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Die Pest zu Marseille

1.

Die Abendsonne flimmerte heiter durch die grünen Vorhänge des gothisch-gewölbten Fensters, und auf den Steinplatten des Fußbodens wie auf der blanken Schiefertafel des mächtigen Tisches spiegelte sich der bunte Schimmer der Wappen, die den Fensterbogen schmückten. Friedliche Ruhe, eine wahre Sabbatfeier herrschte im Gemach und bekrönte die Stirne der Bewohnerin desselben. Die Mutter und das Kind leuchteten von freundlicher Verklärung. Die kleine Rosa war die Königin des stillen Festes, und die Mutter, selbst noch jung und reizend wie eine Maiblume, bediente, wie ein demüthiges Hoffräulein, die geliebte Tochter. Eine niedliche Mahlzeit, bestehend aus allen Leckereien, die in der Levante erzeugt werden, stand auf dem Tische: Feigen, Trauben aus Chios, köstliche Zuckerwaaren von Damask, eingemachte Früchte aus Griechenland, und daneben der einheimische frische Honig, das lockende weiße Brod, dessen Anblick schon die Gaumenlust reizt und verführt. Zwischen diesen Herrlichkeiten lagen Blumen zerstreut, woran sich das Auge der kleinen Rosa ergötzte, während ihr Ohr entzückt und befriedigt den Schmeichelworten lauschte, die in süßem Geflüster von den Lippen der Mutter strömten. – Die alte Margarethe, da sie in die Thüre trat und das holde Schauspiel gewahrte, fühlte sich davon ergriffen, war gleich Empfindsamkeit nicht ihre Sache, und betrachtete einige Minuten schweigend Mutter und Kind. Die schöne Clemence bemerkte die alte treue Dienerin, und sagte lächelnd zu ihr: »Tritt näher, liebe Freundin, und feiere mit uns den Tag, den ich so festlich begehe, als meine klösterliche Einsamkeit es erlaubt. Er ist meiner Rosa Geburtstag, und Du weißt, daß ich verbunden bin, so viele Blumen auf den Lebensweg dieses theuern Wesens zu streuen, als mir Aermsten möglich ist; wäre es auch nur darum, dem unschuldigen Kinde sein Daseyn weniger schwer, weniger dunkel zu machen. O möchte es mir einst nicht um seiner Geburt willen zürnen.«

Clemence schwieg mit einem tiefen Seufzer, und senkte das Haupt in ihre weißen Hände. Die harmlose Rosa winkte mit lebhafter Ungeduld der alten Wärterin, und sagte mit den unvollkommenen Lauten ihrer schwachen Jugend: »Komm, liebe Gouthoun, setze dich her, erzähle mir, und ich gebe Dir die schönste Rosine, die mir die Mutter schenkte.« – »Danke bestens, herzallerliebste Rousoun. Was soll ich Dir aber erzählen?« – »Ach, sage mir das Mährchen von dem bösen Drachen; es ist so schauerlich, und ich fürchte mich so gerne.« – »An Deinem Geburtstage? Nein, mein liebes Töchterlein. Ich will Dir lieber einen Schwank erzählen: von dem Gaukler, der bald ein Mensch war, und dann wieder ein Pferd, und endlich als eine Distel von dem Kameel gefressen wurde.« – »Nein, nein, du langsame Gouthoun; von dem Drachen will ich hören, wovon Du mir nur einmal erzählt hast.« – »Meinethalben, wenn Du's nicht anders haben willst. Es war einmal eine arme Frau, von Beaucaire gebürtig; die hatte eine hölzerne Schüssel in die Rhone fallen lassen, und lief trostlos am Ufer hin und her, und jammerte wegen des Verlustes, denn sie hatte kein Geld, um eine andere Schüssel wieder zu kaufen, und kein Fischer wollte sich bequemen, das Gefäß wieder umsonst vom Grunde empor zu holen. Deßhalb war sie in Verzweiflung, weil ihre Kinder zu Hause hungerten und vergeblich auf die Klostersuppe warteten, welche die Frau zu holen gegangen war. Da erschien ihr plötzlich in ihrem Jammer der grimmige Drach von Tarascon, ein entsetzliches Ungethüm mit grünem Schuppenleib, rothen Augen und goldgelben Fledermausflügeln, welcher in der Rhone Wohnung und Nest hatte. »Was heulst du?« fragte der Drach, und schnaubte dabei wie ein Blasebalg: »Ich vertrage das Weinen nicht, und fresse dich zur Stunde, wenn du nicht in meine Dienste treten willst. Ich habe einen Sohn, der einer Wärterin bedarf, weil er kaum aus dem Ei gekrochen ist. Geh mit mir mein Kindlein zu pflegen, oder du bist des Todes.« Darob erschrack die arme Frau sehr, und klagte, was wohl aus ihren eigenen Kindern werden möchte, wenn sie mit dem Drachen ginge. Sofort blinzelte das Ungeheuer mit den funkelnden Augen, und faltete die schillernde Stirnhaut, als ob es nachdächte, schwenkte die blutrote Zunge, die ihm wie eine lange Wimpel aus dem Rachen hing, hin und her, sträubte den Hahnenkamm auf seinem Kopfe, kratzte sich mit der Greifenklaue hinter dem borstigen Ohr, und erwiederte: »Für deine Kinder will ich sorgen, aber setze dich geschwind auf meinen Schweif, sonst stirbst du zur Stelle.« Die arme Frau that, wie der Drach geheißen, und fuhr mit ihm blitzschnell in die kalte Rhone hinunter, bis auf den Grund, wo zwischen Felsen und Sandbänken des Ungethüms Nest war. Darinnen saß der kleine Drach, und spielte mit des armen Weibes hölzerner Schüssel, und rings herum standen Korallengewächse, so groß wie Bäume, in deren Zweigen und Aesten die Gerippe derjenigen Menschen hingen, welche der alte Drach zu seiner Nahrung verspeist hatte. In diesem gräulichen Schlosse diente das arme Weib dem Drachen sieben Jahre lang, und ätzte sein Junges, bis es stark aufwuchs, um selber auf den Raub ausgehen zu können. Der Vater des Basilisken versorgte indessen die Wärterin und sein Kleines mit allen Leckerbissen, die von den Menschen theuer bezahlt werden. Eines Tages brachte der Drach eine saftige Aalpastete in das Nest, und sprach vergnügt: »Theile diese Pastete mit meinem Sohne; so er aber davon gegessen hat, so bestreiche mit dem Fette des Fisches seine beiden Augen, damit er unter dem Wasser hell sehe, und jedes Zauberblendwerk durchschaue. Nachher ist deine Arbeit zu Ende, und ich will dich reich beschenkt wieder auf die Erde bringen.« Deß freute sich das Weib außerordentlich, und es that, wie ihm befohlen; nur, als der Drach einen Augenblick den Rücken wendete, wollte die Frau ihre eigenen Augen mit dem Aalfette bestreichen, und es gelang ihr mit dem linken, ehe noch der Drache dazu kam, und sie daran verhinderte. Nun sah sie zwar alle Schätze und Zauberdinge, die unter den Fluthen verborgen liegen, aber es half ihr nicht viel, weil der Drach wiederum schnell mit ihr in die Höhe sauste, und sie am Strand absetzte. Er ließ einen Beutel bei ihr zurück, der war voll von blankem Golde, und sie lief spornstreichs nach Beaucaire, ihre Kinder aufzusuchen. Aber sie fand ihr Haus verödet, denn der böse Drache hatte nicht Wort gehalten, und ihre Kinder waren gestorben, bis auf eines, welches ein Nachbar zu sich genommen, um es zu pflegen. Doch war das Kind die lange Zeit von sieben Jahren hindurch um keinen Zoll gewachsen, und als die weinende Mutter den Beutel herauszog, um dem Nachbar seine christliche Pflege zu vergelten, so war darinnen statt des Goldes nur eine Menge von kalten und feuchten Kieselsteinen. Da weinte und jammerte das Weib nur um so heftiger, und konnte sich lang nicht mehr trösten, und suchte drei Jahre lang vergebens an den Ufern des Flusses den garstigen Drachen, um von ihm zu erhalten, daß ihr einziges Kind gedeihen möchte. Da kam die große Messe von Beaucaire heran, wo viele tausend Menschen aus allen Nationen zusammen treffen; und unter diesen Menschen befand sich auch der alte Drache, weil er durch Hexerei vermochte, ein menschlich Antlitz anzunehmen. Wie seine ehemalige Kammerdienerin seiner ansichtig wurde, erkannte sie ihn trotz Federhut, Goldstoffweste und Brillantschnallen, weil sie mit dem linken Auge alle Zauberei durchschaute, und sagte zu ihm: »Guten Tag, Herr Drach. Seyd Ihr auch hier, und wie befindet sich Euer Sohn? Ihr habt mir schlecht Wort gehalten, meine Kinder verhungern lassen, mein letztes zum Zwerge verflucht, und meinen wohlverdienten Ammen-Lohn in Stein verwandelt. Wenn Ihr nicht auf der Stelle Alles ersetzt, worum Ihr mich betrogen, so lasse ich Euch fangen, und das Parlament wird Euch verbrennen.« Darob war der Drach bestürzt, fragte aber mit heuchlerischer Ehrlichkeit: »Wenn ich auch derjenige bin, wofür Du mich hältst, und wenn ich auch geneigt wäre, Alles zu thun, was Du begehrst … wie ist Dir's möglich, mich unter dieser Perücke zu erkennen?« Dabei klimperte das Ungeheuer mit dem vielen Gelde in seinen Taschen, und das einfältige Weib wurde so bethört, daß es dem Drachen sagte, wie es seinem linken Auge zu der scharfen Sehkraft verholfen. Da verwandelte sich plötzlich die schöne, fette, mit vielen Ringen geputzte Hand des Drachen in seine wüste Greifenklaue, welche hitzig aus der Spitzenmanschette fuhr, und der betrogenen Frau das linke Auge unbarmherzig auskrallte. Da stand sie nun, blutend und leidend, und um sie her lief das Marktgewühl im vollen Gedränge, und sie konnte den Drachen nicht mehr herausfinden,' mußte hülflos nach Hause tappen, fand ihr Kindlein im Sterben, und ist wahrscheinlich auch schon lange vor Gram gestorben, wenn ihr nicht die heilige Martha ein längeres Leben erbeten hat.«

Die kleine Rosa, erfüllt von der Angst, die der Kinder höchste Freude ist, wenn sie nach grausigen Mährchen begehren, schmiegte sich fest an die ernsthaft blickende Mutter, und fragte mit banger Neugierde: »Sage mir Gouthoun, lebt der böse Drache noch?« – »Nicht doch' Rousoun. Die heilige Martha hat dem Ungeheuer den Kopf zertreten, aber die bösen Menschen, Rousoun, diese sind die eigentlichen Drachen dieser Welt. Da laufen sie verkleidet und vermummt unter den guten Leuten herum, versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, finden ihr Glück in fremdem Unglück, und zerfleischen uns mit ihren Krallen, wenn wir so unvorsichtig sind, uns in ihre Gewalt zu geben.«

Die Philosophie der alten Margarethe war dem Kinde zu hoch; es wendete sich gleichgültig von der Erzählerin zu seinen Blumen, zu seinen Früchten. Aus den Augen der nachdenkenden Clemence perlten aber helle Thränen, und Margarethe sah den blendenden Thau, und wischte ihn von der blassen Wange der jungen Mutter, mit den Worten: »Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich unbesonnener Weise sagte, was Sie betrübt. Ich hätte Ihr wundes Herz nicht aus den Augen verlieren, nicht vergessen sollen, daß Sie ja selbst das Opfer eines bösen verkappten Drachen wurden, dessen Ränke Ihr Leben vergifteten. Aber verlassen Sie sich darauf es lebt eine Vergeltung, und, wo er sich auch befinde, der gewissenlose Malatesta, nirgends wird er einer frohen Stunde genießen. Ich möchte der Todesstunde dieses Elenden nicht beiwohnen.«

Clemence erwiederte sanft: »Betrübe mich nicht durch solche Härte. Die Gnade des Himmels ist ja unerschöpflich; warum predigen wir, um unserer Schwäche willen der Nachsicht so bedürftig, Unversöhnlichkeit gegen den Beleidiger? Ich theile Deinen Haß nicht. Hat auch Malatesta schlimm genug an mir gehandelt, daß die Liebe schwand, die mich einst in seine Netze verlockte, so verwünsche ich ihn doch nicht! Er ist ja dieses Kindes Vater, und einen theurern Schatz, als meine Rosa, besitze ich auf Erden nicht mehr, seit das heilige Haupt der Eltern sich unwiderruflich von mir wandte. Die Trennung von ihnen, die ich unaussprechlich liebte, war mein härtester Kampf auf Erden; … ich habe ihn überstanden. Eine schwerere Prüfung vermag der Himmel nicht zu senden.«

Margarethe nickte schweigend, und versetzte nach einer langen Pause: »Ihre Eltern verdienten nicht eine Tochter, wie Sie es waren, Madame. Ich kenne ja Ihre ganze Jugend. Sie waren stets der gefühllosen Strenge Ihres Vaters, der leichtsinnigen Gleichgültigkeit Ihrer Mutter, dem rohen Uebermuth Ihres Bruders preisgegeben. War es denn ein Wunder, daß der glattzüngige Genueser Sie berückte? Sein Anstand, sein gleißendes Benehmen, bestach zu seinem Vortheil. Er glich, obschon ein einfacher Buchhalter, einem vornehmen Herrn, einem Prinzen, während unsere Herrchen von Marseille den Bootsleuten nicht unähnlich sind. Ach, unter den Matrosen geht es weit ehrlicher, weit frömmer und christlicher her. Wenn ich meines guten Stephan gedenke … er war ein braver Mann, und ich hätte als eine Königin nicht zufriedener seyn können, wie an der Seite meines biedern Stephan. Dem grausamen Seeräuber von Tunis, der meinen Mann auf dem Verdeck seines Schiffs erschoß, möge es auch in Ewigkeit nicht gut gehen! Mein Ehestand kömmt mir jetzt nur vor wie ein kurzer Traum, obwohl er fünf und zwanzig Jahre gedauert hat, und ich wünsche manchmal, daß ich nicht angefangen hätte, ihn zu träumen. Ich wäre dann beständig Ihre Nachbarin geblieben, Madame Clemence, Sie hätten mir Ihr Verhältniß mit dem Italiener vertraut, vier Augen hätten besser gesehen, als zwei, und das Blendwerk hätte nicht Statt gefunden, dem Sie Ihr Unglück verdanken.«

»Wohl möglich, liebe Gouthoun, aber mein Verhängniß wollte mein Unglück,« erwiederte Clemence. »Ich trage alle Schuld. Ich täuschte meine Eltern, überschritt ihre Gebote. Dem tyrannischen Zwange, Malatesta zu meiden, gehorchte ich nicht, ließ mich hinreißen von dem Strudel der Leidenschaft, und wähnte mein Zartgefühl und mein Gewissen verwahrt, als ich in dunkler Nacht vor dem Altare das Gelübde aussprach, und priesterlichen Segen empfing.«

»Die Schlinge des Teufels!« antwortete Margarethe kopfschüttelnd; »er triumphirte durch sein Blendwerk. Arme Frau, noch erinnere ich mich lebhaft des Tages, wo ich nach Marseille zurückkam, eine gebeugte trostlose Wittib, Trost und Hülfe in Ihres Vaters Hause suchen zu wollen. Ich meinte nicht, an ihnen zur Trösterin werden zu müssen. Aber am selben Tage war der Schleier von Ihrer Schwäche, die Hülle von Malatesta's Frevelthat gefallen. Im Begriff, Mutter zu werden, standen Sie da, verlassen von dem Verführer, der treulos über's Meer nach der Heimath flüchtete; verhöhnt von dem schadenfrohen Volke, welches die Täuschung schon erfahren, der Sie unterlagen; verstoßen von Ihren Eltern, die alle Menschlichkeit auf ewig auszogen. Wahrlich, ich war dazumal die einzige Freundin, welche treu an Ihnen hielt, bis der wackere Herr Foulques, ein weitläufiger Vetter Ihrer Eltern, aber näher mit Ihrem Herzen verwandt, als jene, Ihrem Unglück sein gastfreundliches Haus auf immerdar öffnete.«

»Meinen wärmsten Dank für Deine Treue, die mich auch bis zur Stunde nicht verließ!« rief Clemence voll Empfindung. »Dem tugendhaften Foulques kann nur der Himmel vergelten. Gott erhalte ihn lange zum Heil meines Kindes, wenn ich nicht mehr auf dieser Erde bin. Gott lenke auch das Herz seines Sohnes, daß er mein Kind nicht gänzlich verlasse, wenn meines Wohlthäters graues Haupt zur Grube fährt. Ich glaubte mich noch reich, da Malatesta mich verließ; das Parlament von Aix, indem es meine Ehe ungültig erklärte, raubte mir Alles, die Würde einer Ehegattin, meinem Kinde seinen Stand, seinen Vater, seine ehrliche Geburt. Was soll aus der Verlassenen werden, wenn ich sterbe, wenn Foulques hinübergeht, wenn Victor sich kalt von der fremden Waise wendet?«

»Darum fluche ich eben dem Schändlichen, der all dieß Unglück verschuldete!« eiferte Margarethe mit heftiger Geberde. »Jenes Gaukelspiel, jene Entheiligung geweihter Stätte und priesterlichen Dienstes – gab Ihnen den Todesstoß. Das Parlament mußte das harte Urtheil fällen. Es hilft Ihnen freilich nichts, daß Malatesta's Diener, der spitzbübische Raoul, der bei jener Farce den Priester machte, auf des Königs Ruderbänke geschmiedet wurde, aber ich wünschte aus voller Seele, daß der Verführer selbst, gebrandmarkt und geschornen Hauptes, die Casaque des Galeerensclaven trüge, und an der Seite seines Spießgesellen die schwere Kugel schleifte.«

»Schweige doch!« rief Clemence erschüttert: »Laß die Gespenster der unglücklichen Vergangenheit in ihrem Grabe, rufe sie nicht herbei zu diesem unschuldigen Gastmahl, verschone das Ohr dieses harmlosen Kindes, dessen Geist noch nicht der feindlichen Welt angehört, dessen Sinne in diesem Augenblick noch unzugänglich sind unserm Schmerz, unsern Haß.«

Clemence und Margarethe, der süßesten Theilnahme hingegeben, umarmten die lächelnde Rosa, saugten Ruhe und Milde aus den leuchtenden Augen des Kindes, und überhörten fast das harte Klopfen, das sich an der Thüre vernehmen ließ, worauf die Thüre alsogleich geöffnet wurde. Der Sohn des alten Foulques, Victor, ein junger Seemann von herkulischer Gestalt, in der nachläßigen, etwas fantastischen Tracht seines Standes, kam herein und bot guten Abend. Clemence wurde roth wie die aufblühende Rose, das kleine Mädchen klatschte vergnügt in die Hände, Margarethe schob geschäftig einen Stuhl an den Tisch. Victor, der in Worten und Geberden sein rauhes Handwerk nicht verläugnete, so wenig als die rücksichtslose Heftigkeit seiner Landsleute im Süden, rückte mit dem Fuße den dargebotenen Stuhl weg, und lehnte sich vertraulich auf den Tisch, mit der kleinen Rosa kindisches Zeug plaudernd. In dieser Stellung verletzte er sich an dem linken Arm, der in der Binde hing, und verschluckte nur mit Mühe eine barsche Verwünschung, die über seine Zunge fuhr. »Habt Ihr noch viel Schmerzen an Eurem wunden Arm?« fragte Clemence zögernd und mitleidigen Blicks. – »Bei allen Teufeln, ich leide nicht wenig,« versetzte Victor, und runzelte die Stirne: »es ist, als ob der vermaledeite Säbel, der mir die Wunde schlug, vergiftet gewesen wäre. Ist's mein unruhiges, böses Blut, das die Heilung hindert, oder hat eine Hexe das Loos über mich geworfen? Ich weiß nicht, aber ich muß noch immer ein Krüppel seyn, und knirschend zusehen, wenn meine Gefährten auf dem Meere ihre Kraft üben. Ich komme just von der Höhe bei Notre Dame de la Garde, wo ich mein Schiff in die See schwimmen sah. Ich starrte ihm nach, bis es, ein schwarzer Punkt, am Horizont verschwunden war, und schlich dann, verdrossen wie ein Invalide, zum Hafen hinab. Kein Wunder, daß auf den Hafendämmen die Bäume nicht gedeihen; es weht hier eine faule Luft, außer wenn der Mistral bläst, der Herz und Keim und Wurzel abtödtet.«

»Ihr macht Euch krank durch solche Unzufriedenheit,« sagte Clemence mit sanftem Vorwurf, »und wart doch selbst schuld, daß Ihr die Wunde empfingt. Ihr gesteht ja selbst, daß Ihr den Maltheser Steuermann gereizt.«

»Freilich; ich hatte zu viel Wein getrunken;« antwortete Victor mit einiger Beschämung: »Ich hatte Deine Gesundheit ausgebracht, meine hübsche Base, wer aber ein Weib lobt, hat immer Unglück.«

»Pfui, Meister Victor,« schalt Margarethe: »Ihr sprecht doch keine zehn Worte, worinnen nicht ein Schimpf gegen die armen Weiber enthalten wäre.«

»Was kann ich dafür, alte Gouthoun? Leider ist es wahr, was unsere Sprichwörter sagen: Frisch Brod, viele Weiber und grünes Holz richten das beste Haus zu Grunde.«

Die Thüre ging wieder leise auf, und ein bleiches, weibliches Gesicht, mit einer schwarzen Binde über dem rechten Auge blickte gespenstig herein, zog sich aber schnell zurück, da es den jungen Foulques gewahrte. »Wer da?« rief Victor, und drehte sich rasch gegen die Thüre, die wieder in das Schloß schnappte. – »Es war Bertrande, Eure Schwester;« antwortete Clemence etwas verlegen, und Gouthoun schlug ein großes Kreuz gegen die Thüre. Victor kehrte sich gelassen um, und sagte, die Mundwinkel spöttisch aufziehend: »Was wollte die Fledermaus? Noch ist's nicht dunkel genug für den lichtscheuen Kauz. Oder hast Du Bertrandens Besuch erwartet, Base Clemence?«

»Nicht doch, Vetter Victor. Wohl aber thut mir's leid, daß Eure Nähe so störend und schreckhaft auf das arme Mädchen wirkt. Sie flieht vor Euch, wie vor dem bösen Feinde.«

»Keineswegs;« lachte Victor mit gutmüthigem Spott: »ich weiche ihr aus, wie Mutter Eva der Schlange hätte ausweichen sollen. Wir Alle im Hause sind froh, wenn uns das tückische Geschöpf in Ruhe läßt: du allein, zärtliche Base, entschuldigst und verhätschelst sie. Man merkt gleich, daß ein galanter Franzose in Deines Vaters Hause Hofmeister war. Seine weichen Grundsätze fanden, trefflichen Boden in Deiner Seele.«

»Laßt doch den guten Abbé Severin friedlich im Grabe ruhen, Vetter Victor. Er war ein braver Mann, und Ihr seyd doch eben so gut Franzose, wie er.«

»Davor behüte mich Gott!« rief Victor mit zornigem Gesichte: »Wir sind freie Bürger von Marseille, regieren uns selbst, und haben dem König nur erlaubt, unser Protektor zu heißen, weil wir es gerade für gut fanden. Ich habe Dich gerne, Base Clemence; ich kann Dich mehr leiden, als irgend ein Weib auf Erden, aber einen Franzosen mußt Du mich nicht heißen. Dagegen will ich Deinen Lehrer in Frieden lassen, und Dich bedauern, daß Dein Herz so weich erschaffen wurde, um für ein Geschöpf, wie Bertrande ist, einige Regung zu fühlen.«

Margarethe versetzte lächelnd: »Ihr könnt um so leichter Eurer Base den Fehler vergeben, als sie in der Familie die Einzige ist, die ein weiblich empfindsames Herz besitzt.«

»Ja wohl,« lachte Victor und schüttelte der schönen Base treuherzig die Hand: »Dein Bruder Maximin ist schon nicht Deines Schlags. Ich kann ihn nicht ausstehen, er ist mir in den Tod zuwider, und ich fühle mich versucht, ihm das Messer im Leibe umzudrehen, so oft ich ihn nur von ferne sehe; aber dennoch ist er ein ächter Mann von Marseille, aufloderndes Pulver, hart wie der Kiel eines Kriegsschiffes, und spröde wie ein nasses Tau. Solche Bursche verstehen freilich nicht zu lieben, noch zu schmeicheln, aber stehen mit Leib und Seele ein, wo's gilt.«

Ein Kanonenschuß donnerte von ferne. Die Weiber erschracken, und Margarethe fragte: »Was bedeutet denn das Signal? Soll der Hafen geschlossen werden, und es scheint noch so lustig die Sonne?« – Ein zweiter, ein dritter Schuß erdröhnte. Victor antwortete ruhig: »Der Ritter von Orleans wird in den Hafen zurückkehren. Er kommt von Genua, wo er seine Schwester, die Braut des Prinzen von Modena, ihrem Gemahl, auslieferte. Ich sah heute die Schiffe auf der Höhe des Schlosses If; die Blumenketten, womit sie bei ihrer Abfahrt von hier geziert wurden, schmücken noch die Masten und die königlichen Flaggen. Die Musikchöre an ihrem Bord trompeteten lustig, und die Einfahrt in den Hafen verspricht heute den lockeren Marseillern ein neues Fest, als Beschluß der Feierlichkeiten, worinnen sich die gute Stadt vor wenig Tagen zu Ehren der Braut berauschte.«

Die kleine Rosa faltete ihre Händchen, und bat die Mutter mit kindischer Beredsamkeit, mit ihr zum Hafen zu gehen, um den Einzug der Schiffe und die Freuden der prächtigen Musik nicht zu versäumen. – »Da haben wir die Neugierde des Weibervolks,« sagte Victor achselzuckend: »kaum vermag das Kind zu lallen, und schon begehrt es nach Pfeifenklang, Fackelschimmer und Volksgewühl.«

»Solche Feste verjüngen selbst das Alter;« meinte Margarethe, Victors Worte tadelnd: »Es soll seyn, wie Du verlangst, herzige Rousoun, ich trage Dich auf den Quai, und Mama Clemence geht mit uns, um sich wohlthätig zu zerstreuen.« – Das Kind jubelte und warf sich in die Arme der Wärterin, Clemence griff nach dem Schleier. Victor wollte sich mit stummem Kopfnicken entfernen, als die liebliche Base freundlich seine Hand ergriff, und schmeichelnd bat: »Erlaubt, daß die arme Bertrande mit uns gehe. Das bedauernswerthe Mädchen verlaßt kaum das Haus, und Zerstreuung wäre Niemanden nothwendiger, als gerade ihr.« – Victor versetzte: Du legst es darauf an, mich um meine gute Laune zu betrügen, aber des Menschen Wille ist sein sanftes Kissen. Mir kann's recht seyn, wenn Du Dich nicht an der Seite der Vogelscheuche schämst. Du brauchtest wahrlich nicht die rothhaarige, einäugige hinkende und stammelnde Dame in Deinem Gefolge zu haben um der Stadt zu beweisen, daß Du schön bist wie ein Blumenstrauß am St. Johannis-Tage.« – »Ihr beleidigt mich, Vetter Victor;« sagte Clemence empfindlich, und zog ihre Hand zurück. – »Das wollte ich nicht;« erwiederte Victor ruhig: »Thue, was Du willst, Bertrande mag heute einen lustigen Abend feiern. Man sagt freilich, daß eine Dirne, die sich oft am Fenster und auf dem Spaziergange zeigt, keine gute Hausfrau werde; doch hoffe ich, daß Niemand die gute Bertrande in die Verlegenheit setzen wird, das Gegentheil zu beweisen; sie gehe darum mit Dir. Gib auf Deinen Beutel mehr Acht als auf meine schöne Schwester; wenn Dir ein Thaler und Bertrande gestohlen würden, so wäre es gerade nur um den Thaler Schade.«

Mit diesen Worten ging Victor hinaus, und Margarethe rief; »Sollte man denn glauben, daß unter dieser rauhen Hülle, unter diesen groben Sitten und Spottreden das edelste Herz verborgen sey? Aber so sind unsere jungen Herren, daß Gott erbarme. Was Bertrande betrifft, so hat Herr Victor meistens freilich Recht. Auch mir ist die Person zuwider, aber schon um des Geschlechtes willen ziemt es uns, sie manchmal vor den ungeschliffenen Männern in Schutz zu nehmen.«

Clemence, in den spanischen Schleier verhüllt, Margarethe, die kleine Rosa auf den Armen, gingen über die Hausflur. Bertrande schloß sich daselbst an die Frauen an. Ihr grotesker Anzug, dem einer Büßernonne nicht unähnlich, erhöhte noch die Reizlosigkeit ihrer Gestalt. Eine schwarze Mantille verbarg unvollkommen die röthlichen, struppigen Haare, und umgab sehr unvortheilhaft die schmalen blassen Wangen, das eingefallene, mit Sommersprossen besäete Gesicht, welchem das graue Auge, das Einzige, das unverletzt aus der Blatternkrankheit hervorgegangen war, gerade nicht zur Zierde diente. Der große Mund mit fahlen Lippen paßte zu dem Ganzen. Den langen dürren Hals verhüllte nothdürftig das graue Kleid, das weit und bauschig über die magern Glieder fiel, und mit dem Saume auf dem Boden schleppte, damit der durch Krankheit verkürzte Fuß nicht gesehen werden konnte. Der Gang war hinkend, trotz der kleinen Krücke, womit Bertrande ihre Schritte zu unterstützen suchte. Die mißgestaltete Figur hing sich schwer und schleppend in den Arm der schönen, geduldigen Clemence, und legte mit vieler Zögerung den kurzen, aber etwas steilen Weg vom Hause bis zum Hafen zurück. Waren Bertrandens Füße schwerfällig, so rastete doch ihre Zunge nicht, wenn gleich oft im Feuer des heftigen Gesprächs ein widerliches Stammeln und Schluchzen die Rede unterbrach. Jedem Worte Bertrandens war überdieß der Stempel einer tief aufquellenden, unversiegbaren Bitterkeit aufgedrückt; leises, stachelndes Gift träufelte aus jeder ihrer Bemerkungen in das Ohr der Zuhörerinnen. Die körperlichen Mängel des Mädchens, und der moralische Zwang, dem es im Vaterhause unterlag, hatten ein reiches Feld voll Unkraut gesäet, das wuchernd aufging in jedem Blick von Bertrandens Auge, in jeder Sylbe aus ihrem Munde. Die Luft wehte lau, und Bertrande wünschte den gefährlichen Mistral herbei. Das Getümmel des Volks wogte lustig auf den Hafengestaden; Barken flogen wie rüstige Pfeile vom Arsenal zur Altstadt, von der Tiefe des Hafenbeckens nach der Mündung desselben; die Flaggen und Wimpeln schwammen bunt und fröhlich in die Höhe; der Kanonendonner des Forts St. Nikolaus rief mit hundert Stimmen Freude und Jubel über die Stadt: die Glocken des uralten Doms brummten vom Ufer in das kriegerische Getöse; vor dem Rathhause, vor der Loge der Kaufleute tummelte sich halb Marseille, und Fröhlichkeit war die Losung. Bertrande schaute finster und höhnisch in die allgemeine Wonne, und betete, daß der Himmel doch plötzlich ein Erdbeben hereinbrechen lassen möchte, um Hafen und Volk zu vertilgen, oder einen Brand, der die Stadt verzehre, wie eine Fackel, oder mindestens einen Orkan, der die Schiffe mit Mann und Maus in die Fluth begrübe, und die Häuser von Marseille sammt Kirchen und Palästen niederrisse. – Die mitleidige Clemence, die Einzige, die es freundlich meinte mit dem tückischen Kobold, wurde nicht von seiner bösen Zunge verschont. Als die Schiffe des Großpriors von Malta im Hafen sich vor Anker legten, mit farbigen Lampen und Kränzen geschmückt, sagte Bertrande: »Sie kommen von einer glücklicheren Hochzeit, als die Deine gewesen, Clemence.« – Ein kleiner Zug von geputzten Leuten verließ den Dom. »Siehst Du?« sagte Bertrande zu Clemence: sie haben ein Kind taufen lassen, ein ehrliches, eheliches Kind. Nicht allen Leuten wird's so gut.« – Als Clemence sich zürnend abwendete, kam vom Stadthause ein majestätischer Rathsherr und ging mit einem Seitenblick auf Clemence finster und trotzig vorüber. Clemence hatte ihn nicht gesehen; aber Bertrande stieß sie an und rief: »Da geht Dein Vater, der Herr Dinart, der Dich durchaus nicht mehr kennen will. Das hat man davon, wenn man das vierte Gebot verläugnet.« – In diesem Augenblicke stand ein bettelnder Galeerensclave, von zwei bewaffneten Chiourmewächtern begleitet, vor den Frauen, und hielt die blecherne Büchse hin. Clemence erröthete sehr, und Margarethe warf hastig einen Sou in die Büchse, dem Sclaven heftig winkend, sich zu entfernen; aber Bertrande sagte ganz laut zu Clemence, die vor Scham kaum wagte, die Augen aufzuschlagen: »War das nicht Raoul, der bei Deiner Narrenhochzeit den Pfaffen machte?«

In Thränen ausbrechend, wendete sich Clemence schnell um, und Margarethe fuhr im höchsten Zorne mit den Worten heraus: »So wäret Ihr doch lieber zu Hause geblieben, Demoiselle Bertrande, als hier Eurer letzten Freundin den Dolch so boshaft in's Herz zu stoßen! Ihr seid ein böses Mädchen, und Euer Gift ist heute noch einmal so gefährlich, als sonst, weil Ihr auf jenen Schiffen Leute seht, die von einem fröhlichen Brautfeste kommen; Ihr werdet niemals ein solches Fest feiern, und das ärgert Euch, und Ihr möchtet Alle verpesten, die schöner sind, als Ihr, und die auf einen Gatten Anspruch machen dürfen.«

Auf Bertrandes leichenweißem Gesicht dämmerte violette Röthe auf. Die Neidische stotterte unverständliche Worte, bis sie endlich vernehmlicher wurde, und vor Zorn bebend erwiederte: »Ich habe gescherzt, altes, hämisches Weib; so Ihr aber meinen Spaß nicht verstehen wollt, so will ich zukünftig im Ernst mit Euch reden. Ja, die Pest auf Eure Zunge, auf jene Schiffe! Die Pest über die ganze Stadt, meinetwegen! Warum sollte ich denn die Welt lieben und hätscheln, während sie mich haßt und mißhandelt? Die Pest über die ganze Welt, noch einmal. Wer weiß, was geschieht. Ihr lacht, weil ich hinke? Aber auch die Strafe hinkt, und sie wird Euch elendes Gezücht früh oder spät ereilen!«

2.

Der Sommersitz des alten Dinart, einer der vier Stadthauptleute von Marseille, nahm unter den gegen die Vista hinan liegenden Bastiden eine der höchsten Stellen ein. Das Häuschen war klein und einfach gebaut, weiß angestrichen gleich den übrigen Landhäusern, und auf seiner nicht allzugeräumigen Terasse war gerade nur Platz für ein Paar Weinstöcke und einige Olivenbäume, die wenig Schatten abwarfen. Demungeachtet ging es dort lustig her an Sonn- und Feiertagen, weil gewöhnlich eine leichtsinnige und fröhliche Gesellschaft in dem engen Besitzthume zusammentraf. Am Tage wehrten Fensterschirme von Fliegengarn dem Andrang der Hitze und dem Besuche lästiger Insekten; die kühlen hellgestirnten Abende lockten die Gäste auf die schmale Terrasse, wo dann nicht selten die Zither erklang, der Galoubet gellte, und lachende Jünglinge und Mädchen die Farandola tanzten. Der alte Stadthauptmann, obschon bei Jahren und nicht sehr rüstig von Gesundheit, hatte das leichte Blut seiner Jugend bewahrt, hatte es seinem Sohne mitgetheilt, und, wie früher eine Gattin vollkommen nach seinem Sinne, so auch später eine Gesellschaft von Freunden nach seinem Herzen und Gefallen gewählt.

Die Nachfeier des Johannis-Festes im Jahre 1720 wurde auf Dinarts Bastide begangen. Verlassen stand das Haus des reichen Mannes am Corso der Stadt; auf der schlichten Bastide prahlte der Luxus seiner Tafel, die Pracht seiner Geräthschaften, woran die edelsten Stoffe und Metalle verschwendet waren. Wie an den dem Marseiller so heiligen Weihnachtstagen war die Mahlzeit bestellt. Den obersten Platz am Tische, dessen feines Linnen, zwischen den goldenen und silbernen Schüsseln mit Orangenblüthen bestreut, entzückend duftete, nahm der Herr des Hauses ein, ohne Umstände in bequeme Campagnetracht gekleidet; zu seiner Linken seine Gattin Agathe, in Marseille berühmt durch Putzsucht und Hang zur Verschwendung; zu seiner Rechten die außerordentlich schöne und mit größter Lebhaftigkeit des Körpers und des Geistes ausgerüstete Cassandra, die Tochter des reichen Barante, dessen Corallenhandel weltberühmt war. Das reizende stolze Mädchen hatte den Bewerbungen von Dinarts Sohne nachgegeben. Beide waren verlobt, Barante und seine Tochter wurden schon als Familienglieder betrachtet. Dem Stadthauptmann gegenüber, gereiht an den Corallenhändler, saßen einige Rathspersonen von Aix, bekannte Feinschmecker von Profession, und neben der angenehmen, sehr jungen Tochter des Ritters Roze der königliche Kaufmann von Marseille, Georg Roux, ein geborner Corsikaner, dessen kühner Spekulationsgeist und außerordentliches, nie veränderliches Glück dazumal alle Meere und Welttheile mit seinem Rufe erfüllte. Auf diesem Manne, so wie auf dem reichen Barante, ruhte mit vorzüglichem Wohlgefallen der Blick des Stadthauptmanns, und Maximin, der den Ceremonienmeister und Wirth vorstellte, war angewiesen, jene Herren vor allen aufmerksam zu bedienen; ein Geschäft, welches der junge Mann, selbst mir Zurücksetzung seiner Braut, nicht versäumte. Er hatte sich die Keckheit und auch den Uebermuth des verwegenen Glückskindes Roux zum Vorbilde gewählt.

»Das Jahr scheint günstig werden zu wollen;« begann Dinart mit behaglicher Redseligkeit: »Wie viele Schiffe haben Sie draußen auf dem Meer, mein lieber Freund Roux?« – Der Gefragte richtete die Augen wie in Zerstreuung nach der Decke des Zimmers, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, und erwiederte: »Ich weiß in der That nicht. Ich habe die Liste nicht genau im Kopfe. Ein Dutzend mögen es seyn, und ihre Ladung ist für dieses Jahr sehr bedeutend.« – Barante sagte hierauf: »Ihr seyd ein kleiner König, Gevattermann, und ich denke, daß Ihr im Stillen mit den Barbaresken einen Traktat abgeschlossen, weil noch nie gehört wurde, daß ein Corsar sich nur an die geringste Tartane gewagt hätte, so Ihr mit Euern Waaren befrachtet.«

»Das ginge mir noch ab;« lachte Roux mit hochmüthigem Spott: »Ich verschwende weder einen Heller an die Herren von Algier und Tunis, noch eine geweihte Kerze an den lieben Gott und seine Heiligen, und dennoch lassen mich Seeräuber und Stürme ungeschoren. Das Glück ist Alles in der Welt, meine Freunde. Wer einmal durch kühnes Wagniß die buhlerische Fortuna bezwungen, mag ruhig schlafen. Selbst der Sturm regnet ihm Gold in's Haus.« – »Recht; das ist die Sprache, die einem Handelsfürsten geziemt;« meinte Barante lächelnd: »Ihr seyd an das gewaltige Geschäftsgetümmel schon gewöhnt. In meinem stillern Gewerbe, wo das Gold nicht strömt, sondern nur rieselt, mag eine kleinlichere Berechnung wohl vorzuziehen seyn.« – Cassandra, von der Bescheidenheit ihres Vaters gekränkt, fiel ihm lebhaft in's Wort: »Thun Sie doch nicht so demüthig, mein Vater. Als ob Ihr Haus sich nicht mit einem jeden messen könnte! Lassen Sie unserm kühnen Freunde seinen stürmischen Wirkungskreis, seine Triumphe in allen Himmelsstrichen, und danken Sie Gott, daß eine ruhigere Laufbahn Sie zu demselben Ziele führte.«

Roux, obschon von den Bemerkungen der Dame widerlich angeregt, machte gute Miene zum bösen Spiele, und versetzte mit Geistesgegenwart: »Mein Gevatter besitzt freilich einen Schatz, den mir Fortuna nicht verlieh: eine Tochter, die, ein Wunder der Schönheit, auch durch ihre männliche Seele verdiente, über einen Thron zu gebieten.«

Maximin mischte sich in das Gespräch, indem er mit stolzer Selbstgenügtheit sagte: »Hat auch kein Fürst um Cassandra geworben, wenn sie es gleich werth gewesen wäre, so hoffe ich doch, daß sie mit ihrer Zukunft nicht unzufrieden sehn werde.« – »Dank sey es der heiligen Jungfrau!« setzte Madame Dinart hinzu, im selben Tone wie ihr Sohn: »Uns fehlt nichts, und das Glück hat uns gesegnet, wie wir es nur wünschen konnten. Wir besitzen drei Häuser in der Stadt, viele Ländereien im Gebiete, einen Theil an der Zollpachtung, der seine guten Zinsen trägt, Olivenpflanzungen bei Aix …« – »Pflanzungen, die erst neuerlich von Rathswegen sehr hoch geschätzt wurden;« schaltete ein Syndicus von Aix ein. – Mit strahlendem Gesichte nahm der Stadthauptmann das Wort: »Genug, wir sind nicht die ärmsten Leute in Marseille. Es erquickt aber mein Herz, daß meine reiche Habe, Grundeigenthum sowohl als bewegliche Kapitalien, die Frucht meiner unablässigen Arbeit und Mühe gewesen ist. Wir stammen eigentlich aus einer Fischerfamilie, deren Wohnsitz in dem schmutzigsten Theile der Altstadt sich befindet. Der Name unserer Stammfamilie ist einer der ältesten in der Stadt, und wir schreiben uns nicht unwahrscheinlich von den Phokern her, die zuerst an unserm Strande eine Colonie gründeten. Meinem Vater schon war das gemeine Leben zuwider, dem sich unsere Familie hingab. Er fühlte sich zu Höherem berufen, und verließ die rohe Sippschaft, die uns deßhalb noch heut zu Tage grollt. Eine kleine Bedienstung bei der Stadt war Alles, was mein Vater errang, doch hinterließ er mir seinen Geist, sein Streben, und ich führte nicht ungeschickt aus, was er begann. Im Alter freue ich mich noch jetzo meines Werks, weil ich es ohne die geringsten Mittel unternahm.« – »Das ist auch mein Fall;« jauchzte Roux Beifall klatschend, und Barante setzte fröhlich hinzu: »Auch der meinige, bei Gott!«

Die drei Männer reichten sich über den Tisch die Hände, und Dinart rief: »Wer vermöchte unser Glück darniederzustürzen? Ich halte mich für unüberwindlich, da ich mit einem Barante durch die Bande der Verwandtschaft, mit den berühmten Roux durch innige Freundschaft verknüpft bin.« – »Wir haben's uns sauer werden lassen in der Welt!« entgegnete Roux mit freudigem Ungestüm: »Jetzt ist die Zeit, zu genießen. Lassen wir dem gemeinen Volke seine Leiden, seine verdrüßliche Unzufriedenheit. Auf Erden kann nicht ein Jeder glücklich seyn; wohl uns, daß wir unter den Auserwählten sind.« – »Ohne Sorgen gelebt, so spät als möglich gestorben!« rief Barante mit lüsternem Gelächter: »Wer sein Leben versäumt, ist ein Thor; über das Grab hinaus währt keine Freude!«

»Sie werden sich diese Grundsätze merken, und beständig darnach handeln, wenn Sie mich lieb haben!« scherzte mit ausgelassener Lustigkeit Cassandra, ihrem Verlobten die Hand reichend. – »Sorge nicht, liebe Schwiegertochter;« antwortete statt des lachenden Maximins die von Lust und Eitelkeit glühende Mutter: »Mein Sohn ist seines Vaters Ebenbild, und ist nie einer Freude, wie auch nie einer Gefahr aus dem Wege gegangen.« – »Dreifach glücklich derjenige, der an seinem Sohne Freude erlebt!« sagte Roux, sein Glas schwingend: »Der meinige ist Major in dem Dienste des Königs, und er wird es noch zum Marschall bringen.« – »Mein Albert hat ein Etablissement auf Martinique,« bemerkte Barante mit wichtiger Miene, »und mein Felix, ein geschickter Kaufmann, führt meinen Handel im Norden mit vielem Erfolge.«

»Ich darf mich nicht rühmen, die Welt gesehen zu haben,« sagte Maximin mit eitlem Trotze: »In diesem Punkte stimmten meine Wünsche mit dem Willen meiner Eltern nicht überein. Doch setze ich meinen Stolz darein, ein wackerer Bürger meiner Vaterstadt zu seyn.«

Gleichsam wie entschuldigend fügte der alte Dinart hinzu: »Meine Frau liebte den Buben zu sehr, als daß sie die zarte Jugend desselben den Gefahren einer weiten Reise hätte aussetzen wollen; da er älter geworden war, schien seine Anwesenheit im väterlichen Hause doppelt nöthig, weil wir unsere Tochter dazumal verloren.« – »Sie haben den Tod einer Tochter zu beweinen?« fragte eine der fremden Magistratspersonen mit phlegmatischer Condolenz. – Hierauf wurde des Stadthauptmanns Stirne roth vor Zorn, und Maximin drehte sich unwillig auf dem Absätze um, nach dem Dessert rufend. Cassandra zog ein höhnisches Gesicht, und die übrigen Gäste, die Tochter des Ritters Roze ausgenommen, schauten mit peinlicher Verlegenheit auf ihre Teller. Frau Dinart brachte jedoch Alles wieder in's Gleichgewicht, da sie dem Fremden mit vollkommenster Ruhe erwiederte: »Gestorben ist nun so eigentlich unsere Tochter nicht, aber dennoch todt für uns. Wir haben nie in unserer Familie schlechten Wandel geduldet, und der Himmel gab uns genug des Gleichmuths, um den Verlust mit Gesundheit zu ertragen.«

Die leichtsinnige Mutter vermochte es über sich, zu lächeln, indem sie diese Worte sprach, und wendete sich, der Conversation eine andere Richtung zu geben, an das neben ihr sitzende Fräulein Roze: »Sie essen ja nicht, meine Liebe; doch sind diese Früchte vortrefflich, und der süße Muskatwein verdient wahrlich nicht, von Ihnen verschmäht zu werden.«

Während dessen setzte Cassandra das vorige Thema fort, indem sie ihren Verlobten mit gerümpfter Nase vertraulich fragte: »Ich habe von dem Scandale gehört, den Ihre Schwester verschuldete, mein Freund. Wo hält sich die Person jetzt auf?« – Maximin antwortete schnell und verdrießlich: »Wo sie vollkommen an ihrem Platz ist, in dem Hause unsers Vetters Foulques, der unsers Stammes angenehme Sitten nie verläugnete, und ein Häuptling der Lazaroni von Marseille ist. Der Mann und sein Sohn sind Vorbilder gemeiner Lebensart, und jedes ihrer Worte schmeckt nach Theer und Hafenschlamm.«

Das Fräulein von Roze sprang hastig vom Stuhl auf, und rief, nach dem Fenster deutend: »Mein Vater! dort kommt mein Vater!« – Maximin eilte dem Gaste entgegen, die reichen Kaufleute rührten sich nicht von ihren Sesseln, während die Rathsherren von Aix aufstanden, mit Ehrfurcht den Mann zu begrüßen, der des Königs Consul in Modon gewesen war. Cassandra hielt aber das Fräulein, welches dem Vater entgegen laufen wollte, zurück, indem sie mit vornehmem Uebergewicht zu der jüngern Freundin sagte: »Bleibe doch, du liebe Unschuld, das schickt sich nicht.« Frau Dinart rief mit vielem Gepränge nach einem Sessel, nach goldenem Becher und Besteck für den Gast, der alsogleich die ganze Schwere des bürgerlichen Reichthums empfinden sollte.

Der Ritter von Roze, um seiner Verdienste willen mit dem Kreuze des Lazarusordens geschmückt, ein feuriger schöner Mann von fünfzig Jahren, erschien ohne alle Ceremonie in der Gesellschaft und begrüßte die Anwesenden nur leichthin, weil eine wichtige Idee oder eine ungewöhnliche Begebenheit seinen Geist beschäftigte, wie nicht schwer zu erkennen war. Dinart empfing ihn freundschaftlich, bedauerte, daß ihn seine Geschäfte bisher der lustigen Tafelrunde entzogen, freute sich aber zugleich, daß der Ritter pünktlich sein Wort gehalten, beim Dessert sich einzufinden. – Der Ritter unterbrach die Beredtsamkeit des Stadthauptmanns, indem er mit einiger Hast sagte: »Ich hätte beinahe mein Wort nicht gehalten; meine Ungeduld hielt mich zurück, aber mein Geist bedurfte der Zerstreuung, und darum unternahm ich den Spaziergang hieher. Meine Herren und Freunde, es thut mir leid, Ihre Fröhlichkeit zu stören, aber der besonnene Mann verläßt ja ohnehin gerne den vorübergehenden Genuß des Augenblicks, wenn ein unabsehbares Unglück über ihn und seine Mitbürger hereinzubrechen droht; ein Unglück, das vielleicht noch durch die vereinigten Bemühungen aller echten Vaterlandsfreunde abgehalten, erstickt werden kann.«

Die Gesichter aller Gäste wurden lang und blaß und erwartend, ja selbst unwillig hasteten ihre verdüsterten Augen auf dem Störefried. Die Frauen waren die ersten, die um deutlichern Aufschluß baten. Der Ritter sprach mit ernster Kürze: »So lange war ich von meiner Heimath entfernt auf fremden Gestaden, daß mir das Herz pochte vor freudiger Sehnsucht, als ich mich zu Livorno auf leichter Felucke einschiffte nach dem theuern Vaterlande. Mir schien es eine gute Vorbedeutung, daß unmittelbar vor meinem Fahrzeuge die Schiffe des Ritters von Orleans nach Marseille segelten. Hätte ich geahnt, daß in dem Gefolge des Brautführers das Verderben schwamm, ich hätte wahrlich keine Freudenthränen vergossen. Zwei Schiffe, Levantefahrer, unter dem Commando des Capitains Chataud, dunkel, ungeheuerlich und verödet aussehend, zogen neben uns dem Hafen von Marseille zu. Unsere Fragen an die Schiffe wurden genügend beantwortet, der Capitain führte Gesundheitspatente mit sich; aber das Grauen, das mich unerklärlicherweise befiel, als ich jene schwarzen öden Schiffe auf den Wellen herangleiten sah, bestätigte sich. Diese Fahrzeuge haben aus Syrien die Pest mit sich gebracht, die schon im Lazareth mehrere Arbeiter tödtete, und sich bereits in dem Schooße der Stadt selbst das erste Opfer erkohren hat.«

Die Damen sprangen mit einem Angstruf von den Stühlen auf, und die Herren sanken in die Lehnen ihrer Sessel zurück. Der Ritter, welcher im nächsten Augenblicke den lauten Ausbruch des Entsetzens befürchtete, fuhr mit gedämpfter Stimme klug ermahnend fort: »Ich bitte Sie von Herzen, Ihr Staunen zu mäßigen. Lassen Sie den Dienern nichts merken; es gibt Dinge, die dem Volke so lang als möglich ein Geheimniß bleiben müssen. Gebildete Leute und aufrichtige Patrioten wissen zu schweigen und im Stillen zu handeln. Es ist gefährlich, die Furcht und den Aberglauben des Pöbels zu entfesseln, der ein solches unvermeidliches Unglück für eine Strafe des Himmels ansieht, oder es mit frechem Trotze leugnet, bis es zum unheilbaren Verderben wurde. Der Magistrat von Marseille scheint diese Wahrheit erkannt zu haben, denn er hat noch für heute Abend eine geheime Sitzung anberaumt, und der Bote, welcher Herrn Dinart dazu einladen soll, wird nicht säumen.«

Kaum hatte Roze geendet, als wirklich der Huissier erschien, und die Ladung brachte, die den Stadthauptmann nach dem Rathhause beschied. Die gleichgültige Miene dieses Menschen, der selbst von dem Beweggrund der außerordentlichen Rathssitzung nichts wußte, machte den verschiedensten Eindruck auf die Versammlung. Die Angst der Damen mehrte sich, und sie nannten den Boten nach seinem Weggang einen schauerlichen Leichenansager; die Herren hatten in seiner kalten Gleichgültigkeit neue Fassung gewonnen. Roux behauptete mit der seltensten Zuversicht, daß ihm und den Seinigen die Seuche nichts thun würde, Barante erhob Zweifel gegen die Zuverläßigkeit des Gerüchts, Dinart leugnete die Krankheit ganz. Mit verdrießlichen Mienen machte er sich fertig, nach der Stadt zu fahren, und sagte dabei: »Keine Seele wird mich glauben machen, daß wir die Pest in unsern Mauern haben. Wofür hätten wir unser gesundes Klima, dem sogar die Fremden nachreisen, wie einer Verjüngungsquelle? Wofür die Nähe des Meers, dessen Ausdünstung so wohlthätig die Luft reinigt? Wofür endlich das Lazareth, das mit so vieler Vorsicht verwaltet wird? Pah, solche Gerüchte sind nur Hirngespinnste irgend eines hungrigen Arztes, der eine neue Krankheit erfinden möchte, um seinen Beutel zu füllen; nichts als blinder Lärm, eine neue Missisippi-Speculation. Was wird's seyn? Arbeiter, die im Lazareth starben, während sie Waaren-Ballen auslüfteten? Ei nun, das geschieht oft. Wir haben alle Augenblicke ähnliche Fälle in der Contumaz, und allemal wird dort die Ansteckung vertilgt. Oder ein Sterbefall in der Stadt, der Aufsehen erregt?« – »In der Vorstadt St. Lazare;« antwortete Roze ernsthaft und bestimmt. – »Schon recht;« lachte Roux, daß er sich den Bauch hielt; »das miserabelste Gesindel der Stadt hockt dort aufeinander, wie man Häringe in die Tonne preßt. Da hat irgend ein Lastträger seinen Magen an faulen Fischen oder schlechten Würsten verdorben, hierauf viel von dem rothen schlammigen Wein getrunken, den unser Pöbel so sehr liebt, und ist am Ende an Eckel und Rausch verstorben. Thut nichts, meine Herren; wenn auch unter dem Gelichter ein bösartiges Fieber einrisse, und ein bischen in jenen Quartieren aufräumte, es läge nichts daran. Wir haben schon viel zu viel Tagediebe in der Stadt, und die Gebresten jenes Gesindels verschonen immer die anständigen wohlhabenden Leute.« – »Ja freilich, ja wohl, Gott sey Dank!« riefen im Chor die Frauen, Barante und Maximin, leichtsinniger Sorglosigkeit sich überlassend, und Dinart setzte Abschied nehmend hinzu: »Es ist fatal, daß solch' einfältig Geschwätz mich um einige Stunden dieses fröhlichen Abends betrügen muß. Ich werde viel Langeweile ausstehen, meinen Collegen zuhören, die gegen Windmühlen fechten, und nach aufgehobener Sitzung noch eben so klug seyn wie jetzt.« – »Erlauben Sie, daß ich mit meiner Tochter Sie nach der Stadt begleite,« sagte der Ritter Roze, den der Unglaube dieser Leute unangenehm berührte. Mit einem Scherze, der nicht ohne Tücke war, erwiederte Madame Dinart: »So schmerzlich wir es empfinden, daß Sie uns Ihre werthe Gesellschaft entziehen, so wissen wir doch, daß ein kräftiger Magnet, in der Person der schönen Frau Tellier, Sie zur Rückkehr zwingt. Das Hochzeitsfest wird doch bald gefeiert werden?« – »Ich denke,« antwortete der Ritter mit kalter Verbeugung, und folgte dem Stadthauptmann, die Tochter am Arm. Die übrige Gesellschaft blieb beisammen, mit frivolem Gespräch und eitlem Kartenspiel die Zeit zu tödten; nur die vorsichtigen Herren von Aix, denen bei dem Namen der Pest unter den schweren Perücken etwas warm geworden war, schickten in aller Stille nach ihrem in der Stadt zurückgebliebenen Wagen, um ohne Verzug nach der Vaterstadt abzureisen.

3.

Es war gegen Ende des Monats Julius. Schwüle Hitze lag erstickend in allen Gassen, auf allen Gestaden von Marseille. Kein Lüftchen rührte sich, und der Horizont hing voll dünner, grauer Schleier. Der Abend, der sonst ein fröhliches Getümmel auf Straßen und Plätze lockte, schien seinen Zauber verloren zu haben. Es drängten sich zwar große Menschenmassen hie und da zusammen, aber die Tausende flüsterten nur statt des lauten Geplauders und blickten ängstlich und verwirrt umher, statt mit gewohntem Uebermuth, mit gewohnter Lüsternheit. Die wohlhabenderen Klassen, die sonst in bunten Reihen auf den Wällen, auf dem Corso, am Hafen spazierten, waren nicht zu sehen. Sogar an den Fenstern der Häuser zeigten sich wenige Gesichter, aber in der Umgegend der Stadtthore preßte sich ein Gewühl von Pferden und Wagen, das schon in der Mittagsstunde begonnen, und immer zahlreicher und dringender geworden war. War der Feind im Angesichte des Hafens? Hüllte einer schweren Feuersbrunst dampfende Lohe die Häuser von Marseille ein? Erschütterte ein Erdbeben die Grundfesten der Stadt? – Ach nein; Marseille war ruhig, dumpf und still wie ein Grab, und der Sturm, welcher darinnen aufgähren sollte, lag noch unausgebrütet im Keime. Die Flüchtlinge an den Thoren liefen vor dem stummen Tode, dessen Sense, dessen blutige Spuren sie noch nicht einmal gesehen; alle jene Augen, die aus den flüchtigen Wagen, von den jagenden Rossen und Maulthieren herab, scheu abgewendet von der süßen Heimath, in die Ferne starrten mit ängstlicher Hoffnung, mit banger Zuversicht – sie hatten noch nicht einmal von ferne das Gespenst geschaut, dessen Eintritt in die Stadt die Zaghaften verscheuchte. In den Häusern der Reichen war der Tod noch nicht zu Gaste gesessen, über ihre weichen Betten hatte er noch nicht sein Leichentuch gebreitet; nur hie und da hatte er im Sumpfe gearbeitet, gleichsam wie zur Vorübung, und nicht einen Streich gegen die Cedern geführt. Sein Besuch war nur den Hütten der Armen zu Theil geworden, in den engen schmutzigen Straßen des Elends hatte er seine Lieblinge gezeichnet, und nur zu dem Ohre des armen, dürftigen, lebenssatten Mannes war der Friedensgruß des morgenländischen Fremdlings gedrungen. Gerade dieses Volk aber konnte nicht fliehen; es war gebannt an die Stätte, wo es geboren. Darum knirschte es, da es die Flucht der Reichen sah, da es zu ahnen begann wie eine Quelle nach der andern für seine Bedürfnisse versiegen würde, in einer Zeit, wo Hülfe ihm so nöthig gewesen wäre. Alle Geschlechter dieses gemeinen, leidenden und gedrückten Volkes liefen zusammen, Grimm im Herzen, dumpfe Verwünschungen auf der Zunge, um sich zu berathen, sich zu trösten, um Beistand zu begehren. Wenige dachten an's Beten, obschon am selbigen Tage der Bischof von Marseille in eigener Person eine Prozession durch alle Kirchen und Straßen führte, um mit heißen Gebeten des Himmels Barmherzigkeit zu erflehen. Dem heiligen Zuge, den singenden Priestern und hochgetragenen Reliquien folgten nur steinalte Männer, abergläubische Weiber, viele schon in Trauerkleidern um schnell gestorbene Verwandte und Freunde; endlich die Schulen der Stadt, aufgeboten zu solchen Prozessionen. Die Kräftigeren aus dem Volke sahen nur mit Erstaunen, was sich um sie her begab. Die starken Leute, abgehärtet durch rauhe Arbeit, durch gefahrvolle Seezüge, durch das schwere Gewerbe der Korallenfischerei, fragten sich verwundert, was denn im Werke sey? An das Daseyn einer beginnenden Seuche glaubten sie alle nicht. Die einzelnen verdächtigen Todesfälle in der großen Stadt erregten nicht ihre Aufmerksamkeit. Sie vertrauten der Sorgfalt ihres Vigniers Landrichter oder erster Bürgermeister., ihrer Consuln und Schöppen, ihrer Zunftmeister und Prudhommes, die noch immer hartnäckig schwiegen; sie glaubten gerne den Aussprüchen der wichtig thuenden Aerzte, die jede ansteckende Krankheit in Marseille läugneten; sie bauten auf die strengen Maßregeln, die das Lazareth unnachsichtlich zu befolgen verbunden war. Die Armen wußten nicht, daß die Vorsteher der Gemeinde im Begriff waren, ihr Schweigen, viel zu spät, zu brechen, wußten nicht, daß der Troß der Aerzte die Wahrheit nicht erkennt, und schon aus Brod- und Kunstneid das leugnet, was der seltnere Genius hell und klar beweiset, wußten nicht, daß die Verwaltung des Lazareths schon lange ihre Pflichten gewissenlos vernachläßigte, und daß die meisten der Vorsteher jener Schirmanstalt selbst die Flucht vor einem Uebel ergriffen hatten, dem sie hätten begegnen sollen. »Die Krankheit ist eine Lüge!« riefen die Rädelsführer im Volke ihren Anhängern im Volke zu: »Sie ist eine abscheuliche Erfindung, erschaffen, um das Volk zu erniedrigen, es vor Hunger sterben zu machen. Haben sich die Reichen nicht verschworen, uns zu verlassen? Stehen unsere Märkte nicht seit vorgestern leer und öde? Man raubt uns den Verdienst unserer Arbeit, man schneidet uns die Lebensmittel ab. Die Wucherer wollen uns aufreiben, der Regent zu Paris, weil er die Hauptstadt verarmte, will alle reichen Leute dahin ziehen, und uns vergiften lassen, weil wir ihm zur Last sind. Wozu haben wir unsere freien Einrichtungen, wenn wir so schändlichem Complott erliegen sollen? Es ist himmelschreiend, wie man uns behandelt, wie man uns blokirt. Wir wollen uns selbst unser Recht verschaffen, den Consuln zeigen, daß wir gesund sind, kerngesund, und daß die Pest nur in den Köpfen der Narren oder im Herzen unserer Unterdrücker sitzt!«

Während die Gruppen am Hafen von diesen Rednern bearbeitet wurden, und der Prozession, die wieder herankam, geringschätzend den Rücken kehrten, drängte sich ein anderer Zug durch die Menge, dem Alles ehrerbietig und mitleidig Platz machte. Er bestand aus ein paar Dutzend von Christensclaven, die aus den Gefängnissen von Tunis und Tripoli durch die Hülfe und das Lösegeld der ehrwürdigen Väter vom Orden der Trinitarier befreit worden waren. Unter dem Schall einer gedämpften Handtrommel schritten die abgezehrten und langbärtigen Gestalten, begleitet von ihren würdigen Befreiern, dem Dom zu, am Fuße des Altars mit heißem Danke den Gott zu loben, den just zur selben Zeit die verzweiflungsvolle Andacht furchtsamer Christen als einen zornigen Rächer mit Bußpsalmen zu beschwichtigen suchte. Voll Theilnahme drängte sich das leicht bewegliche provenzalische Volk in den Weg der Befreiten, schüttelte ihnen die Hände, berührte ihre schweren Fesseln, die sie im Heiligthume aufzuhängen gingen, warf ihnen den letzten Heller aus der eigenen armen Tasche in die Mütze, theilte mit ihnen das letzte Stückchen Brod. Zugleich aber riefen Viele: »Ach, ihr Freunde, woher des Weges?« – »Aus Afrika, über Toulon.« – »Ach, was wollt Ihr hier, in dieser verrathenen, unglücklichen Stadt?« – »Dem Himmel danken und dem heiligen Lazarus; Eurer Milde uns erfreuen, da Viele von Euch selbst in der Sclaverei gewesen, viele Eurer Freunde in Barbarenketten geschmachtet.« – »Wir haben auch Mitleid mit Euch und jubeln über Eure Erlösung; aber wir sterben vor Hunger. Entflieht, daß Ihr nicht gleiches Schicksal mit uns theilt.« – »Vor Hunger sterben? Unterthanen des Königs von Frankreich? Läßt ja der Bey von Tunis seine Sclaven nicht am Hunger sterben, und füttert sie mit Mais und Grütze.«

Wie ein von ferne rollender Donner ging diese Antwort von Mund zu Munde, und Schlag auf Schlag blitzte nun die kecke Beredtsamkeit des südlichen Volks empor, dessen lebhafte Phantasie schnell die Bilder des Seeräuberfürsten und des Königs von Frankreich zusammenstellte, um wahrlich nicht zu Gunsten des letztern zu entscheiden. Himmelan stieg plötzlich der Ruf, einstimmig, wie aus einem Munde: »Brod, Brod! Wir wollen nicht verhungern, wir sind nicht pestkrank! Die Gewalt verschaffe uns, was man uns verweigert. Zur Stunde wollen wir Gerechtigkeit haben, wollen wir gesättigt sein Stürmt die Bäckerläden!« – »Die Bäcker können kein Brod schaffen, ihre Läden sind leer; es mangelt an Getreide!« antworteten einige herzhafte, besonnene Männer. – »So brecht die öffentlichen Speicher auf!« heulte die Menge, und umgab brüllend und tobend das Rathhaus, wo seit dem frühesten Morgen der ganze Magistrat versammelt saß, die böse Lage der Dinge und der Stadt Bedrängniß erwägend. Estelle, einer der muthigsten Schöppen, einer von den seltenen Volksfreunden, welche unvergängliche Denkmale verdienen, eilte die Treppe hinab, dem Getümmel zu begegnen, welches die Thürsteher und Wächter zu zermalmen drohte. »Wir haben keine öffentlichen Speicher!« rief der kühne Rathsherr ohne Furcht: »Die Gesetze verbieten Alles, was einem Monopole ähnlich sieht. Wir werden Mittel schaffen; übertriebene Furcht hält die Landleute von unsern Märkten ab; wir erwarten jeden Augenblick einen Courier von dem Parlament zu Aix, der uns eine Entschließung bringen soll, welcher wir bedürfen. Beruhigt Euch nur heute noch. Tumult und Aufruhr schaden, Eintracht erhält. Zerstreut Euch, geht in Eure Häuser; solche Zusammenrottungen möchten die Pestilenz ausbreiten, womit wir bedroht sind, wie es heißt.« – Die Menge heulte dagegen, wie eine empörte Brandung: »Es ist nichts mit der Pestilenz. Warum darf der Bischof seine Umgänge halten? Warum flüchten sich die Reichen? Man will uns hinrichten, das Arsenal hat Brod, die geschornen Sträflinge werden gefüttert, der Soldat erhält Speise und Trank, und wir, die all dieses bezahlen, sollen verschmachten.«

Während sich dieses im Innern des Rathhauses begab, und der Magistrat in peinlichster Ungewißheit nicht wußte, was zu thun, wurde plötzlich eine Stimme unter dem Volke laut, welche schrie: »Ihr sucht Getreide? Die Abtei von St. Victor hat gefüllte Fruchtböden. Fort nach St. Victor, die Pfaffen sind ohnehin verbunden, ihren Mitchristen zu helfen!«

»Nach der Abtei! Nach der Abtei St. Victor!« wiederholte die Masse der Tumultuanten mit wildem Gejauchze, und im Nu entleerte sich die Treppenhalle des Rachhauses von ihrem stürmischen Besuche, und der ganze unermeßliche Pöbelhaufe strebte auf allen möglichen Wegen nach dem jenseitigen Hafengestade. Die rüstigsten Lärmgesellen, begierig, auf dem Wege ein neues Aufgebot zu der Unternehmung zu sammeln, umkreisten das Hafenbecken, um zur Abtei zu gelangen; die besonnensten unter den Aufrührern, meistens Schiffer und Fischer und Leute von der geringen Marine, warfen sich kurz und gut in die Barken und Kähne am Ufer, und ruderten unaufhaltsam nach dem jenseitigen Gestade, wo die Gegend befindlich, die man das Paradies nennt, und worinnen die stolze Abtei ihre prachtvollen Zinnen prahlerisch wies. – In dem Arsenal, in den Galeerenhäusern wurde Alles lebendig, da man den Sturm gewahrte, der die Abtei bedrohte. Den zu Lande kommenden Angreifern verwehrte am Ausgange des Quartiers Rive-Neuve das herbeirasselnde Geschütz des Zeughauses das weitere Vorrücken; in dem Bagno wurden alle Waffen der Chiourme drohend gegen die Sclaven gekehrt, welche ungeduldig in ihren Ketten rasselten, während draußen die Rebellion mit ihren Schrecken aufzusteigen schien. – Das Volk in den Barken erreichte die Abtei. Thore, Gebäude und Kirche waren streng verschlossen, und durch das Gitter der äußersten Pforte bedeutete ein blasser Laienbruder dem drohend anrückenden Haufen, daß die Domherren und Grafen von St. Victor sich schon seit Tagesanbruch abgesperrt hätten, um der Pestilenz zu entgehen, daß sie von ihren Vorräthen nichts abgeben würden, weil man die Dauer der Landplage nicht berechnen könne, und daß im Nothfall die Garnison des Castells bereit seyn würde, einen mörderischen Angriff auf die Abtei zurückzuweisen.

Die Drohung war nicht ohne Grund; schon wurden die Trommeln in dem Fort St. Nikolaus gerührt, und im Abendscheine glänzten Waffen auf den Zugbrücken der Citadelle, sammelten sich dort Rotten, um heran zu ziehen. Dem wehrlosen Pöbel fiel der Muth; er fürchtete sich noch dazumal vor der Musquete, vor dem zürnenden Feuerschlunde. Der Ungestüm verwandelte sich in die Bitte der Verzweiflung; die Stimmen, die noch vor Kurzem Flüche und Verwünschungen, blutdürstige Drohungen und meuterisches Rachegeschrei gen Himmel schickten, verkehrten sich in Klagestimmen, und bettelten auf der Marmorschwelle der reichen Domherren um Nahrung um eine Handvoll Korn. Die Herren Grafen von St. Victor blieben jedoch beharrlich bei ihrer Weigerung, und ließen dadurch die armen Leute erst recht bitter empfinden, welcher Zukunft sie entgegensahen. Laut jammerte die Menge, langsam zurückweichend vor den weißen Uniformen, die in gestreckten Reihen sich auf dem Platze ausbreiteten: »Wehe uns, wenn die reichen Priester so unbarmherzig sind, was steht von unsern reichen Kaufleuten zu erwarten, und von den vornehmen Herren des Königs, die in Sammet und Gold daherfahren, unsers Elendes zu spotten?« – Und in Vielen regte sich schon wieder nach dem vorübergehenden Augenblick lammherziger Trauer die Begierde nach Gewalt, Raub und Brand, als den letzten Bundesgenossen der Verzweiflung. Ehe jedoch solch gräßliche Mahnungen laut werden konnten, trat ein Mann in die Mitte dieser Mariniers, der unter ihnen geboren, in ihren Gewohnheiten erzogen, ihren Sitten treu geblieben war. Der ehrwürdige Foulgues, einer der Aeltesten der Schifferzunft, einer der von ihnen selbst erwählten Schiedsrichter, dem alle Herzen seiner Standesgenossen huldigten wegen seiner vielen Erfahrungen, um der Biederkeit und Richtigkeit seines Urtheils willen. Die Alten verehrten in ihm einen Odysseus, die Jungen schätzten und bewunderten ihn, weil er bei hohen Jahren noch die Kraft und Gesundheit der Jugend sich bewahrte, und den Winter des Menschenlebens sogar um seinen Silberschnee zu betrügen gewußt hatte.

Mit der herzlichen Beredtsamkeit, die dem volksthümlichen Ehrenmanne so frei, natürlich und edel von der Brust strömt, wie Töne gehaltreichen Metalls, sprach Foulques zu seinen Mitbürgern: »Guten Abend, Kinder und Landsleute, was macht Ihr hier? Ihr verliert Eure Zeit, die Ihr nützlicher anwenden könntet. Der Magistrat schickt mich, Euch zu bitten, daß Ihr nach Hause gehen möchtet. Die Consuln haben geglaubt, es sey gefährlich, mit Euch zu reden, und wollten mich von Bewaffneten begleiten lassen, aber ich weiß das besser; wir kennen uns schon lange. Es ist keiner unter Euch, der nicht schon einmal in einer Streitsache als Partei vor mir stand, und der nicht gehorsam gewesen wäre, sobald ich ihm sagte: das Gesetz verurtheilt dich, mein Freund. Ihr ginget dann hin, zahltet Eure zwei Sous für den Spruch, ließet Eurem Gegner sein Recht, und habt nie an meiner Gerechtigkeit gezweifelt. Folgt daher auch heute meinem Wort. Unordnung zehrt die Ordnung auf, ein Bürger kann nicht zugleich ein Rebell seyn; der Esel, der zweien Herren dient, hat bald einen kahlen Schweif. Das Parlament von Aix hält uns noch immer hin mit seiner Vollmacht, aber wir leben ja nicht von dem Parlamente. Wir haben daher gesorgt, auch ohne Erlaubniß des Parlaments, daß gleich morgen vor den Thoren der Stadt wieder Markt gehalten werde. Kauft dann nach Herzenslust, meine Freunde, und seyd guten Muthes; schon der weitere Weg zum Markte wird Euch zerstreuen, vielleicht ist in der nächsten Woche schon das Schreckbild verschwunden, womit man uns zu ängstigen sucht, ich weiß nicht, ob mit Recht oder mit Unrecht. Fürchtet auch nicht, daß Eure reichen Mitbürger ferner die Stadt verlassen, um Euch preis zu geben. Die Herren zu Aix werden bald drohen, jeden zu erschießen, der unser Gebiet zu verlassen begehrt.«

Ein rohes Gelächter brauste nun aus dem Haufen auf, es wurde Beifall geklatscht, eine Spottrede jagte die andere. Foulques stellte sich, als ob er die Fröhlichkeit des Volkes theile, und rief noch scherzend zurück, als er in seine Barke stieg: »Brav, meine Freunde, in Kurzem wollen wir die feigen Hasen von Aix und Marseille noch wackerer auslachen!« Lautes Bravorufen folgte ihm nach, und wirklich zerstreute sich die Menge nach ihren Häusern.

4.

Foulques hatte noch eine Runde gemacht, und es war ziemlich spät und dunkel geworden, als er an seiner Wohnung anklopfte. Ein Knecht öffnete ihm. Nachsinnend, mit hängendem Kopfe, ging der Greis nach seinem stillen, einsamen Gemache, setzte sich in den breiten Stuhl, und ließ sich von dem Diener auskleiden. Zögernd fragte er denselben: »Nun, Thomas, sind keine Berichte von den Vorstehern des Distrikts eingelaufen?« – »Doch, Meister Foulques. Der Stadtdiener war da, und brachte schlimme Zeitung.« – »Schlimm? Laß hören.« – »Seit der Mittagstunde nahm die Krankheit unerklärlich schnell zu. In unserm Bezirke sollen mehr denn fünfzig Menschen davon betroffen seyn. Die Schöppen werden diese Nacht viel zu thun kriegen, wenn sie in der großen Stadt alle Kranken ausheben, und deren Wohnungen absperren wollen. Oben an der Ecke unserer Straße fiel, um drei Uhr Nachmittags, der lustige Schuhflicker plötzlich in seiner Werkstatt um, fabelte und raste bis zum Ersticken. Man sagt, er sey bereits gestorben. Die alte Wäscherin Brigitte, seine Nachbarin, hat sich davor so entsetzt, daß sie noch in derselben Stunde sich legte.« – »Fürchterlich! Siehst Du, Thomas, wie eitel die Zuversicht der Menschen ist? Noch heute morgen schickten wir vom Stadthause eine Staffette nach Paris, worinnen wir uns rühmten, daß alle Symptome der gefürchteten Krankheit zu Marseille verschwunden seyen, und gerade heute fängt die Plage an zu wüthen! Nun, wir müssen es aushalten. Wohl mir, daß meine Base mit ihrem Kinde fern ist, mein Sohn auf die Messe nach Beaucaire ging, um für mich Schulden einzutreiben. Ich kann ruhiger seyn. Freilich ist meine Tochter zurückgeblieben, aber ich denke, daß für die arme stumpfsinnige Dirne wenige Gefahr seyn wird.« – »Im Paradiese wäre sie besser aufgehoben, Meister Foulques, mit Eurer Erlaubniß. Ein mißgestaltetes Mädchen ist übel daran, wenn es auch Geld hat. Man nimmt es nicht einmal im Kloster auf. Zudem ärgert und neidet sich Jungfer Bertrande das Leben ab; aber ich wette, lieber Meister, daß gerade an ihr der Tod vorbeigehen wird.« – »Weil der Tod ein Mannsbild ist.« – »Nicht deßhalb; die Jungfer vertraut mit ganzer Seele auf die Reliquie vom heiligen Rochus, die sie von ihrer seligen Mutter hat, und sie spricht schon jetzt mit den Hausleuten in einer Entfernung von zehn Schritten.« – »Das erwartete ich; sie ist selbstsüchtig wie die Mönche von St. Victor. Horch, Thomas, wie kommt's, daß die Fensterladen zittern, als wollten sie aufspringen?« – »Herr, draußen geht ein heißer Luftzug, und ein schweres Wetter hängt über der Stadt. Fern über'm Meere blitzt es hell auf, und auch über dem Fort wetterleuchtet es.« – »Mir ist die Brust so eng, guter Thomas. Gott tröste die armen Leidenden in der Vaterstadt, daß sie die Wetterangst überstehen, und schenke uns Erfrischung und gesunde Luft. Was summt denn von ferne? Ist das Musik? Oder heult der Wind über den Hafen?« – »Nein Herr; es ist ferner Glockenklang, Schellengetön von Maulthieren. Hört Ihr das dumpfe Gepolter, den klingenden Schritt, der Thiere? Ein Wagen rollt in unserer öden Gasse heran.« – »Wer mag das seyn?« – »Der Wagen hält vor dem Haus. Wenn ich nicht irre, so höre ich die Stimmen Eurer Base und der alten Gouthoun.« – »Herr Gort! Was wollen denn die?«

Die Lampe in der Hand, einen leichten Schlafrock um die Schultern geworfen, lief der alte Foulques den Ankömmlingen entgegen, und mischte in den freundlichsten, väterlichsten Willkomm die Vorwürfe besorgter Zärtlichkeit. »Grüße Euch der Himmel; aber was wollt Ihr hier? Habt Ihr meinen Brief nicht erhalten? Ist die Wallfahrtzeit schon zu Ende? Ihr solltet ja wegbleiben von Marseille, entweder zu Toulon verweilen, oder wenigstens zu Aubagne, auf meinem Pachthofe das Weitere abwarten.« – »Die Wallfahrt zu unserer lieben Frau zum Tröste war schon geschlossen, unsere Andacht verrichtet,« sagte Clemence mit freundlicher Fassung: »Ihren Brief haben wir nicht erhalten, und in Ihrem Hause ist unsere Stelle.« – »In meinem Hause, an meinem Herzen, das versteht sich. Doch schwebt diese Stadt in drohender Gefahr, ist vielleicht bald ein Leichenfeld, gemäht von dem Schwerte des Würgengels. Entziehe Dein Leben, Clemence, Deines Kindes zartes Daseyn der Gefahr, schone Deine alten Tage, rechtschaffene Gouthoun. Weicht aus dem Abgrunde, der sich hier öffnet.« – »Und Sie, Vater Foulques?« – »Meine Bürgerpflicht hält mich zurück, ich bleibe auf meinem Posten.« – »Auch wir wollen unsere Pflicht erfüllen, mein Wohlthäter. Die Gefahr war uns nicht unbekannt; in Toulon schlagen schon die Herzen voll Angst und Furcht, wir fanden keine Barke, die uns hieher gebracht hatte, mußten den Weg zu Lande machen, stießen allenthalben auf dumpfe Bestürzung, hörten überall gräuliche Sagen, die an Schrecknissen zunahmen, je näher wir unserm Gebiete rückten; nur mit vielem Gelde bewegten wir den Kutscher, daß er uns in die Stadt hereinfuhr, und des Volkes scheues Treiben in den Straßen bestätigte uns das Unheil. Aber wir sind muthig, und die heilige Mutter wird uns nicht verlassen, wie wir unsern Wohlthäter nicht verlassen werden,« Clemence hielt dem freudig überraschten Foulques ihre schlafende Rosa hin und fuhr fort: »Dieses Kind wurde vor dem Altäre der Wallfahrtskapelle durch Priestersegen geheiligt, ich und Gouthoun haben das Abendmahl darauf genommen, uns der Prüfung nicht zu entziehen, die unserer Heimath, Ihrem Haupte droht. Bertrande ist zu schwach, um Sie zu pflegen, wenn Sie erkranken, Victor ist abwesend; Gott sei Dank, für sein Leben ist nichts zu fürchten, aber seine Hülfe fehlt. Wir wollen Ihrer Kinder Stelle vertreten, und muthig aneinander halten, wenn Gott in seiner Weisheit die schwere Züchtigung über uns verhängen sollte.«

Clemence und Margarethe umarmten mit frommer Begeisterung den Biedermann, dessen Festigkeit der innigsten Rührung nicht widerstehen mochte. Er weinte, unfähig, ein Wort des Dankes zu stammeln. Mit stummer Bekümmerniß deutete er nach der Thüre von Bertrandens Gemach, richtete einen wehmüthigen Blick gen Himmel, drückte dann mit wahrer Vaterliebe Clemence an seine Brust, die Hand der ehrlichen Wärterin, und floh, zu schwach, den ergreifenden Augenblick länger zu ertragen, in seine Schlafkammer.

Die Frauen wendeten sich nach ihrer Stube, legten die unbekümmert schlummernde Rosa in ihre weichen Kissen, und während Margarethe ihr eigenes Lager besorgte, kniete Clemence auf den Betschemel nieder, um vor dem Bilde des Gekreuzigten für die Heimkehr zu danken, und zu beten für den edeln Foulques, für die ungerechten Eltern, und für Alle, die sie liebte, Victor nicht ausgenommen, den sie verschwiegen tief im Herzen trug.

Da knarrte leise die Thüre, und Bertrande schlich wie ein Schatten hindurch, eine düster glimmende Leuchte tragend, und setzte sich auf den Stuhl, der gerade am Eingänge stand. Clemence richtete sich erstaunt in die Höhe, und Margarethe sagte ziemlich laut: »Gott segne Euch, Jüngferlein. Was begehrt Ihr aber zu so später Abendstunde? Es sind viele Wochen vergangen, seit Ihr uns zum Letztenmale besucht. Wollt Ihr Eurer Base den Willkomm gönnen, da Ihr uns doch beim Abschied die Ehre nicht anthun mochtet?«

Verwände antwortete langsam und frömmelnd: »Es ist niemals zu spät, ein Unrecht wieder gut zu machen. Nicht wahr, Base Clemence?«

Clemence, schnell versöhnt, näherte sich ihrer Verwandten, und sagte mit Engelsmilde: »Gewiß nicht, liebe Muhme. Alles sey vergessen, und ich erwiedere von Herzen Eueren Gruß.«

Bertrande deutete ihr mit vorgehaltener Krücke an, in einer gewissen Entfernung stehen zu bleiben, und entgegnete: »Du hast mir gezürnt, weil ich unbesonnene Reden geführt, die ich nicht böse meinte. Da aber die Zeit so schlimm geworden ist, und der Herr das strafende Schwert aus der Scheide zieht, so ist es Christenpflicht, jeder Feindschaft abzusagen. Wir wollen uns versöhnen; wenn Du stürbest, so könnte Deine Seele nicht ruhig seyn, weil Du an mir Unrecht übtest; wenn ich, das schwache, elende Geschöpf, diese Erde verließe, so müßte sich meine Seele kümmern, daß ich unschuldiger Weise ein Mißverständniß veranlaßte, welches zwei verwandte Wesen trennte.«

Clemence versetzte etwas befremdet, aber gütig: »Ich wünsche nichts anderes. Wenn ich Dir etwas zu vergeben habe, so geschehe es hiemit aufrichtig und ohne Vorbehalt. Ich wünsche nur Eintracht.« – Bertrande seufzte aus tiefer Brust, und sprach mit dumpfer Stimme: »Ach, ich habe mich schon kasteit, ich habe schon gebüßt und in Reue gerungen, weil mir im Zorne eine Verwünschung entfuhr, die allzuschnell in Erfüllung geht. Der Mensch sollte nie einen unbesonnenen Fluch ausstoßen, denn wie der Segen, so trägt auch der Fluch seine gewissen Früchte. Die Welt ist sehr sündig, liebe Clemence, und Gott will schnell damit zu Ende gehen. Die Glocken unserer Kirchen läuten schon von Stunde zu Stunde einen Todten in die Ewigkeit, bis endlich auch die Hände erstarren, die den Glockenstrang ziehen. Bald wird in allen Häusern Trauer wohnen, und die Gräber werden nicht schnell genug fertig seyn können. Wähle Dir einen frommen Beichtvater, Clemence.«

»Ei, das wird schon ohne Euer Zuthun geschehen,« fiel Margarethe ungeduldig ein. Bertrande fuhr aber mit derselben gleichgültigen Kälte fort: »Du hast schon viele Leiden ausgestanden, arme Clemence, und der Würgengel greift gar zu gerne nach abgehärmten, lebensmüden Herzen.«

Clemence antwortete mit erschütterter Seele: »Glaube mir, Bertrande, daß ich gefaßt bin; aber verschone mich mit solchen düstern Ermahnungen. Wir sind müde von der Reise, erquickender Schlummer thut uns noth.«

Ohne sich stören zu lassen, murmelte Bertrande schleppend weiter: »Schlummern? O nicht doch, liebe Base. Wachen und Beten, das ist die Losung in der Trübsal. Wachet, daß uns der Tod nicht übereilt. Wache, Clemence, und vergiß nicht, allnächtlich Dein Kindlein einzusegnen, denn es möchte über Nacht ein Engel werden, ehe Du Dich dessen versähest.«

Die Hand fest auf das bebende Herz gedrückt, sank Clemence auf das Lager, gebeugt über ihr Kind, und winkte schluchzend der grausamen Muhme, zu schweigen. Margarethe verfuhr strenger, stellte sich Bertranden entgegen und schalt: »Wißt Ihr, wem Ihr auf's Haar gleicht? Dem Henker, der einen armen Menschen rädert, und nach jedem Schlage der eisernen Keile inne hält, damit der Schmerz hundertfach peinige. Ich bitte Euch inständigst, geht, geht schnell, wenn ich nicht Herrn Foulques rufen soll, der am besten weiß, wie man seiner tückischen, verrückten Tochter zuzusprechen hat.« – Aus den Augen der Alten leuchteten der Drohungen mehrere, und Bertrande war nicht gesonnen, solch' rüstiger Gegnerin Stand zu halten. Mit einem Blicke, woraus vernichtender Hohn funkelte, mit einer drohenden Bewegung des Krückenstocks stand sie, ohne weiter eine Sylbe zu reden, auf, und hinkte zur Thüre hinaus. Sie hörte, wie Margarethe hinter ihr zuriegelte, und murrte, schadenfroh lächelnd, indem sie den Weg nach ihrer Kammer suchte, vor sich hin: »Verriegelt nur Eure Pforten; in Euerm Ohr gellt dennoch meine Stimme wieder. Wohl bekomme ihr die Mahlzeit, die ich ihr aufgetischt, der Schmarotzerin, die an meines Vaters Tische ißt, von dem nur die Brosamen für mich abfallen. Wird sie gehätschelt, und ist doch eine freche Dirne, behangen mit einem unehelichen Würmchen, so will ich ihr empfinden lassen, daß ich, eine reine unbescholtene Jungfrau, sie verachte und demüthigen kann. Ihre Larve hat den Vater berückt, und den Bruder und alle Männer im Hause; sie möchte wohl meine Stiefmutter werden? wenigstens meine Schwägerin? Aber ich will nicht ehrlich seyn, wenn ihr Hochzeitstag vor dem meinigen fällt.« – Mit diesen Worten betrat Bertrande ihre Stube, eine der unheimlichsten im Hause, im Erdgeschoße, gewölbt, und nur mit einem Fenster versehen, das in eine enge, armselige Gasse ging, worinnen vor Schmutz und Unrath kaum fortzukommen war. Bertrande hatte sich in ihrer Eulenlaune dieses Gemach selbst gewählt, und dasselbe mit der düstern Geschmacklosigkeit verziert, die sich in ihrem Anzuge kund gab. Die Vorhänge an Bett und Fenster waren von verblichenem gelben Damast, die Spiegel fleckig und voll Staub, an den grauen Wänden klebten gräßliche Bilder, den Tod vieler Märtyrer vorstellend, aus dem Schreine, worinnen die Bewohnerin dieser Zelle ihre Habseligkeiten verwahrte, stand ein Glaskasten mit der bleichen Wachsfigur eines Jesuskindes, dessen Kleidung und große Allongenperrücke von Baumwolle Bertrande selbst verfertigt hatte. Ein verstimmtes Positiv stand in der Ecke, und ein paar Gebet- und Notenbücher vervollständigten den ganzen wüsten Hausrath. – An diese kleine Orgel lehnte sich Bertrande, nachdem sie die Leuchte in einen Winkel des Kamins gesetzt, zog den Fenstervorhang etwas zurück, öffnete dann leise das hölzerne Fenstergitter, und blinzelte, so gut sie es vermochte, auf das dunkle Gäßchen, worinnen kein Licht mehr schimmerte. Von ferne rollte langsam und majestätisch der Donner, und während dessen Brausen faßte Bertrande das Herz, sich selber zuzuflüstern: »Ob er wohl heute wieder kömmt? Hat mich denn mein Auge getäuscht, da ich ihn schon in der Dämmerung zu sehen glaubte, in denselben weißlichen Mantel gehüllt, den er gestern trug?« – Sie lauschte, sie schaute, bog sich mit dem halben Leibe endlich aus dem Fenster, und fuhr alsobald heftig zurück. Ein Blitz hatte geleuchtet, eine männliche Gestalt in Federhut und hellem Mantel stand am Eingange des Gäßchens. Schwer athmend vor Bestürzung, pochend das Herz vor Neugierde und dunkler Sehnsucht, flüsterte Bertrande wieder, unruhig die Hände reibend: »Er ist's gewiß … warum nähert er sich nicht? …. Wie war es doch gestern? Sollte mein Gesang ihn gelockt haben …? Sollte er heute wieder auf dieses Zeichen warten?«

Mit unsicherer Hand berührte Bertrande die Tasten der kleinen Orgel, entlockte dem Instrument einen schnarrenden, zitternd verhallenden leisen Accord, und begann mit bebender Stimme und kümmerlich schwachem Vortrage das provenzalische Lied, das man dem Kaiser Friedrich dem Rothbart mährchenhaft zuschreibt, – das einzige, welches Bertrande in ihr unmusikalisches Gedächtniß zu prägen verstanden hatte. Sie sang mit schluchzenden, gebrochenen Tönen:

»Ich liebe den Ritter aus Frankreich,
Die spanische Dame ist hold,
Ich liebe den Hof von Castilien,
Und der Provence fröhliches Lied.«

Weiter konnte sie die Strophe nicht bringen, aber, als sie ängstlich zum Fenster schaute, bemerkte sie frohlockend, daß der Zauber gewirkt hatte, daß der nächtliche Wanderer nahe dem Fenster stand, und eine Ahnung von verschwiegenen Abenteuern, von bräutlicher Wonne, belebte für einen Augenblick das kalte Herz der Aermsten, und sie fragte sich wie eine züchtige, erst aufgeblühte Rose: »Wird er denn heute reden? oder wird er bei seinem Schweigen verharren, der Grausame, wie gestern?«

Der räthselhafte Fremde tippte so eben mit dem Finger behutsam an das Fenster, daß es ohne Geräusch und Klang aufging, näherte sich vorsichtig mit dem Kopfe, und fragte gedämpft: »Warum endigen Sie nicht das Lied, klösterliche Sängerin?« – Bertrande stieß einen Laut der Ueberraschung aus, schwieg aber dann besonnen, um den willkommenen Gast nicht zu verscheuchen. Dieser fuhr schmeichelnd und lispelnd fort: »Sind Sie mir böse, weil Sie nicht antworten? Ich hörte gestern schon mit Entzücken Ihre schöne Stimme, und erwartete heute gleichen Genuß.« – »Pst!« versetzte Bertrande: »Wenn Jemand uns hörte! schweigen Sie mit Ihren Schmeicheleien.« Der Ton, womit diese Worte gesprochen wurden, verrieth hinlänglich, wie angenehm der Tribut des Beifalls auf die Sängerin wirke; doppelt angenehm, da, bei dem schwachen Lampenschimmer betrachtet, der sich durch das Fenster stahl, die Gestalt des unbekannten Zuhörers sich vortheilhaft zeigte, und nicht minder sein Gesicht, geziert mit großen schwarzen Augen, einer schönen Adlernase, und dunklem gefälligem Lockenhaar, hübscher anzusehen, als die steifen, ungepuderten Perücken, womit dazumal die nach der Hauptstadt geformten Roués Staat machten. Zufällig verschob sich bei einer Wendung des Mannes der übergeschlagene Radmantel, und ein feines Kleid, mit schmalen Borten und vielen goldbesponnenen Knopflöchern, wurde sichtbar, verrieth seines Herrn Bildung, Wohlstand und Geschmack. Immer freudiger zitterte Bertrandens Herz, und in ihren Ohren klang es wie Musik, als der Fremde leise fortfuhr: »Wohl haben Sie Recht, freundliches Mädchen, und der sympathetische Zug, der gleichgestimmte Seelen vereinigt, soll ein Geheimniß bleiben für jedwedes unberufene Auge. Die Macht der Töne zieht mich unaussprechlich zu Ihnen. Das muß ein treffliches Gemüth seyn, welches aus den heiligen Quellen der Musik seine Freuden schöpft. Wäre es mir vergönnt, es näher kennen zu lernen!« – Bei diesen Worten faßte eine warme weiche Hand die Hand Bertrandens. Das Mädchen fand nicht die Kraft, die Finger zurück zu ziehen, und stammelte in wohlthuender Verlegenheit: »Was beginnen Sie, mein Herr? Sie täuschen sich, oder haben mich zum Besten. Ich weiß nur zu gut, daß ich so viel Theilnahme nicht zu erregen vermag. Die Natur versagte mir, was so viele meiner Schwestern begehrenswerth und glücklich macht …« – »Und Ihr Herz? Rechnen Sie den goldnen Kern für nichts, weil er in einer Schale schlummert, die vom albernen Pöbel verkannt wird? Ich habe viel Unglück erlebt, Mademoiselle, und weiß gar wohl, daß das Lebensglück nicht im Aeußerlichen besteht, daß der Bund der Geister heiliger ist, als der Austausch der Sinnlichkeit. In Ihnen errieth ich den mir verschwisterten Geist, geprüft, wie ich, durch manches Leiden. Vergönnen Sie mir, dieses Zusammentreffen zu benützen. Sie kennen zu lernen.« – In großer Verwirrung entgegnete stotternd Bertrande: »Sie erschrecken mich mit Ihrem Ungestüm …. dennoch ist ein edler Mann so selten … Es würde mir selbst Freude machen, mit Ihnen bekannt zu werden … aber … die Möglichkeit? Mein Vater ist rauh und streng, mein Bruder ohne Gefühl und feindlich gegen mich gesinnt … sie dürfen um Alles in der Welt nicht wissen …« – Der Fremde fuhr mit Eifer fort: »Wehe den rohen Männern, die ein schönes weibliches Herz in Staub treten! Ist denn aber kein Wesen Ihres Geschlechts in diesem Hause, dem Sie sich vertrauen könnten?« – »Ach, da ist keine Hoffnung. Eine Base, die mein Vater um Gotteswillen zu sich nahm … eine alte, boshaft lauernde Wärterin, die mich haßt …« – »Und kein Engel, der uns beistünde? Ich sah vor einiger Zeit, – denn ich beobachtete Sie schon lang – einen kleinen Engelskopf an diesem Fenster, oder in den Zimmern, die nach der Straße gehen. Das Kind spielte mit einer alten, griesgrämigen Frau. Gewiß ist es eine Waise, welche Sie mild barmherzig zu sich nahmen, Mutterstelle an ihr zu vertreten?« – Bertrande hustete verlegen, und antwortete endlich, um den wohlfeilen Heiligenschein nicht einzubüßen: »Nicht so eigentlich …. und dennoch wieder ist es fast so. Wen sollte ein hülfloses Kind nicht zur Theilnahme bewegen?« – »Wo ist es? Kann ich es nicht sehen? Ich liebe die Kinder unaussprechlich. Bei Ihnen, an Ihrer Seite, auf Ihrem Schooße, an Ihrer Brust möchte ich es sehen. Die jungfräuliche Mutter mit dem Kinde, ein Ebenbild der Heiligen, die wir in unsern Tempeln verehren, gewährt ja das schönste Schauspiel. Gönnen Sie mir diesen Augenblick, … morgen, übermorgen, wann Sie wollen.«

Die Vergleichung, die nicht besser gewählt seyn konnte, schmeichelte der Eitelkeit Bertrandens viel zu sehr, als daß sie nicht, in Wonne und Trunkenheit des Entzückens aufgelöst, alles versprochen hätte, um nur den zärtlichen Freund noch fester zu binden. Zögernd, wie voll jungfräulicher Schaam, aber schnell besonnen und entschlossen, gestattete sie dem verführerischen Fremdling, morgen zur selben Zeit wieder zu kommen, und ließ ihn errathen, daß die Thüre des Hauses und ihres verschwiegenen Gemachs offen seyn würde. Das Gebrüll des Donners, der nun über der Stadt rollte, das Heulen des Windes, verschlang die Abschiedsworte des schnell entfliehenden Freundes, aber der feurige Händedruck, womit er Bertrande verließ, sprach deutlich genug für ihn. Aufgeregt von den Flammen, die so unvermuthet in ihr Herz brachen, trat Bertrande zum erstenmal in ihrem Leben mit eigener Zuversicht vor den Spiegel, und sagte lächelnd: »Die Ungerechtigkeit der Natur scheint endlich an mir zu erlahmen. Schön wäre es, wenn gerade ich, die Verwahrloste, zu dieser Frist, wo Pest und Tod tausend Bande zerreißen werden, so der Himmel will, einen zärtlichen Gatten fände, nach dem mein dürstendes Herz so beiß begehrt. Ich will Alles aufbieten, ihn zu fesseln. Wenn es seyn kann, mag selbst der Bastard der hochmüthigen Base dazu helfen. Wenn auch dann das Verhältniß zu Tage kommt, was thut's? Es muß zu Tage kommen, das sättigt meine Eigenliebe, das wird ihn um so fester an mich ketten. Er ist ein Fremder, seine Sprache verräth es. Es wird gut sein, ihn in sicherer Schlinge zu fangen. Vielleicht führt er mich hinweg aus dieser Stadt, wo seit meiner Kindheit nur Haß und Demüthigung mein Loos gewesen ist; vielleicht …«

Ein fürchterlicher Donnerschlag unterbrach ihre stolze Siegesrede. Der Himmel glühte wie in lichten Flammen, der herbe Blitzstrahl war in das Fort St. Jean gefahren. Rings brachen die Elemente los mit fieberhaftem Ungestüm, und Bertrande, abergläubisch betend, flüchtete mit Rosenkranz und Reliquienschachtel in ihr Bette.

5.

Die ältesten Leute von Marseille erinnerten sich nicht einer solchen wüthenden Sturmnacht, Schlag auf Schlag der Donner, Strahl auf Strahl der Blitz, die Atmosphäre brannte wie ein Schwefelpfuhl die ganze Nacht hindurch, und kaum eines von den öffentlichen Gebäuden der Stadt blieb vom Donnerkeil verschont, der nirgends zündete, aber die dicksten Mauern bersten machte, und in einigen Kirchen durch das Gewölbe brach, und die Grüfte sprengte, daß sie gähnten, gleichsam neue Opfer verlangend. Ein schauerlich Vorzeichen, dem die Erfüllung ohne Säumen auf der glühenden Ferse folgte. Von den Häusern herab stürzte der Orkan, der im Hafen die Wasser empörte und hundert Barken vernichtete, die hohen Kamine, die Geländer der Terrassen, Fenster und Balkone; aber innerhalb schlug der Tod mit geschäftig wüthender Hand einer Menge von Opfern sein Brandmal auf den hinsinkenden Krankenleib. Das furchtbare Unwetter gab das Signal zum Ausbruch der bisher im Dunkeln schleichenden Pest. Der giftige, erstarrende Mistral, der sich einstellte, als am Morgen das Feuer des Himmels erlosch, vollendete, was der Sturm begonnen. In allen Gassen war Klage und Noth einheimisch geworden, das Geschrei der Verzweiflung übertönte den Glockenschall, der zum Gottesdienst rief, unzählige Hiobsboten durchrannten die Stadt, schreiend nach Aerzten, die in der Nacht Erkrankten zu retten; nach Notarien, die Testamente der Sterbenden aufzunehmen; nach Geistlichen, die letzte Wegzehrung zu reichen; nach Todtengräbern, die Leichen zu beerdigen. Nun erst ahnte man die Größe des Jammers, der sich vorbereitete, und nirgends war Hülfe. Ein einziges verwittertes Spital, um die Kranken aufzunehmen, die kaum zum Drittel ihren Platz darinnen fanden; die Stadtkassen leer, kaum eilfhundert Livres darinnen; kein Getreide, kein Fleisch, kein Holz für den Armen vorräthig. – Dieser plötzliche Wechsel erzeugte eben so schnell Mißbräuche der Gewalt, den Unfug der Selbsthülfe, Streit und Hader jeder Art. Die Bürger von Marseille, an Gesetzlichkeit gewöhnt, klopften an die Gerichtsstuben. Alle Richter waren scheu aus der Stadt entflohen. Der ängstliche Hausvater begehrte vor dem Gesetz die Rechte seiner Erben, seiner Gläubiger, seiner Bürgen zu bekräftigen: kein Notar war in der Stadt zurückgeblieben. Frauen, entsetzt von den Gräueln der verwichenen Nacht, sahen schaudernd vor der Zeit die Stunde eintreten, da sie Mutter werden sollten: nicht eine Wehmutter war zu finden, die den Leidenden Beistand geleistet hätte. Tausende seufzten nach ärztlichem Rath, und die Doctoren hatten sich theils feig versteckt, theils, von Pfaffen gedungen, sich mit denselben in die Klöster eingesperrt, zum Theil aus der Stadt die Flucht genommen. Die wenigen Zurückgebliebenen vermochten nicht dem Andrang zu genügen, ängstigten sich selber ab, oder verließen achselzuckend ihre Kranken. Die Auswanderung nahm furchtbar zu, schon war kein Pferd mehr aufzutreiben. Das aufgebrachte Volk mißhandelte an den Thoren die Flüchtlinge. Die Consuln und Hauptleute, volksthümlich gewählt, besaßen nur väterliche Gewalt, und riefen, weil diese nicht hinreichte, den Pöbel im Zaum zu halten, die Soldaten des Königs zu Hülfe. Aber der Gouverneur der Provinz war ferne, und der Commandant der Citadelle schloß sich mit der Besatzung hinter seinen Schanzen ein. In der höchsten Noth bot der Magistrat die Arsenalwachen, die Sclavenschergen zu seinem Dienste auf. Aber der General der Galeeren weigerte jeden Mann und verriegelte sich hinter seinen Gittern mit einer Menschenmenge von wenigstens zehntausend Köpfen, die unter seinem Befehle standen. Der Magistrat drohte ohnmächtig mit Vergeltung, der Bischof mit der Rache des Himmels. Citadelle und Arsenal erklärten dagegen, sie würden die Stadt mit ihrem Geschütz in Grund und Boden schießen, wenn nur einen Tag die volle Verproviantirung der Garnison und der Zeugmannschaft unterbleiben würde. – Dieser bösartige Hader, aus schmutziger Selbstsucht entsprungen, brachte die Stadt in die äußerste Gefahr. Ihre Hülfsquellen waren versiegt, nur ein Wunder konnte sie retten, und die edelmüthige Aufopferung wackerer Bürger. Der Bischof, ein fanatischer aber tugendhafter Mann, dessen Eitelkeit sich glücklich pries, eine Gelegenheit zu finden, die Rolle zu spielen, die der heilige Borromäus in Mailand übernommen, legte seine ganze Habe auf den Altar des Vaterlandes, begnügte sich mit der Kost des ärmsten Bettelmönchs, leistete überall und zu jeder Zeit die Dienste des niedrigsten Diakons. Ein edler Contrast zu dem Benehmen der feisten Grafen von St. Victor, die von ihrem Hamsterreichthum nicht eine Spreuhülse, nicht einen Liard spendeten: zu dem feigen Trotze, womit die Stadtkirchen und übrigen Stifter jedes Almosen zu Unterstützung der Armen, jedes, auch das elendeste Gebäude zu Errichtung eines Spitals weigerten. Der Ritter von Roze war einer der ersten, die kaum wieder betretene Heimath mit Allem zu beschenken, was er erworben. »Mein Fleiß,« sagte er, »hat mir eine halbe Million errungen, die Gattin, die ich vor wenigen Tagen heimgeführt, brachte mir ein beträchtliches Vermögen zur Mitgift, ich bin bereit, Alles zu opfern, aus eigenen Mitteln ein Hospiz in meinem Stadtviertel zu errichten, persönlich da zu wirken mit meinen schwachen Kräften, wo die Gefahr am größten ist.« Seinem Beispiele folgten die braven Schöppen Estelle und Moustier. Der Viguier und die beiden andern Consuln, wenn auch nicht von gleicher Begeisterung beseelt, handelten doch als entschlossene Männer. Hie und da öffnete auch wohl ein reicher Großhändler seine Vorräthe, hie und da führten muthige Leute Lebensmitteltransporte in die bedrängte Stadt; aber das Volk wäre nicht zu beschwichtigen gewesen, wenn nicht die Gewalt der Seuche selbst Ruhe gepredigt hätte. Schon am Mittag nach dem Sturmwetter erkrankten Plötzlich Leute in den schönsten und gesündesten Straßen; die Landplage brach sogar in einige reiche Häuser auf dem Corso. Der Pöbel, bisher allein von dem Verderben betroffen, stutzte; und als in der Folge die Flüchtlinge wiederkehren mußten, weil der vom Parlament aufgestellte Cordon sie mit dem Tode bedrohte, so wie die Kanonen von Toulon die Fahrzeuge bedrohten, die mit Parlamentserlaubniß von Marseille nach dem Lazareth jenes Hafens trachteten, begütigte sich das Volk, sah ein, daß der Reiche gleiches Schicksal mit dem Armen theile, und ergab sich in das unabänderliche Loos. Der Aufruhr schwieg; wohl aber begann der abscheuliche Krieg entfesselter Leidenschaften, der grimmige Streit thierischer Begierden mit dem Heiligen in der Menschenbrust. Und er mußte bis zu Ende gekämpft werden; denn kein Schiedsrichter war mehr vorhanden, ihn zu schlichten. Gesetz und Religion verstummten; Willkür, wenn auch manchmal wohlthätig, vertrat die Stelle des Rechts; Fanatismus, wenn auch manchmal zu entschuldigen, ersetzte die reine Christuslehre.

In Dinart's schöner Wohnung, auf dem mit schattigen Bäumen bepflanzten Corso, war Agathe die ganze Nacht hindurch umhergegangen, die Hände ringend, mit erblaßten Wangen, die Augen roth von Thränen der Angst, und jeder Donnerschlag war ein gewaltiger Stoß, der ihres Wesens Innerstes erschütterte. Es ist die Art der Leichtsinnigen, bei klarem Himmel Alles zu verlachen, und wie das Espenlaub zu beben, sobald die Wolken zürnen. – In Seelenangst hatte Frau Dinart den Morgen herbeigebetet während der Stadthauptmann im großen Rathe saß. Viele Freundinnen waren eingeladen worden, dem furchtsamen Weibe Gesellschaft zu leisten; einige waren erschienen, unter ihnen die zukünftige Schwiegertochter Cassandra. Ein köstliches Frühstück sollte die theilnehmenden Gefährtinnen belohnen, und Agathe zwang sich, dabei die Honneurs zu machen. Aber mitten unter dieser Beschäftigung wankte sie, fiel leichenblaß in den Sessel zurück; die Porzellanschüssel, der silberne Vorlegelöffel in ihren Händen klirrten zu Boden, und mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen. Betroffen sprangen die Freundinnen herzu, die Ohnmächtige zu erwecken, rieben ihre Hände, benetzten ihre Schläfe mit wohlriechenden Wassern; aber als die Kranke wieder aufwachte, veränderte sich plötzlich der Auftritt sehr schreckhaft. Die vorhin so matten Augen Agathens rollten fürchterlich, roth, wie unterlaufen von Blut; die Brust flog auf und nieder mit unerhörter Schnelligkeit; Zittern durchlief den ganzen Körper; und die Zunge, kurz vorher gelähmt, brach in eine Geläufigkeit aus, wovor sich das Haar sträubte. Die Geschwätzigkeit einer Wahnsinnigen fieberte aus dem Weibe; sie klagte über das Feuer in ihrem Leibe, rief nach Hülfe und nach den Sakramenten, betete dann wieder abgerissene Sätze, schalt die Umstehenden, rief dann ihre Barmherzigkeit wieder schluchzend an. Grauen, dem sie keine Worte noch zu geben sich getrauten, bemeisterte sich der Weiber. Ein Barbier, der von der Gasse geholt worden war, um der Unglücklichen eine Ader zu öffnen, sprach es aus, das unbesonnene Wort des Entsetzens. »Die Pest! Eine Pestkranke! flieht, oder Ihr seyd des Todes!« schrie der Mensch, und entsprang mit allen Zeichen und Geberden der namenlosesten Furcht. Ihm nach drängten sich die Freundinnen, schreiend, heulend, gepeitscht von panischem Schrecken. Cassandra ließ aus ihren Armen die Kranke auf den Boden fallen, und floh, wie vor einem Gespenste, aus dem Hause, an ihrer Sänfte vorüber, deren sie sich nicht einmal erinnerte. Eine andere Dame, die schwerfälligen Leibes, nur langsam die Wohnung des Stadthauptmanns zu verlassen vermochte, bat die Träger um Gotteswillen, sie an der Statt ihrer Gebieterin nach Hause zu bringen; es geschah, und als die Träger die Sänfte vor der Wohnung niedersetzten, fanden sie darinnen eine Leiche.

An die Flucht der Freundinnen schloß sich die davonlaufende Dienerschaft. Keine Zofe, kein Knecht, die zurückgeblieben wären. Man wußte, daß bei früheren einzelnen Fällen die Todten von den Schöppen abgeholt, die Angehörigen derselben in das Lazareth gebracht, die Thüren ihrer Häuser vermauert worden waren, und jeder fürchtete dasselbe Schicksal. Die letzte Magd begegnete auf der Schwelle dem alten Dinart, und stammelte die schreckliche Kunde. Keuchend flog Dinart die Treppe hinan, schaute mit starren Augen in das Zimmer, wo Agathe hülflos mit der Krankheit, vielleicht mit dem Tod rang, und hatte für sie nur das Wort! »Unglückliche! Was ist?« Verzweifelnd heulte Agathe: »Ich brenne … ach mein Freund … Gott steh mir bei … sie verlassen mich Alle … Bleibe du bei mir … vergib mir alle Sünden, o heiliger Erlöser! – »Du hast die Pest! Gott gnade dir!« polterte Dinart mit klappernden Zähnen und entfloh nach seiner Stube. Maximin kam ihm entgegen, überwacht, erschöpft; er hatte die Nacht in schlimmer, buhlerischer Gesellschaft zugebracht. »Herr Gott!« schrie er mit aller ihm eigenthümlichen Lebhaftigkeit. »Ist's wahr? Wir haben die Pest im Hause? Die Mutter stirbt daran? Kommen Sie, daß wir uns retten. Rieth ich nicht schon längst, der Stadt zu entfliehen?«– Er zerrte den Alten gewaltsam am Aermel mit sich fort, während Dinart zornig ausrief: »Du bist ein Narr! Sollte ich mein Haus, mein Geld und Gut im Stiche lassen? Laß uns aber eilen; ich gehe wieder auf's Rathhaus, daß mir die Todte aus der Stube geschafft werde. Dann schließe ich selbst das Haus und lasse es versiegeln. Halte Wache, daß bis zu meiner Rückkehr kein fremder Mensch hereinkömmt.« – »Ich soll doch nicht alleine hier im Hause bleiben?« fragte entsetzt der Sohn. »Ich rieche schon den Pestdampf. Meine Flinte will ich nehmen, vor der Thüre Wache stehen, und den niederschießen, der es wagt, einzutreten.«

Während diese Begebenheiten sich zutrugen, wandelte hastigen Schritts ein verschleiertes Weib durch die Gassen, die nach dem Corso führten. Rings um die Eilende war bewegliches Leben, ungestümes Treiben. Aengstliche Kaufleute schlossen geräuschvoll, wie vor dem Feinde, ihre Buden, Handwerker mit verstörten Gesichtern ihre Werkstätten. In den Schenken wurde geflucht, gelärmt, vor den Fenstern der Bäcker prügelte man sich um das letzte Brod, heulte die Armuth vergebens nach Nahrung. Händeringende Weiber standen in Gruppen beisammen, und erzählten sich schluchzend und schreiend ihr Elend. Ueber diesem Getöse pfiff mit eisigem Hauch der Mistral, fing sich in den Gewändern der Priester, die mit Kreuz und Kerze in die Krankenhäuser liefen, die letzte Absolution zu ertheilen. Tragbahren mit Kranken und Sterbenden kreuzten sich an jeder Ecke, Särge wurden geschleppt, Leichentücher über die Straße gezerrt. Die ganze Menschenmenge schien vom Tode gejagt, die Blässe der letzten Stunde lag auf allen Gesichtern. Das eilige Weib lehnte sich beim Eingang in den Corso an einen Eckpfeiler, lüftete den Schleier, und eine Stimme rief mit Bewunderung und Bedauern: »Ei, Jungfer Dinart, wie kommen Sie hieher?« – »Unnennbare Angst hat mich von Hause fortgejagt, alter Anselm. Ich muß sehen, wie es bei meinen Eltern steht.« – »Gott erbarme sich! Kehren Sie um. Ihre Mutter ringt mit dem Tode. Das Haus ist leer, und ich dachte, daß es keinen Thürsteher mehr brauche.« Der Alte entfernte sich eiligst, und Clemence, neue Kräfte sammelnd, vollendete mit wenig Schritten ihren Schmerzensweg. Vor dem Vaterhause stand Maximin, und drohte ihr mit der Muskete: »Zurück, unwürdige Schwester. Was suchst Du noch bei uns?« – »Denke an das vierte Gebot, Maximin, und folge mir, wenn Du es wagst.«

Clemence verschwand in der Pforte, und Maximin hatte nicht den Muth, ihr dahin nachzugehen. In Verwünschungen ausbrechend über die arme Schwester, deren Anblick seinen alten Groll aufrüttelte, empfand er plötzlich grausigen Schauder, der über seinen Rücken fuhr, und floh, sich selber nicht recht bewußt, von der Stätte der Wohnung seiner Braut zu, die sich aber streng eingeschlossen hielt, und dem Verlobten bedeuten ließ, daß die böse Zeit jede fernere Annäherung gefährlich mache.

Clemence war indessen durch die öden Gänge und Stuben zu der Mutter gedrungen; Agathe lag erschöpft von dem ersten Krankheitssturm, matt und ohne Bewegung auf den Ziegelplatten ihres Gemachs. Die Tochter bückte sich weinend über die Verlassene, welche die tief eingefallenen Augen müde aufthat, Clemence starr anblickte, und mit einem Seufzer wieder in sich selbst zurücksank. Nicht ein Gruß entschwebte den blauen Lippen, nicht der schwächste Händedruck belohnte das treue verstoßene Kind, nicht eine Thräne der Rührung sammelte sich in dem trüben Auge. Aber Clemence hoffte ja nicht auf Dank, sie war überschwenglich belohnt, weil sie die Todtgeglaubte noch athmend gefunden. Besonnen und behende streute sie Kissen und Polster auf den harten Boden, und bettete mit wunderbar gestärkter Kraft die Mutter auf dieses Lager, holte Wasser herbei, ihre glühende Zunge zu laben, Essig, ihre Pulse zu befeuchten, und wartete und pflegte, so gut sie es vermochte, die Leidende, deren Fieber wiederkehrte, grimmiger als zuvor. Nach einer peinlichen Stunde der Klagen und Einsamkeit kamen mit schleppenden Schritten Leute herbei. Zuerst ein Arzt, den schon vor mehreren Stunden ein fliehender Domestik des Hauses beschieden hatte. Don Cabras, ein Spanier von Geburt, berüchtigt durch seine Pedanterei und seinen Eigensinn, erschien in einer Kleidung, die, von den Aerzten zu Marseille in Pestzeiten allgemein beliebt, schon an und für sich dem Kranken den blaffen schauerlichen Tod verkündete. Eine eng anschließende Lederkappe verhüllte Kopf, Gesicht und Nacken des Doktors, seine Augen schauten durch eingesetzte Gläser, die Oeffnung am Munde war gerade nur für das Athemholen berechnet; zwischen den Zähnen hielt er einen in Wachholderessig getauchten Schwamm. Die Gestalt steckte in einer weiten Kutte von Wachstaffet, dicke Handschuhe, in Essig getaucht, verwahrten die Hände, worinnen er einen langen dünnen Stab führte; er wandelte auf hohen, dicken Holzsohlen.

Also gepanzert, ging er gespenstig in die Mitte des Zimmers, blieb mehrere Schritte von Agathen entfernt, streckte den Stab gegen sie aus, tippte damit auf die Pulse ihrer Hände, die Clemence aufheben mußte, prüfte von ferne Gesicht und Körperbeschaffenheit der Unglücklichen, und sprach hierauf mit eintöniger Stimme: »Das ist die bösartige Pest. Mich sollte wundern, wenn bei dieser Person etwas anschlüge. Geistlicher Trost wird das Beste seyn. Gott allein könnte noch helfen.«

Hatte solch' trostloses Todesurtheil schon das Blut der armen Clemence in Eis verwandelt, so erschreckte sie doch noch viel heftiger der Anblick von einem Troß von Menschen, der sich an die Zimmerthüre drängte, und furchtsam hereinschaute. Die Männer trugen die Livrée des Todes, kamen, um eine Leiche nach dem Kirchhof zu schleppen; hinter ihnen zeigte sich mit verzerrtem Gesichte der alte Dinart, der zur starren Bildsäule wurde, als er die Gattin noch am Leben und die verbannte Tochter vor sich sah, die mit der Wuth einer gereizten Tigerin ihm und den Todtengräbern sich entgegenwarf, und außer sich rief: »Zurück, Ihr Unbarmherzigen! Wollt Ihr die Mutter bei lebendigem Leibe in die Grube werfen? Tödtet mich, ehe Ihr nur eine Hand an diese Frau legt. Sie lebt noch, und Gott lebt noch, und er wird sie erhalten, wenn auch die ganze Welt sie verläßt.« – »Clemence!« murrte Dinart, halb von Erstaunen, halb von Unwillen ergriffen, und die Tochter fiel ihm schnell in's Wort: »Zürnen Sie nicht, mein Vater. Ich werde nicht hier bleiben. Ist die Mutter gerettet, so gehe ich wieder in mein Elend, und stirbt sie, so mögen diese Leute zwei Leichen statt der einzigen wegbringen!«

»Die Unbesonnene kann Recht haben,« versetzte Cabras, gravitätisch nach der Thüre gehend. Vor ihm flohen Dinart und die meisten der Leichenträger. Einer der Beherztesten fragte den Doktor, ihm scheu ausweichend, was hier eigentlich zu thun sey. Cabras erwiederte achselzuckend: »Kommt morgen wieder, und euere Ladung wird bereit seyn.« – Die Todtengräber segneten sich und riefen: »Der heilige Rochus behüte uns! Wenn die Sterblichkeit und Pest so fortschreitet, so thun wir keinen Dienst mehr. Wir haben auch Weib und Kind, und schon die Berührung dieser Leichen tödtet.« – Gleichmüthig entfernte sich der Arzt, den vor dem Hause sein wartender Diener mit einem Strom von Essig überschüttete. Die Leichenvögel zerstiebten wie Nachtgespenster, und nur zwei Kerle blieben auf den Stufen des Hauses zurück. Der eine besudelte die Thür mit einem rothen Kreuze, dem Zeichen eines verpesteten Orts, der Andere hatte sich durch vieles Geld bewegen lassen, vor Dinarts Eigenthum Wache zu halten, mit dem Bedeuten, Niemand hinein- oder herauszulassen, als etwa einen Arzt oder einen Geistlichen. –

6.

Thomas wiegte die kleine Rosa auf seinen Armen, und trug sie auf und nieder in der Stube, worinnen noch kein Licht brannte, obschon es draußen sehr dunkelte. Der Knecht, an Schifferarbeiten und Lasttragen gewöhnt, hatte seine liebe Noth mit dem Kinde, weil es nicht einschlafen wollte und beständig nach der Mutter oder nach der alten Gouthoun verlangte. Mit Mühe hatte sich Thomas auf die Romanze vom Grafen Carabas besonnen, die man ihm als Knabe vorgesungen, und schon zwanzigmal hatte seine ungelenke Zunge sie wiederholt, ohne daß damit die Kleine in Schlummer gelullt worden wäre. Und der Knecht seufzte schwer, wie noch nie bei'm härtesten Tagewerk, und that im Stillen ein Gelöbniß nach dem andern, daß Gouthoun und Clemence nur wiederkommen möchten, ihm die ungewohnte Bürde abzunehmen. – Endlich raschelte es an der Thüre, und ein Weibergewand rauschte in das finstere Gemach. »Seyd Ihr's, Gouthoun? Gott sey Dank, daß Ihr kommt.« – »Ei was, ich bin nicht Gouthoun,« antwortete Bertrandens Stimme. »Warum habt Ihr aber kein Licht, Meister Thomas?« – »Hatte ich denn Zeit, die Lampe anzuzünden? Die unartige Rousoun läßt mir keine Ruhe, und ich weiß jetzt, daß eine Kindswärterin das übelste Loos auf Erden hat.« – »Geduld, lieber Thomas. Ich will gleich die Lampe bringen.«

Nachdem sich Bertrande entfernt, murmelte Thomas in den Bart: »Sieh doch, wie die Jungfer auf einmal so artig mit den Dienstboten wird. Es war sonst nicht ihre Sache, aber ich wette, die Furcht vor der Pest wird noch Steine erweichen. Schlaf nur jetzt einmal, liebe gute Rousoun.« – Das Kind war schläfrig und müde von vielem Schreien und Weinen, aber es wehrte sich gegen den Schlummer, und steigerte durch sein widerwärtiges Benehmen die Ungeduld seines Wärters. Als nun Bertrande wiederkam, die Lampe auf den Tisch setzte, und mitleidig fragte: »Wie kommt Ihr nur zu dem neuen Amte?« so antwortete Thomas nicht ohne Verdruß: »Es sind ja plötzlich alle Hausbewohner davon gelaufen. Unsere Base ging schon heute Morgens fort; seit Mittags ist Herr Foulques in Amtsgeschäften abwesend, und weil Mamsell Clemence gar nicht wiederkam, obgleich Stunde auf Stunde verstrich, hat sich die alte unruhige Margarethe auf die Beine gemacht, sie zu suchen, und mir bis zu ihrer Heimkehr das Kind anvertraut. Gouthoun ist schon lange aus, und ich schwitze Blut und Wasser, einmal, weil ich mit den Kindern nicht recht umzugehen weiß, und endlich, weil vor Kurzem die Nachbarin Claudine mir zum Fenster heraufgerufen hat, daß die alte Sybille ihr sagte, daß meine Liebste, die braune Renata, krank geworden sey. Sie soll zwar nicht die Pest haben, aber, Pest oder nicht, mein Platz wäre an ihrem Bette, weil wir uns Beide so lieb haben, und weil sie genesen würde, wenn sie mich nur einen Augenblick an ihrem Lager sähe.« – »Was gebt Ihr mir, wenn ich Eure Stelle vertrete, bis Margarethe zurück kommt?« – »Ja, das ist so eine Sache. Gouthoun sieht das Kind nicht gerne in Eurer Nähe.« – »Ungerechtes Vorurtheil; jedes Weib hat ein fühlend Herz für die unschuldigen Kleinen. – Indessen, mir kann's Recht seyn. Renata kömmt allein dabei zu Schaden. Guten Abend, Thomas.«

Der arme Bursche war im Gedränge; seine Liebe war ihm ja auch das höchste Gut auf Erden. Ohne sich länger zu bedenken, lief er der hinkenden Bertrande nach, drückte ihr das schlaftrunkene Kind in die Arme, und sagte mit treuherziger Stimme: »Seyd nur nicht böse, liebe Jungfer, und nehmt Euch auf ein paar Augenblicke des kleinen Wesens an. Renata wohnt nicht weit, ich will springen wie ein Wettläufer, und bin gewiß wieder daheim, ehe Margarethe eintrifft.« – Meinetwegen, um Euch einen Gefallen zu thun. Laßt mir dafür den Hausschlüssel.« – »Wenn ich ihn selbst hätte! den einen nahm Herr Foulques, den andern trägt Gouthoun bei sich.« – »Schlimm, wie wollt Ihr aus dem Hause kommen?« – »Ganz einfach, mit Eurer Erlaubniß. Im Flur ist ein altes Fenster, unvergittert; durch dieses Fenster springe ich auf die Straße. Ich binde Euch das Kind auf die Seele. Nur eine Viertelstunde Geduld!«

Thomas führte seinen Plan alsobald aus, und Bertrande trug, ein Ammenlied summend, die wieder unruhig gewordene Rosa nach ihrer Kammer. Mit falscher Freundlichkeit nahm sie dort das Kind auf den Schoos, fütterte es mit eingemachten Früchten, und trieb alle Ammenkünste so geschickt, daß Rosa, die in den Armen des freundlichen Knechtes nicht schlafen wollte, an dem Herzen der Feindin fest einschlummerte. Zur selben Zeit klopfte der Versucher leise und vertraut an das Fenster, und herzklopfend öffnete Bertrande, das Kind auf dem Arme haltend. – »Guten Abend, freundliche Mutter; Sie haben Wort gehalten. Thun Sie noch mehr, öffnen Sie mir die Pforte.« – »Ich kann nicht, mir fehlt der Schlüssel.« – »Der Schlüssel zu meinem Himmel, wehe mir! Grausame, sollen mich ewig starre Mauern von meiner Freundin trennen?« – »Ach, ich staune über Ihren Muth in diesen Zeiten der Gefahr, wo sich die Menschen fliehen.« – »Ich kenne nur eine Gefahr, die für mein wundes Herz. Beten Sie für Ihren armen Freund Horazio, solche Fürbitte thut mir noth. Lassen Sie auch diesen Engel für mich beten.« – »Dieses Kind? Sie schwärmen. Es vermag kaum das Ave zu stammeln, das man ihm vorgesagt. Sie sind unglücklich?« – »Unaussprechlich; Ihr Mitleid würde mich trösten, aber Sie stoßen mich zurück.« – »Mein Herr …« – »Ziehen Sie nicht eben die Hand zurück, die ich zu erfassen begehrte? Die unschuldigste aller Vertraulichkeiten weigern Sie mir.« – »Welcher Argwohn! Sie sind mir unbekannt … dennoch fühl ich mich gedrungen, Sie zu schätzen … hier meine Hand darauf.« – »Welch' ein Glück! Ich bin entzückt; diese Hand … dürfte ich sie vor dem Altare empfangen!« – »Ach, welch' ein Ungestüm!« – »Das höchste Kleinod wäre mein! Familienglück ist das Höchste; wären Sie meine Gattin, dieses Kind das unsere …« – »Pfui doch, ich vergehe vor Schaam.« – »Lassen Sie mich die Wange dieser Kleinen küssen, die Wange, die gewiß Ihr Mund schon hundertmal berührte.« – »Wo denken Sie hin? es schläft.«

– »Desto besser, es wird den fremden Mann nicht fürchten.« – »Die Nachtluft …, das zarte Wesen …« – »An meinem Herzen ist's warm, und im nächsten Augenblick kehrt es wieder zu der lieben Pflegemutter zurück.« – »Wie könnte ich Ihnen widerstehen?« stammelte Bertrande, und bog sich mit dem Kinde aus dem Fenster zu dem harrenden Schmeichler hinab. Mit starker Faust entriß dieser das kostbare Pfand den Händen des schwachen Weibes, rief mit Hohngelächter: »Vielen Dank, leichtgläubige Dirne!« und verschwand mit dem Kinde, welches laut aufschrie.

Ein menschlich Gefühl für das hülflose Geschöpf, verbunden mit aufbrausendem Grimm ob der beispiellosen Täuschung, jagte Bertrande, um den Räuber zu verfolgen. Der Zorn der Ohnmächtigen scheiterte an den Riegeln der Thüre, und der Angstruf des Kindes verhallte schon von ferne in undeutliches Wimmern, als Bertrande durch das Fenster ihr Zetergeschrei ertönen ließ. Kaum achtete die Nachbarschaft darauf. Nur einige Neugierige kamen auf die Straße, kehrten dann schnell um, mit den Worten: »da ist in Foulques Haus gewiß die Pest ausgebrochen!« und versperrten sich in ihren Wohnungen.

Ein einziger Mann – es war Thomas – drang durch die offenstehenden Laden des Flurs zu der heulenden und schluchzenden Bertrande. »Was habt Ihr mit dem Kinde angefangen?« rief er blaß vor Schrecken. Bertrande stotterte schnell besonnen eine Fabel: wie sie eingeschlafen, das Kind auf dem Schooße, wie ein unbekannter Räuber hereingedrungen und es entführt. Thomas verwünschte sich selbst, daß er dem Diebe wegen das Haus offen gelassen, aber Margarethe, die zur selben Frist herbeikam, zerraufte sich das Haar, zerschlug sich die Brust, fluchte ihrem Geschick und beweinte mit blutigen Thränen das Unglück der Mutter, die, in einem Pesthause eingeschlossen, ihr einziges unaussprechlich geliebtes Kind verloren.

Diesen Jammer, diese Klagen hinter sich lassend, rannte der Räuber, das schreiende Kind in seinen Mantel gehüllt, die engen und krummen Gassen der Altstadt hinan, worinnen er vollkommen Bescheid wußte, bis zu einem weit entfernten Häuschen, schlüpfte in dessen finstern Gang, eine enge Stiege hinan, und in ein obgelegenes Gemach, worinnen ein dunkelfarbiger Mensch beschäftigt war, Kleidungsstücke und Habseligkeiten in eine Kiste zu packen. – »Triumph, mein lieber Hamet!« rief der Fremde, das Kind emporhaltend. »Ich habe es, endlich ist es mein!« – »Glück zu, Meister Carlo. Was befiehlst Du nun?« – »Nimm die Kleine, gehe säuberlich mit ihr um, wiege sie ein, und warte dann geduldig meiner. Mit dem ersten Strahl des Tages segeln wir ab. Ich eile hinab zum Hafen, und biete den Herrn der Barke auf, den ich gedungen. Sobald seine Knechte unser Gepäck geholt, folgen wir mit der kleinen Rosa. Ehe wir's uns versehen, ankern wir in Corsika, und dann mag aus Marseille werden, was da will, Dein Kopf steht mir für diesen kleinen Schatz; Du weißt, wie ich ihn liebe, wie mein Herz daran hängt, was ich um seinetwillen wagte. Mehr bedarf es nicht, um Deine Treue anzueifern.« – Er warf den Mantel von sich und das bordirte Kleid, schlüpfte in ein graues unscheinbares Kamisol, drückte einen Schifferhut in's Gesicht, küßte die staunende Rosa, welche, sehr ermüdet, wieder in Schlummer sank, auf Stirne, Wange und Mund, und entfernte sich so eilig, als er gekommen war. Hamet hätschelte das Mädchen, überhäufte es mit arabischen und fränkischen Schmeichelworten, und das Kind ergab sich in die neue Lage, und fragte nur, mit dem Sandmann kämpfend: »Wann kommt denn die Mutter wieder, und wann meine liebe alte Gouthoun?« worauf der maurische Knecht, die weißen Zähne bleckend in singendem Ton erwiederte: Kennst Du mich nicht, Du glatter Aal? Ich bin ja selbst Deine alte Amme, und die Mutter kommt gewißlich bald, bei Dir zu schlafen.«

Darauf verfiel das Kind in den tiefsten Schlaf, und Hamet bettete es sorglich in den Mantel seines Herrn, und machte sich geräuschlos wieder an seine Arbeit, als ein dumpfes Gepolter im Erdgeschosse laut wurde, vermischt mit Weiberklagen und Kindergeheul. Hamet eilte erschrocken zur Treppe, wo ihm die Hausfrau mit fliegenden Haaren entgegenkam, und verzweiflungsvoll zeterte: »Die Seuche hat meinen armen Mann befallen! Hört ihr's, ihr fremden Spitzbuben? Ich wußte ja, daß wir ein Unglück haben würden, weil er Euch ein Obdach gab. Ihr habt die Pest mitgebracht, in Euern Kleidern steckt sie: Gott verdamme Euch!« – »Du bist von Sinnen, Weib. Gott ist groß und Alles kommt von ihm. Ich habe selbst in meinem Vaterlande schon die Pest gehabt, und bin nicht daran gestorben,« – »Weil ein Teufel den andern nicht holt, ein böses Auge das andere nicht blind macht. Aber Ihr sollt hängen, Du und Dein Spießgeselle, von denen Niemand weiß, wie sie hieher gekommen, und ob sie ihre Zeit im Lazareth gehalten.« – »Hänge Dich selbst, alte Hexe!«

Verdoppeltes Geheul, und das dumpfe krankhafte Aechzen des schnell erkrankten Hausvaters lockte die Furie wieder in ihre Wohnung zurück. Hamet folgte, und sah bestürzt, wie der Tod schier mit einem Schlage sein Opfer von der Erde tilgte. Das Leiden des armen Schuhmachers, eines Familienvaters von starker Familie, währte kaum eine Viertelstunde. Kein Zeichen der Pest war vorhanden, ein Stickfluß schien des Mannes Ende herbeigeführt zu haben. Dennoch flohen alle Kinder und Verwandte den Todten, und antworteten nur mit Gezeter einer hereindringenden Patrouille, an deren Spitze ein Stadtbeamter ging. Dieser Mann war beinahe verrückt vor Pflichteifer und Entsetzen. »Die Pest!« schrie er aus vollem Halse. »Todtengräber, herein! schleppt die Leiche weg, führt alle Anwesende in das Lazareth, vernagelt, vermauert die Thüren!« – »Schonung, Barmherzigkeit!« jammerte die Familie, und warf sich vor dem Beamten auf die Kniee. Dieser wiederholte zornig den Befehl. Die harten Fäuste seiner Begleiter packten die Unglücklichen: Hamet, der die dringendste Gefahr für sich und seinen Herrn fürchtete, gedachte mit Schrecken des Kindes, holte es schnell wie der Blitz, und versuchte, sowohl dem Einmauern als dem Spital zu entgehen, sich durch den Troß der Schergen und Handlanger zu schlagen. »Wo hinaus!« schrieen diese betrunkenen Wächter, »wer bist Du, was trägst Du?« – »Das ist der Mensch, der die Pest in's Haus brachte!« raste das Weib. »Seine Kleider sind vergiftet, haltet ihn auf, daß er nicht andere Christen anstecke!« – Hamet, alle seine Stärke anwendend, warf sich in den tobenden Schwarm, schlug sich mit seiner Beute in's Freie, und lief was er konnte. Einige Wächter setzten ihm nach, schleuderten ihre Stöcke zwischen seine Beine; er fiel; der Nächste an ihm war der älteste Sohn seines Hauswirthes, ein blankes Messer in der Faust. »Stirb Hund, der meinen Vater umbrachte!« schnaubte der junge Mordlustige, und stieß dem Mauren die Waffe so gewaltig in die Seite, daß er, ohne einen Laut von sich zu geben, sich convulsivisch streckte und starb. Bei dem Schimmer der Laternen der herzukommenden Wächter wickelte man das Kind aus den Gewändern des Todten. Niemand kannte das arme Wesen, Niemand wußte, wer dessen Mutter und die alte Gouthoun war, nach denen es schrie. »Verschwendet nicht die Zeit mit dem heulenden Wurme!« donnerte der Stadtcommissär, »in's Spital mit ihm, mit all' den Uebrigen; in's Gefängniß mit dem Mörder. Gott wird die Seinigen schon herausfinden!«

7.

Carlo streifte mit unruhigem Herzen, Verwünschungen auf der Zunge, am Hafen auf und nieder. Bis zum Fort St. Jean und dann wieder zurück nach dem Stadthause lief er unermüdet, rufend, pfeifend, in die Hände klatschend. Aber so oft er auch den Namen seines Schiffers rief, so antwortete ihm doch nur der ferne Ruf einer Schildwache oder das Geheul der Hunde auf den Schiffen. Der Rand des Hafenbeckens war leer von Menschen, und ein Matrose, der aus irgend einem verbotenen Schlupfwinkel dahertaumelte, die einzige Seele, die dem nächtlichen Abenteurer begegnete. »Wo liegt Bartholdis Schiff, guter Freund?« – »Der Teufel weiß, wo es jetzo ankert. Müßt ihm fein nachlaufen, so Ihr's erwischen wollt. Diesen Abend fuhr es ab, mit Passagieren befrachtet, die nach Livorno gehen.« – »Nicht möglich!« – »Hol' Euch der Drache, wenn Ihr mir nicht glauben wollt, Hallunke!«

Fluchend und brummend stolperte der Schiffsknecht fort, und ließ den getäuschten Carlo in peinlichster Verlegenheit zurück. Auf einem alten Boote sitzend, das zum Trocknen auf dem Quai lag, sann der Fremde ängstlich nach, wie am schnellsten fortzukommen sey. Zu Lande keine Möglichkeit; die Fahrt zu Wasser war die einzige, welche übrig blieb, aber kein Schiff mehr da, bereit, nach Italien abzusegeln. Und dennoch mußte die Reise schnell und ohne Aufsehen unternommen werden, und länger in dem geöffneten Pestgrabe zu verweilen, schauderte Carlo, da er nun den Zweck seiner Anwesenheit erreicht. – Unfähig, im Augenblick, ohne vorhandene Mittel, einen Entschluß zu fassen, sprang er unmuthig von seinem Sitze auf, und machte sich auf den schnellsten Rückweg nach seiner abgelegenen Wohnung.

Niemand malt sein Staunen, als er vor der Pforte ankam, und einige Handwerksleute daselbst antraf, die bei dem Scheine eines Pechkranzes beschäftigt waren, die Hausthüre zu vermauern, die Fensterladen zu vernageln. Die Hütte war schon mit den blutrothen Kreuzen bezeichnet, und die äußerste Muthlosigkeit bemächtigte sich Carlo's weil ohnehin sein böses Gewissen ihm verbot, frank und frei nach den Dingen zu forschen, die sich hier zugetragen. Wie er nun so dastand, starr und angstvoll schauend, während sein Herz in Todesangst schlug, kehrte sich einer der Maurer zu ihm, und sprach: »Was faullenzest Du, was gaffst Du? hilf uns, Du breitschultriger Nachtwandler!« – »Laßt mich in Ruhe, ich bin nicht Eures Handwerks.« – »So gehe Deine Straße, und laure nicht hier; Du siehst aus, wie ein Beutelschneider, dem die Krankheit zum täglichen Brod verhelfen soll.«

Der Mensch wurde durch seine Gehülfen unterbrochen, die mir dem Ausdruck des Schreckens nach der Seitengasse deuteten, und riefen: »Seht Ihr die Fackeln? Hört Ihr die Eisenstangen über's Pflaster rasseln? Das sind die Raben, die Raben kommen!« Alsbald verließen sie Hammer, Kelle und Leitern, und versteckten sich ängstlich in einen Winkel. Carlo, über diese plötzliche Flucht bestürzt, erwartete unschlüssig den Trupp, der aus dem Gäßchen hervorbrach, und sah sich ohne Verzug von den furchtbaren Trabanten umringt, die von den Schöppen zum Begräbnißdienst aufgeboten worden, nachdem die Knechte des Lazareths dem Magistrat die Pflicht verweigert hatten. Wilde verwegene Leute aus der Hefe des Volkes, halb nackt, ihre derben Muskeln kaum verhüllend unter den Lumpen des Elends, vor der Hand bereit zum eckelhaftesten Dienst, aber auch zum Verbrechen, bildeten den Troß, den man schon zu Marseille mit dem Namen der Raben bezeichnete. Sie schritten einher wie eine Heuschreckenschaar, Fackeln in den Fäusten, mit Stricken umgürtet, und schleppten nach sich die langen eisernen Hacken, womit die Leichen angefaßt wurden, weil man schon jede Berührung derselben fürchtete. Der Schöppe Estelle und einige Stadtdiener führten diese gräßlichen Menschen an, bloße Degen in den Händen; nur der blanke drohende Stahl vermochte die Harpien zum Werke anzutreiben, ihr Ausreißen zu verhindern. Jeder, der ohne Geschäft und Beruf zur Nachtzeit auf der Straße ging, wurde von ihnen aufgegriffen, mußte sich zur Mithülfe an die Rotte schließen. So erging es auch dem überraschten Carlo. Auf dem Fleck wurde er geworben, mit Strick und Hacken belehnt, und folgte erbittert und schaudernd der Rabenheerde, um einer Untersuchung und größerem Unheil auszuweichen.

Sie machten eine fürchterliche Runde durch die Stadt, drangen in jedes Haus, wo Licht und Bewegung zu schauen war, zerrten die an der Pest Gestorbenen vom üppigen Bett und faulen Strohlager. Carlo mußte zitternd Hand anlegen. »Stelle Dich nicht so ungeschickt, Bursche,« krächzte ihm einer der wildesten Raben zu. »Kannst Du keine Schlinge machen und sie um die Beine dieses Todten werfen? So, knüpfe den Knoten, knüpfe ihn fest. Klemme den Hacken ein, zieh' mit beiden Händen an … Marsch!« – Und Carlo zog, sich wegwendend, die Hände auf dem Rücken, die Leiche nach sich, und schleifte sie die Treppe hinunter, daß auf jeder Stufe Kopf und Schultern polternd auffielen, und ihm folgte das Wehgeschrei der Angehörigen, daß ihm das Herz erbebte. Seine entmenschten Begleiter lachten roh des allgemeinen Elends, spotteten des Reichen, den der Tod geschlagen, priesen mit unsauberen Flüchen den Armen glücklich, der in solcher Noth von der Welt geschieden. »Heult nicht!« höhnten die Raben die winselnden Kinder, die schluchzenden Verwandten. »Morgen kommt die Reihe an euch, und wenn wir sauber aufgeräumt, holt uns selbst der Satan durch alle Lüfte!« – Der Schöppe durfte solchem Spott nicht wehren, wollte er nicht zur Stunde verlassen seyn; mit blutendem Herzen theilte er sein Geld unter die Dürftigen aus, sprach er Worte ungenügenden Trostes zu den Gebildeten. Die Beichtväter, welche hie und da an Sterbelagern vom Zorne Gottes predigten, und die gräßliche Seuche als eine Strafe der Sünder schilderten, wurden von der verzweiflungsvollen Trauer der Zurückbleibenden grimmig verlacht. »Die tugendhaftesten Menschen sterben, selbst Priester fallen unter der Sense des Todes!« schrie man den Bußpredigern in's Gesicht. »Wo ist da Gerechtigkeit? Gott weiß nichts von uns, aber die Welt geht zu Grunde!« – Andere bettelten fußfällig bei den Schöppen, ihre Häuser nicht zu sperren, sie nicht nach dem Lazarethe bringen zu lassen. – »Beruhigt euch, ihr Thoren!« grinsten die Raben. »Es ist nicht mehr nöthig, euere Hütten zu verschließen, denn schon wüthet die Pest überall. Das Spital ist voll, hat nicht mehr Raum für euch; in den Leichengruben allein ist noch Platz, wenn ihr zu sterben euch beeilt.« – »Wir hungern, edler Consul! Die Nachbarn versagen uns Hülfe und Nahrung: nehmt Euch unseres Elendes an?« – »Betet, ihr armen Leute; der Herr allein vermag in solchem Trübsal zu helfen.«

Die Körper, die aus den Häusern geschleppt worden, lagen auf den Kreuzstraßen in unordentlichen Haufen beisammen, und wurden langsam auf Schiebekarren fortgebracht. Die allzureiche Leichenerndte machte nöthig, daß die Raben sich in kleineren Banden zerstreuten, und die Wohnungen durchsuchten. Ueberall, wo die Aufsicht des Schöppen fehlte, ging zügellose Grausamkeit in ihrem Gefolge. Carlo mußte sehen, daß Kranke, die noch athmeten, entkräftete Greise, zu den Todten geworfen wurden. Glücklich Diejenigen, die, auf dem Pflaster geschleift, ihren Geist aufgaben; dauerte das Zucken des Lebens auch dann noch fort, so tödteten die ungeduldigen Raben den hartnäckigen Kranken mit einem Schlage des Eisenhackens. Wo Reichthum zu verspüren war, mußte erst Gold fließen, ehe nur die rohen Knechte Hand an's Werk legten; wo irgend etwas von Werth in ihrem Bereiche war, fiel es in ihre räuberischen Klauen. Es war, als ob die Stadt einer nächtlichen Plünderung preis gegeben wäre, und die kalte, schmutzige Selbstsucht der meisten Bewohner arbeitete den abscheulichen Raben in die Hände. Bei weitem nicht überall stand treue Liebe an dem Bette des Sterbenden, kämpfte heilige Trauer mit den Handlangern der Gewalt um die Reste des verehrten Todten. Die Kinder verstießen die Leiche der Aeltern, die Gattin floh den sterbenden Gemahl, Haß, Furcht und Habsucht verödeten die Gemächer des Siechthums, gaben das Opfer den Henkern preis, schwiegen zu den Mißhandlungen derselben, lieferten sogar nicht selten, als an der Pest verschieden, Leiber aus, die der Meuchelmord hingerichtet. Kein Nachbar kümmerte sich um den andern, keiner ehrte den Schmerz des Freundes, so schnell zerrissen alle Bande der Sittlichkeit und Gesellschaft. Wilde Trinkgelage wurden neben Pesthäusern gefeiert, Tambourin und Pfeifen übertönten die Seufzer der Sterbenden. In den Wohnungen der Courtisanen ging es locker her, wie sonst; doppelt ausschweifend und toll geberdeten sich die Verworfenen, die Freunde der Verworfenheit. In eines dieser Häuser brach die Schaar der Raben; Lichter glänzten durch die Vorhänge, an den Fenstern flogen Schatten hin und her. Die Raben witterten dort den Tod, und täuschten sich: sie fanden Leute, die im wilden Bacchanal das Leben zu vergeuden eilten, das sie der Seuche verfallen wähnten. Des Schöppen Zorn entbrannte, streng befahl er die Tafel umzustürzen, den Wein zu verschütten, und mit bitterm Unmuth riß er Einen aus der trunkenen Gäste Reihe, ihm in's Ohr flüsternd: »Maximin, junger frevelhafter Mann, was beginnen Sie an diesem Orte? Die Geißel peitscht ihre Mitbürger blutig, Ihre Mutter stirbt, und Sie berauschen sich in eckelhafter Sinnlichkeit, sich selbst und Ihrer Braut zur Schmach?« – Maximin schwieg verstockt, und kehrte dem wackern Estelle den Rücken. – Der Schöppe fuhr strenger fort: »Gehen Sie, ich befehle es Ihnen. Wo ist Ihr Vater?« – »Bin ich sein Hüter?« antwortete Maximin mit Cains Worten. Estelle schauderte und ließ ab von dem Verblendeten, dessen Frevelmuth sogar die gräulichen Raben stutzen machte, – den mit Verachtung anzuschauen nur Einer im Trosse nicht wagte: Carlo verbarg sein Angesicht vor Maximins Blicken.

Als die Schaar wieder in die Carmelitergasse einbog, fand sie, an einem Brunnen ausgestreckt, verlassen von jeglicher Hülfe, einen wohlbeleibten Mann in feinen Kleidern. Der Tag bleichte und machte die Gegenstände zweifelhaft. Mit halb abgebrannter Fackel leuchtete der Schöppe in das Gesicht des dahingestreckten Mannes, und rief bestürzt: »Das ist Herr Dinart, um Gotteswillen! Lebt er, oder ist er schon dahin?« – Dinart athmete, sein Puls schlug fieberhaft; aber alle seine Kräfte waren dergestalt gesunken, daß sogar die Raben Mitleid empfanden, und den Sprachlosen mit besonderer Behutsamkeit nach dem alten Spitale trugen, dem einzigen Zufluchtsorte, der dem Kranken in der weiten Handelsstadt offen stand. Carlo sollte dabei helfen, lehnte aber beharrlich diesen Dienst ab, obgleich er ihm Gelegenheit zur Flucht hätte geben können, und zog vor, dem wilden und müden Haufen nach dem Corso zu folgen, wo ein Frühstück ausgetheilt werden sollte, und er von Hamet etwas zu erfahren hoffte. – Auf dem Corso stieß eine neue Verstärkung zu dem Gelichter der Raben. Der Kommandant des Arsenals sendete, nach langem Zögern den dringenden Bitten des Magistrats willfahrend, einen Trupp von Galeerensclaven, den Pestdienst zu übernehmen; lauter verwegene Gesichter, rüstig und zu dem Schwersten aufgelegt. Sie traten unter den völligen Befehl der Consuln, noch mit der sonderbaren Bedingung, daß der Magistrat, wenn einige davon zu Grunde gehen sollten, eine gleiche Anzahl für des Königs Galeeren herbeischaffen müsse. – Sofort wurden ihnen auf dem Corso die schweren Ketten abgeschlagen, und nur ein leichter Ring am Fuße gelassen, worauf sie, sowohl Türkensclaven als zur Ruderbank verdammte Verbrecher, sich mit barbarischer Fröhlichkeit unter die Raben mischten. Einer der Schorköpfe ging gerade auf Carlo zu, lüftete ihm den in die Augen gedrückten Hut, und blickte ihm starr in's Auge.

»Raoul!« rief Carlo erschrocken. – »Guten Tag, Freund Malatesta,« antwortete der Sklave grinsend. – »Wenn Dir jemals im Leben etwas theuer gewesen, so verrathe mich nur jetzt nicht!« bat flüsternd der Genueser, der sich entdeckt sah; und Raoul versetzte kalt: »Laß hören, was Du mir bietest, und ob es der Mühe werth ist!«

8.

Victor, von wichtigen Geschäften aufgehalten, die ihm sein Vater mit dem größten Ernste zu endigen befohlen, weil er in seiner Zärtlichkeit das Haupt des Sohnes zu schützen begehrte, kam nach ziemlich langer Abwesenheit auf der Straße von Avignon und Aix nach Marseille zurück. Auch in den Mauern des Parlamentssitzes wüthete schon die Seuche. Der Reisende hatte die Stadt umgangen, und förderte seinen Lauf, auf einem muntern Maulthiere reitend, so viel er konnte. Der Cordon war aufgelöst, weil er der Parlamentsstadt keinen Nutzen mehr brachte; aber das platte Land der Provence, das Gebiet von Marseille, waren angesteckt von der Landplage, gleich den Städten. Victor bemerkte viele Hütten, welche leer und ausgestorben standen; viele, woraus Gesichter des Jammers trostlos in die schwarze Zukunft starrten. Er kam vorüber an den weit entlegenen Marktplätzen, die Marseille mit dem nothdürftigsten Lebensunterhalt versahen, – wo Käufer und Verkäufer, beide Parteien hundert Schritte von einander entfernt, hinter festen Schlagbäumen zusammengedrängt, vermittelst Sprachröhren einander zuriefen, was sie brachten, was sie verlangten, welche Preise sie forderten, welche sie gaben. Die Körbe und Lasten wurden alsdann mit langen Stangen in die Mitte des leeren Raumes geschoben, mit Eisenhacken vom Käufer an sich gezogen; auf eisernen Schaufeln reckte man das Geld für die Waare hin, und der Empfänger, nachdem er's mit scharfem Auge von ferne überzählt, stürzte es in den Eimer voll Essig, um es sodann gereinigt hervorzuziehen. Trauriger Handel, kümmerlicher Verkehr, nach dessen Vollzug beide Theile den Weg nach ihren Häusern flüchtig einschlugen, als säße ihnen der Pfeil im Nacken. Sie schieden, ohne zu wissen, ob am nächsten Morgen Bedürfniß und Habsucht sie wieder auf diesem Flecke vereinigen, oder ob das Grab sie schon verschlungen haben würde. »Wo reitet Ihr hin? Was wollt Ihr in der Stadt des Todes?« fragten Hunderte den jungen Reiter, und konnten nicht begreifen, wie einer, den das Schicksal bisher gnädig von der Gefahr entfernt, freiwillig dahin zurückkehren mochte. Victor hatte jedoch von Jugend auf sein Herz mit Muth gepanzert, und so wie er bereits als Knabe stets der Erste gewesen, wenn es galt, die Kletterstange zu erklimmen, oder von der Spitze des schräg in's Meer gesenkten Mastbaums den gefährlichen Preis zu holen, so hatte er auch später als kunstgeübter Steuermann dem Verderben stets kalt in's Auge geschaut, ob ringend mit empörten Wellen, ob anlaufend gegen das Raubschiff, steuernd mit der Linken, Pistol oder Säbel in der Rechten. Auf seinem Herzen lag schwer die Noth der Geburtsstadt, die Gefahr des Vaters, von dem er seit langen Wochen nichts vernommen, das Schicksal seiner Base, des einzigen Weibes, das er liebte, tiefer und gewaltiger, als er selber ahnte; – sein eigen Leben war ihm nichts; für seinen Leib war er so wenig besorgt, als ob er gegen Tod und Pestilenz gesichert wäre von Ewigkeit.

Die feurige Morgensonne rief einen drückend heißen Tag herbei, als Victor durch das Gebiet von Marseille ritt. Kein Luftzug vom Meere milderte den brennenden Strahl; schon seit mehreren Tagen hatte der Mistral der grimmigsten Hitze Platz gemacht. Vor einigen Bauernhäusern am Wege saßen zerlumpte Männer unter schlechtem Vordache und bettelten die Reisenden an, so die Straße zogen. Mit der größten Unverschämtheit forderten sie, was ihnen gut dünkte, und drohten im Weigerungsfall selbst heranzukommen, und die Wanderer durch ihre Berührung anzustecken. Schaudernd gehorchten die Reisenden dem Befehl; auch Victor opferte den Gaunern einige Silberstücke, die aber nicht hinreichend befunden worden, und wofür, zum schuldigen Danke, dem Reiter eine Kugel nachsauste. Der Schuß traf nicht, und fluchend sprengte Victor voran, einem Trupp von Menschen entgegen, die so eben einem Bauer Pferde und Wagen abnahmen. Es waren Raben aus Marseille, die einen Ausfall machten, Fourage, Vieh und Fuhrwerk aufzubringen, deren man in der Stadt bedurfte. Der Bauer schrie und weinte; vergebens. Victor bot in edler Aufwallung sein Maulthier für das Pferd des Landmanns; man nahm ihm das Thier ab, ohne dem Bauer sein Roß wieder zurück zu geben. Er drohte, die Galeerenknechte lachten ihn aus, und der Uebermacht weichend, mußte er zu Fuße weiter gehen. – Unfern stand ein Pachthof; die Diebe kamen heraus mit schweren Packen beladen. Das Geschrei der beraubten Eigenthümer, die entweder krank oder von den Banditen darniedergestreckt auf der Schwelle lagen, folgte den Missethätern, die jedoch ihren Weg ungehindert fortsetzten, weil es keinen Rächer, kein Gesetz mehr gab in dieser Zeit unseliger Wirrniß. Solche Gräuel hatte Victor nicht geahnt, und was er von einem Manne vernahm, der in sonderbarer Vermummung auf einem Steine am Wege saß, war wohl geeignet, Victor's Erstaunen und Besorgniß zu vermehren. Der Vermummte war ein junger Arzt aus Montpellier, der, um der Barmherzigkeit und seiner Kunst willen nach Marseille gekommen, seine Dienste vorzugsweise den armen Kranken auf dem Lande widmete. Zum Dank für seine Nächstenliebe hatten ihn die Landleute, wo er sich im Pestkleide zeigte, mißhandelt, ihm Nahrung und Schlafställe versagt, und an demselben Morgen war sein Pferd von einigen hungrigen Bösewichtern ihm geraubt, getödtet und roh verzehrt worden. Der Arzt wußte nicht genug das steigende Elend in der Stadt zu schildern, und Victor, von Der bösen Kunde ungeduldig aufgeregt, flog mehr, als er ging, die Vista hinab, den eilfertigen Schritt an den öden Bastiden vorüber nach der St. Lazarusvorstadt lenkend. – Ach, wie verändert erschien ihm die Heimath. Nicht zur Hälfte hatte die Schilderung des Doctors von Montpellier die Wirklichkeit erreicht. Keine Wache an den Thoren, die Zollhäuser leer, alle Läden und Werkstätten geschlossen, kein Volk auf den Straßen, als nur das Volk des Todes. Die grausamste Selbstsucht hatte ihren Gipfel erreicht, ehe noch die Seuche zu ihrem Höhepunkt gelangt war, aus den meisten Häusern waren die Kranken gestoßen worden, und weil das Spital längst überfüllt, weil der Orkan ein zweites, das man von leichter Leinwand errichten wollte, niedergerissen, schmachteten die Verpesteten auf offener Straße, verzehrt von dem glühenden Sonnenbrand, durchschaudert von Nachtfrost. Nicht einmal auf den Bänken vor den Häusern, noch unter den Schirmdächern derselben durfte das Elend verweilen; die raffinirte Härte der Eigenthümer besudelte alltäglich diese Stellen mit Unrath, um die Kranken davon abzuhalten. So lagen die Unglücklichen längs den Rinnsteinen auf Lumpen, oder dem rauhen Pflaster, entblößten in der Fieberhitze ihre Pestbeulen, tauchten ihre glühenden Hände, ihre brennenden Lippen in den Unrath, welcher durch die Gassen floß, erfüllten die Luft mit ihrem Geheul, wimmerten nach einem Trunk Wasser, den nur selten eine mitleidige Hand ihnen reichte. Neben diesen langen Reihen des bittersten Jammers wandelten nur einzelne Gesunde, hohläugig vor Hunger, mit scheuem Fuße vorbei, sodann Aerzte, die nicht zu helfen wußten, Galeerenknechte, die selbst mit Widerwillen und Abscheu ihre Opfer aufluden, und auf Karren wegführten, Priester, die in ihrem Berufe dahinstarben wie Mücken. Man hatte gelesen, daß während der berühmten Pest von Athen Feuer in der Stadt angezündet worden waren, um die Luft zu reinigen: flugs hatte man das Gleiche gethan. An den Kreuzstraßen loderten mächtige Flammen empor, die Kranken erstickend durch ihren Qualm, die herbe Gluth des Sommers verdoppelnd. Ueber all' diesem Dampf und Brodem, hoch über das Geheul des Siechthums, über die Lästerungen der Bettler hinaus, die, wenn auch mit Beulen geschlagen, meistens gesund und frech die Plage ausstanden, ragten schweigend die Thürme der unglückseligen Stadt; ihre Glocken schlugen nicht mehr, mancher Uhrenzeiger stand stille, denn auch auf den Glockenthürmen hatte die Pest die Wächter getödtet, und deren Gäste, die sich zu ihnen flüchteten; gleichwie sie auf den Schiffen im Hafen diejenigen schlug, die auf den Fluthen ihr Heil suchten. Nirgends war Sicherheit: nicht im Arsenal, wo die Arbeiten stockten, nicht auf den Forts, wo keine Trommel mehr klang; Tod und Schweigen ringsum, selbst im Bereiche des Dom's, von dessen Höhen der Bischof in fanatischer Angst die morschen Blitze des Banns gegen die Pest schleuderte, die vor dem Anathem nicht wich, wie sie nicht vor den Bittgängern geflohen war.

Mit gewaltsamer Anstrengung, zitternd vor unglücklicher Vorbedeutung, gelangte Victor in die Gasse, wo sein väterliches Haus stand. Kein bekanntes Wesen begegnete ihm; einsam stand er vor der verschlossenen Pforte, und klopfte wiederholt, bis endlich oben eins der verriegelten Fenster aufging. Bertrande sah heraus, wider ihre Gewohnheit den Kopf mit farbigen Bändern geschmückt, goldene Ketten um den Hals, blitzende Steine in den Ohrgehängen. »Ach mein süßer Jesus!« rief sie, und machte das Zeichen des Kreuzes: »Bist Du es wirklich, mein Bruder? Was willst Du denn?« – »Was ich will? blödsinniges Geschöpf, öffne mir das Haus.« – »Wo kommst Du her?« – »Von Avignon und Aix; bin müde, laß mich ein.« – »Ach heilige Mutter, in Aix ist die Pest; Du könntest sie mitbringen, das Haus anstecken.« – »Thörin! ist meine Wange nicht roth, mein Auge nicht klar? Endige den unzeitigen Scherz und öffne.« – »Die Haut ist näher als das Hemd, Bruder Victor. Ich weiß nicht, ob ich darf.« – »Gott verdamme die einfältigen Weiber! Der Schatten eines Mannes ist mehr werth, als hundert thörichte Dirnen. Thomas soll im Augenblick aufmachen.« – »Ach Victor, Thomas ist gestorben.« – »Schade um den guten Burschen; so Du aber nicht auf der Stelle thust, was ich verlange, so wird der Vater Deinen störrischen Kopf zurechtsetzen.« – »Ach Victor, der gute Vater ist auch todt.« – »Herr Gott im Himmel!«

Victors Kniee brachen, bebend mußte er sich an der Pfortensäule halten. Dann warf er einen grimmigen Blick nach dem Fenster empor, und rief: »Unnatürliche Tochter! Unser Vater starb, und Du gehst nicht in Trauer, schmückst Dich lächerlich und abgeschmackt wie eine Buhlerin!« – »Schimpfe nicht, Victor. Gestern war mein Hochzeitstag, und einer jungen reichen Frau stehen Blumen besser an, als schwarze Schleier.« – »Dein Hochzeitstag? Ungeheuer, hast Du alle Schaam verleugnet?« – »Ich habe Fleisch und Blut, und ein Herz wie andere Weiber. Die Welt geht zu Grunde, ich wollte noch zuvor das Glück genießen, das Vater und Bruder mir neidisch verweigerten. Darum gab ich Herrn Roqualin meine Hand.« – »Ich werde zu Stein. Dem bankerotten Krämer?« – »Schimpfe nicht, Victor. Eine reiche Erbin wie ich deckt alle seine Schulden, wenn Du auch kömmst, mein Erbtheil zu verkürzen.«

Roqualin, die Nachtmütze auf dem Kopfe, erschien hinter Bertrande, und mischte sich barsch und trotzig in das Gespräch: Habt Respekt vor mir und meiner Frau, Herr Schwager,« polterte er: »die Schöppen werden unsere Erbangelegenheiten schon mit der Zeit in Ordnung bringen, und Ihr mögt, sobald ein Arzt Euch untersuchte, und Euer Leib und Kleid gereinigt wurde, immerhin das Erdgeschoß in diesem Hause beziehen, wenn gleich ohne fernere Gemeinschaft mit uns. Hütet jedoch Eure Zunge; ich bin ein ordentlicher Bürger, und zahle, was ich schulde, und wüßte gar nicht, warum ich Madame Renard nicht hätte heirathen sollen,« – »Madame Renard?« – »Nun ja, mit Respekt zu melden. Eure Schwester wurde vor acht Tagen eine Wittwe, nachdem sie ihren ersten Mann, den Supercargo, am dritten Tag ihrer Ehe schon verloren.« – »Ja, lieber Bruder,« heulte Bertrande mit widerlichem Schluchzen; »der gute Renard, den ich unter Zwanzigen gewählt, die sich um mein Herz bewarben, ertrank im Hafen, kaum dreißig Jahre alt.« – »O wärest Du ihm gefolgt bis auf des Meeres Grund,« zürnte Victor, mit der Faust drohend, »Abschaum Deines Geschlechts! Die Tugend muß sterben, und Krüppel an Leib und Seele tanzen auf ihrem Grabe den Brautreigen! Welch' ein Babylon ist diese Stadt geworden, wo man solche Ehen heiligen kann!« – »Packe Dich, Abscheulicher!« geiferte Bertrande, kaum vor Wuth verständlich, »Läst're nicht, was der Pfarrer segnete, und die Schöppen gut heißen. Viele Hunderte wurden copulirt wie ich, weil keine Zeit zu verlieren ist, und derjenige vielleicht schon morgen stirbt, der sich heute gesund in's Bett legt. Ich bin ehrlich verheirathet. Du Verläumder, lebe nicht in wilder Ehe, wie Deine saubere Base Clemence, werde ehrliche Kinder haben, und nicht Bastarde, wie die verzärtelte Rosa; darum hat auch der Drache schon alle geholt: die lockere Clemence, den Schandfleck Rousoun und die liederliche Hehlerin Gouthoun obendrein. Dieß zum Bescheid, und laufe, so weit Du magst; wer die Saite zu stramm anzieht, zerreißt sie.«

Das Hohngelächter, womit Bertrande und Roqualin das Fenster zuschlugen, jagte den Bruder nicht in die Flucht, wohl aber that es der entsetzliche Schrecken, der sich seiner bemächtigte. Ungewissen Schritts, mit vorwärtshängendem Haupte, taumelte er fort, und fiel halb bewußtlos in die Arme eines daherkommenden Mannes, in welchem er einen Gefährten seiner Jugendzeit erkannte. – »Ich habe Alles verloren, lieber Guy,« sagte er unendlich weich, und klammerte sich an den Freund: »Thu' mir nur eines zu Gefallen; zeige mir das Grab meines Vaters, wenn Du es weißt.« Guy seufzte tief, und versetzte mit Thränen kämpfend: »Er war ein braver Mann. Laß uns zusammen gehen, hinter St. Paul ist eine weite Grube gemacht worden, und darinnen liegen neben den Resten Deines Vaters auch die Gebeine meiner Eltern. Wir wollen dort ein Vaterunser beten.«

Sie gingen zusammen fort und kamen bald in die Nähe des bezeichneten Platzes. Bei dessen Eingang stürzte ihnen ein Haufe Volks mit verstörten Gesichtern entgegen, und aus dem Munde dieser Menschen tönte der gräßliche Ruf: »Weh uns! Das jüngste Gericht! Die Todten stehen auf!«

Entsetzlicher Anblick! Die ganze Oberfläche der weiten nachlässig zugeworfenen Grube war geborsten, und drohte, ihren gräßlichen Inhalt wieder an das Tageslicht zu speien. Es war ein Schauspiel, wie es im Thale Josaphat verheißen wird. Mit abergläubischem Schrecken rannte der Pöbel von dannen, und der Schöppe Moustier, der mit einem Trupp Raben herbeikam, bedurfte aller Geistesgegenwart und seines vollen Muths, um diese schaudernden Taglöhner des Todes anzueifern, dem Grabe seine Beute wieder aufzudringen. Selbst schwang er die Hacke, eigenhändig führte er die Schaufel, und seinem Beispiele folgten die Knechte und bezwangen die rebellische Gruft, während auf andern Punkten der Stadt das Volk, wüthend ob der Widersetzlichkeit der Priester, die Pforten der Tempel sprengte, ihre Gewölbe aufriß, und dieselben gerüttelt voll mit Leichen füllte, die bisher unbegraben auf der Straße verwesten.

Victor sah nicht mehr, wie die Gebeine seines Vaters gewaltsam in den Schooß der Erde zurückgedrängt wurden, Guy riß ihn mit sich fort, und nach dem Corso eilten Beide in lautloser Verzweiflung.

9.

In der Nähe des Stadthauses saßen auf dem vorspringenden Gestade mehrere Männer, ruhten aus vom harten Tagewerk, und vermehrten behaglich das frugale Vesperbrod. Zugleich flüsterten sie zusammen vertraulich, und ihre schmunzelnden Mienen verriethen, daß ihre geheime Verhandlung keine unangenehme war. Sie steckten in reputirlichen Kleidern, und weil sogar der Kettenring am Beine fehlte, so ließ nur noch der glattgeschorne Kopf, worauf die Haare erst wieder dünn und spärlich keimten, erkennen, daß sie einst dem Bagno angehört. Die Seele dieser kleinen Versammlung von ehrlich gewordenen Schelmen, denen man Begnadigung und völlige Freiheit versprochen zum Lohne ihrer Dienste, war Raoul, dessen Scharfsinn und Gewandtheit im Galeerenhause längst zum Sprichwort geworden war. – Mit geheimnisvollem Gesicht schüttelte er, am Schluß der Conferenz, dem Kleeblatt seiner Gefährten die Hände, und sagte: »Es bleibt dabei, wackere Gesellen. Um die bestimmte Stunde am bestimmten Platze. Geht jetzt wieder an Euere Geschäfte, so wie ich zum Rapport. Auf Wiedersehen.« – Die Helden des Bagno entfernten sich, und Raoul, dessen Vorzüge, auch von den Schöppen gewürdigt, ihn zum Inspektor seiner Gefährten erhoben hatten, wanderte gravitätisch dem Rathhause zu, und stutzte nicht wenig, da aus einem Winkel der Börse Malatesta ihm entgegen trat, blaß, zerlumpt, mit langgewachsenem Barte. »Sieh da! Woher? Ich glaubte Euch über alle Berge oder schon im Bauch der Erde.« – »Ach Raoul, leider leb' ich noch. Doch trage ich länger mein Elend nicht.« – »Seltsamer Wechsel des Geschicks. Ihr wart ein lockerer Wüstling, reich an Geld und Beredtsamkeit, und ich Euer gehorsamer Diener. Ihr ließt mich in der Noth stecken, und hattet mich vergessen, so lange ich des Königs Zwieback aß. Heute aber kommt mir's vor, als ob der schlechte Galeerensclave mit dem reichen Kaufmannssohn aus Genua nicht tauschen möchte. Doch Spaß bei Seite. Ich bin ein guter Kerl, vergesse Beleidigungen leicht, habe Euch nicht verrathen, da uns der Zufall wieder zusammenführte, würde Euch sogar noch gerne dienen. Sagt mir nur geschwinde, wo Ihr hingekommen wart, verschwunden, wie ein Gespenst vorm Hahnenschrei?« – »Dem Gefängniß zu entfliehen, Dir mißtrauend, entfernte ich mich heimlich von den Raben. Ich kroch durch alle Winkel der Stadt, mein unglücklich verlorenes Kind zu suchen. Die Sehnsucht nach diesem lieben Wesen, die heißeste Vaterliebe, hatte mich bewogen, den Boden von Marseille zu betreten, wo meiner harte Strafe wartete. Clemence wieder zu sehen, konnte ich nicht wagen. Ich hatte aufgehört, sie zu lieben, da ich beschlossen, sie zu betrügen, und das Unrecht, das wir an einem Menschen verüben, der uns einst werth gewesen, macht uns zu seinem unversöhnlicheren Feinde, als wenn wir von ihm einen Schimpf erduldet hätten. Aber das Kind wollte ich, ich setzte Alles daran, es zu erobern. Die Gefahr der Reise, die lange Quarantaine, der ich unterlag, weil ich mit dem Kapitain Chateau eingetroffen, das lästige Incognito, das ich beobachten mußte, das langwierige Spioniren, unterbrochen durch die Reise, die Elemente und Rosa aus Marseille entfernten, das ekle Possenspiel, das ich mit jener Närrin trieb, deren Lüsternheit mir endlich den ersehnten Schatz überlieferte …. all' dieses schreckte mich nicht ab; ich fürchtete weniger die Pest, als meinen Plan vereitelt zu sehen. Aber das Schicksal entriß mir, was ich kaum erobert, und nirgends fand ich wieder den Diener, nirgends eine Spur des verlornen Kindes. Da führt mich mein scheuer Fuß über einen Platz, wo mitten unter Sterbenden ein Galgen aufgerichtet steht; just zieht man einen Jüngling die Leiter hinauf, und das spärlich versammelte Volk schreit wüthend: Das ist ein Mörder! Ich schaue hinan, erkenne mit Staunen den Sohn meines Wirthes, und das Staunen wandelt sich in Bestürzung, als der junge Mensch die gebundenen Hände erhebt, auf mich deutet, und schreit: »Bin ich ein Mörder, so trägt dieser die Schuld; der hat die Pest in meines Vaters Haus gebracht.« Kaum hatte er ausgeredet, als schon der Henker ihn von der Leiter warf, auf's Genick hinsprang, und ihn erwürgte. Aber schon standen hagere scheußliche Gestalten um mich her, packten mich mit dürren Krallen, beschuldigten mich mit heiserer Stimme, die Seuche eingeschleppt zu haben, forderten mein Blut, krächzten mein Todtenlied. Dem Commissär, der über den Jüngling, dessen Worte mir heute noch ein Räthsel sind, das Blutgericht gehalten, verdanke ich mein Leben. Er ließ mich zu meiner Sicherheit in den Thurm bringen, aber er vergaß mich dort, und ist selber während dieser Zeit gestorben. Heute öffnete mir der Kerkermeister die Pforte des Thurms, weil er mich nicht mehr zu ernähren vermochte, weil keine Klage wider mich vorhanden, weil kein Tribunal mehr existirt, als das Standrecht der Schöppen, die mit Galgen alle Straßen zierten, und auf frischer That das Urtheil sprechen. Ermesse nun mein Unglück. In Lumpen gehüllt, ohne einen Heller Geldes, ohne irgend eine Habe, verfalle ich dem Hungertode. Keine Rettung, nirgends die kleinste Barke, die mich um Gotteswillen nach der Heimath führte; alle Schiffe fliehen den verpesteten Hafen, und meine einzige Hoffnung ist, bald der Geißel zu unterliegen, die schon meinen Knecht, mein Kind dahinraffte, oder in den Wellen mein Grab zu suchen.«

Raoul betrachtete seinen ehemaligen Herrn mit der Theilnahme eines durchtriebenen Schlaukopfs, und versetzte nach kurzem Bedenken: »Es ist Euch vergolten worden, was Ihr an mir verbrochen. Darum faßt Muth. Ich will helfen. In dem gräulichen Durcheinander, das hier an der Tagesordnung ist, pflückt ein herzhafter Mann reife, saftige Früchte. Ich und mehrere meiner Kameraden, wir haben ein Gewerbe unter der Hand eingerichtet, das seinen Mann nährt. Tretet bei; Ihr habt schon eine gute Vorschule bei den Raben gemacht. Marseille zählt jetzo nur Todte oder Erben in seinen Mauern. Auch wir wollen erben, haben wir gleich keine Verwandte. In unsern Mußestunden ziehen wir die Gelder ein, die von saumseligen Nachkommen noch nicht erhoben wurden. Gold ist die Hauptsache, schafft uns Nahrung, Obdach, Schutz vor der Pest, Gelegenheit zum Entkommen, vielleicht eine sorgenfreie Zukunft.« – »Recht, wackerer Raoul. Ich fühle mich zum Räuber aufgelegt, und reiche Dir die Hand.« – »So folgt mir noch diese Nacht auf eine Expedition, welche viel verspricht. Ich saß vorgestern im Spital an dem Sterbelager eines alten Mannes, der, schon lange gelähmt an allen Gliedern und sprachlos, seinem Ende entgegenseufzte. Wenig Augenblicke vor dem letzten Seufzer vermochte er ein Paar Worte zu stammeln, mit welchen er mir sein Haus beschrieb, und mir zugleich einen Schlüssel auslieferte, der seinen Mammon aufthun soll. Der Schlüssel gehöre seinem Sohne, gab er zu verstehen, und der Name dieses Sohnes starb auf seinen Lippen, unmittelbar darauf der ganze Papa. Doch weiß ich das Haus, besitze den Schlüssel, und hätte alsogleich den Schatz gehoben, ohne viel nach dem rechtmäßigen Herrn umzufragen, wäre nicht bis heute der Dienst an mir gewesen. Aber diese Nacht … wenn Ihr wollt … Ihr seyd eingeladen, und in der Straße Canebiere wollen wir uns treffen, sobald es dunkelt.

10.

Der kühle Thau der Nacht hatte sich eingestellt, und frostiger Hauch des Windes spielte mit den Blättern der Bäume auf dem Corso, mit den Segeltüchern, die man hin und wieder über diese Straße gespannt hatte, um die Kranken zu schirmen, welche hier, wie in allen Gegenden der Stadt, ihr wüstes Lager aufgeschlagen. Die Feuer an den Ecken waren im Erlöschen begriffen; hie und da brannte eine Pechpfanne, und beleuchtete mit ihrem falben Scheine die traurigen, verstummenden Gruppen rings umher, und die ernsten Gesichter der Todten, die, an den Häusern sitzend, das Leben verlassen hatten, und nun vor sich hinstarrten, gleichsam in tiefe Betrachtungen verloren. – Unbeweglich, wie diese marmorkalten Leiber, lehnte unter dem Vorsprung eines Palastes der bleiche Victor, und Guy bemühte sich umsonst, ihn von der Stelle zu locken. Victor antwortete stets: »Laß mich. Hier ist die Schule des Todes, der mir Alles raubt. Ich will vertraut mit ihm werden. In meines Lebens Kraft hab' ich nie an ihn geglaubt. Nun denke ich anders; es mag nicht so schwer seyn, dem Erlöser zu folgen.« – »Bist Du ein Mann, Victor? Laß diese Gedanken, folge mir in meine Wohnung, sey mein Gast.« – »Ich thue das nicht; aber ich will Dir Vertrauen beweisen, wie einem Gastfreund. Nimm diese Brieftasche, schwer von italienischen Wechseln, die ich meinem Vater überbringen sollte, da meine Geschäfte glücklich ausfielen. Bewahre das Geld, und findest Du mich morgen an dieser Stelle todt, wie jene guten Leute um uns her, so behalte das anvertraute Gut als Dein Eigenthum. Ich habe jetzo Niemand mehr auf dieser Welt, der mir theurer wäre, als Du, und meine schamlose Schwester hat schon hinlänglich für sich gesorgt.« – »Behalte doch Dein Geld und schweige mit der schauerlichen Vorbereitung. Was willst Du beginnen, verzagter Steuermann? Komm!

Guy faßte den Freund beherzt an, Victors Gewand schlug sich auseinander, und Guy berührte den Kolben einer Pistole, die von der Reise her in Victors Gürtel steckte. »Ich errathe,« fuhr Guy bebend fort: »Du willst Dich umbringen, schäme Dich.« – – »Warum? das Leben ist mir zum Eckel geworden; wenn ich mein Schiff auf den Strand laufen lasse, um es zu zerschellen, willst Du es wehren?« – »Ich muß. Sey kein Thor, behalte Dein Geld, sage ich, und gib mir die gefährliche Waffe.«

Ein Trupp von Menschen, mit Lichtern in den Händen, kam eilfertig herbei, und hielt vor dem Palaste still. Der Eine fragte: »Ist dieses wohl das Haus, wo die Frau des Hafenaufsehers ihre Niederkunft erwartet?« – »Gewiß es ist's,« antwortete ein Anderer. – »So laßt uns keinen Augenblick verlieren,« sagten die Uebrigen, und stürmten in das Innere des Palastes. Nur der Letzte der jungen Leute verweilte noch, zündete seine ausgelöschte Kerze an der Pechpfanne wieder an, und Guy sprach halblaut zu dem Freunde: »Das ist Dein Vetter Maximin.« – Maximin hörte diese Worte und fragte barsch, näher leuchtend: »Wer da?« – »Gut Freund,« versetzte Guy.– »Der Teufel auch!« fügte Victor auflodernd hinzu: »Geh Deiner Wege, Dinart. Hier steht Dein Vetter Foulques.« – Guy, der eine heftige Scene zwischen den feindlichen Vettern befürchtete, wollte sich in's Mittel legen, er schwieg jedoch verwundert stille, da er hörte, wie Maximin ganz sanftmüthig, aber mit der dumpfen Stimme eines Wüstenheiligen sagte: »Sey gegrüßt im Namen der heiligsten Mutter Gottes, liebster Vetter. Wahrlich, bevor ich sterbe, will ich mich mit allen meinen Feinden versöhnen. Der Sand verrinnt; über ein Kurzes dürfte es nicht mehr an der Zeit seyn, Vergebung zu erhalten.« – »Was soll das, Maximin Dinart? Ich kenne Dich nicht mehr. Hat Dich die böse Seuche zum Betbruder gemacht?« – »Schmähe mich, wie Du willst; aber die Gnade des Himmels hat mich bekehrt.« – »Laß mich zufrieden; wie hätte Gottes Stimme den Weg zu Deinen Gelagen, zu Deinen Buhlwinkeln gefunden?« – »Ach, ich war ein arger Sünder, guter Vetter. Die üppige Karoline war mir theurer, als mein Seelenheil. Aber …. ich sah, wie sie starb, just beim Gastmahl der Freude, den Becher der Wollust an den Lippen …. Noch zitt're ich, wenn ich jener Stunde gedenke …. Ich verließ den Pfad des Lasters, um heiligere Pflichten zu üben.« – »Pflichten? Welche Pflichten hast Du je geübt? Du warst ein arger Bursche, aber markig in Deinem Kerne, stark und kräftig … Ich freute mich Deiner Männlichkeit, wenn ich Dich auch haßte; jetzt verachte ich in Dir den Heuchler.« – »Du schmähest mich mit Unrecht, geliebter Victor,« schluchzte Maximin, und streckte ihm wehmüthig die Hand hin: »Die Seelen der unschuldigen Kindlein, die ich seither dem Himmel rettete, mögen sie für mich zeugen.« – »Wie?« rief Guy bewegt und erschrocken: »Herr, gehört Ihr denn zu den wilden Täufern, die das Bette der hülflosen Wöchnerinnen belagern, dem kaum gebornen Kinde abergläubisch das Sakrament aufdringen, und dann Mutter und Säugling grausam verlassen?« – »Wir rühmen uns dessen, die Welt geht unter, kein neues Geschlecht wird aufwachsen, doch sollen die unschuldigen Kinder als Christen zum Himmel fahren, und weil die Priester mangeln, thun wir um unserer Sünden willen der Priester Pflicht.« – »Hättest du früher deine Pflichten beobachtet, Unseliger!« zürnte Victor. »Wenn dein Gewissen dich quält, so hast du's an Clemence und ihrem Kinde verschuldet.« – »Freilich quält mich dieses Bewußtseyn, doch trag' ich diesen Frevel nicht allein. Mein Vater, meine Mutter ….« – Beschuldige deine Eltern nicht. Wo ist dein Vater?« – Ich hörte, daß er gestorben sey.« – »Wo deine Mutter?« – »Kaum erstand sie von der Pest.« – »Und Clemence, Elender? Rosa, ihr Kind? Kann deine Reue je diese theuern Gräber wieder öffnen?« – »Du bist im Irrthum, lieber Vetter. Clemence lebt, sie vergab mir, ich habe mich mit ihr versöhnt, und wenn die kleine Rosa im Himmel ist, so betet sie gewiß auch für mich.« – Heiligste Mutter vom Troste! Lügst du nicht, Maximin?« – »Bei meiner Buße, Clemence lebt, lebt in unserm Vaterhause, hat die Mutter vom Tode errettet, das Haus in ein Spital verwandelt, worinnen sie Tag und Nacht die ärmsten Kranken pflegt, unterstützt von ihrer alten Magd, von Ritter Roze, von unserem heiligen Bischof. Ich Aermster konnte für die geduldige und muthige Trösterin leider nichts thun, als daß ich ihren Händen unser Hab' und Gut uneingeschränkt überließ. Für meine Person ziemt sich jetzo nur Fasten, und ein Stücklein Brod ist mir ein Königsmahl.«

»Clemence lebt?« jubelte Victor und warf sich entzückt an Maximins Brust. »Um dieser Heiligen willen sey auf ewig unser Haß getilgt. Unsere Väter sind nicht mehr; wir aber wollen über Clemence väterlich wachen! Gott sey Dank, Guy, noch eine Blume trägt für mich die Erde, noch eine Hoffnungsinsel steigt für mich aus dem schwarzen Meere. Ich will nicht sterben, Kamerad. Frischer Wind bläst in die Segel, ich spüre wieder in meiner wunden Hand die Kraft, das Steuer zu regieren.«

Maximins Begleiter kamen lärmend die Treppen herunter. »Wo bliebst du, geliebter Bruder?« riefen sie ihm zu: »Zwei Seelen gab es zu retten. Wir haben Zwillinge getauft, Ehre sey Gott in der Höhe! Die Wöchnerin starb, die Kindlein sind schwach, und werden der Mutter bald folgen, aber wir haben der Schlange den Kopf zertreten, die Erbsünde von den Unschuldigen getilgt, und die makellosen Engel bitten für uns an Gottes Throne!« – »Weiter, weiter, schrieen Alle im Chor, und rißen Maximin mit sich fort, der kaum noch seinem Vetter zuflüstern konnte: »Wir sehen uns wieder, lieber Bruder, hier oder dort!« – »Hier! für uns ist noch nicht das Jenseits!« jauchzte Victor: »Clemence soll den Bund enger schlingen, der uns heute so plötzlich vereinte. Bist du mein Freund, Guy, so begleite mich zur Stunde nach Dinarts Hause. Müßte ich den Teufel der Pest selbst überwältigen, so muß ich dennoch sehen, ob Maximin log, ob er Wahrheit sprach.«

11.

»Wir sind zur Stelle, sagte Raoul heimlich zu seinem Gefährten: »Hier ist das Haus; das Heiligenbild, die vorspringenden Gitter, der Balkon, Alles trifft zu.« – »Bei meiner Seele! das ist Dinart's Haus,« raunte ihm Malatesta in das Ohr: »Ein böses Zusammentreffen.« – Raoul lachte höhnisch: »Warum? Ein gerechtes Schicksal im Gegentheil. Ihr beerbt Euern Schwiegervater; ohne Zweifel war der alte Sterbende Papa Dinart. Diente ich einst bei Eurer Trauung als Pfaffe, so will ich heute der Notar seyn, der Euch die Mitgabe der Braut ausliefert.«

Die Strauchdiebe schlichen die Stufen hinan, schoben die Kranken frech bei Seite, die sich dort gebettet hatten, erstiegen vorsichtig die finstern Treppen, und öffneten die erste, beste Thüre, worauf sie stießen. Sie traten in ein ziemlich leeres Vorgemach, von einiger Leuchte erhellt, wobei eine Frau halb schlummernd saß; neben ihr schlief ein krankes Weib im Bette. Die Wärterin fuhr zusammen, da sie plötzlich fünf Männer vor sich stehen sah, vermummt bis an die Zähne, schwarze Larven vor den Gesichtern. »Keinen Laut, Elende,« sagte Raoul mit gedämpfter Stimme, »oder Du bist des Todes. Sag an: wo ist das Kabinet des verstorbenen Herrn dieses Hauses? Wir lohnen Dir reichlich.« – Das Weib zauderte einen Augenblick, endlich rief es aus voller Kehle: »Hülfe! Mörder!« Raoul rannte mit geschwungenem Messer auf die Schreiende zu, aber der Rächer folgte den Verbrechern auf dem Fuße. Victor und Guy stürzten in die Stube, der Erstere schoß unter das Gesindel, und Malatesta fiel zu Boden. Die Uebrigen entsprangen, die aufwachende Kranke schrie, Clemence trat in die Thüre, die in das Innere des Hauses führte. Sie erschrack heftig vor dem Anblick des Mannes, der in seinem Blute schwamm, sein Gesicht, dem die Larve entfallen, mühsam empor richtend. Clemence erkannte nur allzuwohl dieses bleiche Antlitz, und stammelte, auf Margaretha's Schulter gestützt: »Welch ein Unglück!« Zugleich stand jedoch Victor vor ihr, schüttelte ihre Hand, vor Thränen stumm, und an seine Brust lehnte sich Clemence, und ihre Lippen flüsterten: »Welch ein Glück!«

Bald füllte eine Menge von Menschen das Gemach. Der Bischof, der seine nächtliche Runde in den Häusern des Siechthums machte, die Pariser Aerzte, die vom Regenten gesendet, den Fußstapfen des ehrwürdigen Prälaten folgten, mehrere von den Gesundheitscommissarien der Stadt, die Brüderschaft der Täufer, Maximin an ihrer Spitze, wurden Zeugen dieses Auftritts. – Malatesta lag dahin gestreckt in den Schauern des Todes, doch wollte sein brechendes Auge von Clemence nicht weichen, und nach der mißhandelten Mutter seines Kindes streckte sich seine ermattete Hand aus. Maximin rief Malatesta's Namen laut, und alle Einwohner von Marseille, die umher standen, wiederholten die Geschichte seiner Frevelthat. Der Bischof, ein eifriger Diener der Kirche, beugte sich zu dem Verabscheuten herab, vernahm die Beichte aus dessen blassem Munde, tröstete ihn mit barmherziger Milde, munterte ihn auf, wenn gleich im letzten Augenblicke, sein Unrecht gut zu machen, der betrogenen Geliebten die Ehre wieder zu schenken. Malatesta nickte stumm, der Bischof selbst gab den Trauring, Victor, mit Grimm und Freude im Herzen, führte die schluchzende Braut, die alsobald Wittwe werden sollte, dem sterbenden Bräutigam zu, den seine Hand zum Tode verwundet. Der Bischof sprach feierlichst den Segen, und Malatesta röchelte, als die Stola seine und Clemence's Hand umwunden: »Vergib, armes Weib … Dein Kind …« Seine Augen starrten gen Himmel und sein Athem blieb aus. Das Geheimniß seiner Mitschuldigen bei dem nächtlichen Raubzuge starb mit ihm. Agathe, die kranke, der Pest erstandene, aber an ihren Sinnen auf ewig abgestumpfte Frau, umarmte glückwünschend ihre Tochter, Maximin pries das Geschick seiner Schwester, die nun eine ehrliche Gattin geworden, aber die trauernde Clemence flüchtete sich zu Victor und lispelte: »Welch' eine Stunde! Armer Victor … Dein Vater! …« – Victor antwortete düster: »Traure mit mir, so wie ich mit Dir klagen will, arme Mutter, um Dein Kind!«

Um dieselbe Stunde ungefähr brachen auch in das Haus der Familie Foulques verwegene Diebe ein, erklimmten die Treppe, und fingen einen Mann auf, der voll Bestürzung durch Nacht und Nebel in ihre Hände rannte. »Laßt mich, gute Freunde« rief er in Verstörung. »Ich bin dieses Hauses Diener, und eile nach einem Arzte, weil Madame Roqualin plötzlich erkrankte!« – »Lauf zu!« antworteten die Schelme. »Wir wollen schon der Frau die letzte Oelung geben.« Der Mann ließ sich nicht lange bitten, und die Spitzbuben drangen in das Schlafgemach. Die harten Räuber erwartete dort das Entsetzen. Auf dem Boden ausgestreckt, gräßlich entstellt von Wunden, lag Bertrande. Neben ihr stand die Lampe, Schränke und Kästen waren offen. Mit den Kleinodien der erwürgten Thörin hatte Roqualin, der Mörder, die Flucht ergriffen, aber vor dem Hause gerieth er in sie Stricke einer Patrouille, und gleich darauf hatten die Räuber, die voll panischen Schreckens zurückkamen, dasselbe Schicksal.

12.

Gleich am nächsten Morgen wurde nach den Befehlen des neuen Gouverneurs Langeron, mit welchem wieder Ordnung und bessere Verwaltung in die Stadt zurückkehrte, über den schändlichen Roqualin und die mit ihm gefangenen Diebe Standrecht gehalten, das Todesurtheil ohne Säumen an ihnen vollzogen. Der Verwalter des Hauses, worinnen die unglücklichen Waisen der Pestopfer versammelt worden waren, ein verworfener habsüchtiger Mensch, war der Anführer jener Spitzbuben gewesen. Von seinem Gewissen gepeinigt, bekannte er, schon auf der Leiter, wie durch seinen Geiz und seine Mißhandlungen gar viele der ihm anvertrauten Kinder zu Grunde gegangen seyen. Die Schöppen sendeten Commissarien in das Hospiz, viel Volk begleitete dieselben, darunter Victor, getrieben von freudiger Hoffnung, von geheimnißvoller Ahnung. Er überließ Betrandens Leiche fremden Miethlingen, wie auch das unselige Weib Zeit seines Lebens eine Fremde im Vaterhause gewesen, und betrat mit spähenden Blicken das neu geschaffene, furchtbar schnell bevölkerte, und dennoch bereits gräßlich verödete Waisenhaus. Der Verbrecher hatte nicht zur Hälfte die Gräuel angegeben, welche hier verübt worden. Von dreitausend Kindern, die seiner Obhut übergeben waren, lebten kaum noch fünfhundert, und diese glichen, halb verhungert, Gespenstern mehr, als lebenden Wesen. Eine solche kleine hagere Gestalt, kaum wankend noch auf ihren Füßchen, zupfte leise den umherforschenden Victor am Kleide. Das Kind war zu ohnmächtig, um zu weinen, Hunger und stumme Angst sprachen nur aus den hohlen Augen. Sein Anblick erschütterte Victors Seele wie ein bitterer Dolchstoß, belebte ihn zugleich wie das freudigste Entzücken. »Roussoun!« schrie er außer sich, riß das arme Kind empor, trug es wie ein Kleinod aus dem scheußlichen Grabe, legte es, das schönste Hochzeitgeschenk, in den Schoos der bräutlichen Wittwe, in die Arme der alten Margarethe, die schon beinahe verzweifelt wäre um des Kindes willen, obschon Clemence längst die treue Dienerin von aller Schuld in ihrem Edelmuthe freigesprochen. Der Leiden Uebermaß hatte Clemence mit heldenmüthiger Fassung ertragen, es verschmerzt, mit der Pflege ihrer Nebenmenschen beschäftigt; die jähe Freude wäre bald ihr Tod gewesen, und, wie sie durch Liebe allein so vieler Menschen Leben gerettet, so verdankte sie ihr eigenes Leben wieder der Liebe.


Vierzigtausend Menschen waren in der Stadt gestorben. Endlich nahm die furchtbare Pest ab, selbst erlahmend, nicht bezwungen von irgend einer Arznei. Reiche waren arm, Arme reich geworden, in jedem Hause saßen weinende oder lachende Erben. Ruhe kehrte nach und nach wieder, und die Gesetze wurden wieder geheiligt. So mancher Tugendhafte, so mancher Bösewicht war von der Welt geschieden während des unseligen Zwischenreichs der Willkür und des Elends; auch Raoul schlummerte schon geraume Zeit in den Gewölben der Bastionen von la Tourette, in deren Tiefen der kühne Roze an einem Tage dreitausend Leichname stürzen ließ, welche, dort aufgehäuft am Sonnenlicht, die Luft vergifteten. – Die Straßen wurden wieder lebendig, gereinigt und gesäubert, die Kaufläden öffneten sich auf's Neue, fremde Schiffe liefen in den befreiten Hafen ein. Endlich schlossen auch die Grafen von St. Victor ihre Pforten auf, und sangen ein Te deum, weil der Herr ihr Haus vor Allen bewahrt. – Am nämlichen Tage stand in der Domkirche Clemence mit ihrem Vetter vor dem Altar, vertauschte den Namen Malatesta mit dem Namen Foulques. Agathe und Maximin waren zugegen, doch der lieblichste Zeuge bei der Trauung war die kleine Rosa, frisch blühend wie ein Engel, herablächelnd von Margarethens Arme. – Kaum war die Ceremonie vorüber, als auch Foulques mit den Seinigen den Wagen bestieg, der sie nach Lyon bringen sollte, in dessen Schooße Alle hofften, die schweren Leiden zu vergessen, die sie mit bekümmertem Auge angesehen. – Als die Reisenden während der Fahrt sich einem großen Flusse näherten, fragte Rosa neugierig: »Wie heißt der Strom?« – »Die Rhone, mein Kind,« versetzte Margarethe, und schnell rief das Kind, seine Erinnerungen sammelnd und in die Hände klatschend: »Ach, liebe Gouthoun, erzähle mir doch noch einmal die schöne Geschichte vom Drachen zu Beaucaire!«


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