die schöne Zeit der großen Sommerferien ungenützt verstrichen, und deshalb mußte man jetzt die Herbst- oder Michaelisferien – der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe – um 14 Tage verlängern, wenn man den ehrwürdigen Kasten vor Winters Anfang noch unter Dach und Fach haben wollte.

Aber auch diese »Tage von Aranjuez« gingen vorüber, und als der Sekundaner Krauß am Morgen des 26. Oktober wieder dem »Stall«, wie die besagte Bildungsstätte von ihren Insassen höchst unehrerbietiger Weise genannt wurde, zuschlenderte, murrte er bedenklich über die Vergänglichkeit alles Schönen auf der Erden.

Dem Pedellen, der in der Tür stand, knurrte er einige unartikulierte Laute zu, die ebensowohl »Guten Tag« als »Hol Dich der Teufel« bedeuten konnten, und stürmte dann in sein Klassenzimmer, dessen Tür er mit gewaltigem Aplomb aufstieß.

Allein sein übliches und beliebtes »Morjen, Jungens!« blieb ihm im Halse stecken, denn mitten unter seinen alten Kameraden – oder vielmehr etwas von ihnen gesondert, gleich vorn auf der letzten Bank – sah er eine junge Dame sitzen, die etwa 18 Jahre zählen mochte, und der er sich wohl erinnerte, in der Langgasse bei seinem Promenadenbummel der letzten Zeit manchmal begegnet zu sein.

Krauß machte einen halben Diener vor der fremden Erscheinung und wandte sich hierauf an seinen Freund Christoph, der zwischen einer Schar Gleichgesinnter am Fenster rekelte, indem er ihm mit vorgehaltener Hand, aber laut genug, daß es im ganzen Zimmer gehört wurde, die Frage zuflüsterte:

»Wie kommen wir eigentlich zu der Ehre von diesem Fräulein?«

Christoph zuckte die Achseln und entgegnete in derselben Tonart:

»Das kann ich Dir auch nicht sagen: Liebe kommt, und sie ist da.«

»Ja, da müßte man sich indessen wohl mal erkundigen. Willst Du nicht als Primus der Klasse –«

»Nein, ich danke, Krauß! Im Verkehr mit Damen bist Du ohne Frage der Gewandteste von uns allen. Also versuch Du nur Dein Heil!«

»Ja, wenn ich gewissermaßen als Vertrauensmann der ganzen Versammlung mit dieser Mission beauftragt werde, soll es an mir nicht fehlen!«

Er zog sich den Hemdkragen in die Höhe, gab durch einen raschen Handstrich seinem Gelocke einen leichten genialen Schwung, knöpfte seine Jacke zu und näherte sich dem jungen Mädchen mit schlürfenden Schritten.

»Mein gnädiges Fräulein,« begann er, nachdem er sich etliche Male geräuspert hatte, »gestatten Sie, daß ich die ergebene Frage an Sie richte, ob Sie hier vielleicht für einen der Herren Lehrer ein Schriftstück oder sonst etwas dergleichen abzugeben wünschten? Mit Vergnügen wäre ich bereit, Ihnen in der betreffenden Angelegenheit jegliche Unterstützung zu Teil werden zu lassen.«

Die Rede war schön, allein das junge Frauenwesen mußte doch ein bischen lächeln, als sie erwiderte:

»Danke bestens! Nein. Ich werde in Zukunft auch Ihre Schule besuchen. Vorgestern habe ich meine Prüfung beim Direktor Herrn Professor Dr. Hartknoch –«

»Beim Direktor Herrn Professor Dr. Hartknoch? Ach so, bei unserm Direx!« warf Krauß ein, dem die Tatsache erst zu dunkel erschienen war.

»Bestanden, und der hat mich reif für die Obersekunda erklärt. Da nun seit dem ersten Oktober dieses Jahres im Großherzogtum Baden auch uns Mädchen die Klassen des Gymnasiums offenstehen, will ich hier meine Studien beginnen.«

Krauß machte ein maßlos verblüfftes Gesicht.

»Studien beginnen! Sehr hübsch, sehr hübsch gesagt!« murmelte er dann. »Haben Sie sich aber auch klar gemacht, daß Sie durch Ihren Entschluß dann gewissermaßen unsere Kollegin würden?«

»Ja, ist denn das so schlimm?«

»Schlimm ist es ja weiter nicht, wenigstens nicht mehr bei uns in der Obersekunda. In der Untersekunda dagegen werden freilich noch die Neuversetzten über die Bank gelegt und gehörig eingeweiht – wir aber haben gebrochen mit diesem barbarischen Brauche. Dafür ist es Sitte bei uns, daß jeder Fuchs bei seinem Eintritt in die Klasse eine Runde Bier poniert. Wie sich dies bei einer Füchsin zu verhalten hat, der Fall ist leider nicht vorgesehen.«

Mathilde Mayfarth errötete bis an die Haarwurzeln hinauf.

»Wenn dies einmal so eingeführt ist, will ich mich dem Verlangen gern unterziehen. Vielleicht hätten Sie die Güte, mir den Betrag anzugeben –*

»O nein, mein gnädiges Fräulein, mit dem bloßen Berappen ist es nicht getan: Sie müssen mithalten. Hier hinterm Bürgerpark gibt es eine Kneipe, die heißt der Fidele Mops. Die Bezeichnung hat sie natürlich nur von uns. Auf dem Türschilde steht: Zum getreuen Wächter. Also dieser Mops ist unser Stammlokal, und hier müßte somit der Kommers stattfinden.«

»Ich darf aber doch wohl noch eine andere Dame meiner Bekanntschaft mitbringen?

»Gewiß, wenn sie nicht petzt. Es ist uns nämlich der Besuch von Wirtschaften innerhalb des Stadtbezirks verboten, und auch außerhalb desselben dürfen wir niemals in corpore, sondern immer nur einzeln gelegentlich eines Spazierganges ein Glas Bier trinken. Indessen wozu sind Schulgesetze anders da, als um übertreten zu werden? Dem Verräter unter uns würde das Fell bis zur Roßlederdicke gegerbt, und wäre ein etwaiger Gast der Schuldige, so müßte eben sein Einführer für ihn haften.«

»Gut! Darauf glaube ich es ankommen lassen zu dürfen.« –

Ein gewaltiges Gebimmel vom Flur her bedeutete den Anfang des Unterrichts.

Man begab sich auf seine Plätze und hatte diese kaum eingenommen, als Herr Oberlehrer Masius erschien und die Klasse mit einem sonoren Guten Morgen begrüßte.

Herr Masius führte den Onkelnamen Puten. Wer diesen zuerst aufgebracht hatte, wußte kein Mensch, er erbte sich von Generation zu Generation fort, und dabei hatte es sein Bewenden. Vielleicht war die eigentümlich stelzende Gangart des kleinen Philologen, die entfernt der eines Putthühnchens glich, einmal Veranlassung zu dieser Namensgebung gewesen.

Masius setzte sich auf das Katheder und schlug den Vergil auf.

»Krauß, fangen Sie an! Liber quartus

»At regina gravi jandudum saucia cura
Vulnus alit venis, et caeco capitar igni/

Krauß machte seine Sache ziemlich gut. Masiussen konnte man nämlich etwas bieten: man riskierte nichts, wenn man die deutsche Uebersetzung von Freund ruhig in sein Buch neben den lateinischen Text legte und diese einfach ablas.

Fräulein Mayfarth hatte gedacht, daß der Lehrer ihr irgend ein freundliches Wort des Willkommens gönnen würde, aber darin sah sie sich getäuscht. Er beachtete sie gar nicht, für ihn schien sie völlig Luft zu sein. Und jetzt fiel ihr ein, daß Herr Masius einem »on dit« zufolge ausgesprochener Feind weiblicher Gymnasialbesucher sei, und sie von ihm wohl nur die allernotwendigste Rücksicht voraussetzen durfte.

So folgte sie denn mit Anspannung ihres ganzen Geistes der Verdeutschung von Aeneens Klage um Troja und notierte emsig die Bemerkungen des Herrn Oberlehrers.

Plötzlich war es ihr, als ob sie hinter sich mit ihrer Frisur auf irgend einen Widerstand stieße. Sie trug einen sogenannten Mozartzopf, der, hochgesteckt, in halber Länge auf ihren Nacken fiel, und mußte mit diesem wohl über den Rand des sich in ihrem Rücken befindlichen Schultisches gefahren sein: Mechanisch griff sie nach ihrem Haar, erschrak jedoch heftig, als sie dort etwas Nasses fühlte. Der ganze Zopf war voll Tinte und ihre Hand mußte sie schnell an ihrem Taschentuche abtrocknen, um keine Störung zu verursachen.

»Schneider, was haben Sie da zu lachen?« rief Masius ihren Hintermann an.

Derselbe erhob sich, prustete darauf los, daß es nur so knallte, und stotterte:

»Das – das neue Fräulein – hat mit ihrem Haarbeutel in – in mein Tintenfaß gestippt, und da –«

Er konnte nicht weiter.

»Ist denn das so komisch? Sie sind wahrhaftig noch ein recht alberner Knabe. Außerdem schreiben Sie doch mit dem Bleistift – warum haben Sie denn überhaupt Ihr Tintenfaß auf? Und noch dazu ganz reglementswidrig oben auf den Tisch gestellt?«

»Es war ein Tintenfisch darin, den mußte ich herausholen – und da hat ihn das vor mir sitzende Fräulein - in den Zopf gekriegt.« –

Jetzt wollte sich natürlich die ganze Klasse totlachen.

»Na – ich will die Sache nicht weiter untersuchen. Schüttekorn, fahren Sie fort!«

Schüttekorn brachte es nur zu einigen Gutturallauten und zu etlichem Gehuste: seine Selbstbeherrschung mußte ihren Bankerott deklarieren.

Zum Glück war die Stunde bald um. Puten bestimmte, bis wohin zum nächsten Male präpariert werden sollte, und war augenscheinlich froh, das Zimmer jetzt verlassen zu dürfen, in welchem doch alle Aufmerksamkeit einmal zum Teufel gegangen war.

»Nun kommt Geometrie. Da muß zunächst die Wandtafel abgewaschen werden. Wo ist der Schwamm?«

Es war der sprachlose Schüttekorn, der jetzt sein Redeorgan wiedergefunden hatte.

»Fang!« schallte es aus einer andern Ecke der Klasse zurück, und Schüttekorn kriegte das Gewünschte zugeworfen.

»Herrgott, der ist ja trocken wie die Wüste Sarah. Da muß Wasser drauf!«

Und Schüttekorn begab sich an die Wasserkaraffe und goß ihren halben Inhalt auf das ausgetrocknete Meeresgewächs, damit es seinen Dienst bester verrichten könne.

»Hör auf, der ist ja quatschvoll,« warf ein ernsthafterer Jüngling ein, der von Ferne dem Vorgange seine Teilnahme zugewandt hatte.

»Schwubbs – da kannst Du ihn ja erst mal an Deinen Döts kriegen,« brauste der gekränkte Schüttekorn auf und schleuderte das Geschoß auf seinen unberufenen Kritikus.

Leider aber hatte die fernhintreffende Hand den Diskus zu kurz gepackt, der triefende Schwamm verfehlte seine Richtung und sauste Fräulein Thilda in das mit unzerteilter Aufmerksamkeit ihrem Buche zugekehrte Angesicht.

»Nein, aber.« – Jetzt wurde es ihr denn doch zuviel! Wütend sprang sie auf, und ihre Augen sprühten Zornesblitze dem unglückseligen Schützen entgegen.

»Ach, gnädiges Fräulein, nehmen Sie es mir nicht übel! Aus Unbedacht, nicht aus Verachtung Euer ist's geschehn. Wär ich besonnen, hieß ich wohl der Tell?«

Schüttekorn wollte nämlich Schauspieler werden, und wußte in seinem Schiller besser Bescheid als in den lateinischen Genusregeln. Diese Deklamation war ihm besonders gut gelungen, und seine Mitschüler waren dermaßen stolz auf die Leistung, daß sie zu seiner Ehre mit Händen und Füßen einen Applaus vollführten, der selbst bei glücklichster Künstlerlaufbahn nur sehr selten in Erscheinung zu treten pflegt.

In diesen Radau platzte der Mathematikgelehrte, Herr Gemmingstedt, hinein. Der Mann besaß Humor, oder glaubte wenigstens, ihn zu besitzen.

»Da geht's ja hoch her! Na, ich habe es gern, wenn Leute lebhaft sind; sie müssen dann aber auch Lebhaftigkeit beim Auffassen der geometrischen Lehrsätze an den Tag legen. Also, Meyerlein, wie verhält es sich mit den Lunulen des Hippokrates?«

Meyerlein hatte in den langen Ferien diese unglückseligen Figuren völlig verschwitzt.

Er verhetterte sich in allerlei konfuses Zeug und schwieg dann gänzlich.

»Ja, ja! Wenn es gilt, einen indianischen Kriegstanz ausführen oder brüllen wie ein Hottentottentantenattentäter, sofort sind wir dabei, allein wenn wir so eine ganz einfache mathematische Erklärung von Stapel lassen sollen, da stehen die Ochsen am Berge. Hundert solcher Vierfüßler hat Pythagoras abgeschlachtet, als er seinen berühmten Lehrsatz entdeckt hatte. Seit der Zeit betrachten Sie die Geometrie wohl immer nur mit Angst und Grausen und hüten sich peinlichst, zu Hause ein derartiges Büchelchen aufzuschlagen, nicht wahr? Nun wird das kleine Fräulein Sie beschämen und Ihnen einmal die Geschichte von dem Hypotenusenquadrat an der Wandtafel ad oculos demonstrieren!«

Das ging ganz gut. Thilda wußte genau Bescheid, und der Beweis klappte in allen seinen Bestandteilen.

»Sehen Sie mal – hab ich nicht Recht gehabt? Das kleine Fräulein versteht es!« sagte Gemmingstedt schmunzelnd. »Und eine solche Kapazität sollte ihr Lebenlang nichts tun als Strümpfe stricken und Essen kochen? Nein, das war ganz in der Ordnung, daß Sie sich den Wissenschaften widmeten. Passen Sie auf, Sie werden es darin zu etwas bringen.«

Die Herren Jungens begleiteten diese Ansprache natürlich wieder mit einem homerischen Gelächter, und Thilda, die noch vor der Tafel stand, wußte gar nicht, wo sie mit ihren Blicken bleiben sollte.

Sie war froh, als sie sich auf ihren Platz setzen durfte, und folgte den Ausführungen des Lehrers mit aller ihr nur irgend möglichen Konzentration. Es fiel ihr das doch ziemlich schwer, und sie wunderte sich, daß selbst Meyerlein und Schüttekorn die Sachen so leicht zu begreifen schienen.

Dann kam Französisch. Hierin war sie ja ihrer Klasse weit voraus: denn sie hatte sich schon ein halbes Jahr in Frankreich aufgehalten und beherrschte diese Sprache leidlich. Der Lehrer interessierte sie nicht sonderlich, er verstand es aber, seine Bambusen wenigstens einigermaßen unter der Fuchtel zu halten.

Die letzte Stunde, von elf bis zwölf, war Deutsch, und zwar, wie auf dem Stundenplan vermerkt stand, Mittelhochdeutsch – Nibelungenlied. Diese Stunde sollte Herr Dr. Gothlind geben.

Herr Dr. Theobald Gothlind schien sehr kurzsichtig zu sein. Er trug eine goldene Brille mit dicken Kristallgläsern, die ihm aber zu seinem lockigen blonden Haar und zu seinem kurzen krausen Vollbart nicht übel stand. Er hatte wundervolle Zähne und auffallend weiße, wohlgeformte Hände, sonst aber besaß er, außer seiner Jugend, in punkto Mannesschönheit nicht gerade viel in die Wagschale zu werfen.

Nach einem leisen und fast etwas schüchtern gesprochenem Guten Tag räusperte er sich und begann:

»Wie Ihnen vielleicht schon bekannt ist, hat Herr Professor Reinhold Mackenzahn einen zweimonatigen Urlaub genommen, um in der Bibliothek von Pisa etliche der dortigen Incunabeln einem eingehenden Studium zu unterwerfen. Für die Zeit seiner Abwesenheit bin ich mit seiner Vertretung betraut und bitte Sie, mir dieselbe Aufmerksamkeit zuwenden zu wollen, die Sie Herrn Mackenzahn entgegengebracht haben.«

»Jawohlio!« murmelte eine tiefe Baßstimme, der sich verschiedene Grunztöne anschlossen.

Herr Dr. Gothlind hob erzürnt den Kopf, als wolle er etwas erwidern, sagte aber nichts. Es schien ihm selber zu dämmern, daß er in seiner Anrede den richtigen Tenor wohl nicht ganz getroffen habe.

Ueber die Klasse ging es jetzt wie ein Sonnenstrahl.

Die Jünglinge begriffen spontan, daß ihnen der stellvertretende Herr Candidatus probandus noch viel Freude machen werde, und segneten den verschollenen alten Scribenten, zu dessen Entdeckung sich der Professor Mackenzahn nach Italien begeben hatte.

Gleich fiel ein Federkasten auf die Erde.

Und bald ein zweiter. Und bald noch ein dritter.

»Ich bitte mir Ruhe aus!« rief Gothlind. »Legen Sie Ihre Sachen so hin, daß ihnen nichts anzuhaben ist. Nun heben Sie Ihr Zeug wieder auf.«

Meyerlein rekelte sich in die Höhe.

»Herr Doktor – ich kann nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Mein Federkasten ist leider gerade unter den Rock von Fräulein Mayfarth gefallen – und da geniere ich mich.«

Es war, als ob eine größere Anzahl von Gnus sich wechselseitig gesegnete Mahlzeit wünschten – anders wären die Töne, die jetzt ausgestoßen wurden, kaum zu erklären gewesen.

Thilda stand sofort auf und schob das corpus delicti mit der Fußspitze weit von sich weg, daß sein verschämter Besitzer es sich ohne jegliches Bedenken wieder anzueignen vermochte.

Dann fuhr der Lehrer in seinem Thema fort und erklärte die verschiedenen Lesarten des Nibelungenliedes.

»Wir wollen uns nun an unsern Text machen. Primus, versuchen Sie einmal die ersten beiden Strophen vorzutragen!«

»Uns ist in alten maeren wunders vil geseit,
von helden lobebaeren, von grôzer kuonheit,
von fröüden, hôchgezîten, von weinen und von klagen
von küener recken strîten, muget ir nu wunder hören sagen.
Es wuohs in Burgonden ein schöne magedin,
Daz in allen Landen niht schoeners mohte sîn.
Kriemhilt was sie geheißen und was ein schoenewîp,
dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.«

»Ja,« nahm Gothlind seine Rede auf, »Heldentum und Frauenschönheit, das waren die beiden Pole, um die sich die ganze Poesie des Mittelalters drehte. Gleich nach den einleitenden Worten erfahren wir von der Chriemhild; es wuchs in Burgund ein vieledles Mägdelein – Meyer, was wünschen Sie?«

»Herr Doktor, da steht: es wuchs. Sie war also noch nicht erwachsen?«

»Der Ausdruck läßt allerdings darauf schließen, daß Chriemhild noch sehr jung war. Immerhin dürfen wir sie uns nicht als Kind denken. Sie wird so von 17 bis 18 Jahren gewesen sein.«

»Also ungefähr in gleichem Alter wie Fräulein Thilda Mayfarth.«

»Meyer, wollen Sie gefälligst alle Ungehörigkeiten bei Seite lassen? Was soll dieser herbeigezwungene Vergleich?«

»Herr Doktor, Herr Professor Mackenzahn hat uns gesagt,« verteidigte sich Meyerlein mit der Miene der gekränkten Unschuld, »wir müßten bei allem, was wir läsen, eine Vorstellung zu gewinnen trachten, und etwas, was uns bekannt wäre, mit den nötigen Veränderungen versehen, an die Stelle des Neugeschilderten setzen. Nur derart könnten wir die größtmögliche Anschaulichkeit erstreben. Wenn sich darum meine Phantasie die Chriemhild nach dem Bilde des vor mir sitzenden Fräulein Mayfarth gestaltet –«

»Nun ist es genug! Setzen Sie sich auf Ihren Platz! Ihre Phantasie geht mich gar nichts an. – Vollbrecht, fahren Sie fort!«

Gothlinds Sieg über Meyer war ja nur scheinbar. Der Zurückgewiesene brummelte noch allerlei über blondes Haar, blaue Augen, zierlichen Wuchs und dergleichen Dinge mehr, was allerdings bloß Fräulein Thilda vor ihm verstand, und beruhigte sich erst, als weiter keine Notiz von ihm genommen wurde.

Dem jungen Kandidaten läutete die Glocke draußen diesmal förmlich wie zur Erlösung. Er hastete aus der Klasse hinaus und fürchtete, bis er die Treppe erreicht hätte, immer noch von irgend einer Seite über etwas interpelliert zu werden, wovon er nicht wußte, ob es den Fragenden wirklich interessiere, oder ob dieser ihn lediglich damit verulken wolle.

Er brauchte sich nicht zu beunruhigen. Mit dem Schlusse des Unterrichts hörte der Kampf auf. Die Schüler waren viel zu ehrliche Feinde, um während des Waffenstillstandes zu neuen Angriffen überzugehen. –

Mathilde Mayfarth suchte, so bald wie möglich dem ausschwirrenden Trubel der Gymnasialbevölkerung zu entkommen, und schlug den Weg ein, der von der Stadt weg in die Anlagen führte.

Angenehmer Art waren die Gefühle nicht, die jetzt ihre Brust bewegten: im Gegenteil, ihr liefen die hellen Tränen die Wangen hinunter. Dies war ja fürchterlich! Mit diesen ungezogenen Jungen sollte sie zusammen wirken und streben und dabei beständig eine wehrlose Zielscheibe für ihre flegelhaften Späße abgeben? Wäre es da nicht am Ende besser, sie würde sich durch privaten Unterricht für das Abiturientenexamen vorbereiten lassen?

Ihr alter Freund, der Medizinalrat, hatte ihr das allerdings eindringlichst widerraten, einmal aus gesundheitlichen Rücksichten: sie könne sich durch das einsame und unausgesetzte Büffeln ihren ganzen Körper ruinieren, dann aber auch der Kosten wegen. Ihr Vermögen war nicht groß, sie mußte sich darum ihr Studium tunlichst billig einrichten. Nun besaß sie in Böblingen eine alte unverheiratete Tante, Mann mit Namen, eine Frauenkämpferin aus dem FF. Die wollte ihr für die Dauer ihres Gymnasialbesuches gern Nahrung und Unterkunft ohne jegliche Gegenleistung zu Teil werden lassen und freute sich sogar, auf diese Weise auch ihr Scherflein zur Emanzipation des weiblichen Geschlechtes beitragen zu können. Das erkannte Thilda als einen eminenten Vorteil. Außerdem gefiel ihr die gute, etwas absonderliche Dame gar nicht übel, und das elternlose Mädchen war von Herzen froh, für die nächsten Jahre so wohl bemuttert zu sein.

Sie durfte also den Mut nicht gleich sinken lassen. Mit den Jünglingen mußte sie sehen, einen Kompromiß zu schließen, und das Uebrige würde sich dann schon finden.

Zu Hause erwartete sie Tante Mann in äußerster Spannung.

»Na – wie war's?«

Thilda erzählte.

»Und nun denke Dir, Tante, ich bin ihnen eine Antrittskneipe schuldig. Im Fidelen Mops soll sie stattfinden. Das wäre einmal so Brauch in der Obersekunda licei böblingensis. Ich darf aber auch einen weiblichen Begleiter mit bringen.«

»Da gehe ich mit, mein Thildele, verlaß Dich darauf! Ich fürchte nicht das ausgewachsene Geschlecht der Männer und sollte mich vor so grünen Bengelchen verkriechen mögen? Die sollen mich kennen lernen, sage ich Dir!«

»Du darfst sie jedoch nicht vor den Kopf stoßen, Tante, sonst habe ich nachher ihren Zorn auszubaden.«

»Beruhige Dich, ich werde sie mit Fingerhandschuhen anfassen und sie hierbei ein bißchen zu polieren suchen. Mit den Wölfen muß man heulen, zumal wenn man ein Fuchs ist.«

Am Nachmittag sagte denn Fräulein Mayfarth ihrem Klassenkollegen Herrn Krauß, daß sie jederzeit bereit sei, zur Einführungskneipe anzutreten, wenn er nur die Güte haben möchte, ihr Tag und Stunde mitzuteilen.

»Samstag, mein gnädiges Fräulein, Samstag ist der durch geschichtliche Ueberlieferung für solche Zwecke geheiligte Tag. Und die Stunde ist diejenige, in welcher man in sich geht und denkt, wo man einen Guten schenkt, sagen wir also um 6 Uhr abends. Das Lokal hatte ich bereits die Ehre, Ihnen zu nennen.«

»Und was die Barregulierung angeht, Herr Krauß, möchte ich freundlichst bitten, dieselbe für mich zu übernehmen. Darf ich Ihnen dies Zehnmarkstück einhändigen? Oder sollte es nicht reichen für das in Aussicht genommene Bacchanal?«

»Vollkommement, meine Gnädige, vollkommement! Wir trinken einfach so lange, bis es vertrunken ist: den Stoff durch die Kraft zu dividieren, soll keine Schwierigkeit verursachen. Also ich bitte nochmals, präcis um sechs! Zehn Minuten darnach ist das akademische Viertel abgelaufen.«

Professor Frenkel erschien und machte dieser Unterhaltung ein beschleunigtes Ende. Es wurde Geschichte, und es handelte sich um den peloponnesischen Krieg. Der Herr verstand sehr gut vorzutragen und hatte die Jugend beiderlei Geschlechts bald in den Bann seiner Darstellung gezogen. Es war, als wenn er selbst zu jener Zeit gelebt hätte, und Alkibiades und Thrasybulos wären ihm gute Bekannte gewesen. –

Als der Samstag herankam, hatte sich Thildele Mayfarth mit den Verhältnissen der Schule schon ein wenig ausgesöhnt, dennoch fürchtete sie den Kommers im Fidelen Mops und äußerte auch ihre Bedenken gegenüber der Tante Mann.

»Laß mich nur machen, kleiner Hasenfuß! Aber erst geh mal zu Konditor Busch in der Langgasse und kaufe dort ein Pfund Pralinen, gebrannte Mandeln, Fondants, und was er sonst so hat. Lauter auserlesene Sachen.«

»Was willst Du denn damit?«

»Zu jedem Feldzuge gehört Munition, und wer mich angreift, der soll mich gerüstet finden.« –

Die Obersekunda war bereits vollzählig versammelt in dem hintersten Hinterzimmer der kleinen Fuhrmannskneipe »Zum getreuen Wächter«, als mit dem Glockenschlage sechs Fräulein Thilda und ihre Tante an die Tür klopften.

Krauß öffnete und empfing die Damen auf das Artigste, konnte sich indessen nicht enthalten, bei der Vorstellung zu bemerken:

»Gipfel des Entzückens, Gipfel, Gipfel – allein wir hatten eigentlich gedacht, wenn auch keinen Klassen- so doch einen Altersgenossen begrüßen zu dürfen. Das gnädige Fräulein Tante ist dagegen gewiß schon über zwanzig hinaus.«

»Ja, es sind jetzt bereits längere Jahre her, daß ich konfirmiert bin, aber meinen Spruch weiß ich noch heute.«

»So, und wie hieß er denn?«

»Wenn Dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht!«

»Und diesem Spruche sind Sie treu geblieben?«

»Mein ganzes Leben bis auf den heutigen Tag!«

»Daher kommt es auch wohl, daß sie eine Tante Mann und nicht eine Onkelfrau geworden sind.«

Meyerlein war es, der durch diesen pyramidalen Witz wieder einmal den Vogel abschoß.

»Nein, junger Freund,« entgegnete die Tante in unerschütterlicher Ruhe, »es war die Furcht vor naseweisen Neffen. Wenn mir trotzdem der Verkehr mit ihnen nicht erspart geblieben ist, so bin ich doch aller Verantwortung enthoben und brauche mir keine grauen Haare darüber wachsen zu lassen, daß alle meine Reisigbesen bloß in ihrem Berufe aufgegangen sind.«

»Bravo, bravo!« rief jetzt der Chor der Jünglinge durcheinander.

»Meyerlein, das nennt man Abfuhr, und noch dazu fein gegeben! Die Tante lebe hoch! Wir wollen gleich einmal einen Salamander auf sie reiben.«

Das geschah mit vieler Umständlichkeit. Es wollte freilich nicht so recht klappen, allein die durch ihn erzeugte Stimmung ließ nichts zu wünschen übrig.

»Silentium!« hieß es jetzt. »Obersekundaner Krauß hat das Wort.«

»Solange die Welt steht,« hub dieser an, »ist es das erste Mal, daß in einer Bildungsstätte, die sonst nur rauhen Männern« – hierbei brach sich seine Stimme – »geöffnet war, holde Weiblichkeit ihren Einzug hält. Ganz Europa sieht heute auf den bescheidenen Festsaal im Fidelen Mops, und an uns alle tritt die heilige Verpflichtung heran, uns dieses historischen Momentes würdig zu zeigen. Fräulein Mathilde Mayfarth – schon in dem Namen liegt Poesie! Es ist keine Winterreise, es ist eine Maifahrt, eine Fahrt in die blühende Jugend hinein, in der nicht bloß an den Bäumen, nein auch an allen Zweigen der Wissenschaft, die Knospen springen und herrlichen Sommer verheißen. So viele Gaben legen aber auch Verpflichtungen auf. Ueber diejenigen gegen Lehrer und Schule erachte ich Sie hinlänglich aufgeklärt, die aber Ihren Mitschülern gegenüber bedürfen einer besonderen Erwähnung. Es ist der Geist der Kameradschaft, der hier seine Forderungen erhebt. Die Lehrer sind unsere natürlichen Feinde; sie sehen in uns nichts als Abklatsche von Grammatik und Phraseologie, als Geschichtszahlenautomaten und zahnlose Knacker mathematischer Nüsse. Wir aber haben ein göttliches Recht auf Frohsinn und Freiheit, und wehe dem, der uns dies verkümmern will! Der aus dem Zwiespalt resultierende Kriegszustand bedingt auf unserer Seite innigstes Zusammenhalten, ein Judas, ein Verräter ist undenkbar. Selbst wenn einen von uns das niederträchtige Gelüst feiger Denunziation anwandeln sollte, die Furcht hielte ihn zurück Er weiß ganz genau, daß er durch die gemeinsame Kraft unserer Fäuste in die unangenehme Lage gebracht werden könnte, jeden einzelnen seiner Knochen im grimmigsten Schmerze zu numerieren und zieht es vor, ein solches Geschick lieber nicht heraufzubeschwören. Sie aber, Fräulein Mayfarth, sehen uns waffenlos, und darum muß ich die Aufforderung an Sie richten, data dextra jurisjurandi loco zu geloben, über alles, was Sie von unserm Treiben beobachten und erleben, unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren.«

Er hielt ihr die Hand hin, das junge Mädchen erhob sich mechanisch und reichte ihm die ihre.

»So – jetzt sind Sie in unseren Bund aufgenommen und können in jeder Weise auf uns zählen. Sollten freche Schüler der Tertia oder der Quarta oder gar der Quinta Sie je zu belästigen wagen, genügt ein Wort, und Sie haben dauernde Ruhe vor ihnen. Wir aber werden tun, was in unsern Kräften steht, Ihnen Ihre Gymnasialzeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Finis coronat opus: es steige der Cantus Gaudeamus igitur!«

Alle standen auf und aus den jugendlichen Kehlen erscholl die alte feierliche Weise.

Die Tante wurde ordentlich gerührt und wischte sich mit dem Zeigefinger eine Träne vom Gesicht.

Darauf ging die Kneiperei weiter. Als es aber der Tante scheinen wollte, als ob durch den reichlichen Biergenuß die Gemüter gar zu hitzig würden, brachte sie ihre große Tüte mit Zuckerzeug heraus, aß selbst davon und bot ihrem Nachbar zur Linken, dem kleinen Meyer, dem Nesthäkchen der Klasse, gleichfalls von ihrem Vorrate an.

Der zierte sich erst ein wenig, langte dann jedoch gehörig zu, und wie die Tante ihren Sack in die Runde schickte, ließen es sich alle vortrefflich schmecken.

Auf einem Seitentische lagen zwei Spiele ziemlich abgebrauchter Karten.

»Ach, Herr Meyer,« bat die Tante. »Geben Sie uns doch mal die Karten her! Wir wollen ein kleines Jeuchen riskieren.«

Die Karten wurden herbeigeholt, und alle sahen erwartungsvoll nach der alten Dame hinüber.

»Wir spielen Schwarzen Peter. Derjenige, der zuerst auskommt, darf sich zwei Stücke aus dem Beutel nehmen, und jeder Nachfolgende eines. Dem Schwarzen Peter jedoch malen wir einen Bart mit einem angebrannten Kork.«

Es entwickelte sich eine ungeheure Heiterkeit, namentlich, als Fräulein Thilda der erste Schwarze Peter wurde und mit ihrem koketten Bärtchen eigentlich noch hübscher aussah als bisher. Schließlich saßen sie alle da wie die reinen Buschklepper und kreischten vor eitel Vergnügen.

Da hielt Tante Mann den Augenblick des Aufbruchs für gekommen.

Um dem Argwohn der Lehrerschaft oder der ihr unterstellten Organe keine Nahrung zu schaffen, mußte die Versammlung das Lokal in Gruppen von zwei bis drei Personen verlassen und durfte sich auch auf der nächtlichen Straße nachher nicht zusammenscharen. So sagte man sich denn in dem verschwiegenen Hinterhause des Fidelen Mopses Gute Nacht und schlich durch geheime Gänge langsam und unauffällig wieder in das bürgerliche Leben zurück.

Von diesem Abend an hatte Thilda Ruhe vor den Schabernackereien ihrer Klassengenossen: sie begegneten ihr ausnahmslos mit großer Artigkeit und zeigten sich ihr gefällig, wo immer sich nur eine Gelegenheit hierzu bieten wollte.

Dem armen Dr. Gothlind dagegen gelang es nicht, mit seinen Peinigern ein so leichtes Abkommen zu treffen. Nach wie vor mußte er herhalten als Kletterstange für den ungefügen Humor der Jugend, der kein Mitleid und keine Schonung kennt und glücklich ist, wenn er sich irgendwo und irgendwie leise oder laut zu betätigen weiß.

Der bedauernswerte Philologe entbehrte nun allerdings auch so ziemlich aller Gaben, vermöge welcher man sich bei der heranwachsenden Generation in Respekt setzt. Daß er außerdem als Probandus gleich an eine Oberklasse verschlagen war, hielt er selbst für eine ganz besondere Tücke des Geschicks, und daß er alle Bosheiten und Verhohnepipelungen der Herren Jünglinge in Gegenwart des jungen Mädchens über sich ergehen lassen mußte, fügte seinem Märtyrergürtel einen der schärfsten Stachel bei.

War es möglich, daß sie mit seinen Peinigern unter einer Decke steckte? Kaum. Ihr Gesicht blieb immer ernst, wenn es in den Mienen der anderen auch noch so sehr wetterleuchtete. Aber warum half sie ihm denn nicht, die Gesellschaft zur Raison zu bringen? Für sie, die sie mitten unter ihnen saß, konnte das doch nicht schwer sein? Wenn sie ihm bloß die Attentäter namhaft gemacht hätte, wäre ihm schon der Zügel in die Hand gegeben, und er würde sich wieder als Lenker gefühlt haben.

Alles und jedes schlug gegen ihn aus. Der Experimentiersaal des Gymnasiums befand sich im Bau. Darum war ein großer Schrank mit offenen ungleichen Borden einstweilen in der Obersekunda untergebracht. Nun begann bisweilen während seines Unterrichts ein unheimliches Plätschern auf jenem Schranke, das zu guter Letzt mit einer veritabelen Ueberschwemmung endete. Zu oberst hatte irgend jemand eine große Schale mit Wasser hingestellt. Dieses Wasser war nun durch Gummischläuche und Glasröhren von einer Etage in die andere geleitet, jedesmal ein kleineres Gefäß füllend, bis es schließlich in einem gewöhnlichen Wasserglase auf der untersten Borde mündete. Dann ging es mit einem Male: quatsch, quatsch – die Jungen sprangen auf und riefen: O, der Chemieschrank!, holten ihre Taschentücher heraus, scheuerten damit die Dielen trocken, stießen etliches Geschirr um, und platzten alle Augenblicke in höchster Seligkeit los, als ob ihnen die Sache einen ungeheuren Spaß bereitete. Auf seine Frage ward Gothlind der Bescheid, die Wasserleitung sei wohl noch von der vorangegangenen Physik-Stunde stehen geblieben, und man habe vergessen, sie nachher wieder abzuräumen.

Eine gewisse Scheu hielt den jugendlichen Gelehrten ab, sich bei dem älteren Kollegen nach der Wahrheit der Aussage zu erkundigen: er fürchtete, dieser könne am Ende noch auf seine Kosten einen boshaften Witz über die Klassensündflut vom Stapel lassen. –

So näherte sich allgemach das Jahr seinem Ende, und nachmittags um drei Uhr war es mit dem besten Willen nicht mehr möglich, auf den Schulbänken zu lesen oder zu schreiben. Gas und elektrisches Licht galten in Böblingen als unbekannte Größen, darum hatte man hängende Petroleumlampen angebracht, die dem Wissensdrang die nötige Beleuchtung gewähren sollten.

Die Stunden zwischen drei und vier hatte in der Obersekunda immer Herr Dr. Gothlind zu geben. Er mußte also auch anordnen, wie es mit dem Anzünden der Lampen vor sich gehen sollte. Ihm kam dabei so etwas vom mittelalterlichen Lehrlingswesen in den Sinn, und er bestimmte, daß der Jüngste der Klasse dieses Geschäft zu besorgen habe. Als Jüngster wurde der kleine Meyer ermittelt, doch entsprach dessen Bestallung keineswegs den an sie geknüpften Erwartungen. Meyerlein fehlte der sittliche Ernst für solche Aufgabe. Schon beim Ausziehen der Zündholzschachtel gab er so wenig acht, daß jedesmal sämtliche Hölzchen auf die Erde fielen, deren Auflesen dann ja wieder eine furchtbare Zeit verschlang, ungeachtet des Spektakels und der Karambolagen, die sich zur Beschleunigung der Sache entwickelten. Sogar die nötige Sorgfalt beim Anfassen des Glaszylinders ließ er vermissen: in kurzer Zeit zerbrachen ihm zwei und waren nur mit großen Umständen durch neue wieder zu ersetzen.

Gothlind kehrte darauf den Spieß um und ernannte jetzt den Ältesten, den Primus, Gustav Christoph zum Lampenwart der Klasse. Auch sollte von nun an das Licht schon in der Zwischenpause in Ordnung gebracht werden, damit von dem Unterricht nichts verloren gehe.

Als der Herr Kandidat nach diesem Ukas die Sekunda betrat, empfing ihn eine entsetzliche Luft. Die beiden Petroleumflammen qualmten armdick empor, und eine Wolke lagerte sich bereits über den Köpfen der unschuldvoll Dasitzenden. Gothlind vermochte in diesem furchtbaren Dunst kaum zu atmen und ließ zunächst alle Fenster aufreißen, um nur eine einigermaßen erträgliche Atmosphäre herzustellen. Das ging natürlich auch nicht ohne einen haarsträubenden Tumult ab, und Schüttekorn jammerte laut über sein Schienbein, das in der Eile der sanitären Bestrebungen einen scheußlichen Stoß gekriegt hatte.

»Da ging der Herr denn selber dran.« Der junge Philologe beschloß, die Lampen hinfüro mit eigenen Händen anzustecken, doch mußte er sich zu diesem Zwecke eigene Schwefelhölzer mitbringen, denn die deponierte Schachtel war unbegreiflicherweise immer derart feucht, daß deren Inhalt absolut nicht zu gebrauchen war, und das resultatlose Anreißen trug bloß zur Erhöhung der jugendlichen Munterkeit bei. Dazu holte jeder der Schüler ein Feuerzeug aus seiner Tasche und bot es mit solchem Ungestüm an, daß ihm fast nicht zu wehren war.

Überhaupt dieser grauenhafte Diensteifer! Wie recht hatte Talleyrand mit seinem berühmten Worte vom exès du zèle! Wenn dem unglücklichen Gothlind einmal ein Blatt entfiel, gleich stürzten fünf oder sechs aus den Bänken heraus, um es ihm aufzuheben, und neulich hatte er sogar durch diese Machenschaft einen recht unangenehmen Schaden davongetragen.

Er hängte seinen Hut regelmäßig an einen handfesten Nagel in dem Türpfosten gleich beim Eingang links. Nun hatte sich, ganz unbegreiflicher Weise, dieser Nagel mit einem Male gelockert: er fiel mit dem Hute auf die Erde. Mit Blitzesschnelle warf sich ein halbes Dutzend der Gymnasiasten auf die über den Boden rollende Kopfbedeckung, die hierbei unter die Füße ihrer Retter geriet und völlig zertrampelt wieder nach oben gelangte. Wenn sich auch die jungen Leute mit großem Wortschwall entschuldigten, das Unglück war nun einmal geschehen, und trotz aller vorgenommenen Ausbügelungen war der harte Filz nicht mehr in eine Form zu bringen, die dem Besitzer gestattete, unbehelligt damit über die Straße zu gehen. Der Pedell mußte ihn zum Hutmacher bringen und inzwischen den Panama aus der Wohnung des Herrn Doktors holen – drei Wochen vor Weihnachten immerhin eine etwas wagehalsige Bekrönung. –

Mathilde Mayfarth besaß eine gesunde humoristische Ader, aber für solche Art von Witzen war ihr jegliches Verständnis versagt. Wie konnte man nur einem gelehrten jungen Herrn, der mit großem Wissen eine so angenehme Ausdrucksweise verband, der so harmlos und gut in die Welt hinaussah, als ob er jedem gern geholfen hätte, gleich einem Zirkusklown zum Besten haben? Schämen sollte sie sich, diese Blüte des deutschen Volkes, die sich soviel auf ihr Optimatentum zu Gute tat, daß sie kein Mitleid fühlte mit einem der Ihren, der seine Studien und seine Examina absolviert hatte, der das geworden war, was sie doch erst werden wollte, und ihn piesackte, wie unvernünftige Kinder einen seiner Sinne beraubten Trunkenbold piesacken!

O, sie hätte auf dem Katheder sitzen sollen, sie würde diese Gesellschaft schon zu Paaren getrieben haben! »Meyer, schreiben Sie mal bis morgen hundert Homer-Verse ab! Schüttekorn, lernen Sie mir zur nächsten Stunde dreißig Strophen des Nibelungenliedes auswendig!« Ah, das wären Keulenschläge gewesen, die den Vorlautesten klein gekriegt hätten! Aber immer bloß dieser Blick: »Tut mir nichts, ich tue Euch ja auch nichts« – nein, Herr Doktor, damit richtet man nichts aus bei solcher Lauseschwefelrassselbande!

Zwischen Gothlind und Mathilden spann jetzt ein unsichtbares Fädchen eine Bahn, auf der kleine Elfen ganz bequem von einem zum andern spazieren konnten. Der Lehrer gewöhnte sich an, eigentlich nur noch für seine Schülerin zu dozieren, und ihre großen fragenden Augen holten ihm die Worte zum Munde heraus und in den Worten die innigsten Gedanken seiner Seele. Mochte die ungeberdige Jungenschar um sie herum noch so viel dummes Zeug treiben, alle ihre Neckereien verpufften in der Luft, weil ihr Opfer sich in Regionen befand, die ihn für ihren Spott und ihre Arglist unverletzlich machten. Wenn der Gelehrte von der Liebe Siegfrieds und Chriemhildens sprach, wenn er das Glück ihres Beisammenseins, die traute Häuslichkeit schilderte, konnte Meyerlein gern eine Schnupftabakdose zum Vorschein bringen und daraus heimlich eine so gewaltige Prise nehmen, daß er wohl ein Dutzend Mal nacheinander niesen mußte, Gothlind merkte nichts und fuhr unbehelligt in seinem Vortrage fort. Mathilde folgte mit regstem Interesse, und wenn ihr je einmal etwas zu schwer verständlich wurde, spürte er es im Augenblick und antwortete sofort auf ihre ungefragte Frage.

Dieser Verkehr beschränkte sich aber ganz allein auf die Schulstunden: außerhalb derselben hatte er nie Gelegenheit genommen, sich dem Fräulein zu nähern oder ihren Studien irgendwelche Förderung angedeihen zu lassen.

Mittlerweile standen die Weihnachtsferien vor der Tür, und die Stimmung in der Klasse wurde von Tag zu Tag ausgelassener.

»Jungens,« sagte Krauß, »habt Ihr schon bedacht, daß wir uns mit dem Schlusse der Schule von unserm linden Gothen verabschieden sollen, und daß nach Neujahr der scharfe Mackenzahn wieder in seine Stelle rückt? Ein Andenken an diese schöne Zeit müßten wir ihm denn doch eigentlich zu Weihnachten schenken.«

»Wenn ich nur wüßte, was!«

»Jammerschade, daß es jetzt keine Maikäfer gibt. Er würde sich gewiß mordsmäßig freuen, wenn wir ihm 'ne Düte davon dedizierten, wie weiland Max und Moritz ihrem Onkel Fritze.«

»Mensch, Du bringst mich auf eine Idee! Wir haben über Nacht eine lebende Ratte gefangen, ein fürchterliches Biest. Die bestreuen wir dick mit Ofenruß, daß sie aussieht wie der reine Deiwel, tun sie in eine kleine Holzkiste mit den nötigen Luftlöchern, auf daß sie nicht erstickt, umspinnen die Kiste mit Draht, wickeln sie in kräftiges Kartonpapier, kleben eine Adresse drauf und schicken sie ihm per Post zu. Wenn er dann am Nachmittag des Heiligen Abends das Paket aufmacht, springt ihm das wütende Tier entgegen und fuhrwerkt wie toll auf seinem Schreibtisch und in seiner Stube umher, überall eine dicke schwarze Spur zurücklassend. Der Kerl meint ja, Ostern und Weihnachten und Pfingsten kämen alle drei auf einen Tag, er schreit, daß die ganze Hauseinwohnerschaft zusammenströmt, und nun beginnt eine Jagd auf das geängstigte Vieh, daß es ihnen schließlich in die Kleider krabbelt und überall das größte Unheil anrichtet.«

»Famos! Großartig! Wirklich nibelungenhaft! Krauß, den Gedanken blies Dir ein Gott ein!« schwirrte es durcheinander, und jeder erfand dann noch eine neue Steigerung des Effektes.

Nur Mathilde war kreidebleich geworden.

Himmlische Barmherzigkeit, aus diesem Dummenjungenstreiche konnte ja Entsetzliches entstehen! Der Doktor war nicht der kräftigste – wie nun, wenn ihn ein Herzschlag träfe, oder wenn er durch den maßlosen Nervenchok einen dauernden Schaden an seiner Gesundheit nähme? Sie mußte sprechen, mußte den Leichtsinnigen das Ruchlose ihres Anschlages vor Augen halten: sie waren doch nicht geradezu schlecht, sie würden ihr sicherlich Gehör schenken und sich in ihrem radausigen Bestreben zu etwas Harmloserem entschließen.

Eben wollte sie den Mund öffnen, da trat Puten-Masius herein und machte den Privatunterhaltungen ein Ende.

Sie hörte nichts von allem, was in dieser Stunde vor sich ging, und als sie aufgefordert wurde, im Übersetzen fortzufahren, wußte sie gar nicht einmal, wo sie anfangen sollte, was ihr von Seiten des alten Frauengegners eine boshafte Bemerkung eintrug.

Als es zwölf schlug, stürzten die Jungens Hals über Kopf ins Freie, um zunächst Kraußes Ratte zu besichtigen und wettere Details zu dem Plane zu beschließen. Sie konnte niemandes habhaft werden und trat ratlos und niedergeschlagen ihren Heimweg an.

Hätte sie nicht einen Eid geschworen, alles geheim zu halten, was in der Klasse unter den Schülern passierte, sie würde sich jetzt an Tante Mann gewandt haben. Indessen bei dem impulsiven Charakter der Dame mußte sie daraus gefaßt sein, daß diese sofort zum Direktor liefe und dem den ganzen Handel offenbarte. Und dann käme natürlich eine strenge Untersuchung, dann kämen Religationen und alle möglichen Schul-Strafen, und Dr. Gothlind gelangte zu einer traurigen Berühmtheit, mit der ihm selbst gewiß am allerwenigsten gedient wäre.

Nein – ihr blieb nichts, als ruhig auf den Nachmittag zu warten und vor dem Unterricht zu versuchen, ob sich die Bambusen nicht doch noch umstimmen ließen.

Allein diese hatten sich in der Zwischenzeit dermaßen in ihre Idee verrannt, daß an eine Umkehr absolut nicht zu denken war. Mathilde wurde geradezu ausgehöhnt und durch die Unterlegung gekränkt, daß Gothlind doch wohl ihre stille Liebe sein müsse.

»Ängstigen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein,« rief Krauß. »Wo der Mut in der Brust seine Spannkraft übt, können so kleine Emotionen bloß von Vorteil sein. Wenn Sie Ihren Theobald erst geheiratet haben, werden Sie es uns noch danken, daß wir Ihnen Ihren Herrn Gemahl zum Manne erzogen haben. Siegfried erschlug den Drachen, und unser Kandidatus sollte nicht über eine simple Ratte triumphieren? Sie müßten sich doch schämen, daß Sie einem solchen Wisch- und Waschlappen Ihr jungfräuliches Herz geschenkt haben, und sich schleunigst nach einem andern Herzallerliebsten umsehen. Ich dächte, in Ihrer nächsten Umgebung fänden Sie reichliche Auswahl.«

Thilda konnte mit äußerster Mühe kaum ihre Tränen hinunterschlucken. Sie fühlte den eisernen Zwang, jetzt keine Schwäche zu zeigen, und spielte sich lieber auf die Gekränkte aus, als daß sie ihr Zagen und ihr Sorgen um den verehrten Lehrer weiter verraten mochte.

Also von dieser Seite war nichts zu erwarten. Was aber jetzt? Morgen fingen die Ferien an, übermorgen war Heiligabend, lange Zeit zum Ueberlegen blieb ihr somit nicht.

Mit einem Male kam ihr ein Hoffnungsstrahl: Vielleicht verreiste er zum Feste, das Paket blieb uneröffnet bei ihm liegen, und in der Zwischenzeit würde die verwünschte Ratte in ihrem Gefängnis sicherlich zu Grunde gehen.

Allein auch hierin sah sie sich getäuscht. Nähere Erkundigungen, die sie mit größter Diskretion anzustellen bemüht war, ergaben auf das Gewißeste, daß der Doktor gar nicht daran dachte, während der Ferien Böblingen zu verlassen, sondern vielmehr seiner Wirtin Auftrag gegeben habe, für die Feiertage einen ordentlichen Kuchen zu backen, damit er doch gleichfalls merke, daß Weihnachten sei.

Mit der Arglosigkeit eines Kindes spielte er auf einem Vulkan, und sie wußte nicht, wie sie ihn warnen sollte, damit er sich vor der dräuenden Gefahr in Sicherheit brächte. Die Taugenichtse hatten das giftige Rattenvieh in seinem sicheren Behälter noch mit in die Schule geschleppt, um es sie doch auch einmal sehen zu lassen; sie fing einen Blick der wütenden Kreatur auf, der ihr nichts Gutes weissagte, und nun ging sie mit ihrem verzweifelnden Herzen herum und konnte keine Ruhe und keine Rast finden.

Sie hatten genau ausgerechnet, daß Theobald Gothlind das Unglückspaket mit der Abendpost erhalten sollte. Der 24. Dezember war sonst für Mathilde immer ein Freudentag gewesen – heute aber kam sie sich vor, als ob sie zum Richtblock verurteilt worden sei. Ihre Gedanken schweiften abwärts, und nur mechanisch leistete sie der Tante die nötigen Handreichungen zum Schmücken ihres kleinen Baumes.

»Sieh doch einmal nach, wer da klingelt,« sagte die Tante, und als sich das junge Mädchen an die Haustür begab, fand sie dort einen Hausierer, der noch in letzter Stunde Glassachen für den Christbaum zu verkaufen suchte.

»Ja, wir können noch eine Kette mit bunten Kugeln brauchen. Zeigen Sie nur her, was Sie haben!«

Die Alte war hinausgetreten und musterte die Waren. Sie fand bald das Gewünschte und zahlte den verlangten Preis.

»Aber, Mann – was haben Sie mit Ihrer Nase gemacht? Davon ist ja bloß noch die Hälfte da. Und diese fürchterliche Narbe! Sind Sie vor Zeiten einmal verwundet worden?«

»Ach, gnädige Frau – als ich noch war ein Bub, daheim in Karvelos in Ungarn, bin ich eines Abends sehr spät gekommen in Keller von Mutter meiniges. Ich habe gehabt kein Laterne, und mein Fuß ist gestoßen in ein Rattennest. Da ist altes Ratt in höchster Wut mir gesprungen ins Gesicht und hat sich festgebissen in mein Nasen. Habe ich geschrien – Sie können glauben – doch Satansvieh nicht hat gelassen los. Die Mutter und alle Leite haben mich gefunden ohnmächtig und blutend, bin geschickt nach Wien zu Professor. Hat mich wieder zurechtgeflickt – allein Schönheit war futsch, und kein Weiberl hat je was mögen wissen von armes Hannuschko. Ja ja – so geht's halt: Pech ist Pech. Küß die Hand, Euer Gnaden, und recht vergniegtes Fest!« –

Mathilden erstarrte das Blut zu Eis bei diesem Berichte. Sie sah noch die treuherzigen Augen in dem verschimpfterten Zigeunergesicht, als der Händler längst schon wieder seines Weges gezogen war.

»Ach, da hast Du ja die schöne silberne Christglocke auf den Boden fallen lassen und natürlich in tausend Stücken! Glück und Glas, wie leicht bricht das! Indessen halten wir uns lieber an das andre Wort von der Scherben, die Schätze verheißen: Zu Weihnachten wendet sich einem alles zum Besten.«

Das Jungfräulein hörte gar nicht, was die Tante sprach. Die Uhr schlug halb fünf. Um sechs wurden die Pakete bestellt. Und in anderthalb Stunden ... Aber um des Himmels Willen, war es nicht auch möglich, daß der Postbote in die Gegend, wo der Doktor wohnte, viel früher gelangte und am Ende schon in diesem Moment dort die verhängnisvolle Schachtel abgab?

»Tante, Du mußt verzeihen, ich habe noch einen Gang zu besorgen. Ich bin gleich wieder zurück.«

»Wohin, darf man in dieser schlimmen Zeit, in der man bei jedem Schritte auf Geheimnisse und verschlossene Pforten stößt, wohl nicht fragen? Na, ich bin nicht neugierig. Indessen halte Dich nicht zu lange auf: um sechs wollen wir den Baum anstecken.« –

Draußen nahm sie das Weihnachtstreiben auf, das selbst in Böblingen auf Straßen und Plätzen um den gemeinen Lauf des Lebens des Festes Zauberglanz gewoben hatte. Alles war heiter und guter Dinge und bildete somit den ärgsten Kontrast zu dem entsetzlichen Zwiespalt, der in Thildeles Innern gähnte.

Sie eilte zunächst auf die Post und kam darüber zu, wie hier die Pakete verladen wurden. Heute hatte sich der Verkehr verzwanzigfacht, und es waren kleine Handwagen und Schiebekarren requiriert, um solcher gänzlich ungewohnten Anhäufung einigermaßen zu genügen. Auch für Hilfsbriefträger sorgte der Verwalter, die sich nur durch eine blaue Binde um den rechten Arm ihrer Ziviltracht als Zugehörige zur Postarmee auswiesen.

Ihr suchendes Auge entdeckte das Paket bald auf einem der Vehikel: sie hatte die etwas merkwürdig geformte Kiste ja in der Schule gesehen. Und nun wollte sie warten, bis dem Doktor dieselbe ins Haus getragen würde. Sie wollte dem Schicksal nicht vorgreifen, erst im allerletzten Augenblick wollte sie handeln.

Da kam schon ein Mann und schob mit der Karre weg. Unauffällig folgte sie ihm. Er ging in ein Haus und noch in ein anderes und jetzt hielt er wirklich genau an der Ecke, wo Gothlind wohnte, als ob sich das alles ganz von selber verstünde. Er nahm den Behälter, er stieg die Treppe hinauf – Mathilden klopfte das Herz zum Zerspringen, sie stellte sich hart an den Eingang – nun kam er wieder herunter, und wie ein Schemen glitt das junge Mädchen über die Stiegen, riß ohne anzuklopfen die Tür auf, an der des Doktors Visitenkarte klebte, und schrie mit sich überschlagender Stimme:

»Oeffnen Sie es nicht, das Paket, ich beschwöre Sie, Sie gehen daran zu Grunde!«

Dann war sie mit ihrer Fassung fertig. Alles, das Zimmer, sein Besitzer, die Lampe, die Möbel, alles drehte sich vor ihr im Kreise, ihr schwand das Bewußtsein, instinktiv taumelte sie nach einem Stuhle hin und brach auf demselben lautlos zusammen.

Gothlind machte ein namenlos bestürztes Gesicht. Er hatte sich gerade gemütlich in seine Sofaecke gesetzt und hatte ein Buch vorgenommen, das er sich selbst zum Feste bescheren wollte, weil er hier niemanden besaß, der ihm eine Aufmerksamkeit zu Teil werden ließ. Er dachte, wie er heuer so mutterseelenallein seinen Weihnachtsabend feiern müßte, und unterdrückte einen leisen Seufzer. Da polterte der postalische Jünger herauf, lieferte ein gänzlich unerwartetes Cadeau ab – und unmittelbar daran schloß sich dieser rätselhafte Ueberfall! Ja, war das nicht seine Schülerin, Fräulein Mayfarth, war das nicht er, Theobald Gothlind? Wenn er scharf mit den Füßen aufträte, gäbe es vielleicht einen Ruck, und er erwachte aus seinem sinnlosen Traume.

Mathilde schlug die Augen auf.

»Halten Sie mich nicht für verrückt, Herr Doktor,« begann sie leise und matt. »Jener Kasten dort birgt eine Gefahr für Sie, und ich durfte, ich konnte Sie derselben nicht preisgeben, so lange ich noch einen Finger zu rühren im Stande war.«

»Dieses Paket?« Gothlind griff danach. »Wahrhaftig: es bewegt sich etwas darin! Es wird doch am Ende nicht eine Höllenmaschine sein?«

»Nein, eine Höllenmaschine ist es nicht. Wenn Sie es nicht öffnen, bleibt es für Sie harmlos. Das Beste wäre deshalb, Sie würfen es in den Fluß und fragten nicht weiter.«

»Aber, mein liebes Fräulein Mayfarth – wollen Sie mir nicht einige nähere Angaben machen?'

»Ich darf nicht. Ein Schwur schließt meinen Mund.«

»Das wird ja immer unheimlicher. Indeß: lassen Sie einmal sehen, da liegt ja der Coupon der Begleitadresse. Absender: Hunold Singuf, Kammerjäger in Hameln. Aha, ich müßte mich furchtbar täuschen, wenn ich hier nicht die verstellte Handschrift eines meiner Herren Obersekundaner vor mir sähe. Das ist wohl ein Ulk, um mich zu erschrecken. Vielleicht eine lebende Maus?« –

»Nein, eine wütende Ratte!«

»Und Sie erfuhren davon, und Sie mußten Verschwiegenheit geloben, und ich tat Ihnen leid, und Sie wußten keinen andern Weg, als mutig in meine Höhle zu dringen und mich von der Gefahr in Kenntnis zu setzen? Ach, wie soll ich Ihnen das danken? Das war sehr, sehr, sehr lieb von Ihnen! Leicht ist Ihnen dieser Schritt gewiß nicht geworden, Sie beben ja noch, wie vom Fieber gepackt. Es hilft nichts, Sie müssen erst ein kleines Schlückchen Wein trinken, in dieser Verfassung kann ich Sie unmöglich nach Hause bringen.«

Er holte aus einem Wandschränkchen eine Flasche Madeira mit zwei Gläsern. Allein seine Hände zitterten selbst so stark, daß er kaum mit dem Einschenken der beiden Gläser zu Stande kam.

Sie tranken zusammen von dem Weine, und da sahen sie sich an und lachten.

»Nun wollen wir auch miteinander anstoßen und zwar auf die schöne Zeit, wo Sie meine Schülerin waren, und ich Ihr Lehrer. Leider hat sie ja jetzt ein Ende genommen. Wenn ich in meiner Jugend und in meiner Unerfahrenheit auch viel von dem Mutwillen und der Flegelei unserer Klasse zu erdulden hatte, ich sage doch: Leider! Denn entschädigt wurde ich reichlich durch das Vergnügen, Sie zu unterrichten und Ihnen von Hohem und Herrlichem zu erzählen, das unseres Volkstumes Wurzel bildet.«

Mathilde wurde dunkelrot, und in der Verlegenheit trank sie ihr ganzes Glas leer. Und da sie nicht sprechen konnte, reichte sie ihm die Hand, und ein herzlicher Druck dankte ihm für seine freundlichen Worte.

»So, mein liebes Fräulein, wenn Sie sich jetzt hinlänglich gekräftigt fühlen, wollen Sie mir gestatten, Sie nach Ihrer Behausung zu geleiten. Ich weiß sehr wohl, wo Sie wohnen. Oft genug bin ich Abends, wenn es dunkelte, an Ihren Fenstern vorübergegangen und habe mich gefreut, wenn ich an den Vorhängen Ihren Schatten bemerkte.«

Sie blickte verwundert auf, und jetzt war an ihm die Reihe, zu erröten. Nichts desto weniger streckte sie ihm ihre Hand entgegen, und es erfolgte wiederum ein warmer Druck, dessen Motivierung diesmal allerdings auf ziemlich schwanken Füßen stand.

Im Nu hatte er seinen Havelock umgehängt und seinen Hut vom Haken genommen, und nun schlichen sie beide – ganz leise, wie auf Verabredung – die Treppe hinab.

»Noch einen Moment!« rief er, als sie unten waren. »Ich hole schnell die Rattenkiste, wir können dann gleich das arme Vieh in sein nasses Grab versenken. Undankbar wäre es von mir, wenn ich das garstige Ungetüm, das mir heute Abend zu so großer Freude verholfen hat, länger als nötig in seinem finsteren Gefängnis schmachten ließe.«

Der Neckar floß dicht an ihrem Wege vorbei, und mit lautem Aufschlag flog die Ursache aller Qual und aller Wonne in die still plätschernden Wogen des Flusses.

Er hatte ihr seinen Arm geboten, und leicht aneinander geschmiegt schritten sie dann beide dahin.

»Und, liebes Fräulein, wie werden Sie heute Ihren Weihnachtsabend zubringen?«

»Ganz allein mit meiner Tante. Wir pflegen hier wenig Verkehr am Ort. Aber einen Tannenbaum haben wir uns doch gemacht?«

»Ei, wie hübsch! Ich werde diesmal keinen zu sehen bekommen, und dennoch verlangt's mich wie noch nie nach dem Knistern der Kerzen, dem Dufthauch der Fichte und den schönen Sachen im goldigen Schimmer. Dürfte ich mir nicht einen Augenblick den Ihren betrachten, Fräulein Thilda?«

»Aber, Herr Doktor – gewiß! Mit dem größten Vergnügen würde ich Ihnen unser bescheidenes Bäumchen zeigen?«

»Sie rühren mich durch Ihre Güte. Allein was wird die Tante sagen?«

»Die Tante –«

»Ja, sehen Sie, da werden Sie gleich kleinlaut. Und trotz alledem gäbe es eine wunderbar schöne Einführung. Wenn Sie mich an der Hand nähmen und sprächen: ›Sieh, Tante, das ist mein Bräutigam! Wir haben uns eben verlobt.‹«

Mathilde war sprachlos. Ihr Busen wogte heftig, und ein unaufhaltsames Schluchzen erschütterte ihren Körper.

Gothlind legte sich diese Erscheinung zu seinen Gunsten aus. Er umschlang das junge Mädchen und küßte sie auf die Lippen. Und Thildele duldete seine Küsse, sie erwiderte seine Küsse, und die verschwiegene Parkecke hinter dem alten Böblinger Schlosse sah ein Paar unsagbar glücklicher Menschen. –

»Wie ist denn das nur so rasch gekommen?« meinte die Tante, die sich nicht so leicht von ihrer Verwunderung erholen konnte, als alle drei behaglich um den brennenden Weihnachtsbaum Platz genommen hatten.

»So rasch? Aber ich bitte Sie! Länger als zwei Monate sind wir zwei ja tagtäglich mehrere Stunden zusammengewesen. Ich sollte denken, die Liebe hätte oft schon weniger Zeit gebraucht, um Herz an Herz zu heften, so fest, daß keines mehr sich vom andern loszureißen vermochte. Wie wir schließlich dahinter gelangt sind? Je nun, das ist unser Geheimnis, und nicht wahr, mein Liebling: wir dürfen beide nicht aus der Schule plaudern!«

 

Ende.

 


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