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Auf dem Snarshofe zu Vierhöfen erwachte mit dem ersten Morgengrauen das muntere Leben eines schönen Junitages. Das zierliche Hausrotschwänzchen, das in einem geschützten Winkel unter dem überhängenden Strohdach übernachtet hatte, flog einem der beiden Pferdeköpfe des Dachfirstes aufs Ohr, wippte mit dem Schwanz und sang sein bescheidenes Morgenlied. Majestätisch kam der Hahn die Hühnerleiter herabgestiegen und entbot seinem Volke und dem schlafenden Dorf einen heiseren Morgengruß. Davon erwachten die Kühe, die an den Seiten der geräumigen Diele träumten. Sie rasselten mit ihren Ketten und rafften die letzten vom Abend übriggebliebenen welken Grashalme auf. Dann ließen sie ein lautes Muh durch das morgenstille Haus dröhnen. Das weckte die dralle Hausfrau, die immer die erste war. Sie erhob sich von der Seite des noch fest schlafenden Snarsbuern, warf ihr Kleid über und klapperte in Holzpantoffeln über die Diele. Vor der Knechtekammer am Pferdestall rief sie: »Hinnerk, upstahn!« und vor der Mädchenkammer: »Doris! Trina! Et ward Tied!« – Als hier nicht sofort geantwortet wurde, packte sie mit fester Hand den Griff und stieß die Tür auf. Da raschelte es im Bettstroh, und schlaftrunken kam es aus dem dämmerigen Raum: »Ja, Fro, wi kamt ja all!«

Ihren Eheherrn ließ die resolute Frau etwas länger schlafen. Mit dem Snarshof war nämlich Gastwirtschaft und Posthilfsstelle verbunden, und da hatte Snarsbur abends die Post zu besorgen. Das heißt, er mußte von dem alten Postkutscher Jochen einen mageren Briefbeutel in Empfang nehmen und für Jochen und die etwaigen Fahrgäste einen »lütten Kloren« als Stärkung für die weitere Fahrt einschenken. Wegen dieser Arbeitsleistung am Abend durfte er morgens etwas länger schlafen. Nach einer kleinen Stunde war er aber auch zur Stelle. Er hatte im Gegensatz zu seiner kleinen Frau jenen langsamen, bedächtigen Schritt: »Kommste heute nicht, so kommste morgen.«

Nun waren die Bewohner von Snarshof, Mensch und Tier, alle wach. Die Sonne, die auf den tauglitzernden Hof und durch die blanken Fensterscheiben schaute, freute sich, daß sie so munter an ihr Tagewerk gingen.

Plötzlich verhüllte sie ihr freundliches Gesicht mit einem leichten Wolkenschleier. Sie hatte von ohngefähr in das Fremdenschlafzimmer gesehen und einen Schläfer entdeckt, der noch gar keine Anstalten machte, sich des jungen Tages zu freuen.

Frau Sonne sandte einen hellen Strahl nach dem Langschläfer – Fenstervorhänge verwehrten ihr das in Vierhöfen nicht – verfehlte aber ihr Ziel und traf nur die weiße Kalkwand hart unter der Decke.

Nach einer Weile schoß sie einen zweiten Strahl ab; der kam schon näher. Die Farben eines rohen Buntdrucks über dem Bett leuchteten grell auf.

Als sie sich abermals von einigen Wolkenschleiern freigemacht hatte, traf sie endlich ihr Ziel und stach mit ihrer Strahlenlanze den Schläfer in beide Augen. Der Getroffene zuckte zusammen und vergrub sein Gesicht in die Kissen.

Nun tat die Sonne zu dem Glanz etwas Wärme. Da wurde es dem Manne unter der schweren, weiß und rot karierten Decke des riesigen Zweischläferbettes doch zu unbehaglich. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, erhob sich und begann langsam sich anzukleiden. Seine Bewegungen waren trotz seiner Jugend, trotz des langen Schlafes und der warmen Junisonne müde und lässig, wie die eines Mannes, an dem schlimme Krankheit nagt oder den schwerer Kummer drückt. Wiederholt hielt er inne und setzte sich auf den Bettrand, als ob er sich von der Arbeit des Ankleidens ausruhen müßte. Und dann blickte er mit toten Augen zum Fenster hinaus.

Währenddessen saß Frau Dreyer, die Snarsbuersche, nebenan in der sauberen Gaststube und schälte Kartoffeln. Ihr rundliches, rotbackiges Gesicht, das sonst von Zufriedenheit strahlte, hatte heute morgen einige Sorgenfalten.

Was war das doch mit dem Gast, den die Post ihr gestern abend ins Haus gebracht hatte?

Sonst übernachteten bei ihr fast nur Viehhändler, die dann in der Frühe des anderen Tages zum Handeln auf die umliegenden Höfe gingen. Zu dieser Zunft durfte sie ihren Gast sicher nicht rechnen. Das Äußere stimmte dazu nicht; auch schrieben die sich nicht so gewandt in das Fremdenbuch, wie jener da eingetragen hatte: »Franz Heim aus München.« Und wenn sie von weit her waren, so kamen sie aus Hamburg.

Nun hatte die gute Frau schon mancherlei getan, um den apartigen Gast würdig zu empfangen. Sie hatte ihre Holzschuhe mit feineren Lederpantoffeln vertauscht und eine reine Schürze vorgebunden. Den Fußboden der Gaststube hatte sie nicht schlichtweg mit Sand bestreut wie gewöhnlich, sondern so, daß die Sandfiguren einem langästigen Tannenbaume glichen. Und aus dem Glasschranke hatte sie das bessere Kaffeegeschirr genommen, das sonst eigentlich nur die Herren Offiziere im Manöver bekamen und Pastor und Küster auf der Pröwenfahrt.

Frau Dreyer sann, indem eine Kartoffel nach der andern in den Eimer plumpste, darüber nach, was noch sonst geschehen könnte, und wer weiß, auf was für außerordentliche Ehrungen sie noch verfallen wäre, wenn der Gast jetzt nicht das Zimmer betreten hätte.

»Morgen«, sagte er tonlos und müde.

»Guten Morgen auch«, antwortete sie lebhaft und munter. »Haben der Herr gut geschlafen in Vierhöfen?«

»Danke, es geht. Bitte, den Kaffee«, sagte er kurz, ein Gähnen unterdrückend.

Frau Dreyer spülte sich hurtig die Hände ab und trocknete sie in der blauleinenen Schürze. Dann deckte sie ihrem Gaste den Tisch. Stolz setzte sie das gute, blau bemalte Geschirr vor ihn hin, und mit nicht geringerem Stolze einen Teller, der mit altbackenen Kaffeebrötchen und Zwiebäcken und einigen Streifen fossilen Butterkuchens vom Pfingstfest her hoch bedeckt war. Ja, sie hatte immer etwas im Hause, die Snarsbuersche. Aber der Fremde wußte das nicht zu schätzen. Er schob den Teller zurück und sagte verdrießlich: »Das Zeugs mag ich nicht sehen. Bringen Sie mir Butter und Brot!«

Ein wenig gekränkt trug Frau Dreyer ihre Schätze wieder fort. Als sie statt dessen einige tüchtige Rundums ihres saftigen Hausbrotes und ein gutes Stück ihrer goldgelben Butter gebracht und ihren Platz am Kartoffeleimer wieder eingenommen hatte, versuchte sie eine Entschuldigung ihrer guten Absicht: »Ich meinte, unser Schwarzbrot könnten nur wir Heidjer vertragen.«

»Sie können ja gar nicht wissen«, entgegnete der andere, »ob ich nicht auch einer bin.«

Die Frau musterte ihren Gast, seine städtische Kleidung und sein schmales, bleiches Gesicht und schien das nicht recht glauben zu können. »Nee«, dachte sie, »die sind von anderem Schlag.«

Nach einer Weile fragte sie: »Wo will der Herr denn heute noch auf ßu?«

»Ich bleibe heute hier. Und ich möchte Sie bitten, mich auch morgen und übermorgen zu behalten. Vielleicht auch noch länger.«

Erstaunt blickte die Frau den Sprecher an, und die Kartoffel, die gerade unter ihren Händen war, verlor mehr Schale, als die Sparsamkeit der Hausfrau es sonst zuließ. Das war noch kaum vorgekommen, daß ein Gast länger als eine Nacht blieb. Es paßte ihr auch durchaus nicht. »Da sind wir gar nicht auf eingerichtet«, meinte sie. »Im Dorf is man slecht was ßu haben. Nich mal einen Slachter haben wir und müssen alles aus'm Kirchdorf Wrieloh holen. Das ist beinahstens ßwei Stunden ßu gehen.«

Aber der Fremde beruhigte sie: »Frau Dreyer, Sie brauchen gar keine Umstände zu machen. Sie geben mir einfach Hausmannskost, wie Ihren Leuten. Wenn ich mal eine dicke Erbsensuppe und ein tüchtiges Stück Schinken kriege und dann mal einen dägen Buchweizenpfannkuchen, dann bin ich ganz zufrieden. Sie können es getrost mit mir wagen.«

Die Frau machte noch immer ein bedenkliches Gesicht. Mit dem Kartoffelschälen hatte sie innegehalten.

»Nicht wahr, Sie behalten mich?« fragte der Gast. Jetzt lag in seinem Ton zum erstenmal etwas Leben, und er sah die Frau bittend an.

»Na ja«, meinte Frau Dreyer endlich zögernd, »wenn Ihnen denn so viel darum ßu tun is und Sie wollen vorlieb nehmen, denn man ßu.«

Sie hätte jetzt gern ein längeres Gespräch angeknüpft. Aber des Fremden Art war wieder so kurz und abweisend, daß sie die Versuche bald aufgab. Nicht einmal wagte sie zu fragen, was er wäre und was er in Vierhöfen wollte. Ihre Neugierde wurde aber wenigstens zum Teil befriedigt, als sie das Zimmer ihres Gastes in Ordnung brachte. Sie sah einen Briefumschlag aus der Tasche seines Sommerüberziehers hervorlugen, und als sie ihn mit spitzen Fingern neugierig etwas weiter herauszog, entzifferte sie: »Herrn Kunstmaler Franz Heim, München.« Nun atmete sie beruhigt und erleichtert auf. Ja, bald wurde sie sehr froh. Im Nachbardorf war eine Gastwirtschaft, in der Hamburger Sommerfrischler alljährlich viel Geld ließen. Ob vielleicht nicht mit dem heutigen Tage auch ihr Haus als Sommerfrische in die Konkurrenz eintrat? Wenn's der erste Gast gut hatte, zog er wohl andere nach sich! Frau Dreyer beeilte sich, in die Küche zu kommen, um gleich mit dem ersten Mittagessen auf den ersten Sommergast einen guten Eindruck zu machen.

Während sie am Herde schaffte, ging Franz Heim daran, sich in seinem Zimmer einzurichten. Unter die Fensterbank rückte er eine alte Holztruhe, deren geschnitzter Deckel in verschnörkelten Buchstaben die Inschrift trug: »Selbst gesponnen, selbst gemacht, reyn dabey ist Bawerntracht.« In diese legte er seine Kleidung und Wäsche. Auf den mit Hausmacherlinnen gedeckten Tisch packte er einige Bücher und allerlei Siebensachen. Er verfuhr dabei mit solcher Unlust und Gleichgültigkeit, als läge ihm an der Wohnlichkeit seines Zimmers gar nichts. Unachtsam und zerstreut ließ er eine zierliche alte Porzellanvase zur Erde fallen, daß sie klirrend zerbrach. Aber er ärgerte sich nicht einmal darüber, sondern warf die Scherben gleichgültig zum Fenster hinaus in den Appelhoff, wo sie die Hühner, die sich an der Hauswand sonnten, in wilde Aufregung versetzten. Als Frau Dreyer nachher in das Zimmer kam, wunderte sie sich nicht wenig, daß ein so feiner junger Herr so gar nicht auf Ordnung hielt. Sie konnte es nicht unterlassen, mit leiser Hand nachzuhelfen.

Um halb eins hatte Frau Dreyer das lecker bereitete Mittagessen aufgetragen und nötigte zu Tisch. Als der Gast Platz genommen hatte, blieb sie ein Weilchen stehen, um eine wohlverdiente kleine Anerkennung anzuhören. Sie wartete vergebens. Ja, mit großer Betrübnis mußte sie sehen, daß der einsilbige Gast ihren Speisen nur wenig Ehre antat.

Nach dem Essen nahm Franz Heim seinen Hut und schlenderte mit lässigen Schritten unter den mächtigen Eichen hin über den Hof. Sein Ziel war ein Fuhrengehölz, das durch eine Steinmauer vom Hofe getrennt war. Dicht an der Mauer lag ein Häuslingshaus mit moosgrünem Strohdach, bescheiden und niedrig, aber sauber und freundlich, als wollte es sagen: »Ich beherberge kleine Leute, aber glücklich und zufrieden sind sie unter meinem niedrigen Dach.«

Vor der Haustür auf einer Holzbank saß in Hemdsärmeln und Holzschuhen ein Achtzigjähriger. Seine welken, steifen Finger bewegten langsam, aber stetig die Stricksticken. Er strickte sich ein Paar Socken aus grober, grauer Heidschnuckenwolle für den Winter. Als der Fremde näher kam, hielt der Alte mit seiner Arbeit inne und blickte groß auf, als erwartete er, angesprochen zu werden. Aber er bekam nur einen müden, gleichgültigen Blick und ein frostiges »Guten Tag«. Dann sah er den jungen Mann mühsam am Überstieg über die Hofmauer klettern und im Walde verschwinden.

Seine Alte steckte den greisen Kopf mit dem zusammengetrockneten Gesicht zum Fenster heraus und fragte: »Vader, wat wör dat förn Kirl?« – »Ick weet nich«, antwortete der Gefragte, »is 'n Frömden. Schient so 'n hochnäsigen Stadtminschen to wän, de unsereenen knapp gon Dag seggt. Kann abers ok wän, dat he krank is«, fügte er nachdenklich hinzu, da sein hartes Urteil ihm schon leid tat. »He hett keen Muck in de Knaken.« – Dann strickte er an seinem Strumpfe weiter.

Der junge Mann, dem Arnsvader und Arnsmudder – so hießen die beiden Alten im Dorfe – mit solchen Gedanken nachsahen, war inzwischen, dem sandigen Fußwege folgend, tiefer in den Wald gekommen. In den sanft rauschenden Wipfeln der Fuhren zirpte die Schwanzmeise, tiefer im Walde gurrten die Wildtauben. Zuweilen kreischte ein Häher auf und strich in schaufelndem Fluge durch die Baumkronen. Grüne Sandlaufkäfer surrten vor dem Wanderer auf und ließen sich einige Schritte vorwärts nieder, bis der nahende Fuß sie wieder aufscheuchte.

Nach einer Weile mündete der Weg in die Heide. Die Fuhren wurden spärlicher und niedriger und wechselten mit Wacholdern ab. Zwanzig Schritte abseits vom Wege hatte sich eine kleine Gesellschaft dieser dunklen Heideeremiten angesiedelt.

Unter ihrem Schatten legte der Wanderer sich in das hohe Heidekraut, das sich fast über ihm zusammenschloß. Die Blütezeit der braunen Erika war noch fern; die Glockenheide fing eben an, mit sanftroten Glöckchen dem Wonnemond der Heide leise vorzuläuten.

Franz Heim hatte den Kopf schwer in die Hand gestützt, und sein Blick war auf einen fernen Kirchturm gerichtet, dessen stumpfes Dach zwischen den Fuhren und Wacholdern über die Horizontlinie emporlugte. Und nun zog wieder, wie in den letzten Tagen so oft, sein Leben in bunten Bildern an ihm vorüber.

Die ersten und ältesten Bilder zeigten hellen Glanz. Wie leuchtete selbst in dem trüben Dunkel der Gegenwart die Erinnerung an die schöne Jugendzeit im traulichen, wiesenumgrünten Pfarrhaus da drüben zu Füßen des alten Kirchturms! In dieser glücklichen Zeit war ganz schüchtern und leise die erste Neigung zur Kunst erwacht, und wie hatten die ersten Lorbeeren ihn beglückt! – Ach, sie waren so willig von Onkeln und Tanten und Nachbarpastoren und später von dem alten Zeichenlehrer des Gymnasiums gespendet worden!

Dann wurden die Bilder, die dem einsamen Grübler vor die Seele traten, dunkler und dunkler. Es kam das schreckliche Jahr 1881; da waren ihm beide Eltern gestorben. In dem Schatten des Kirchturms drüben lagen ihre Gräber.

Von da an hatte er einsam im Leben gestanden. Nach langem Drängen ließ der Vormund ihn auf die Malerakademie nach München ziehen. Dort hatte er nun fünf Jahre studiert und gemalt und es sich dabei fürwahr sauer werden lassen. Aber umsonst ... Er war doch in der breiten Masse der Kunstproletarier untergegangen. – Vor wenigen Tagen war ein größeres Gemälde, die Arbeit eines halben Jahres, vollendet. Auf dieses hatte er die schönsten Hoffnungen gesetzt. Aber wieder war das Werk von der maßgebenden Kritik totgeschwiegen oder verworfen. Das hatte ihn tief getroffen.

In verzweifelter Stimmung war er zur Stadt hinausgestürzt an das Isarufer. Der Fluß war gerade hoch geschwollen und führte schmutzig gelbe Wassermassen von starken Regengüssen im Hochgebirge mit sich. Am schäumenden Wehr stand er lange und schaute in die wilden Fluten hinab, und es war ihm, als ob eine dunkle Macht ihn in die Strudel hinabziehen wollte. – Was sollte er noch auf der Welt? Seine Kunst, die ihm alles war, hatte sich ihm aufs neue als treulos erwiesen. Das kleine väterliche Erbe war bis auf einen geringen Rest drauf gegangen. War es nicht am besten, wenn er da unten in der schäumenden Tiefe ...

Da waren die kleinen stahlblauen Schwalben über die Fluten dahingeschossen und hatten gezwitschert – gerade wie einst über der Werle, die durch die Wiesen der Heimat rieselte. Und mit dem Schwalbenlied waren Worte aus dem alten Liede in ihm lebendig geworden, das einst Lehrer Bartels in der Dorfschule ihn gelehrt – wunderbar hatte der alte Mann es lesen und deuten können:

»O du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum.«

Und da war sie vor ihm aufgetaucht, die stille Heimat fern im Norden, mit ihren weiten Heideflächen, ihren ernsten Fuhrenwäldern, mit ihren heimeligen Dörfern und Gehöften. Mit einem Mal war es ihm zum Bewußtsein gekommen, daß er noch etwas auf der Welt hatte, was eine Macht auf ihn ausübte, eine Heimat. Heimat war sie ihm geblieben, obgleich Vater und Mutter nicht mehr vor dem efeuumrankten Pfarrhause standen und dem heimkehrenden Sohne die Arme öffneten. Aus dem Untergrunde seines Wesens war das geheimnisvolle Grundgefühl, die Liebe zur Heimat, das Heimweh, aufgetaucht und hatte ihn mit sanfter Gewalt von dem letzten, schrecklichen Schritte zurückgehalten. »Laß zu deinem heil'gen Raum mich noch einmal nur entfliehn« – und mit dem Nachtschnellzug war er gen Norden gereist, nachdem er seine wenigen Habseligkeiten schnell zusammengepackt hatte. Und nun lag er in der Vierhöfer Heide, anderthalb Stunden von seinem Heimatdorfe Wrieloh. Dahin hatte er nicht gehen mögen, weil er die tausend Fragen seiner alten Bekannten fürchtete.

Was wollte er nun eigentlich hier? Das wußte er selbst nicht. Unter der dumpfen Betäubung, die seit jener schweren Enttäuschung auf ihm gelegen hatte, war es ihm unmöglich gewesen, darüber nachzudenken.

Um ihn summten die Bienen in Glockenheide und Thymian. Jedes dieser Tierchen hatte seine Lebensaufgabe schön erfaßt, von Blüte zu Blüte zu fliegen, in die duftigen Kelche zu tauchen, den süßen Honig zu sammeln, schwirrenden Fluges heimzutragen und in die schimmernden Waben zu kleben. Und drüben auf dem Felde die derben Knechte und Mägde bei ihrer schweren Arbeit – zuweilen trug der Wind ein Lachen oder einen Zuruf herüber – die waren auch an ihrem Platze und froh und zufrieden dabei. Franz Heim beneidete die kleinen Arbeiter in den Blumen und die großen auf dem Felde. Die wußten doch, wozu sie auf der Welt waren.

Was wollte denn er hier? – Diese Frage drängte sich ihm nun doch mit Gewalt auf. »Wenn ich nicht verhungern will«, sagte er bitter zu sich, »bleibt mir nichts übrig, als daß ich mich als Knecht vermiete und den Pinsel mit der Forke vertausche.« Oder doch noch einmal die Palette zur Hand nehmen? Nein, nein, um alles in der Welt nicht! Der Gedanke verursachte ihm geradezu körperliches Unbehagen. Die Malgeräte lagen ganz zu unterst im Reisekorb und sollten in ihrer Ruhe gewiß nicht gestört werden. Aber was denn? Der einsame Grübler fand keine Antwort. Eine bitterböse, verzweifelte Stimmung kam über ihn. Ein unvorsichtiger Laufkäfer, der sich auf seine Weste verirrte, mußte es schwer büßen, indem er durch einen ärgerlichen Schlag der Hand zerquetscht wurde. Als das Tierchen zuckend im Heidekraut hing, tat es aber dem unbedachtsamen Mörder schon leid, daß er dem harmlosen Geschöpf sein bißchen Lebenslust geraubt hatte. Aber, dachte er, das Schicksal schlägt auch mit derber Faust zu, wenn eins von uns Menschenkindern sich dahin verstiegen hat, wohin es nicht gehört.

Die Schatten des Wacholderbusches wurden länger. Das Bienengesumm verstummte nach und nach. Nur einige ganz fleißige Arbeiterinnen hingen noch an den Blüten; die meisten hatten schon Feierabend gemacht. Die Leute auf dem Felde legten die Ackergeräte über die Schulter und gingen heim. Aus der Heide stiegen leichte, weiße Nebel auf. Wie alte Leute in stillen Abendstunden vergangener Zeiten gedenken, so feierte die Heide in abendlicher Stille die Erinnerung uralter Zeiten, da das Meer noch die norddeutsche Tiefebene bedeckte. Die wallenden Nebel ließen sie wie den weiten, endlosen Ozean erscheinen, in dem blaue Fuhrenwälder als ferne Inseln schwammen. Der einsame Träumer hatte in diesem Nebelmeere das Gefühl des Schiffbrüchigen, der nichts gerettet hat als das nackte Leben. Und war dieses es noch wert, so ängstlich festgehalten zu werden? Waren die nicht viel besser daran, welche die Tiefe schon verschlungen hatte?

Ganz allmählich legte sich aber die tiefe, friedevolle Abendstille der Heimat auch auf seine Unruhe und schläferte die Bitterkeit und den Unmut sachte ein. So bringt wohl Mutters weiche, sanfte Hand des kranken Kindes Harm und Gram zur Ruhe, daß es ihn für eine Weile fast vergißt.

Über den Wäldern von Wrieloh tauchte der Mond auf. Der Einsame sah die silberne Scheibe größer und größer werden, und bald war sie zu einer feurigen Kugel geworden, die auf dem Nebelmeere zu schwimmen schien. Da plötzlich sprang er auf. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Es war die erste wirkliche Willensregung an diesem Tage, den er in schlaffem, dumpfem Grübeln zugebracht hatte. Wenn es in Vierhöfen und auf dem Snarshof still geworden wäre, wollte er sich aufmachen und der alten Heimat einen heimlichen nächtlichen Besuch abstatten. Der verschwiegene Mond sollte ihm noch einmal alle die lieben alten Stätten der Kindheit zeigen.

Vorerst kehrte er in seine Wohnung zurück. Bei dem Abendbrot bekam Frau Dreyer eine kleine Anerkennung, die ihr sehr wohl tat. Um neun Uhr hielt die Post wieder vor dem Hause, gegen halb zehn löschte der Hausherr das letzte Licht. Eine Viertelstunde später öffnete Franz Heim leise das Fenster, hob sich vorsichtig hinaus und schlich auf den Zehenspitzen über den Hof und am Häuslingshause vorbei. Dann schritt er wacker durch Wald und Heide auf Wrieloh zu.

Der Mond warf den wandernden Schatten nach rechts in die Heide und ließ ihn bald an einem Wacholder oder einer Fuhre emportanzen, bald in einer Sandmulde fast untertauchen. Wie glitzernde Wasserläufe zogen sich die gleichlaufenden weißen Fußpfade auf dem dunklen Grunde dahin, hier und da in einer Bodensenkung sich verbergend. Es machte dem einsamen Wandersmann Freude, tüchtig auszulangen und das gleichmäßige Tempo der eigenen Schritte und das Rauschen der Füße, die auf dem schmalen Wege das Heidekraut streiften, zu hören. Einmal blieb er stehen, um auf die Stille der Nacht zu lauschen. Irgendwo bellte ein Hund. Irgendwo klagte ein Nachtvogel. Ganz in der Ferne schlug eine Turmuhr. Es konnte nur die von Wrieloh sein, deren Klang die Flügel der Nacht so weit in die Lande trugen. Dann war es ganz still. So still, wie nur eine Nacht in der Heide sein kann. Der einsame Horcher hörte das Klopfen seines eigenen Herzens. Das war der einzige Ton in dieser großen Stille.

Als Franz wieder eine Stunde gut ausgeschritten war, schlug die Turmuhr ganz nahe, dicht hinter dem Fuhrengehölz, in das er eben eintreten wollte. Er blieb stehen und zählte jeden Schlag mit. Elf lang nachzitternde Schläge! Es war noch der alte, feierlich-ernste Klang, den die ehrwürdige Turmuhr in die Spiele seiner Kindheit hineingerufen hatte. Ihm war's, als hätte er diesen Ton erst gestern gehört. – Nun führte der Weg an der rauschenden Mühle vorbei, deren weiße Sturzwasser im Mondlicht blitzten, über die verwitterte Holzbrücke, unter der die Wasser sich allmählich wieder beruhigten. Heim setzte sich auf das Brückengeländer und schaute sinnenden Auges auf das Dorf, das im weiten Kranze seiner Wiesen friedlich schlummerte, im Nebel, der über dem Flusse lag, wie eingebettet. Die Wasser der Werle sangen ein leises, verträumtes Schlaflied.

»Tuut! Die Glocke hat jetzt elf geschlagen.«

Das war Hinnerk Blom, der Nachtwächter, der seinen Rundgang machte. Franz Heim erkannte ihn an der schartigen Stimme. Scharf klappten seine Holzschuhe durch die lautlose Stille, und der Lauscher an der Brücke geleitete ihn mit seinen Gedanken durch die eichenüberwölbten Dorfstraßen. Nun stand er am Schulhause und tutete mit besonderem Nachdruck:

»Tuut – tuut – tuut!
Die Glocke hat jetzt elf geschlagen.
Bewahret Feuer und Licht,
Daß kein Schaden geschicht!«

Nun entfernten sich seine Schritte, aber noch immer blieb das grünumschirmte, ruhige Licht im Fenster des Küsterhauses sichtbar. Was mochte den Alten, der dort hauste, zu so später Stunde, wo das ganze Dorf schlief, noch wach erhalten?

*

Nahe an der Kirchhofsmauer, im Grün versteckt und von Weinlaub umrankt, liegt Herrn Bartels trauliches Heim. Drin hat er seines Amtes schon an die fünfzig Jahre gewaltet und ist darüber ein ehrwürdiger Greis in langem Silberhaar geworden.

Fast die ganze Einwohnerschaft des Dorfes ist durch seine Hände gegangen. Angstvoll der kommenden Dinge harrend, haben fünfzig Jahrgänge kleiner blauäugiger Abcschützen zu ihm aufgeblickt, und wenn sie acht Jahre später kurz vor der Konfirmation von ihm geschieden sind, haben die kleinen Mädchen sich die Äuglein ausweinen wollen, und die Jungens sind weniger als sonst zu Dummheiten aufgelegt gewesen. Nach Jahr und Tag sind sie ihm paarweise wiedergekommen, und er hat ihnen auf seiner geliebten Orgel gespielt: »Jesu, geh' voran.« Und wieder nach Jahren haben sie ihm ihre Kinder gebracht, und die haben ihn auch ängstlich angestarrt und ihn dann ebenso liebgewonnen wie einst Vater und Mutter in ihren jungen Tagen. Aber manch einem hat er auch schon im hohen schwarzen Hut das letzte Geleit gegeben und ihm mit den Singjungens als letzten Gruß ins Grab gesungen: »Jesus, meine Zuversicht«. Seit sieben Jahren ist er Witwer. Da ist's einsam um ihn geworden. Seine Kinder sind längst erwachsen und haben in der Ferne eigene Familien.

Herr Bartels ist einer von den Altmodischen. Morgens pünktlich eine Minute vor sechs schreitet er über den Kirchhof mit langen, festen Schritten, wirft einen Blick auf das Grab seiner Eheliebsten und zieht, wenn die Turmuhr ausgeschlagen hat, die Betglocke. Mittags um zwölf Uhr, wenn die Schule aus ist, wieder, und wenn er die Feierabendglocke gezogen hat, tritt er an den Kirchhofszaun, lehnt gemütlich drüber hin und wechselt freundliche Rede mit den Leuten, die vom Felde kommen.

Wenn sonntags der Vers nach der Predigt gesungen wird, übergibt Herr Bartels die Orgel einem jungen Kollegen aus einem der Außendörfer, steigt die Empore hinab, geht würdig den Hauptgang entlang und tritt vor den Altar. Dort richtet seine gebeugte Gestalt sich auf, indem er die hohen Leuchter herabnimmt. Wenn er sie dann angezündet hat und mit zitternder Hand wieder an ihren Platz stellt, glänzt sein langes, weißes Haar im Widerschein des Lichtes. Dann sieht die Gemeinde voll Ehrfurcht auf ihren alten Küster, wie er des Dienstes am Heiligtum waltet.

Auch darin ist Herr Bartels ein Altmodischer, daß er ein treuer Hannoveraner ist. Die Bilder Ernst Augusts mit dem grimmen, bärbeißigen Schnauzbart und des blinden Georg mit den stillen, edlen Zügen nehmen über dem altertümlichen Sofa der Wohnstube die Ehrenplätze ein. Freilich, wenn das jüngere Geschlecht mehr an 1870/71 denkt als an 1866 und manch einer von der Soldatenzeit Liebe zum Reich und zum alten Kaiser mitbringt, so regt er sich darüber nicht auf. Ein Verbissener ist Herr Bartels nie gewesen, und in der abgeklärten Ruhe seines Alters ist er davon weiter als je entfernt.

Ein Steckenpferd hat der alte Herr. Das ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Eigenart seines Dorfes und Stammes. Schon vor fünfzig Jahren hat er angefangen, bei den ältesten Leuten die alten Sagen und Geschichten, wie sie an den Winterabenden auf der Ofenbank zum schnurrenden Spinnrad erzählt werden, zu sammeln. Sauber ins Reine geschrieben liegen sie in seinem Schreibpult. An Veröffentlichung hat der bescheidene Mann niemals gedacht, obgleich seine Pastoren ihm öfters zugeredet haben. Aber wenn er in der Heimatkunde und in der Geschichtsstunde die alten Sagen und Geschichten, die sich an diesen Hof und an jenen Wald knüpfen, erzählt, dann ist selbst der dickfelligste Junge ganz Ohr. Die Reihenfolge der preußischen Könige mit ihren Jahreszahlen sitzt freilich nicht so gut, aber der verständige Kreisschulinspektor drückt ein Auge zu. So pflegt Herr Bartels von Geschlecht zu Geschlecht die Liebe zur schlichten Heideheimat, die er selbst so mit ganzem Herzen liebt. Als zu Anfang des Jahrzehnts das Amerikafieber in der Heide grassierte, hat es in Wrieloh nur ganz wenige ergriffen. Vielleicht kommt das auch mit daher, daß Herr Bartels den Leuten die Heimat zu lieb gemacht hatte.

Ein Festtag ist es jedesmal für den alten Herrn, wenn von der reichhaltigen Kirchenbibliothek in Celle das erwartete dicke Paket mit heimatlicher Literatur ankommt. Dann kann er nicht ins Bett finden. Da macht er 's sich recht behaglich in seinem bequemen Armstuhl, raucht einen Pfeifenkopf nach dem andern, blättert hin und her, liest hier ein paar Seiten und betrachtet da einen alten Stich und freut sich auf die schönen Stunden, welche die Bücher ihm für die nächsten Wochen versprechen. Und Hinnerk Blom, der Nachtwächter, wundert sich bei jedem Rundgang, daß beim alten Küster noch Licht ist, und singt vorm Schulhause mit besonderem Nachdruck: »Die Glocke hat jetzt elf geschlagen!« – So eben ist's heute, und diesen Ruf hat der Einsame an der Werlebrücke gehört.

Aber der Alte, der tief in seinem Armstuhl sitzt, von dichten Tabakswolken umhüllt, hat nicht darauf geachtet. Was er da in der uralten schweinsledernen Lüneburger Chronik liest, fesselt ihn so, daß er über die Zeit entrückt ist. Und schon holt die alte Wanduhr über dem Sofa aus, um halb zwölf zu schlagen. Da – zugleich mit dem Schlage der Uhr – klopft es ans Fenster. Der alte Herr fährt von seiner Chronik auf, es ist aber wohl eine Täuschung gewesen. Nein, es klopft schon wieder! Nun geht Herr Bartels mit der Lampe ans Fenster, zieht den Vorhang in die Höhe und öffnet. »Wer da?« »Ein alter Bekannter«, antwortet draußen eine Stimme, die ihm bekannt vorkommt, die er aber im Augenblick doch nicht hinzubringen weiß. Er hält die Lampe so, daß ihr Schein dem draußen Stehenden ins Gesicht fällt, und schaut scharf in dessen Züge: »Franz Heim, du bist das?« ruft er erstaunt, »Wo kommst du denn auf einmal her? Ich schließe dir auf, geh' vor die Haustür!«

Dort schüttelten sie sich wacker die Hände. Dann führte der alte Lehrer seinen nächtlichen Gast an der Hand in die Wohnstube. Indem er die Bücher forträumte – er konnte es nicht unterlassen, die interessante Chronik jenem schnell zu zeigen – sagte er: »Das ist mir noch nie passiert, daß mir so spät noch so lieber Besuch gekommen ist. Ist doch manchmal ganz gut, wenn man nicht so früh in die Federn kriecht. Aber warte, du bist gewiß durstig ...« Er stand vor dem jungen Mann und sah ihn mit seinen großen Augen freundlich und väterlich an: »Du darf ich doch zu meinem alten Franz ja wohl noch sagen, nicht wahr? Das Umlernen fällt alten Leuten schwer.« Als dieser mit Lebhaftigkeit versicherte, das vertrauliche Du aus dem Munde seines alten Lehrers habe ihn gleich so angenehm berührt und selbstverständlich müsse es dabei bleiben, meinte er, sein »Fränzchen« sei doch ganz der Alte geblieben, und ging hinaus, um einen guten Tropfen von seinem Obstweinvorrat zu holen. Der andere blickte ihm nach und schüttelte traurig den Kopf.

Nach einigen Minuten kam der Lehrer mit einer Flasche Stachelbeerwein wieder. Aus dem Glasschrank nahm er zwei Gläser, schenkte ein, und sie stießen an: »Willkommen in der alten Heimat!« Als sie getrunken hatten, hielt Herr Bartels sein Glas gegen das Licht, schaute mit einem Auge hindurch, freute sich an der durchsichtigen Klarheit des selbstgekelterten Weines und meinte behaglich: »Vierjähriger! Aus dem großen Stachelbeerjahr 1883. Ich hatte selbst über die Maßen viel, und Herr Pastor hat mir noch abgegeben, weil er seinen Überfluß durchaus nicht lassen konnte. So ist der Wein mit von den Stachelbeerbüschen, die du mit deinem Vater gepflanzt hast. Weißt du noch?«

»Ja, ganz genau, als ob es gestern gewesen wäre. – Das war eine schöne Zeit«, setzte Franz Heim leise hinzu.

Der alte Herr bot seinem Gast eine Zigarre, die jedoch zurückgewiesen wurde. Er selbst steckte die Pfeife wieder an, setzte sich recht behaglich zurück und sagte, nachdem er sie durch einige kräftige Züge in Gang gebracht hatte: »So! Nun mußt du aber erzählen. Wie ist es dir denn alle die Jahre ergangen? Ich dachte, du hättest wohl mal von dir hören lassen. Und wo kommst du so spät her? Du siehst mir etwas bekümmert aus. Oder sollte das davon kommen, daß du vielleicht lange im Mondlicht gewandert bist?«

»Ich bin seit gestern abend in Vierhöfen. Die schöne, stille Mondnacht lud mich ein, die liebe alte Heimat zu besuchen. Sie, Herr Bartels, haben ja auch geholfen, sie einem so lieb zu machen, daß man sie nie vergessen kann. Und als ich ins Dorf komme, sehe ich, daß bei Ihnen noch Licht ist. Da hab ich's gewagt und angeklopft, um meinem alten Lehrer mal eben die Hand zu geben. Setzen wollte ich mich eigentlich nicht erst. Nun will ich aber auch gleich weitergehen.«

»Das wäre noch schöner!« lachte Herr Bartels. »Du glaubst doch wohl selbst nicht, daß ich dich so schnell loslasse. Erzähle, bitte, weiter! Wie ist es dir ergangen?«

»Wie es mir ergangen ist? Das ist leicht gesagt: Herzlich schlecht ... Ich weiß nicht, wie es mir schlechter hätte gehen können. Aber Sie wollen Genaues hören. Es hat ja wohl keinen Zweck, darüber zu reden. Doch wir sind nun einmal dabei, und so mag's sein. Sie wissen, daß ich Maler werden wollte. Da hängt ja noch das Bildchen von Ihrer Orgel, das ich als Junge für Sie zeichnete. Meine Eltern würden wohl schwerlich ihr Jawort zu meiner Berufswahl gegeben haben. Der Vormund, der mir nach ihrem Tode bestellt wurde, ließ mich aber nach langem Bitten und Drängen nach München ziehen. Es ging mir da wie so vielen, die daheim für große Lichter galten. Da, wo die vielen kleinen und großen Lichter sich vereinigen, verlor das eigene kleine Licht sehr bald seinen Schein. Ich tauchte vollständig in der breiten Masse der Dutzendkünstler unter. Und es gibt kein elenderes Los auf Erden, als ein Pfuscher in der Kunst zu sein. So ist es mir gegangen. Ich darf sagen, daß ich mir redlich Mühe gegeben habe. Aber obgleich ich nun schon eine Reihe von Jahren male, habe ich noch nichts zustande gebracht, was mir Hoffnung geben könnte, daß ich es je zu etwas bringen werde ... Das Wenige, was meine Eltern mir hinterlassen haben, ist beinahe verbraucht. Und ich hatte immer gehofft, wenn dieses auf die Neige ginge, würde meine Kunst mich nähren. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll. Es ist zum Verzweifeln! – Es ist nicht leicht, wenn ein junger Mensch so allein in der Welt steht, ohne Vater und Mutter. Es ist aber noch viel schwerer, wenn einer in meinen Jahren, wo es so schwer, ja unmöglich ist, von vorne anzufangen, zu der Einsicht kommt, daß er seinen Beruf verfehlt hat.«

So legte Franz Heim dem väterlichen Freunde offen dar, wie es um ihn stand. Nun schwieg er und blickte tiefbekümmert vor sich hin.

Herr Bartels hatte die Pfeife zur Seite gestellt und blickte voll Teilnahme auf den jungen Freund. Er schwieg. Hier war es nicht leicht, zu trösten und zu raten, und allgemeine Redensarten liebte er nicht. Endlich brach er das Schweigen und fragte: »Was hast du denn gemalt?«

»Zuletzt habe ich mich an einem Stoff aus der griechischen Mythologie versucht. Aber die gestrengen Herren Kritiker sagten, man vermisse bei dem Künstler die schaffende Phantasie. Die Auffassung sei zu kleinbürgerlich, zu hausbacken. Überall gucke der steife norddeutsche Philister heraus.«

Wieder entstand eine längere Stille. Dann wiegte der alte Lehrer bedächtig das Haupt und sagte langsam und mit Nachdruck: »Ich glaube, Franz, deine Beurteiler haben recht, und ich fürchte, sie werden immer recht behalten, wenn du dich an solche großen Dinge wagst. Soweit ich dich kenne, meine ich – nimm es mir nicht übel, wenn ich dir das ganz offen sage – du bist solchen Stoffen nicht gewachsen. Sieh, Franz, du bist ein Kind der Heide. Die Heide aber ist schlicht, ernst, einfach. So sind wir Heidjer meist auch. Eine gewisse Schlichtheit und Einfachheit, ich kann dafür auch sagen: Phantasiearmut, ist unser mütterliches Erbteil. Uns Niedersachsen fehlt der leichte, freie Schwung der Phantasie. Wir sind steif, schwerfällig, dickblütig. Darum hat ja auch unser Land dem weiteren Vaterlande kaum einen größeren Dichter geschenkt. Wir haben wohl unsere heimischen Dichter, die uns erfreuen, indem sie unsere Eigenart pflegen und in unserem gemütlichen Platt zu uns sprechen, aber über die Grenzen unserer niedersächsischen Gaue ist ihr Name selten hinausgedrungen. Und nun hast du, der Junge aus der Heide, dich an die griechischen Sagen gemacht, die auf einem ganz anderen Boden und unter einem ganz anderen Himmel gewachsen sind. Das konnte ja nichts geben. Du lebtest nicht darin und konntest dich mit der angeborenen Schwerfälligkeit unseres Stammes auch nicht so hineinleben, wie der Künstler es doch wohl muß, wenn aus seiner Arbeit etwas Tüchtiges werden soll.

Aber gibt es denn sonst nichts zu malen als griechische Helden und Götter und leuchtenden südlichen Himmel und majestätische Berge? Gibt es denn hier bei uns zulande nichts, gar nichts? Ich glaube, ihr Maler habt das bloß noch nicht entdeckt. Es zog euch die alte Gewohnheit in den farbenprächtigen Süden, und für unseren schlichten, keuschen Norden hattet ihr kein Auge.

Manchmal, wenn ich so durch das Dorf gehe oder durch unsere stillen Fuhrenwälder, über die braune Heide oder das dunkle Moor, dann bleibe ich wohl stehen: Könntest du doch dieses eigenartige Bild festhalten, könntest du doch malen! Zum Beispiel so eine sturmzerzauste Birke, die am tiefen Moor einsam trauert und deren reines Weiß sich so wundervoll gegen das dunkle Wasser abhebt. Oder wenn der Sonnenschein um die schlanken, roten Fuhrenstämme spielt, oder wenn der Tag über der weiten Heide in wunderbaren Farbtönen verdämmert, was sind das manchmal für Bilder! Oder unsere alten gemütlichen Bauernhäuser aus Fachwerk mit den Pferdeköpfen auf den Giebeln und der weiten, dunklen Missentür Großes Einfahrtstor, umgeben von Speicher und Backofen und Schafstall im heimeligen Schatten der sturmfesten Eichen – gibt es traulichere Heimstätten in der ganzen Welt als solche Lüneburger Heidegehöfte? Oder denke an die wortkargen, ernsten Menschen, die in unserm Lande wohnen, bei ihrer sauren Arbeit und ihren einfachen Freuden! Ich denke, die stillen, gefurchten Gesichter hätten der Menschheit noch manches zu sagen, was in den Steinhaufen eurer Städte sich nur noch selten findet: von stiller Sammlung der Seele, von einem Herzensfrieden, der besser ist als alle die quälende Unruhe, die ihr da draußen in der großen Welt euch macht, von einem Leben, das nicht Leben haschen, sondern Leben haben ist. – Freilich, die Kunst, die für das alles uns die Augen öffnet, schläft noch. Wie Dornröschen schlief, im Märchen! Wenn doch ein Königssohn käme, so einer mit hellen, starken Augen und festem, treuem Herzen, und weckte uns das schlafende Königskind!

Lieber Junge, ich las neulich Ludwig Richters ›Lebenserinnerungen eines deutschen Malers‹. Ein schönes Buch; du als Maler kennst es gewiß auch. Da ist mir ein Wort besonders im Gedächtnis geblieben. Ludwig Richter sagt da einmal, die südliche Natur sei ihm immer erschienen wie eine Jungfrau aus königlichem Geschlecht, eine Iphigenie; die deutsche Natur dagegen als ein einfaches, tiefsinniges Bürgerkind, ein Gretchen im Faust. Den Adel der Königstochter habe er mehr und mehr bewundert, aber seine Liebe sei das schlichte Bürgerkind geworden. Sieh, darum ist auch seine Kunst so eine echt deutsche Kunst und spricht uns so warm zum Herzen, wie einst Mutter, wenn sie uns auf dem Schoß hatte und ein liebes, altes Märchen erzählte. – Franz, um die stolze Königstochter hast du lange genug geworben. Sie hat dich schnöde abgewiesen. Laß sie laufen! Wirb du lieber um das schlichte Kind deiner Heimat! Da hast du gewiß mehr Glück. Laß deine Muse das einfache Heidekind sein, mit blonden Zöpfen und lichtblauen Augen!«

Immer wärmer hatte der Alte gesprochen, und seine stillen Augen leuchteten, wie er von seiner Heimat sprach. Bei den letzten Worten hatte er die Hand seines jungen Freundes ergriffen und fuhr nun fort: »An die Hand möchte ich dich nehmen und dich durch deine alte Heimat führen und dir sagen: dies mußt du malen, und hier ist ein Bild! Aber das würde ja wohl nicht viel helfen. Selbst ist der Mann! Alter Junge, mache deine wackern Heidjeraugen auf, dann wirst du überall Schönes entdecken. Und du wirst es malen müssen. Daß es dir dann gelingen wird, darauf gebe ich dir getrost mein Wort. Da wirst du dich nicht mehr im Fremden quälen, sondern frisch und freudig im Eigenen schaffen.«

Der andere zuckte die Achseln und sagte nichts. Der alte Lehrer fuhr fort: »Gestern abend bist du nach Vierhöfen gekommen, sagtest du. Wie lange wolltest du da bleiben?«

»Zunächst einige Tage«, antwortete der andere. »Für längere Zeit habe ich noch keinen Entschluß gefaßt.«

»Na, lege dich man da ordentlich vor Anker und mache es, wie ich gesagt habe! Oder, wenn du mir eine große Liebe erzeigen willst, so komme doch zu mir! Mein Haus hat Platz genug, seit Mutter tot ist und die Kinder fort sind. Es wäre für mich alten, einsamen Mann eine große Freude.«

»Nein, Herr Bartels, ich danke Ihnen herzlich für Ihr freundliches Anerbieten. Aber ich kann es nicht annehmen. Ich bin hier zu bekannt und müßte auf hundert neugierige Fragen antworten. Darum will ich lieber in Vierhöfen bleiben, wo mich einstweilen noch niemand erkannt hat.«

»Ach so ... Dagegen kann ich ja nicht viel sagen. In Vierhöfen hast du auch die beste Ruhe für deine Arbeit. Aber die Hauptsache ist nun: Nicht grübeln, sondern den Kopf hoch, die Augen auf, die Zähne zusammengebissen und die Hand an die Arbeit, mit Lust und Freudigkeit!«

»Das ist ja alles recht gut und schön«, sagte Franz Heim bitter. »Aber wer solche schweren Enttäuschungen erlebt hat wie ich, dem predige einer nur Lust und Freudigkeit! Er predigt gewiß tauben Ohren. Ich könnte mich jetzt nur mit äußerster Willensanstrengung an die Arbeit quälen, ja, ich weiß nicht einmal, ob meine Willenskraft dazu ausreichen würde. Es wäre wirklich schade um die schöne Leinwand, die auf diese Weise verdorben würde.«

»Freilich, ohne Lust und Freudigkeit geht es nicht«, sagte der Alte gedehnt.

»Aber woher die nehmen?«

»Lust und Freudigkeit kannst du nur gewinnen, wenn du Vertrauen hast ... ja, Vertrauen!«

»Vertrauen, ja, ein schönes Wort! Sie haben gut reden: du mußt Vertrauen haben! Aber das ist's ja gerade, das Vertrauen zu mir, zu meiner Kraft, zu meiner Kunst ist gänzlich zum Teufel. Das ist's ja gerade!«

Diese Worte klangen so bitter und verzweifelt, daß der alte Herr den Sprecher erschrocken anblickte. Aber schnell kehrte die Ruhe in das würdige Greisenantlitz zurück, und er sagte, indem er dem Jüngeren mit tiefem Ernst in die Augen schaute: »Mein lieber Franz, wenn du kein Vertrauen zu dir haben kannst, so mußt du Vertrauen zu etwas haben, was größer und stärker ist als du. Du mußt Vertrauen zu Gott haben. Nicht wahr, du nimmst es von deinem alten Lehrer an, daß er dir das sagt. Dem, der ihm vertraut, läßt Gott es gelingen. Du wirst mich genug kennen, um zu wissen, wenn ich dir das sage, so ist es keine Redensart, mit der einer sich hilft, wenn er sonst nichts zu sagen weiß.«

Der Jüngere schwieg und sah seinem alten Lehrer fast scheu ins Auge. Dann senkte er den Blick und sagte: »Da haben Sie auch an einen wunden Punkt gerührt, Herr Bartels. Ich habe heute abend so offen zu Ihnen gesprochen. Lassen Sie mich auch in diesem Stück ehrlich sein! Sie meinten vorhin, ich sei der alte geblieben. Nein, das bin ich nicht, und am wenigsten in diesem Punkte ... Der Glaube an Gott, in dem Ihr Leben ruht, ist mir verloren gegangen. Wenigstens ist er so brüchig geworden, daß er mir keinen Halt mehr gewährt. Ja, Sie sehen mich schmerzlich an. Es ist aber so, ich bin nicht mehr derselbe, der ich war, als ich zu Ihren Füßen saß und Ihnen auf alle Fragen nach Gott, Mensch und Welt aus Katechismus und Bibelwort frisch und munter Antwort geben konnte.

Ich weiß nicht, ob Sie mich hier ganz verstehen können. Ihre Jugend, die Jahre Ihres Werdens fielen in eine so ganz andere Zeit, als unsere unruhige, gärende Gegenwart ist. Und nun haben Sie hier fünfzig Jahre im Winkel gesessen, fernab von den Stürmen, die da draußen den Menschen fassen und bis ins Mark erschüttern. Sie kannten ja den Geist meines lieben Elternhauses. Wir jungen Leute, die wir aus solchem Hause und zumal aus solchem Pfarrhause ins Leben hinaustreten, wir haben es nicht leicht. Wir haben uns gewöhnt, die Menschen darauf anzusehen und danach zu beurteilen, ob sie kirchlich sind oder nicht. Wenn wir dann ins Leben hinauskommen, merken wir bald, daß dieser Maßstab nicht ausreicht, um den Menschen gerecht zu werden. Und still legen wir ihn beiseite. Damit fängt es an. Aber dabei bleibt es nicht. Es drängt sich uns auf, daß zu dem, was wir aus dem Elternhause mitgebracht haben, nichts recht stimmen will: die Sitte nicht, die uns umgibt, die allgemeine Lebensanschauung und der Verkehrston nicht, die geistige Luft nicht, die wir atmen, mit einem Worte, eigentlich nichts. Viele meiner Altersgenossen, die ich kennen gelernt, haben sich da nun sehr einfach geholfen. Sie haben das alte Kleid, das ihnen unbequem wurde, ausgezogen und sich eins nach der neuesten Mode gemacht. Das alte Mäntelchen wurde höchstens mal wieder übergehängt, wenn sie in den Ferien daheim waren und Rücksichten zu nehmen hatten. Anderen ist es gelungen, den Kindesglauben auf eine stille, abgeschlossene Insel ihres inneren Lebens zu flüchten. Dort wohnt er nun, gleichsam in der Verbannung, ohne rechten Einfluß auf den Menschen, auf sein Tun und Lassen und auf sein inneres Leben. Und doch, meine ich, muß die Religion, wenn sie überhaupt Wert haben soll, für den Menschen eine Lebensmacht sein. Endlich noch andere müssen schwere Kämpfe durchmachen. Einmal glauben sie, nun hätten sie ihre Vergangenheit endgültig hinter sich geworfen. Aber dann wieder beginnt es in ihrem Herzen zu tönen, als ob da Glocken läuteten, die zu Heimat und Vaterhaus zurückrufen wollen. Diese Menschen sind wohl am schlimmsten daran. Die anderen sind in ihrer Weise zufrieden. Diese aber müssen kämpfen, oft heiß und lebenslang. Und auf welche Seite sich schließlich der Sieg wenden mag, Narben werden sie alle ihre Lebtage behalten. Vielleicht ist es die beste Kraft, die in diesen Kämpfen aufgerieben wird.«

Franz Heim schwieg. Dem alten Manne waren diese Gedankengänge in der Tat etwas fremd. Doch verstand er soviel, daß sein alter Schüler zu der dritten Art Menschen gehörte. Nach einer Weile knüpfte er an das Wort von Heimat und Vaterhaus an. »Kann denn einer«, so fragte er leise, »der dem Vaterhause und der Heimat fremd geworden ist, nicht dahin zurückkehren?«

»Sehen Sie«, sagte der andere, »damit ist es gerade so, wie mit dem Pfarrhause da drüben. Wenn ich da jetzt hineinginge, würde eine Stimme mir sagen: ›Franz, du bist in deinem Vaterhause.‹ Aber dann würden die unbekannten Möbel und die Bilder an den Wänden und die fremden Menschen mich fremd anschauen und mir zurufen: ›Nein, Franz, dies war einmal dein Vaterhaus. Jetzt bist du hier ein Fremder und kannst dich in den alten Räumen nicht mehr zu Hause fühlen‹.«

Wieder herrschte langes Schweigen. Endlich sagte der Alte in seiner schlichten Weise: »Lieber Franz, unser Herr Christus sagt einmal: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Er meint das wohl freilich vom seligen Himmelreich. Aber ich glaube, wir dürfen es auch schon von seines Vaters Haus auf Erden verstehen. Darin sind auch viele Wohnungen. Und jede ist wohl nicht wie die andere eingerichtet und geschmückt. Ich glaube, du findest da auch noch deine Wohnung, in der du dich zu Hause fühlst. Ist's vielleicht nicht dieselbe Stube, in der ich alter Mann wohne, nun, so mag's nebenan sein. Wenns nur eine Wohnung in des Vaters Hause ist!

Du hast die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gesehen, dennoch zweifle ich nicht, daß die alte, schlichte Heideheimat dir wieder lieb werden wird. Das ist schließlich der beste Dienst, den die Fremde einem leistet, daß sie uns die Heimat lieb macht. Und ich glaube sicher, auch in die andere Heimat, von der wir jetzt sprechen, wirst du dich schon wieder zurückfinden. Du hast dich in der Fremde immer fremd gefühlt. Ich habe zwar nicht alles verstanden, was du da von Kämpfen und Weltanschauung gesagt hast, aber das habe ich deinen Worten wohl angemerkt.«

Beide schwiegen. In dieser Stille rief die Turmuhr die erste Stunde des neuen Tages. Franz Heim erschrak und sprang vom Sofa auf: »Ich stehle Ihnen hier die Nachtruhe, und Sie müssen um sieben Uhr Schule halten!«

»Laß man gut sein«, beruhigte ihn der Alte, »in meinen Jahren braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Aber willst du nun nicht doch lieber die Nacht hier bleiben? Das Fremdenzimmer steht bereit.«

»Nein«, wehrte der andere ab, »das geht nicht. Ich bin in Vierhöfen bei Nacht und Nebel ausgerückt. Was sollte Mutter Dreyer von mir denken, wenn sie morgen das Nest leer und den Vogel ausgeflogen fände!« Den alten Lehrer freute es, daß sein junger Freund dies mit einer gewissen Munterkeit sagte. Inzwischen hatte dieser Hut und Stock genommen, »Gute Nacht, Herr Bartels!« – »Gott befohlen, Franz!« und hinaus war er.

Als die Haustür sich hinter ihm geschlossen hatte, blieb er auf der Straße am Gartenzaun stehen. »War das alles ein Traum?« fragte er sich. Nein, da brannte noch das freundliche Licht des Küsterhauses. Aber wie war's denn gekommen, daß er, der verschlossene Mensch, der seit Jahren keinen mehr in sein Inneres hatte blicken lassen, dem alten Manne dort im Schulhause alles rückhaltlos offenbart hatte, was er sonst immer nur in sich bewegte? War der fahle Mondschein daran schuld, oder die linde Luft der Heimat – oder die väterliche, vertrauenerweckende Art des Alten? Er wunderte sich über sich selbst. Aber er freute sich zugleich. Es hatte wohlgetan. Für den Augenblick wenigstens war es, als hätte er mit der offenen Aussprache eine schwere Last abgewälzt und als fühlte er nur noch ein klein wenig die Stelle, wo sie so lange gedrückt hatte. Er atmete erleichtert auf und sog mit vollen Zügen den weichen Odem der lauen Juninacht ein.

Als Herr Bartels den nächtlichen Besucher zur Haustür hinausgeleitet hatte und mit der Lampe in der Hand über den Flur zurückging, nickte er nachdenklich mit dem Kopfe und sagte für sich hin: »Der wird schon noch zurecht kommen. Und es wird auch noch etwas aus ihm. Wenn jetzt Stürme den jungen Baum schütteln und zausen, so wird ihm das nur gut sein. Das wird ihn um so fester gründen im Heimatboden.« Herr Bartels, der die vielen Menschengeschlechter hatte werden und wachsen sehen, war ein guter Menschenkenner. So leicht täuschte er sich in einem Menschen nicht.

Franz Heim schritt langsam am Küstergarten entlang und stand am Kirchhofszaun. Leise öffnete er die Pforte und ging den Hauptweg entlang. Das Mondlicht zeichnete scharf die kleinen Hügel und die schlichten Holzkreuze. Der nächtliche Besucher nahm die Richtung auf ein Fliedergebüsch, in dessen Schatten drei weiße Steinkreuze standen. Hier ruhten seine Eltern und der früh verstorbene Bruder. Die Gräber waren wohlgepflegt. Das besorgte ungebeten die Dankbarkeit des alten Totengräbers, der einst während der langen Krankheit seiner Frau viel Liebes von dem Pfarrhause erfahren hatte.

Lange stand Franz Heim an der Ruhestätte seiner Lieben, unbeweglich und gesenkten Hauptes. Erinnerungen zogen durch seine Seele. Wäre er vor dem Besuch bei dem alten Freunde an die Gräber getreten, so würden diese Erinnerungen ihn mit heißem Schmerz erfüllt haben. Nun war der Schmerz der Erinnerung an eine ferne, glückliche Zeit gemildert durch ein ganz klein wenig Hoffnung, die ganz, ganz leise unter allem Schmerz die Flügel regte. Und es geschah, daß der große Schmerz und die kleine Hoffnung sich endlich auslösten in ein Gebet, das ihm ohne Worte, auch ohne klare Gedanken, leise wie ein segnender, stärkender Engel durch die tiefste Seele zog.

Als er den stillen Ort der Toten verlassen hatte, blieb er vor dem Pfarrhause stehen und ließ die Augen an den geschlossenen Fensterläden hingleiten. Jedes Fenster weckte besondere Erinnerungen. Welche glückliche Stunden hatte er dort in dem Kinderzimmer verlebt! Und drüben in der Studierstube des Vaters hatte er abends mit seinem Bruder auf den Knien vor dem großen Tierbilderbuch gelegen, und der Vater saß im Lehnstuhl hinter ihnen und nannte ihnen die Tiere und erzählte von deren Leben, und wer die Lektion vom vorigen Abend am besten behalten hatte, der bekam ein Bildchen, das er sich dann in ein selbtgemachtes Bilderbuch klebte. Und dort die »beste Stube«. Die Kinder hatten sie nur selten betreten dürfen, und doch knüpften sich an sie die schönsten Erinnerungen. Wenn die sehnlichst erwartete stille heilige Nacht gekommen war, dann war die Tür aufgesprungen, und es hatte geschellt, und des Christbaums Lichter hatten in seligen Kinderaugen gespiegelt ...

Die Gartentür war nur angelehnt. Sollte er hineingehen? Der Garten gehörte ja jetzt einem anderen, aber soviel Recht hatte Pastors Franz wohl noch, daß er einmal still durch sein früher unbestrittenes Reich schleichen durfte. Er trat leise ein. Im Blumengarten war mancherlei verändert. Nur das alte Rosenbeet war noch erhalten und stand eben in voller Blütenpracht. Heim fühlte die Versuchung, eine Rose zu brechen, aber er zog die schon ausgestreckte Hand zurück und ging langsam weiter. Im Obstgarten war alles beim alten geblieben. Der hochbejahrte Prinzapfelbaum mit der tiefen Höhlung, in der jedes Jahr ein Meisenpärchen nistete, lehnte sich noch immer quer über den Weg und kam dabei dem wackeren Bergamottbirnbaum ins Gehege, der sich stolz zum Himmel reckte und seine reiche Last trug, wie immer. Und die ehrwürdige Linde streckte noch immer die dicke Wurzel über den Hauptweg, daß er fast darüber fiel, wie ihm das im dritten Lebensjahr passiert war. Das war fast seine älteste Jugenderinnerung, wie er da heulend, mit blutender Nase, zur Mutter gelaufen war.

Unten im Garten, hart an der Wiese, befand sich eine Tannenlaube, als das lauschigste Plätzchen ihm in lieber Erinnerung. Er trat hinein und setzte sich auf die wohlbekannte Bank. Seine träumenden Augen wanderten durch das Paradies seiner Kindheit, das von weichem Mondlicht umflossen vor ihm lag. Die tiefe nächtliche Stille hatte hier an der Stätte seiner Jugendlust fast etwas Fremdes, und doch sprach gerade durch sie die Vergangenheit so heimlich traut zu ihm.

In der dichten Laube herrschte tiefes Dunkel. Nur durch eine Lücke in dem Tannendickicht flutete ein breiter Strahl des Mondlichtes herein. Als der Einsame nach langem Sinnen erwachte, ruhte der Strahl gerade auf dem Steintisch der Laube. Da beleuchtete er einen Gartenhut, der einem jungen Mädchen gehören mußte.

Also jetzt herrschte hier im Garten ein Pfarrtöchterlein. Vor wenigen Stunden hatte es wohl an seiner Stelle gesessen und mit hellen, frohen Augen in alle die blühende Herrlichkeit geschaut. – Er wünschte dem Kinde in stillen, warmen Gedanken eine ebenso schöne, glückliche Jugend, wie er sie hier verlebt hatte.

Im Osten begann das blasse Morgenlicht mit dem bleichen Mondlicht zu ringen. Der Rassehahn des Pfarrhofes kündete den nahen Morgen, und die Hähne der Nachbarschaft gaben ihm Antwort. Da schwang Franz Heim sich rasch über den Zaun und ging über die frischgemähte Wiese. Schnell war er an der Brücke und eilte mit lang ausgreifenden Schritten auf Vierhöfen zu. Die Turmuhr, die eben zwei schlug, hatte einen so ganz anderen Klang als vor drei Stunden. Es war ihm, als riefe sie zu einem neuen Tag und zu neuem Leben. Er erreichte Snarshof noch, ehe es dort lebendig geworden war, und tat nach der nächtlichen Wanderung einen langen, gesunden Schlaf.

Frau Dreyer begriff ihren Gast nicht. Daß Stadtleute länger schlafen als Dorfleute, wußte sie; denn sie hatte in jungen Jahren in der Stadt gedient. Aber daß ein junger Mensch den ganzen lieben Vormittag verschlafen und dem Herrgott die besten Stunden des Tages stehlen könnte, hätte sie nicht für möglich gehalten. Darüber stand ihr der Verstand rein still. »Is 'ne Sünde und Schande«, dachte sie. »Was hat unsereins da schon alles beschickt! Leute geweckt, Kaffee gekocht, Diele und zwei Stuben gefegt, Frühstück für die Leute auf dem Felde besorgt, gebuttert ...« weiter kam sie nicht, der Tagedieb trat eben ein.

»Gut geschlafen?« fragte sie. »Wie'n Bär«, lautete die lustige Antwort. »Wirklich? Hat Ihnen denn der Spektakel gar nicht gestört, der diese Nacht im Hause war?«

»Nein, nicht im geringsten«, sagte Heim mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt. »Was war denn los?«

»Unsere Swarzbunte hat vor die Szeit gekalbt. Da gab's viel Unruhe und Hinundherlaufen im Haus. Ich sagte noch ßu die Leute, sie sollten die Toffeln ausziehen und die Türen nich so ßuballern. Aber mit die fange einer was an! Und von all das haben Sie nix gehört? Dausend noch einmal, haben Sie aber einen gesunden Slaf!«

»Ist denn alles gut gegangen?«

»Danke, ja. Man hat bei so was immer viel Angst. Und unsere Swarzbunte ist das beste Beest in unserm Stall. »Wenn die erst milch geworden ist, gibt sie pro Tag über fünfundßwanzig Liter. Das kleine Kalb is ja man fein, abers das wird sich bei die fette Milch bald rausmachen.«

»Na, das ist ja denn man gut. Aber ist's wirklich schon so weit, wie die alte Klocke da zeigt? Ich habe meine Uhr gestern abend nicht aufgezogen.«

»Eine halwe Stund gehen unsere Uhren wohl vor, von wegen die Leute. Die kann man denn besser aus dem Bett kriegen. Indessen, elf ist's gewiß.«

»Oh weh, dann ist der halbe Tag schon wieder hin. Aber, hören Sie, von morgen an wird das anders! Sie wecken mich jeden Morgen um halb sieben, und Punkt sieben haben Sie den Kaffee auf dem Tisch. Verstanden, Frau Dreyer?«

Die gute Frau machte ein erstauntes Gesicht. Der Gast war ja gar nicht wiederzuerkennen. »Is recht«, sagte sie, »ßu lange slafen is auch gar nich gut für junge Leute. Da wird das Blut dick von, sagte Mutter selig.«

Der Maler hatte sich eben eine zweite Schnitte Brot gestrichen und sagte gemütlich: »Frau Dreyer, ich will Ihnen mal was sagen. Sie haben da ein Brot, das ist gar nicht mit Geld zu bezahlen. Ich war mehrere Jahre in München; da aßen sie immer nur so ein wabbeliges, schwabbeliges Weißbrot, das ich zuletzt gar nicht mehr sehen mochte. Da steckt in Ihrem Schwarzbrot doch ganz anders Kraft und Saft.«

Frau Dreyer hatte bei diesen Lobesworten die Hände in die Seite gestemmt und sagte stolz: »Ja, unser Brot ist gut, das haben schon viele gesagt. Ich backe abers auch noch selbsten. Die Bäcker kriegen's auch nich so saftig und nahrhaft. Selbst backen kost ja ein büschen viel Feurung, aber ich sage und bleibe dabei: Hausbackenbrot geht über allens!«

Wie gefiel der guten Frau heute ihr Gast! Jetzt konnte man doch mal einen ordentlichen Mund voll mit ihm schnacken. Das tat sie für ihr Leben gern, zumal mit gebildeten Leuten, die hochdeutsch sprachen. Und die kamen doch so selten in ihr Haus. Na, das wurde nun wohl nächstens besser, wenn der Snarshof als Sommerfrische in Aufnahme kam. Sie freute sich herzlich, daß ihre gute Küche und ein klein wenig vielleicht auch ihre Unterhaltungsgabe schon so schnell das Wesen des Gastes verändert hatten, und begann ein freundlich mütterliches Wohlwollen für ihn zu empfinden.

Als Franz Heim sich endlich von seiner redseligen Wirtin, deren Redestrom sich über ihn ergoß wie das Stauwasser über die Mühlräder, wenn die Schleusen aufgezogen sind, losgemacht hatte, blieb noch eine kleine Stunde bis zum Mittagessen. Er trat auf den Hof. Es war ein wohlig warmer Tag. Im Sande sonnten sich recht breit und behaglich die jungen Spatzen, und eine Sau führte zwischen dem Hühnervolk ihre urbehaglich grunzende Ferkelschar spazieren. Franz Heim hatte heute ein helles Auge für dieses gemütliche Hofleben, das er gestern überhaupt nicht gesehen hatte. Bald suchte er aber die stillere Seite des Hofes auf und ging unter den hohen Eichen auf und ab, um über die Erlebnisse der letzten Nacht nachzudenken. Vor allem vergegenwärtigte er sich noch einmal das Gespräch mit dem alten Lehrer. Es hatte sich ihm fast Wort für Wort eingeprägt.

Als er einige Male lang ausschreitend und den Blick zu Boden senkend den Hofraum durchmessen hatte, merkte er, daß er weiter gegangen war, als er eigentlich wollte. Er blickte auf und stand dicht vor dem Häuslingshause. Auf seinem gewohnten Platze saß, wie gestern, der alte Strumpfstricker, der ihn verwundert anblickte. Der Maler war ihm so nahe gekommen, daß er nicht gut umhin konnte, ihn zu begrüßen.

»Na, ol' Vader, noch jümmer flietig?«

»Tjau! Wat helpt dat all! Wat een kann, dat mutt he noch dohn. Buten well dat nich mehr, de Rügg is all so stief. Abers das Knütten geiht noch. Kiek, so veel hett dat hüt morrn all brocht.« Er maß die Arbeit der Vormittagsstunden mit dem Zeigefinger ab. »Wat makt he hier denn?«

»Oh, ick gah hier so 'n beten up un dal.«

»Hett he denn keen Geschäft?«

»Jo, ick bin Maler.«

»So, dat mag. Denn hett he woll just keen Arbeit?«

»Nee.«

»Hier in use Dörp is keen Maler, abers in'n Kerkdörp, dor wahnt 'n düchtigen Meister. Maak nennt sick de Mann. De gräune Kutschwagen dor vör de Missendör hett he körtens anstreken. Kiek, wo fein makt sick de roden Blomen up de Achtersiet! Kann wän, dat de Mann upstunns 'n Gesellen brukt.«

»Nee«, sagte Franz Heim lächelnd, »bi Meister Maak will ick nich arbei'n. Hett ol Vader denn keen Arbeit för mi?«

»Ick? Will he mi brüen foppen

»Ick meente man. Nix för ungod! Denn will ick man 'n beten wieder gahn. Adjüs ok!«

Er war wieder einige Male unter den Eichen auf und ab gegangen, die unterbrochenen Gedankengänge fortspinnend. Da sah er, wie der Alte sich erhoben hatte, an seinem Stock auf ihn zuhumpelte und mit der linken Hand winkte. Er ging ihm entgegen, und schon von ferne rief jener ihm zu: »Ick heww doch Arbeit för em funnen.«

»Na, dat schall mi verlangen, wat denn?« fragte er neugierig.

»Unse Hus«, antwortete der Alte fast atemlos und mit großem Eifer, »hett nudags ... 'ne niege Swell hat vor kurzem einen neuen Balken über der Tür gekriegt öwer de Dör ... kregen. Up de ole stünn so'n schönen Spruch ut ole Tieden ... und dat hett mi all jümmer verdraten, dat de nu da nich mehr to lesen is ... Will he mi den Spruch öwer de niege Dör setten?«

»Ick weet nich recht«, begann Franz Heim zögernd, »eegentlich ... ick woll man seggen ...«

»Wat em billig is, schall em weern. Do bruckt he gar nich bange to wän«, unterbrach Arnsvader eifrig. »Beter 'ne lütje Arbeit, as gar keen Arbeit, beter wat as gar nix. Anners find't he hier up den Hoff doch nix, wenn he ok den ganzen Dag up und dal geiht. Will he oder will he nich?«

Franz Heim machte ein sauersüßes Gesicht, aber als er in das treuherzige Auge des Alten blickte, konnte er unmöglich nein sagen. »Na, Vader, wenn ick Se dormit 'n Gefallen dohn kann, denn man to. Wenn ick wat eten heww, kam ick mit Farw un Pinsel wedder; un denn schall't glieks losgahn.«

»Den Tag muß ich mir im Kalender rot anstreichen«, sagte Heim zu sich selbst, als er seiner Wohnung zuschritt. »Am 19. Juni 1887 erster künstlerischer Auftrag; feste Bestellung gegen Barzahlung.« Wie würden die Münchener Kollegen spotten, wenn sie ihn bei dieser Arbeit sähen! Aber was hier Künstlerstolz! War's schließlich nicht doch besser, dem Alten durch einige feste Striche mit dem großen Pinsel eine wirkliche Freude zu machen, als schlechte Bilder zu malen, die niemand gefielen und über die nur kritische Jünglinge die spitzen Nasen rümpften? Ja, der eigenartige Auftrag bereitete ihm mit einem Male Freude. Er wollte mal sehen, was aus dem Ding zu machen wäre, wenn die Buchstabenform und der Farbenton mit künstlerischem Geschmack der Umgebung angepaßt würden.

Nun wußte er doch, was er den Nachmittag zu tun hatte. Er konnte den Rat des alten Lehrers befolgen: »Nicht grübeln, sondern die Hand frisch ans Werk!« Schon vor dem Essen suchte er unter seinen Pinseln einige harte und starke aus. Bei Tisch dachte er über die Wahl der Farben nach. Und nach der Mahlzeit zog er seinen grauen Malkittel über und schritt munter über den Hof zu der Stätte seines Schaffens, wo sein alter Arbeitgeber schon wartete. Lustig machte er gegen ihn mit dem Pinsel in der Luft die Bewegung des Streichens und fragte: »Na, wat schall't wän, Arnsvader?«

Der Alte hatte inzwischen aus dem Holzhaufen die alte Schwelle hervorgesucht und wies mit seinem Strickstrumpf auf deren Inschrift: »Just so, as dat hier steiht.«

Der Maler entzifferte mühsam die von Rauch, Wind und Wetter fast unleserlich gewordenen, ins Holz geschnittenen Buchstaben und las:

 

»Wer Godt vertrawet
Hat wohl gebawet.«
– Anno 1775 –

 

»Etwas möt wi woll ännern«, meinte er. »Hüt schriewt wi: vertraut und gebaut. Und för de latinschen Bokstawen nehmt wi woll dütsche. Wi sünd hier ja in dütschen Lannen.«

Der zäh am Alten hängende Arnsvader wollte erst nicht darauf eingehen. Als ihm aber bedeutet wurde, dann könnten Kinder und Kindeskinder den Spruch besser lesen, gab er nach.

Nun konnte die Arbeit beginnen. Arnsvaders Großsohn, Klaus Hinnerk, holte einen festen Brettstuhl aus dem Hause. Auf diesem stehend, machte Franz Heim sich ans Werk.

Der Alte hatte seine Bank so gestellt, daß er das entstehende Kunstwerk sehen konnte, und war ein aufmerksamer Zuschauer. An dem Strumpf wurde diesen Nachmittag so ganz viel nicht geschafft. Neben seinem alten Herrn saß Phylax, der bejahrte, steife Schäferspitz, dem man im Hause das durch viele Mühe hinter den Heidschnucken redlich verdiente Gnadenbrot reichte. Mit seinen tränigen, aber immer noch klugen Augen schaute er dahin, wohin sein Herr schaute, und dasselbe tat Klaus Hinnerk mit seinen großen, starren Augen. Auch andere Zuschauer fanden sich bald ein. Das große Ereignis hatte sich unter der Dorfjugend schnell herumgesprochen. Nun standen die Kleinen, den Kopf im Nacken, die Finger im Munde, und bewunderten sprachlos das bunte Kunstwerk, das die Hand des fremden Onkels da hinzauberte. Die Größeren – die Deerns hatten die Hände unter der Schürze und die Jungens tief in den Hosentaschen – brachten ihre Schulweisheit an und wetteiferten, die entstehenden Buchstaben zuerst zu erkennen.

»Dat ward een M.«

»Nee, ick glöw: een W.«

»Jo, Trina hett recht.«

»Kiek, nu makt he een e.«

»W–e–r Wer.«

»G, dat ward mal fein. De Kulör makt sick famos.«

»o.«

»Heda«, rief jetzt Arnsvader dazwischen, »hol he eben mal still! Dat geiht nich. In usen Herrgott sin Namen mutt he alle Bokstaben grot schriewen. So steiht dat in min ole Bibel un in dat Starkenbook Erbauungsbuch

»Schön, dat is licht ännert«, rief der Maler von seinem Stuhl herab.

»Heini, ick weet all, wat dat heten schall: Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut.«

»Jo, Fritz, du bist de kläukste, so 'n richtigen Negenklauken.«

»Mudder«, rief der Alte ins Haus, »kumm doch ok mal rut un kiek di de Sak an!«

Die runzelige Arnsmudder kam heraus, wischte sich mit dem Schürzenzipfel die vom Herdrauch getrübten Augen klar und sagte bewundernd: »Dat is mal schön! Wat den Kirl dat von de Hand geiht! Nee, nee!«

Dem Künstler machte die allgemeine Bewunderung, die er von jung und alt erntete, viel Spaß.

So eilten die Nachmittagsstunden dahin. Als es anfing, unter den Eichen zu dämmern, leuchtete unter dem überhängenden Strohdach der alte Spruch in hellen, warmen Farben und darunter die beiden Jahreszahlen: 1775 und 1887.

Arnsvader ging ins Haus, um den Lohn zu holen. Bedächtig schloß er eine wurmstichige Truhe auf und nahm aus ihrem tiefsten Grunde, unter dem schwarzen Abendmahlsrock weg, einen graufarbigen Strumpf, der seine Barschaft enthielt. Umständlich zählte er sich die Groschen aus der einen Hand in die andere und wiederholte das mehrere Male, bis er sicher war, daß es stimmte. Dann hielt er das Geld dem Maler entgegen, der eben vom Stuhl herabgestiegen war und sein Werk betrachtete, und sagte treuherzig: »Nu schall he ok bestens bedankt wän, und hier hett he föfteihn Gröschen. Is das genog?«

»Dohn Se dat Geld man wedder in den Büdel«, sagte der Maler, indem er die Hand des Alten sanft zurückschob. »Dat beten Arbeit kost nix. Dat hewwt wi ton Plesier makt.«

Aber damit war dieser nicht zufrieden. »Nee, dat gellt nich. Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Mit Gewalt drückte er dem Maler das Geld in die Hand. Dann schlug er bedächtig wieder den Knoten in das lange Strumpfbein und brachte sein Vermögen in Sicherheit. Als er ins Haus gegangen war, rief Heim den Jungen heran und drückte ihm das Geld in die Hand. Der machte ein dummes, verdutztes Gesicht. »Dat gew ick di för din Sparbüchs. Dröwst abers Opa jo und jo nix davon seggen. Wull't ok nicht?« – »Nee«, grinste jetzt Klaus Hinnerk seinen Wohltäter an und ließ die Groschen in der Hosentasche verschwinden.

Die Leute kamen mit Sensen auf den Schultern und mit dem Viehfutter auf der Schiebkarre vom Felde. Allen, die vorüberkamen, zeigte der Alte mit freudigem Stolz den neuen Schmuck seines Hauses. Die sparten das Lob nicht. Das war also endlich mal eine Arbeit, die allgemeinen Beifall gefunden hatte. Der Künstler hatte aber auch selbst Freude an seinem bunten Werk. Die Farben wirkten gut, und die schlichten Verzierungen fügten sich passend in den Rahmen des Ganzen ein. Arnsmudder faßte noch einmal ihre Bewunderung in ein staunendes »Nee, nee!« zusammen und meinte, besser hätte es selbst Meister Maak in Wrieloh nicht gemacht. Franz Heim kannte von seiner Kinderzeit her den Kollegen vom großen Pinsel und hatte starke Zweifel, ob der den Hausspruch auch nur halb so nett ausgeführt haben würde.

Er setzte sich für ein trauliches Dämmerstündchen neben seinen Arbeitgeber auf die Bank. Zum Stricken war's zu dunkel, auch mochten die alten Finger wohl müde sein. »Klaus Hinnerk, stopp mi mal min Piep! Ick will noch mal een smöken«, sagte er zu dem Jungen. Der brachte ein Stummelpfeifchen, auf dessen Kopf ein Dragoner hoch zu Roß dahersprengte. Der Alte entzündete das Schwefelholz an dem gewohnten Orte und setzte die Pfeife in Brand. Der Jüngere zog eine Zigarre heraus und brannte sie an der Pfeife an. Es war die erste, die er in Vierhöfen rauchte. Nach wohlgetaner Arbeit schmeckte sie ausgezeichnet. Der Tabakrauch stieg halbschräg in die Höhe und mischte sich mit dem Herdrauch, der aus der geöffneten Haustür langsam abzog und in dem Eichenlaub verschwand. Es war jetzt ganz still auf dem Hofe. Die kleinen Kinder waren ins Bett gesteckt und die großen an die Schularbeiten getrieben, und Phylax war zu den Füßen seines Herrn eingeschlafen. Es war die Stunde, in der die Alten gern rückwärts schauen. Die Vergangenheit wird lebendig, und alte, liebe Schatten steigen auf, von vergangener Tage Lust und Leid zu erzählen. Arnsvader schaute nachdenklich vor sich hin, räusperte, tat einige kräftige Züge aus der Pfeife und begann endlich.

»Min leewe junge Mann, nu will ick em ok vertellen, worüm ick so gern wull, dat de ole Spruch dor wedder öwer min Dör stünn. Ick bin een olen Mann. As ick so 'n Jungen wör, as Klaus Hinnerk nu is, dor wör hier in dütschen Lannen 'ne slimme, slimme Tied. Dor harr de Kaiser von de Franzosen, Napolium, sin Hand swor up uns. De Landstrat, de hier dörgeiht, hett he ok buen laten, för sin Soldaten. De olen witten Barken sünd all to de Tied plant't. Eenmal köm he ok sülwst hier dör. Ick kann mi noch genau besinnen, he seet in sinen Wagen. Et was man een lütten End, abers 'n Gesicht harr de Kirl as von Isen und Steen, und Ogen harr he in den Kopp as gläunig Füer. Veel frömd Kriegsvolk tög dunmals dör use Dörp, to Peer und to Foot, und 'ne Masse grote Kanonens, Attollerie nennt se dat ja woll. För uns Jungens was da veel to sehn. Wenn dat heet: Dar kamt wedder wecke, denn störteten wi an de Strat und harren use Plesier an de bunten Uniformen und de strammen Kirls und de statschen Peer. Aber use Land harr unner dat veele Kriegsvolk veel to lieden. Und am slimmsten wör dat mit dat verlarene Vulk, dat nich to dat Kriegsvolk hörte, abers in de willen Tieden up eegene Fust allerhand Röwereen Räubereien utöwte. Use Dörp harr al veel utstahn. Abers wi in Vadders Hus harren doch use Veih noch tohopen und können uns helpen. Do seeten wi eens Abends so in de Schummertied bi use Bottermelk und Klüten, do sleit dat an de Dör, und fief wille, gräsige Kirls kamt rin. Fläukend und Schandal makend gaht se in den Stall, und allens sleppt se weg: us ole Zick, dat Swien, dat wi us för'n Winderdag fettmakt hadden, de Höhner, kortum allens, wat se bruken können. Dann tögen se af, de Strat hendal. Vadder und Mudder, Gott heww jüm selig, stünden up den Hoff und keken jüm nah. Vader makt 'ne ballte Fust achter jüm an und seggt: ›Töwt ji man, Röwers, use Tied kummt ok noch mal.‹ Mudder nöhm de Schört und füng bitterlich an to weenen. Do seggt Vader to us Mudder und fate er üm: ›Marie‹, seggt he, ›ween man nich! Süh, wi sünd beide jung und stark. Wi kamt woll wedder to Reeg.‹ Abers se weente noch jümmer ludhals. Dor, as se in dat utrümte Hus torügg güngen, wieste he er hen up den Spruch öwer de Dör: ›Kiek, Marie, da baben steiht 'n schönen Spruch: Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut. Damit willen wi't man holen. Denn kann't us mindag nich slech gahn.‹ – Dat hewwen de Öllern dahn und sünd ok wedder hoch kamen. Un ick, min leewe Herr, ick gah in't tweeundachtzigst und heww ok mannigen suern Schritt und Tritt dahn. Us ole Bur wör 'n harten Mann, up em paßte dat, as da schrewen steiht: ›Er schnitt, wo er nicht gesät, und sammelte, wo er nicht gestreut hatte.‹ Und ok in de Fomilje heww ick veel Swares dörmakt. Dree Kinner sünd mi afstorwen. Een Deern harr de Lungensük und hett öwern Jahr legen. Min öllste Jung stünn bi de Kämbridschdragoners – düsse Piep hätt mi sin Kamerad mitbroch, as he in de Slacht bi Langensalz blewen wör. Abers ick heww dat Word nich vergeten: Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut. Et hett mi doch god gahn, ok in sware Tieden, und us Herrgott hett mi min ol fröhliche Hart laten. As Vader Luther seggt: ›Des Christen Herz auf Rosen geht, wenn's mitten unterm Kreuze steht.‹ – Nu steiht de ole Spruch dor wedder öwer de Dör, und Kinner und Kinneskinner könnt üinner em ut- und ingahn, und he kann jüm erinnern an dat, wat bi usen Ut- und Ingang, usen Dohn und Laten de Hauptsak is und in alle Tieden bliwwt, dat wi Gott vertrut und fast up em but.«

Der Alte schwieg. Die Pfeife war ihm unter der bewegten Erzählung ausgegangen, und er hatte sie neben sich auf die Bank gelegt. Franz Heim schwieg auch und blickte still auf den Nachbarn, auf dessen tiefgefurchten Wangen eine große Träne versickerte. Ja, eine solch kindliche Fröhlichkeit, ein so warmes Empfinden nach dem langen Tagelöhnerleben voll Mühe und Arbeit hatte der Alte sich doch wohl nur gewinnen und erhalten können durch sein starkes, kindliches Gottvertrauen. Ohne dieses wäre er jetzt nicht viel mehr als ein altes, verbrauchtes Arbeitstier, dem man mürrisch das Gnadenbrot gab. Nun aber war er ein ehrwürdiger Patriarch, von dem jeder etwas empfing, der ihm nähertrat.

Franz Heim hatte öfter gelesen, der moderne Mensch müsse ein Lebenskünstler sein. Und mancherlei Meister dieser Kunst aller Künste waren ihm zur Nachfolge empfohlen worden. Ob dieser Alte nicht auch ein solcher Künstler war, und vielleicht mehr als mancher, den man mit hohen Worten als solchen feierte? Und ob nicht auch ein moderner Mensch von diesem Altmodischen in der Lebenskunst ein klein wenig lernen könnte?

Immer noch schwiegen beide. Leise rauschten die Eichen, noch leiser raunten die Fuhren hinter dem Hause mit dem Abendhauch. Franz Heim hatte das Rauschen und Branden des Meeres gehört. Im Hochgebirge hatte er auf das Donnern der Lawinen gehorcht, an den italienischen Seen in unvergeßlichen Abendstunden dem Klang der Mandolinen gelauscht. Das war schön, interessant, großartig gewesen, aber jetzt merkte er: seiner Seele Grundton war gestimmt auf den Ton, der über der braunen Heide zittert, den die Fuhren flüstern, den die niedersächsischen Eichen rauschen, der ihm eben aus dem Munde des Greises entgegengetönt war im treuherzigen Platt der Heide. Jetzt fühlte er es lebendig, wie fremd er da draußen immer geblieben war.

Er war aus der Heimat gewandert, um in der weiten Welt und in der großen, freien Kunst das Glück und ein volles, tiefes Menschendasein zu finden. An hohe, stolze Pforten hatte er angeklopft, aber keine Stimme hatte ihm ein freundliches Herein gerufen. Man hatte ihn stehen und weitergehen lassen, und von vielem Wandern war er müde und matt geworden und hatte Freudigkeit und Vertrauen, hatte sich selbst verloren. Und nun hatte er zuguterletzt noch einmal an die bescheidene Tür angeklopft, aus der er einst in die Welt hinausgezogen war. Und gleich hatte ihm ein freundliches Herein geantwortet. Gestern abend hatte der alte Lehrer ihn eingeladen einzutreten, und heute abend tat Arnsvader dasselbe, und, was noch merkwürdiger war, beide riefen ihn, ein jeder in seiner Weise, zu seiner Kunst, ohne die es für ihn ja kein Lebensglück gab. Der alte Lehrer hatte ihm fast mit der Kraft und der Sicherheit eines Propheten neue Wege und Aufgaben der Kunst gezeigt, und Arnsvader ihm heute geradezu den Pinsel in die widerwillige Hand gezwungen. Nun durfte er ihn auch nicht wieder zur Seite legen.

Er blickte wieder auf den ehrwürdigen Alten an seiner Seite. Auf dem gebeugten Körper ruhte, ein wenig zur Seite geneigt, das von silberweißem Haar umwallte Haupt. In das Gesicht hatten viel Mühe und Arbeit tiefe Furchen gegraben, aber die großen Augen waren still, stark und friedevoll. Auf den Tag dieses Menschenlebens mit Sonnenhitze, Sturm und Regenschauern war der Abend still herabgesunken, ein lichter, freundlicher Abend.

Indem der Maler diese Beobachtungen machte, fiel ihm plötzlich das Wort von Herrn Bartels ein: »Die stillen, treuen Gesichter unserer Heideleute haben den Menschen noch etwas zu sagen.« Ja, dieses alte Gesicht hatte ihm in dieser ahnungsvollen Abendstunde etwas gesagt, und als Künstler war er berufen, es durch seine Kunst anderen zu sagen. Er wollte den Alten malen. Urplötzlich war der Gedanke aufgetaucht, und sofort war er zum Entschluß gereift.

Am nächsten Morgen wollte er gleich mit Arnsvader darüber sprechen, heute abend ging es nicht mehr. Der Alte hatte seine Pfeife ausgeklopft und sich von der Bank erhoben, um ins Haus zu gehen. Der Maler drückte ihm warm die Hand und ging auch in seine Wohnung. Bald lag er in tiefem, erquickendem Schlafe. Er schlief wie ein Mensch, den seine Tagesarbeit zufrieden und müde gemacht hat.

*

Frau Dreyer brauchte am andern Morgen nicht auf ihren Gast zu warten. Der war schon in der Wirtsstube und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Schenktisch, als sie pünktlich um sieben Uhr, wie er es gewünscht hatte, den Kaffee brachte. Auf eine Unterhaltung ließ er sich heute morgen gar nicht ein. Nachdem er schleunigst den heißen Kaffee getrunken hatte, nahm er seinen Hut und stürzte davon. Frau Dreyer schaute ihm verwundert nach und dachte bei sich: »Sonderbares Volk, diese Maler! So ganz anders als andere Menschen.«

Franz Heim traf den Alten, wie er sich gerade seinen Hausspruch bei Morgenbeleuchtung betrachtete. »In de vulle Morgensünn«, meinte er, als sie sich begrüßt hatten, »makt he sick noch veel schöner als gistern abend. Wat lüchten de Farwen! Kiek he doch bloß mal an!«

Heim nickte: »Ja, et süht würklich fein ut. – Abers nu fragt sick, wat schall ick hüt malen?«

»Tjaa«, sagte Arnsvader gedehnt, »dat weet ick ok nicht; dat schall woll swar holen, hier up 'n Hoff noch wat to finnen.«

»Oh, ick wüß woll wat«, meinte der Maler und sah den andern übermütig an.

»So, dat schall mi doch verlangen, wat dat is.«

»Ick wull Se woll malen, Arnsvader.«

»Snack he doch keen Narrenstüg! Mi will he anmalen?«

»Nee, Vader«, lachte der Maler hell auf, » anmalen nich, abers afmalen! Ick wull'n Bild von em maken.«

»Bild? Von mi?« fragte der Alte, der sich steil aufgerichtet hatte.

»Ja, Arnsvader. Se möt nämlich weten, ick bin eegentlich nich so 'n Maler as Meister Maak, de Dören und Finster und Kutschwagen mit Farw ansmeert. In Ehr Kark, nich wahr, do hangt an de Siet von de Altor so 'n Bild von eenen von de olen Pastorens? Verstahn Se, sökke Billers mak ick ok. Dor heww ick lange Tied up leert.«

»Soo! Nu verstah ick. Aber wat will he denn mit 'n Bild von mi, min lewe junge Fründ?«

»Weten Se, wenn so 'n Bild schön worrn is, denn köpt dat de rieken Lue, faken för swares Geld, und hangt dat in ehre Dönzen.«

»Dat mag! Abers denn mutt he sick smietige junge Lüe utsöken! So 'n olen verdrögten Knast, as ick bin, köfft keen Minsen.«

»Ole Vader, dat mutt ick nu beter weten. Up dütt Stück bin ick em öber. Nich wahr, Se doht mi den Gefallen und gewt mi Verlöw, dat ick Se hier vor 't Hus afmalen kann.«

»Tja, wenn em dormit holpen is, man jümmer to! Weh deiht 't jo nich.«

»Besten Dank. Ick mutt nu erst allerhand för de Arbeit torechtmaken. Wenn ick dormit ferdig bin, fangt wi glieks an.«

Franz Heim lieh sich beim Snarsburn das nötige Handwerkszeug, das in den kleinen Dörfern und auf den einsamen Gehöften jeder Bauer im Hause hat, und schlug sich aus Latten, die er auf dem Scheunenboden fand, eine notdürftige Staffelei zusammen. Dann zimmerte er einen Holzrahmen und spannte die Malleinwand darauf. Von dieser hatte er bei seiner Flucht aus München einen kleinen Vorrat, der ihm gerade zur Hand lag, eingepackt. Er freute sich nun doch, daß er ihn damals nicht vernichtet hatte, was er in jener unglücklichen Stimmung zuerst hatte tun wollen.

Nach einer guten Stunde waren alle Vorbereitungen getroffen, und der Maler kehrte vollbepackt zum Häuslingshause zurück.

Dort bot sich ihm ein unerwarteter Anblick. Der Alte saß da im langen Abendmahlsrock. Auf dem weißen Kopfe trug er einen verbogenen schwarzen Zylinderhut und auf dem rechten Knie das dicke Gesangbuch mit Messingbeschlägen und machte ein sehr feierliches Gesicht. Als der Maler fortgegangen war, hatte er sich das durch den Kopf gehen lassen: »He will mi afmalen, da bin ick gar nich nah antagen.« Und Mutter, die er um Rat gefragt hatte, war auch der Meinung gewesen, er müsse sich wohl fein machen. Das hatte er denn getan.

»Aber Vader, wat is mi denn dat?« rief Heim, indem er die Staffelei niedersetzte. »Will he to Kark gahn? Is doch gar nich Sünndag.«

»Nee. Ick dachte man, und Mudder möß mi biflichten, up so 'n Bild mößte een sin beste Tüg anhewwen.«

»Nee doch, jüstemang in Hemdsmauen und Holschen woll ick min olen Arnsvader malen. So gefallt he mi am allerbesten. Dat is sin Arbeitskleed, und dat Arbeitskleed is jümmer 'n Ehrenkleed. Und denkt Se denn, so 'n Bild wör so gau henmalt, as de Spruch öwer de Dör? Dat is nich ne Sak von een paar Stünnen oder Dag. Dat kann Weeken und Mande duern. Ja, wecke Malers hewwt bi een Bild Johre lang seten.«

»Dat sünd ja schöne Utsichten«, meinte der Alte mit bedenklichem Gesicht. »Denn kann ick dar ja noch öwer henstarwen.«

»Na«, beruhigte der andere, »bange brukt Se nich to weern. So lange schall't bi uns nich duern. Abers dat Sitten in den swarten Rock und mit dat Gesangbok up dat Knee scholl Se doch woll lastig fallen. Nu man rin in 't Hus und rut ut de swarte Kledaschen, und denn sett he sick just wedder so hen, as he jümmer hier seten hett. Dat giwt dat beste Bild!«

Arnsvader fügte sich und tüffelte ab. Als er nach einer Weile wiederkam, sagte der Maler: »So is 't recht. Nu kann't losgahn. Sett he sick man ruhig hen und knütt he, wat he knütten kann, und lat he sick man jo nich stören!«

Es folgten Tage und Wochen emsigen Schaffens dort vor dem Häuslingshause unter dem Schatten der hohen Eichen. Eine angenehmere Arbeitsstätte hätte der Maler sich gar nicht wünschen können.

Angenehm empfand Heim es auch, daß er hier ganz ungestört arbeiten konnte, während in München die Freunde ihm die Arbeit jedes Tages einer scharfen Kritik unterzogen hatten. Für andere mochte solche fortwährende Kontrolle ihr Gutes haben, ihm hatte sie oft die Unbefangenheit und Freudigkeit bei der Arbeit gestört. Die Kinder und Dorfleute, welche die Neugier heranlockte, hielten sich doch immer in respektvoller Entfernung, und wenn sie etwas äußerten, so war es Bewunderung, die ihm wenigstens nicht schadete.

Die Tagesstunden waren bald genau eingeteilt und geregelt. Diese Ordnung ging freilich nicht von dem Maler selbst aus. Er hatte vielmehr bisher die Gewohnheit vieler seiner Kommilitonen von der Akademie geteilt, bald einige Tage, wenn er gerade Lust hatte, wild darauf los zu arbeiten und dann wieder tagelang keinen Pinselstrich zu tun. Für solch unordentliches Treiben, das manche für genial hielten, war man in Vierhöfen nicht zu haben. Frau Dreyer hatte die Mahlzeiten zum Glockenschlage auf dem Tisch und konnte recht unangenehm werden, wenn ihr Gast die von ihr sorgfältig bereiteten Speisen kalt werden ließ. Und wenn der Maler die Arbeiten zu lange ausdehnte, genierte Arnsvader sich nicht, seinen Strickstrumpf ruhig zusammenzulegen und freundlich nickend ins Haus zu gehen. Anfangs ärgerte Franz Heim sich über Frau Dreyers Dreistigkeit und über Arnsvaders Rücksichtslosigkeit. Bald jedoch fügte er sich, indem er sich sagte, die Snarsbuersche und der Alte seien nicht, wie die bezahlten Münchener Modelle, nur für ihn da. So kam eine ziemlich geregelte Tageseinteilung zustande. Franz Heim merkte bald, daß eine solche auch für den Künstler ihren Segen hatte.

In München hatte er die von der Arbeit freibleibende Zeit meist in dumpfen Cafés und qualmigen Bierlokalen zugebracht. In Vierhöfen verwandte er sie in der ersten Zeit zu planlosem Umherschweifen in Wald und Heide. Aber bald wurde ihm das langweilig. Und als eines Tages die Snarshofleute alle Mann hoch auszogen, um das Heu vor dem drohenden Regen einzubringen, schloß er sich an und schwang die Heugabel wie ein Großknecht. Am Abend tat Frau Dreyer ihm etwas Besonderes zugute. Das Heu war wirklich vor dem Regen ins Haus gekommen. Als er erst einmal Geschmack an der Landarbeit gefunden hatte, ging er täglich einige Stunden mit hinaus. Bald empfand er den Segen körperlicher Arbeit in einem Wohlbefinden, das er früher nicht gekannt hatte. Frau Dreyer wunderte sich über den riesenhaften Appetit, den er abends, wenn er vom Felde kam, entwickelte. Man hörte ihn wieder einmal ein lustiges Lied pfeifen. Das hatte er lange nicht mehr getan. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Fröhlichkeit auch seine künstlerische Schaffensfreudigkeit hob.

Die Heimaterde, die bei der heißen Arbeit oft genug seinen Schweiß trank, wurde ihm immer lieber. Wenn sein Gesicht glühte, entdeckte er intime Reize, die ihm beim gemütlichen Schlendern verborgen geblieben waren.

Auch lernte er bei der Feldarbeit seine Landsleute besser kennen. Ja, hier ging ihm geradezu eine neue Welt auf. Er war ja auch ein Kind des Landes, aber ein Pastorenkind. Wenn die Leute früher in sein Elternhaus kamen, trugen sie auch alltags eine Art Sonntagsrock, der aber oft aus ziemlich starker Heuchelei gewoben war. In diesem Sonntagsrock waren die Leute ihm alle fast gleichartig und darum langweilig vorgekommen. Jetzt, wo die Menschen sich gaben wie sie waren, entdeckte er plötzlich zu seiner großen Verwunderung, daß jeder dieser einfachen Heidjer sein besonderes und manchmal sehr eigenartiges Gepräge hatte. Sie wurden ihm mit einem Male interessant. Am meisten mußte er sich über den trockenen Humor wundern, der manchen von ihnen eigen war.

Nach der Arbeit auf Wiese und Feld und nach dem Abendbrot, das die Arbeit ihm gewürzt hatte, setzte Franz Heim sich meistens noch für ein Stündchen auf die Bank vor der Häuslingskate, um mit dem alten Freunde zur Feierabendpfeife zu plaudern. Wie hatte er sich geirrt, wenn er früher gemeint hatte, mit einem Bauern könne man nur über Wetter, Korn und Vieh reden! Klein war ja freilich die Welt, in der Arnsvader lebte. Eine Zeitung kam nicht in sein Haus. Außer den Hannoveranern, meinte er, gebe es eigentlich nur noch Franzosen, Preußen und »arme Heiden«. Die Franzosen hatte er aus seinen Kinderjahren in böser Erinnerung und gönnte ihnen die derbe Lektion, die sie 1870/71 bekommen hatten. Den Preußen konnte er es nicht vergessen, daß sie seinem alten blinden König so übel mitgespielt hatten. Und für die »armen Heiden« betete er und opferte Geld für die Hermannsburger Mission. Aber wenn ihm die irdische Welt auch eng war, so war sie doch nicht arm. Sie war reich dadurch, daß eine reiche Welt des Glaubens und der Liebe überall Licht und Wärme in sie hineinstrahlte, wodurch auch das Kleine groß und das Unscheinbare bedeutend wurde. Dazu kam eine reiche Lebenserfahrung, die ihn über Höhen und Tiefen geführt hatte. Was er aus seinem Schatz von Altem und Neuem mitteilte, das war von abgeklärter Lebensweisheit vergoldet und von hellen Funken eines echten Humors durchblitzt, so daß dem jungen Manne diese Abendstunden niemals langweilig wurden. Manchmal kamen dabei köstliche Naivitäten zutage, zumal wenn der Alte, der nie eine Eisenbahn oder eine Dampfmaschine gesehen hatte, sich über die Grenzen seiner kleinen Welt hinauswagte. Manch einer würde dazu erhaben gelächelt und in wohlwollend herablassendem Tone eine Belehrung begonnen haben. Franz Heim tat das nicht. Er sagte sich, die echte Lebensweisheit des Alten sei doch viel mehr wert als das bißchen Schulweisheit und Welterfahrung, das ihm so zugeflogen war. Daher traf er auch den rechten Ton, wenn er es gelegentlich versuchte, Arnsvader aufzuklären und seinen Gesichtskreis zu erweitern, und dieser ließ sich das gerne gefallen und nahm es dankbar hin. »Kinners, Kinners«, rief er einmal aus, »wat giwt dat allens in de Welt, wovon son olen Schaper nix drömt hett! Min ole Scholmester«, fügte er hinzu, »wör Snieder, und för dartig Daler möß he nebenbi us Kinner lehren. Ji jungen Lue hewwt ut de Schol veel mehr mitkregen as wi Olen. Na, wi sünd ja ok ganz god dör de Welt kamen.«

So gingen die Wochentage hin. Ein ganz anderes Gesicht zeigte das Leben in Vierhöfen am Sonntage. Da schrillte Frau Dreyers Stimme nicht im Morgengrauen durch das Haus. Wer durch die Macht der Gewohnheit um die gewohnte Zeit erwachte, der drehte sich schnell auf die andere Seite, mit dem wohligen Gefühl: Es ist Sonntag, und schon war er wieder eingeschlafen. Gegen acht Uhr machten sich die Kirchleute auf den Weg, aus den meisten Häusern der Bauer und die Frau mit Knecht und Magd abwechselnd. Arnsvader mußte wegen seiner Gebrechlichkeit daheimbleiben. Er faßte an diesem Tage kein Strickzeug an und saß unter der Kirchzeit, über die vom Großvater ererbte Postille gebückt, in der Dönze. Im Dorfe herrschte feierliche Stille, nur der Jubel der sonntäglich gekleideten Kinder war noch freier als sonst, da keine Schulsorgen ihn dämpften.

Dem Maler war der erste Sonntag, den er in Vierhöfen verlebte, sehr lang geworden, und am Nachmittag hatte er aus Langerweile einige Pinselstriche an seinem Bilde getan. Obgleich das in einem Nebenraume der Scheune geschehen war, war es dem Alten doch nicht entgangen, und am Montag hatte er gebrummt und allerhand über das dritte Gebot geredet. Daß am Sonntag nicht gearbeitet werden dürfe, war ihm eine Überzeugung, die ihm so fest stand wie der dicke Eichbaum vor seinem Hause.

Für den zweiten Sonntag nahm der Maler sich eine Tageswanderung über die Heide vor. Er war froh, als er nach angestrengter Wochenarbeit am Sonnabendabend den Pinsel niederlegen konnte, und freute sich sehr auf den Ruhetag.

Da er nicht wollte, daß Frau Dreyer sich seinetwegen den schönen Sonntagsschlaf abkürzen sollte, hatte er sie gebeten, ihm alles bereitzustellen, damit er sich den Kaffee selbst kochen könne. So stand er im ersten dämmernden Grau des Sonntags an der offenen Feuerstelle und ließ ein lustiges Reisigfeuer aufprasseln. Es war eine wunderbare Stille auf der breiten Diele. Die alte graue Katze saß auf dem Waschkessel, schnurrte und wunderte sich über den merkwürdigen Koch.

Als die Schwarzwälderuhr im Gastzimmer, die immer eine halbe Stunde zu früh ging, drei Uhr schlug, verließ Franz Heim das Haus. Er ging die einsame Dorfstraße entlang und war bald auf der hohen Heide.

Hoch wölbte sich über dem einsamen Wanderer der Morgenhimmel wie das unendliche Dach eines lichten Gottestempels, hier und da noch mit einem verglimmenden Sternlein geschmückt. Die kleinen Glocken der Moorheide läuteten mit feinen, hellen Stimmen, die kein Menschenohr je erlauschte, den Sonntag ein. Aber die Heidelerche, die tief ins Heidekraut geduckt schlief, hat den leisen Ton vernommen. Sie schüttelt den Tau aus dem Gefieder, schwingt sich tirilierend empor und jubelt ihre Sonntagslieder. Und der graue Heidpieper im Strauchwerk macht es auch so gut wie er's kann. Nun schaut der Sonne Strahlenauge über die fernen Höhen, als wollte sie sehen, wie in dem weiten Gottestempel gefeiert wird. Und all den feiernden Geschöpfen bringt sie einen Lichtgruß des Ewigen, vom winzigen Käferchen im Sande bis zu dem Menschenkinde, das da mit langen Schritten über die Heide wandert und mit großen, verwunderten Augen um sich schaut.

Das Kind hatte einst Worte eines alten Weisen, der helle, weitschauende Augen und ein feines, scharfes Gehör gehabt hatte, seinem Gedächtnis einprägen müssen. Da hatten sie manches Jahr in irgendeinem Winkel gelegen, wie wertloser Hausrat in der Rumpelkammer. An diesem Sonntagmorgen kam der fast vergessene Besitz zu Ehren. Die alten Worte wurden lebendig. Heilige Morgenfrühe und ahnungsvolle Sonntagsstille hauchten ihnen Leben und Seele ein. Es waren die Worte des Psalmisten: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündet seiner Hände Werk. Ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht tut's kund der andern ... Der Sonne hat er eine Hütte gemacht, und dieselbe gehet heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich, wie ein Held zu laufen die Bahn.«

Etwa zwei Stunden war Franz Heim gewandert, meist ohne Weg quer durch die Heide. Allmählich stellte sich eine gewisse Ermüdung ein. Da machte er auf einer Anhöhe Rast. Drüben lag, eine gute halbe Stunde entfernt, ein Kirchdorf. Nach seiner Kenntnis der Gegend mußte es Wendingbostel sein, das zwei Stunden flußaufwärts von Wrieloh lag. Die den weidenumbuschten Fluß begleitenden Wiesen zogen sich wie ein breites, lichtgrünes Band, das von dunklen Tannenwaldungen umsäumt war, durch die braune Landschaft, und darüber spannte sich der blaue Himmel, an dem ein Kranz leuchtend weißer Schäfchenwolken hing.

Der Morgenwanderer setzte sich auf einen der mächtigen erratischen Blöcke, die dort verstreut lagen, und sättigte seine Augen an den schönen Farben und Linien der weiten Landschaft.

Nach einer Weile griff er in seine Rocktasche und holte heraus, was er sich zum Lesen eingesteckt hatte.

Zuerst fiel sein Auge auf einige Zeitungsnummern der letzten Tage, die er sich für den Sonntag aufgespart hatte. Sie paßten ihm nicht für diese Stunde. Was in der weiten Welt vor sich ging, war ihm für den Augenblick ganz gleichgültig. Er steckte sie wieder ein.

Ein Roman modernster Richtung, der in den Künstlerkreisen Berlins spielte, lag nun obenauf. Nein, am Sonntagmorgen in heimatlicher Heideeinsamkeit unerträglich! Schon die kreischenden Farben des Umschlags verletzten. Er ließ das Buch in der Tasche verschwinden.

Nun fiel sein Blick auf ein Heftchen, das eines bedeutenden Meisters Studien zur Farbenlehre enthielt. Er hatte es sich schon vor längerer Zeit angeschafft, war aber noch nicht zum Lesen gekommen. Er schnitt das Heft auf und begann zu lesen. Als er einige Male umgeschlagen hatte, schwand die Aufmerksamkeit, und bald folgte die Broschüre den Zeitungen und dem Roman. Er hatte eine Woche angestrengter Arbeit hinter sich und wollte heute durch nichts an sie erinnert sein.

Jetzt war nur noch ein kleines, arg zerlesenes Büchlein in seiner Hand, das er daheim ganz zuletzt, fast gedankenlos, eingesteckt hatte. Der Goldschnitt war verblaßt, manche Blätter waren lose, und auf dem stark mitgenommenen Rücken war mit einiger Mühe zu lesen: »Neues Testament und Psalmen.« Arg zerlesen war das Büchlein, doch nicht von dem gegenwärtigen Besitzer, der es in der Hand hielt und halb neugierig, halb mißtrauisch betrachtete. Es war das Handexemplar seines Vaters gewesen und war mit dessen Namen und einigen Zeichen seiner Hand noch versehen. Er schlug das Buch auf und las den Titel für sich hin: »Das Neue Testament unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi.« Ob er darin lesen sollte? Nun, es war ja keine weitere Auswahl. Es war ihm auch, als ob er dazu wohl Lust hätte.

Aber was sollte er lesen? Er ließ die Blätter des Buches von der letzten Seite an langsam durch seine Finger gleiten. Die Psalmen? Nein, es mußte etwas aus dem Neuen Testament sein. – Offenbarung Johannis? Ein Buch mit sieben Siegeln! – Die Briefe Pauli? Auch etwas schwere Speise! – Nein, es muß etwas aus den Evangelien sein. Da fällt ihm die Bergpredigt ein. Die muß sich auf dem stillen Heidberge gut lesen lassen.

Und er liest, langsam und sinnend:

»Selig sind ...

Selig sind ...«

Merkwürdig! Er erinnert sich plötzlich einer Sommerwanderung im bayrischen Hochgebirge. Erhitzt und ermüdet war er an einen klaren, kühlen Waldbach gekommen. Und in verschwiegener Waldesstille hatte er die Kleidung von sich geworfen und sich in den Bach gelegt, und dieser hatte eine kühlende, erfrischende, reinigende Welle nach der andern über seine müden, heißen, staubbedeckten Glieder gesandt.

Und er las weiter: »Wenn euer Auge einfältig ist.« Ja, ja, das einfältige Auge, das nicht nur die Hülle und Form sieht, sondern mit gesammelter Kraft in das Innere, in das Wesen der Dinge schaut – wie war dieses einfältige Auge gerade dem Künstler so nötig!

Und weiter: »Sorget nicht für euer Leben ... Sehet die Vögel unter dem Himmel an ... Sehet die Lilien auf dem Felde an ...« Um ihn blühte und duftete der Thymian, und ein munteres Heidvögelchen flog vorüber. Ja, das war der Glaube, der den alten Arnsvader so glücklich gemacht und so jung erhalten hatte.

Drüben läuteten die Glocken. Es waren die Frühglocken, die über die Heide hin den einsamen Gehöften feierliche Grüße sandten. Sie erinnerten daran, daß auch die Menschenkinder den Tag des Herrn feiern sollten. Der Einsame auf der Heidehöhe bedurfte dieser Mahnung nicht mehr. Der las weiter und immer weiter, und dann wieder blickte er mit sinnenden Augen in die Ferne. Die Worte, die er da las, kannte er ja alle, und viele hafteten ihm sicher im Gedächtnis. Aber heute schauten sie ihn nicht, wie einst als Kind, stumpf und unverstanden an, sondern hell und warm wie die Junisonne. Sie hauchten Leben aus.

Wieder schwebten die Glockenklänge, wie auf Ätherwellen getragen, zu ihm herüber. Auf den fernen Heidwegen, zwischen den weißen Birkenstämmen dahin, zogen Scharen festlich gekleideter Kirchleute. Hin und wieder blitzte das Weiß einer Strichmütze oder der Goldschnitt eines Gesangbuches auf. Franz Heim dachte einen Augenblick daran, sich ihnen anzuschließen. Aber er konnte die Kirche doch wohl nicht mehr zeitig erreichen, und es war fraglich, ob der Prediger dort unten auf der Kanzel ihm so viel zu sagen hatte, als der Bergprediger hier auf stiller Heidehöhe.

Gegen Mittag, als die Kirchgänger wieder ihren Gehöften zueilten, ging er ins Dorf hinab. Er trat in ein Gasthaus nahe der Kirche, um zu Mittag zu essen. Die Gaststube war voll junger Leute. Ein Radfahrerklub aus Harburg hatte auf seinen Hochrädern das stille Dorf in der Heide besucht und viel Lärm und Unruhe mitgebracht.

Nachdem Franz Heim in Eile seinen Hunger gestillt hatte, verließ er das ungemütliche Haus und suchte die Tannenwaldungen auf, die sich jenseits des Dorfes weit hinstreckten und von derselben Werle, die einige Stunden flußabwärts die Wiesen seiner Heimat bewässerte, durchflossen wurden. Am Ufer streckte er sich lang auf dem weichen Tannennadelteppich hin. Lautlos glitten die dunklen Fluten an ihm vorüber. Nur schalten sie leise murmelnd über eine vorwitzige Tannenwurzel, die sich ihnen entgegenstreckte. Regungslos standen die blauen Stahlfliegen in der weichen Luft. Die Augen fielen ihm zu. Das frühe Aufstehen und die weite Morgenwanderung machten sich in einer starken Müdigkeit geltend. Halb schon im Lande des Traumes, hörte er fern die Glocken zur Nachmittagskirche läuten, noch ferner tönte der Orgelklang, noch ferner der Gesang der Gemeinde. – Und die Erinnerung an jene Hochgebirgswanderung verdichtete sich ihm zum Traum. Ihm träumte, er stiege hinab in ein tiefes, stilles Wasser, ein müder, abgehetzter Mann. Und als er wieder heraufstieg, da leuchteten die trüben Augen, die müden Glieder fühlten sich verjüngt, und er hatte wieder Lust, der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen. In seinem Glücksgefühl wollte er aufjubeln. Davon erwachte er.

Oder waren daran die hellen, jungen Stimmen schuld, die eben durch den Wald klangen und näherkamen? Sie sangen das so wehmütig frohe Lied: »Wenn ich den Wandrer frage.« Als er nach den Sängern schaute, sah er weiße Sommerkleider durch die Bäume schimmern. Drei junge Mädchen gingen Arm in Arm. In einiger Entfernung folgte ein älteres Ehepaar. Es mußte der Pastor des Dorfes sein, der nach der Arbeit des Tages mit seiner Familie einen Spaziergang machte.

»Wo blüht dein Glück? Zu Hause, zu Hause, spricht er mit frohem Blick.« So sangen sie drüben, und so klang es in dem Herzen des Einsamen wider, der den jugendlichen Sängerinnen nachschaute, bis sie in einer Tannenschonung verschwanden.

Die Müdigkeit war gewichen. Er schaute jetzt mit großen Augen um sich und horchte mit feinem Ohr, und die Heimat warb mit der herzheimlichen Stille des Sonntagnachmittags um ihres Kindes Liebe.

Er schaute mit langem Blick empor an den hohen, stolzen Tannen, die, dem Heimatboden stark und frei entsprossen, ihre Wipfel tief in das Himmelsblau tauchten. Er beobachtete das Eichhörnchen, das von luftiger Warte aus den Blick über sein dunkelgrünes Reich hinschweifen ließ. Er sah das goldige Sonnenlicht durch den dunklen, ernsten Tannenwald hinfluten und wunderte sich über das herrliche Lichtgrün, in dem die Farnkräuter erstrahlten. Dann wieder blickte er auf den Wasserspiegel und freute sich über die kleine Lebewelt, die sich auf demselben tummelte. Lustig schossen die glitzernden »Schneider« durcheinander, und gravitätisch bewegten sich die ernsteren »Schuster«. Eine goldig schimmernde »Jungfer« mit großen, grünen Glotzaugen biesterte im Zickzackfluge hin und her. In einem breiten Sonnenstrahl, der den Weg auf den Wasserspiegel gefunden hatte, tanzte ein übermütiger Mückenschwarm. Zuweilen schnellte ein Fisch in die Höhe und fiel klatschend in sein feuchtes Element zurück.

Und dann wieder war er eine Weile ganz Ohr. Er lauschte dem Gemurmel der Wellen, dem Geflüster der Tannen und dem heimlichen Summen, das die Luft erfüllte. Dann hörte er auf den Finkenschlag im Tannendickicht und auf das ferne Hämmern des Spechts. Aus dem Dorf klang Kinderjubel herüber und lustiges Hundegebell.

Dem schauenden und lauschenden Manne wurde ganz eigen ums Herz. So wohl und so wehe. Er lachte nicht und er weinte nicht. Er sang nicht und er betete nicht. Und doch tat er wohl das alles zugleich. Seine Seele feierte. Sie hatte eine jener seltenen Stunden, wo sie ahnt, was Leben heißt. – –

Wieder wurden menschliche Stimmen im Walde laut. Die Spaziergänger kamen zurück. Der breite Waldweg, dem sie folgten, führte etwa dreißig Schritt an dem einsamen Träumer vorüber. Die drei jungen Mädchen führten einen lebhaften Streit. »In Wrieloh«, sagte die eine, die eine feine, helle Stimme hatte, »ist es doch noch viel schöner als hier bei euch. Ihr habt nicht die Mühle, die mit ihrem heimlichen Rauschen so feine, leise Musik macht.« Die beiden Freundinnen wollten die Behauptung nicht gelten lassen und priesen die besonderen Reize Wendingbostels.

Der Lauscher sann darüber nach, wo er der Lobrednerin Wrielohs schon einmal begegnet sein könnte. Da kam ihm sein nächtlicher Besuch des heimatlichen Pfarrgartens ins Gedächtnis. Dem jungen Mädchen gehörte gewiß der Gartenhut, den ihm der Strahl des Mondlichts auf dem Steintisch der Tannenlaube gezeigt hatte.

Als Franz Heim sich endlich auf den Heimweg begab, war der wunderschöne Tag eben im Begriff, einem ebenso schönen Abend das Feld zu räumen. Der westliche Himmel leuchtete in purpurnem Rot, das den fernen Gehöften und Waldungen einen goldigen Schein verlieh. Der Wanderer folgte jetzt der Landstraße. Wie die wilde Jagd sauste mit vereintem Klingeln der Radfahrklub an ihm vorüber. »All Heil, alles heil!« schrie es durcheinander. Franz Heim war seelenfroh, daß er ihnen nicht in die Stadt zu folgen brauchte, wo für manchen das Leben wie eine Radrennfahrt ist, bei der er einen so bösen Sturz tut, daß er das Wiederaufstehen vergißt.

Gegen zehn Uhr langte er wieder in seiner stillen Klause an.

Als er am andern Morgen die Palette und den Pinsel zur Hand nahm, fühlte er eine Lust zur Arbeit, wie selten. Auch dem Alten fiel das helle Blitzen seiner Augen auf. Er fragte: »Wo is he gistern wän?«

Da erzählte der Maler ihm von dem Sonntag in der Heide und im Tannenwald von Wendingbostel.

Arnsvader hörte aufmerksam zu und lächelte befriedigt vor sich hin. Als der andere seine Erzählung beendet hatte, meinte er: »Jao, son richtigen Sünndag, dat is 'n Segen för den Minschen!«

*

In Vierhöfen ahnte niemand, daß der Maler ein Kind der Gemeinde und der Sohn ihres früheren Pastors war. Frau Dreyer hatte sich allerdings schon einige Male gewundert, daß ihr Gast mit den Verhältnissen des Dorfes und der Umgegend so gut vertraut war. Aber sie schrieb diese Kenntnis seinem Verkehr mit Arnsvader zu.

Eines Abends nun, als Heim neben dem Alten auf der Bank saß, wandelte ihn plötzlich die Lust an, sich seinem alten Freunde, dessen Fragen nach Heimat und Elternhaus er bislang stets ausgewichen war, bekanntzugeben. Er fragte: »Arnsvader, wo veele Pastoren hewwt Se hier nu all kennt?«

»Oh, dat is all 'ne ganze Reeg«, antwortete der Alte lebhaft. »Ut de School kamen bin ick bi den olen Swart. Dat wör een olen goden Mann, aber den Grund harr he woll nich so recht fat't. He wör mehr för den Ackerkram und harr de besten Melkkäuh und de dicksten Tüften Kartoffeln in de ganze Gemeen. Faken oft in de Predigt, wenn sick dat just so paßte, lehrte he ok de Buern, wat se dohn mößten, dat se ok so glatte Beester und barbarsche Tüften kreegen. Abers ick meen, dat harr he jüm süssen seggen künnt, man nich in de Kark. Da wull de Minsch doch wat anners hören. Wi in Vaders Hus hewwt us in de Tied jümmer an de olen Trösters ut Grotvaders Tieden holen. Mannige snaksche Tög harr de Ol an sick. Wenn he in de Kunfirmannenstünn dat söste Gebot utleggte und den heiligen Ehestand vör harr, stellte he een Jungen und een Deern tohopen und makte de Kinner dat vör, up wecke Ort he bi de Troung de Lüe tosamen geew. Wat nu min Olsche is und mi hett he ok tohopen stellt, und nah Johr und Dag hewwt wi us würklich kreegen. Dat is öfters vörkamen. 't was just, as wenn de Ol 'n Blick daför harr, wecke woll tohopen paßten.

As de stürw, köm hier 'n truen Mann, de us lange Johren Gotts Word predigt hett. Wecke Lüe meenten, he schimpte to stark. Aber ick heww jümmer seggt, dat wör keen Schimpen. He hett us man de Wahrheit seggt, und dat können de wecken nich verdrägen. Ick heww den Mann für mannig tru Word to danken. Dreemal harrn se em 'n Platz anbaden, de mehr Inkünften harr, aber he woll bi us bliewen und starwen. He harr us so leew as sin eegen Kinner un plegg woll to seggen, Wrieloh wör dat schönste Dörp up de ganze Welt. Uns Herrgott heww em selig!

Nah düssen keem eenen, dat was 'n gemeenen Minschen. Nee, nee, wat was dat för 'n Kirl!«

Franz Heim machte große Augen. Was er da wohl noch über seinen Vater zu hören bekam!

Der Alte fuhr fort: »'n ganzen lieblichen Minschen, wirklich 'n Baas. Unser een könn mit em snacken as mit Hans und Gret. He wör ok nich 'n Spier stolz. Eene spaßige Geschichte heww ick mit em belewt, de mutt ick em doch vertellen. Duntomalen – mag 'n Jahrer twölf her wän – hott ick de Schap von unsen Burn dornöber in de Heide. Dat is 'n ganz gemütlich Geschäft: Phylax he! Phylax faß da! Kusch dich! Strümpe knütten und in de Wulken kieken. – Do sitt ick nu ok eenmal in de Nahmiddagstied und kiek in de wiede Welt, dar kamt twee öwer de Heide, een groten utwussen Mann und son Jungen, de Bengel könn woll'r tein Jahr old wän. As de beiden nöger ran kamt, seh ick up eenmal: Dat is use Herr Pastor mit sinen Söhn.

›Goden Dag, Arnsvader.‹

›Goden Dag ok, Herr Pastor.‹

›Wo geiht Se dat und Ehre Schap?‹

›As dat sülwst noch geiht.‹

›Us geiht dat gar nich god. Wi hewwt bös Malör hatt. Wi beiden – dütt is min Jung, Franz heet de Slüngel. Jung, du hest jo Arnsvader noch gar nicht inklappt. Wull du mal? – Wi beiden gaht dor achtern dör de Wischen. Dor kamt wi an so 'n Graben. Ick spring röwer und segg: Jung, nu spring du! Nimm di abers 'n düchtigen Anlop! Un he springt, verspringt sick und hüppt in 't Water as 'n Pogg' Frosch. Kieken Se man bloß, Arnsvader, wat süt de Bengel ut! Just as 'n lütt Farken, dat sick in de Mestkuhl wrahlt hett! Wenn wi so nah Muddern kamt, kriegt wi beide bannige Schimpers. Können wi den Jungen nich afdrögen und reinmaken, dat min Fro nix nich markt?‹

›Ih, worüm denn nich, Herr Pastor?‹ segg ick.

›Denn man to‹, seggt he, ›Jung, rünner mit de Büx!‹

Wi helpt em dorbi, treckt em dat natte Tüg van't Liew, he kriggt noch 'n Klapps achter up, und wi smietet em in de Schapstall rin. Dat em nicht früst und he sick nich verküllt, deck ick min olen Schapermantel öwer em. Bidessen drögt wi sin Tüg an de Sünn und makt den Dreck herut. Denn seggt de Vader to den Jungen: ›Nun bedanke dich auch!‹ ›Ich bedanke mich auch vielmals‹, seggt de Jung, und af gaht de beiden. Nahstens hett de Herr Pastor mi vertellt, Mudder harr gor und ganz nix markt, se harrn ehr den Spaß aber vertellt, und dor harr se bannig lacht.«

Der Alte lachte so recht herzlich, und Franz Heim, der sich jetzt des kleinen Erlebnisses genau erinnerte, lachte mit. Plötzlich ging aber ein ernster Zug über sein Gesicht. War er vor einigen Wochen nicht wieder als einer, der zu kurz gesprungen und ins Wasser gefallen war, zu dem Alten gekommen? Und war der nicht wieder an der Arbeit, ganz ähnlich wie damals am Schafstall?

Nach einer Weile fragte er: »Weten Se denn nich, Arnsvader, wat ut den Pastor sinen Jungen worrn is?«

»Nee. De Vader is fröh storwen. De ganze Gemeen is dat bannig nah gahn. So'n schönen Pastor kann se niemals wedder kriegen. – Und de Jung? He hett sick in de Heide nich wedder sehen laten. Dat is jümmer 'n Unglück, wenn de Öllern so fröh starwt.«

»Jo, dat is wahr.« Der Maler blickte still vor sich hin. Nach einer Weile aber schaute er den Alten schelmisch von der Seite an: »Seggen Se mal, Arnsvader, wör damals bi den Pastor und sinen Jungen nich so 'n lütten, witten Hund?«

»Tjo, dat mag woll wän.«

»Und kreeg de sick nich mit Ehren Phylax, de nu ok all old worrn is, dat Bieten? Se mössen noch mit den Schaperstock mang de beiden Hunne. Stimmt dat nich?«

»Richtig, nu fallt mi dat wedder bi. Phylax wör bannig iwersüchtig. Abers dusendweg, wovon weet he dat allens?«

»Ick bin dor sülwst mit bi wän.«

»Woi!?« Mit großen, verwunderten Augen schaute der Alte dem jungen Manne ins Gesicht. Von der Verwunderungsfrage war Phylax aufgewacht und musterte ebenfalls den Mann, der seinen Namen genannt hatte.

»Ja, Pastors Franz, den Se domals afdrögt hewwt, dat bin ick.«

»Nee!« sagte Arnsvader noch immer ungläubig. »Abers, wenn he so genau Bescheed weet. Ick mutt em doch mal ganz scharp in 't Oge kieken. – – Jo, würklich! De Ogen und de Tog hier so um de Mund, dat is ganz de Vader selig. Nee, nee, wat mi dat freut! Min leewe junge Fründ, he hett 'n goden Vader hatt.«

»Ja, dat seggen Se man.«

»Wenn he sinen Vader nahkummt, schall't em woll god gahn.«

Der Alte war von dieser Stunde an noch zutraulicher. Eine gewisse mißtrauische Zurückhaltung, wie sie dem niedersächsischen Bauersmann gegen Fremde eigen ist und die auch in dem Verhältnis Arnsvaders zu dem Maler nicht ganz gefehlt hatte, war nun völlig gewichen.

*

Einige Tage später saß Franz Heim abends im Gastzimmer, als die Post ankam. Derselben entstieg ein patent gekleideter Herr, offenbar ein »Reiseonkel«. Hastig trat er ein und verlangte einen Kognak für sich und einen Schnaps für den Postillon. Mit schnarrender Stimme fragte er den Wirt: »Wie lange fahren wir noch bis Wrieloh?« »Eine gute Stunde«, lautete die gleichmütige Antwort. Einige kräftige Flüche prasselten auf den kaiserlichen Postrumpelkasten nieder.

Jetzt ließ der Ankömmling sein Auge über die Gäste im Zimmer schweifen. Da begegnete sich sein Blick mit dem des Malers. »Potz Blitz, das ist ja Franz Heim. Warraftig!«

»Max Schulz, wie kommst du denn hier her?« Zwei alte Bekannte schüttelten sich die Hände.

»Wie ich hier herkomme? Junge, das siehst du ja ... mit der elenden gelben Kutsche da. Aber was machst du denn hier in diesem gottverlassenen Nest? Kuhbauer geworden? Was?«

Der alte Postjochen, ein verwetterter Geselle, hatte den ihm gespendeten Schnaps den vielen andern nachgeschickt, die er hier im Laufe der Jahre hatte verschwinden lassen, und mahnte zum Einsteigen.

»Ach was, geben Sie mein Gepäck dem Wirt, und fahren Sie meinetwegen zum Nordpol! – Ich bleibe natürlich heute abend bei dir, Franz«, wandte er sich zu diesem, »wir wollen das Wiedersehen tüchtig feiern. Wirt, geben Sie uns einstweilen zwei Glas Bier! Also, was machst du hier in dem Neste?«

»Ich male.«

»Ahjah! Also Maler bist du geworden, natürlich Kunstmaler. Alle Achtung! Ich hatte nie wieder von dir gehört, seit sie mich in Celle aus der Obertertia wimmelten – du weißt, wegen der unschuldigen Kneiperei, aus der die Pauker wer weiß was machten. Ich habe mich der Zigarrenbranche gewidmet. Reise für C. K. Meyer & Co. in Hamburg. Altes, bestrenommiertes, leistungsfähiges Haus. Darf ich dir eine unserer besseren Marken anbieten? Äußerst gehaltvoll, mittelkräftig bis kräftig, feinste Blume, tadelloser Brand.«

Er hatte ein elegantes Zigarrenetui mit Patentverschluß geöffnet und offerierte dem alten Freunde eine feine Havanna, die dieser dankend annahm.

»Und nun prost Blume, altes Haus, auf das unverhoffte Wiedersehen! Wer hätte gedacht, hier einen alten Bekannten zu treffen! Prosit! ... Brr! Herr Wirt, nehmen Sie mir's nicht übel, Ihr Faß ist gewiß schon vor der Sintflut angestochen. Was für Weine führen Sie?«

»Es sind einige Flaschen leichten Mosel da.«

»Sonst nix? Hat der Mensch nicht mal einen vernünftigen Tropfen für ein armes Wurm, dem der verflixte Rumpelkasten zwei Stunden die Eingeweide durcheinandergeschüttelt hat! Na, bringen Sie uns zwei Flaschen! In der Not frißt der Teufel Fliegen.«

Snarsbur steckte in aller Gemütsruhe ein Licht an und begab sich in den Keller. »Wart«, dachte er, »für deine frechen Reden kreide ich dir eine Mark mehr an.«

»Also Maler bist du geworden!« wandte sich der Zigarrenreisende nun wieder an Heim. »Wo bist du denn auf der Akademie gewesen?«

»In München.«

»Ah, München! War mal auf Geschäftsreise da. Nettes Städtchen. Echtes Münchener ... Hofbräu, Spatenbräu, Pschorrbräu, Franziskanerbräu ... man darf gar nicht daran denken, sonst bringt man diesen flauen Tropfen gar nicht hinunter. Aber was gibt's denn eigentlich in diesem Mauseloch zu malen? Wie heißt es doch noch?«

»Vierhöfen. Ich male augenblicklich einen alten Mann, einen Achtziger. Er wohnt hier hinten auf dem Hofe in der Häuslingskate.«

»So! Wie kommst du denn dazu? Ich glaube, damit wirst du wenig Glück haben. Die Kunst ist doch für die Gebildeten da, und denen kann es doch furchtbar wurscht sein, wie so ein vertrockneter, schmieriger Heidbauer aussieht.«

Der Maler sah den andern mißbilligend an und sagte: »Ich bitte dich, Max, rede nicht so über einen alten, ehrwürdigen Mann, den du gar nicht kennst.«

»Na, man nicht gleich übelnehmen! Überhaupt, Franz, ich begreife dich nicht recht. Wie kannst du dich in diesem traurigen Nest so einspinnen? Du mußt ja versauern und verbauern. Die Anlage hattest du schon früher in Celle dazu. Ich will dir was sagen. Komm doch zu uns nach Hamburg! Da hast du gute Theater und zur Erheiterung famose Varietés. Und dann die Kunsthalle! Ich bin freilich noch nicht hineingekommen, aber sie soll großartig sein. Sieh, da hast du Anregung für deine Kunst. Da kannst du immer wieder sehen, wie einer malen muß, wenn er tüchtig Geld verdienen will.«

»Nach einer großen Stadt wie München oder Hamburg kriegen mich keine zehn Pferde wieder hin.«

»Nanu! Oder dann such' dir doch wenigstens eine Provinzialstadt aus! Ich kenne hier so herum sie alle. Celle? Nein, dazu würde ich nicht raten. Ist zu feudal und zu juristisch. Du weißt ja wohl noch, wenn wir Butterbrotspause hatten, gingen die Adeligen und Juristensöhne links in den Schloßgarten und wir gewöhnlichen Europäer nach rechts in den Französischen Garten. Oder Lüneburg? Ist zu altmodisch und langweilig. Am meisten würde ich doch noch zu Hannover raten. Ist zwar kleinstädtisch im Vergleich zu Hamburg, aber immerhin läßt sich da leben.«

»Leben läßt's sich hier auch. Ich bin sogar in der Heide sehr gern. Sie ist meine Heimat.«

»Soo! Heimat, naja. Aber weißte, heutzutage, wo man die Eisenbahnen hat und die Menschen so durcheinandergeschüttelt werden, wie die Würfel im Knobelbecher«, er hatte diesen in der Hand und spielte mit ihm, »da gibt es das ja eigentlich nicht mehr. Oder höchstens noch bei bleichsüchtigen jungen Mädels, die sich einbilden, vor Heimweh sterben zu müssen, wenn sie Mutters Teekessel nicht mehr dampfen sehen. In Hamburg, weißte, haben wir einen sehr netten Klub. Die Mitglieder sind sehr feine Leute, und dem einen seine Wiege hat vielleicht am Rhein gestanden, dem andern an der Weichsel und dem dritten und vierten, wer weiß wo. Aber meinst du, daß ich weiß, wo die Herren her sind? Darauf kommt die Rede selten oder nie. Wir fühlen uns als Weltbürger. Den alten Zopf der Heimatduselei hat das moderne Großstadtleben uns gründlich abgeschnitten. Wo's uns gut geht, da sind wir zu Hause. Wart', ich glaube, ich krieg's noch heraus, wie das auf lateinisch heißt! – Ach, man vergißt das so schnell. Richtig, nun fällt es mir wieder bei: Ubi bene, ibi patria. Wo die Beene sind, da ist das Vaterland. Hahahaha!«

»Ich denke über diesen Punkt anders«, sagte Franz trocken und schwieg.

Der Zigarrenreisende drehte etwas verlegen an seinem wohlgepflegten Schnurrbart. Das war ja schrecklich, wie eintönig sein alter Freund geworden war. Was konnte er nur tun, um ihn aufzumuntern? Na, nicht umsonst führte er ein wohlassortiertes Lager der neuesten Witze mit sich. Er gab einige zum besten, und zwar solche, deren Durchschlagskraft er in Dörfern und Städten am abendlichen Stammtisch oft erprobt hatte. Aber hier hatte er damit keinen Erfolg. Obgleich er nach der Pointe kräftig das Zeichen zum Lachen gab, lächelte der andere nur gequält, wie um ihm den Gefallen zu tun. Und als er schließlich einen scharf gepfefferten Witz mit breitem Behagen erzählt hatte, entdeckte er sogar in dem Gesicht des Malers einen unverkennbaren Zug des Unwillens. Dem Manne war augenscheinlich in der öden Heide jeglicher Sinn für Humor in die Brüche gegangen. Der Vielgewandte fühlte sich wirklich ratlos und schwieg eine Weile. »Franz«, sagte er dann und griff ihm an die Schulter, »mach' doch nicht so ein Gesicht wie sechs Tage Regenwetter in der Heide! Du bist doch ein junger Kerl, und was soll aus der Welt werden, wenn wir jungen Kerls nicht mehr vergnügt sein wollen. Prosit! Aber austrinken!«

»Prosit!« sagte Heim und gab Bescheid. Als er das Glas wieder hingestellt hatte, sagte er: »Nimm's mir nicht übel, Max, wenn du nicht recht was mit mir anfangen kannst! Ich habe heute tüchtig gearbeitet, erst an meinem Bilde und dann auf dem Felde. Ich bin recht müde. Und du hast ja auch eine weite Reise hinter dir und bist gewiß auch müde. Ich glaube, es ist das beste, wir gehen zu Bett.«

»Ich dachte, wir wollten doch wenigstens noch eine Flasche zusammen trinken. Ich habe die nötige Bettschwere noch nicht«, meinte der andere.

»Lassen wir das lieber! Du schläfst gewiß auch mal so ganz gut. Meine Hausleute sind auch gewöhnt, früh zu Bett zu gehen, besonders jetzt in der Erntezeit.«

»Meinetwegen«, sagte der Reisende ärgerlich und gekränkt. »Man kann sich mit euch Philistern noch so viel abquälen, ist alles verlorene Liebesmüh. Ich wollte nur, ich wäre weitergefahren bis Wrieloh.«

»Sei mir nicht bös!« bat der andere. »Wenn du es durchaus willst, können wir ja auch noch ein Stündchen zusammenbleiben.«

Aber der Gast war schon aufgestanden und folgte nach kurzem Gruß der Wirtin, die mit dem Licht in der Hand ihn nach seinem Zimmer führte.

Am nächsten Morgen tranken sie noch zusammen den Kaffee. Franz Heim tat die Schroffheit gegen den alten Freund leid, und er suchte sie wieder gutzumachen, indem er alte Schulerinnerungen auffrischte. Der andere war bald versöhnt und machte mit Freuden die Entdeckung, daß sein Freund vielleicht doch nicht allen Humor verloren hätte. Um diesen etwas aufzufrischen, schloß er seinen Handkoffer auf und nahm eine Handvoll Druckschriften heraus: »Die will ich dir hier lassen, damit du in der Einsamkeit mal was Interessantes zu lesen hast. Es sind feine Sachen, hochmodern, sensationell und pikant. Dieses Buch hier ist polizeilich verboten. Es stehen dolle Sachen drin! Mußt die Dinger aber gleich mit auf dein Zimmer nehmen. Für jeden ist das nichts.«

»Ich danke dir«, sagte Heim, »aber packe die Sachen nur, bitte, wieder mit ein! Ich habe für solche Lektüre wirklich keine Zeit und hätte nur die Unbequemlichkeit, sie dir nachsenden zu müssen.«

»Na, denn nicht!« sagte der Reisende unwillig und packte die Schriften wieder in den Koffer.

Er hatte sich bei dem Wirt ein Fuhrwerk bestellt, und der grüne Kastenwagen hielt vor der Tür. Mit Schelten über die primitiven Fahreinrichtungen und über den allgemeinen Tiefstand der Kultur in der Heide stieg er ein. Als das hart stoßende Gefährt sich in Bewegung gesetzt hatte, schüttelte er den Kopf und dachte: »Was doch aus einem Menschen werden kann! Der Franz ist auf dem besten Wege, ein Mucker zu werden. Wenn er nicht schon einer ist!« In der Heide sollten die Leute ja so furchtbar fromm sein, und das hatte seinen Freund wohl angesteckt. – Franz Heim sah den Wagen nicht ungern um die Ecke verschwinden. »Es ist gut«, dachte er, »daß nicht jeden Tag solcher Besuch kommt.« Dann ging er erleichtert an seine Arbeit.

Sie waren Freunde gewesen, was man auf Tertia so Freundschaft nennt. Jetzt verstand einer den andern nicht mehr. Sie waren sich so fremd geworden, daß Franz Heim nicht einmal mehr den Wunsch verspürt hatte, bei dem andern Verständnis für seine Art zu erwecken. Die beiden Welten, in denen sie lebten, waren zu verschiedenartig. Der eine tummelte sich lustig an der Oberfläche, der andere suchte die tieferen Gründe auf. Der eine war froh, daß die große Welt, die er mit guten Diäten bereiste, des Pläsierlichen so viel bot. Der andere suchte seit Jahren eine innere Welt, in der er zu Hause sein könnte. Seit einigen Wochen hatte er das Gefühl, als hätte er den rechten Baugrund gefunden, den Heimatboden, und in dem alten Lehrer und Arnsvader alte Bauerfahrene, die ihm mit Rat und Tat zur Hand gingen. Er war froh und dankbar, daß es so war.

Einen Philister hatte jener ihn genannt. Die fade Unterhaltung mit dem oberflächlichen Menschen war ihm schnell wieder aus dem Gedächtnis gekommen, aber dieses Wort hatte ihm einigen Eindruck gemacht. Es kam ihm öfters wieder in die Erinnerung. Damit mochte der alte Freund wohl nicht so ganz unrecht haben. Wenigstens war die Gefahr vorhanden. Er war ja gern in Vierhöfen. Frau Dreyers Verpflegung ließ nichts zu wünschen übrig. Aus dem Verkehr mit dem Alten empfing er viel. Seine Arbeit gewährte ihm Befriedigung. Aber es kamen Stunden, in denen er sich nach etwas sehnte, was weder Frau Dreyer, noch Arnsvader, noch die Arbeit ihm geben konnten. Er wußte selbst nicht recht, was das eigentlich war. Er hatte zuweilen das Gefühl, es sei doch wohl nichts für einen jungen Menschen, immer nur goldene Lebensweisheit des abgeklärten Alters zu hören. Ja, manchmal, wenn Arnsvader sich nach der Weise alter Leute wiederholte, wurde er ihm geradezu langweilig. Er dachte zuweilen daran, auch den alten Lehrer einmal wieder zu besuchen. Aber der war ja auch so ein Alter. Von dem hörte er dann nur auf hochdeutsch und etwas gebildeter, was Arnsvader ihm in seiner einfältigen plattdeutschen Weise sagte. Ja, Max Schulz hatte recht, einspinnen durfte er sich in Vierhöfen nicht. Bis zur Vollendung seines Bildes mußte er ja bleiben. Aber er hoffte, in spätestens acht Tagen an diesem den letzten Pinselstrich tun zu können. Dann war es wohl Zeit, das Bündel zu schnüren. Aber wohin dann? Die Frage stellte er sich öfters, fand aber einstweilen keine rechte Antwort.

 

Sechs Tage nach diesem Besuch saß Franz Heim beim Morgenkaffee und trug sich wieder einmal mit Zukunftsplänen.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Arns Gesche, die Schwiegertochter seines alten Freundes, stürzte herein. Sie zitterte am ganzen Leibe, und die Haare hingen ihr wirr um das Gesicht.

»Vader ... us Ol ... woll eben upstahn ... da fallt he längelangs dal ... he hett 'n Slag kregen ... de Bur schöll ... schöll gau anspannen ... de Ol woll dat Nachtmahl hewwen ... Et geiht woll mit em to Enne ...« So stieß sie hastig und atemlos heraus.

Snarsbur stand auf, um anzuspannen. Die Frau stürzte davon, wie sie gekommen war. Langsam folgte ihr der Maler zum Häuslingshause. Er mochte nicht hineingehen, blickte aber durch das kleine, saubere Fenster. Da lag der Alte in dem geöffneten Schlafschrank, der Butze, in unruhigem Halbschlummer. Mutter war um ihn beschäftigt und legte ihm von Zeit zu Zeit zur Kühlung ein nasses Tuch auf die Stirn. Die Schwiegertochter schlich in Socken durch das Zimmer und richtete es für die Feier zu.

Was sollte er tun? Er zwang sich und ging in die Scheune, in der er das Bild aufzubewahren pflegte, um die letzte Hand daran zu legen. Es fehlte nur im Hintergrunde noch hier und da eine Kleinigkeit. Wehmütig und traurig schaute er in die großen, ruhigen Augen des Alten, die ihn aus dem Bilde freundlich ernst und ein ganz klein wenig schalkhaft anschauten. Er freute sich, daß er diesen leisen schalkhaften Zug so gut getroffen hatte, ohne daß er dem stillen, ernsten Gesamteindruck des Gesichtes schadete.

Etwa zwei Stunden später rollte ein Wagen auf den Hof und hielt vor dem Häuslingshause. Der Maler, der von seiner Arbeitsstätte den Wagen nicht sehen konnte, hörte, wie eine kraftvoll männliche Stimme rief: »Weißt du auch, wo die blaue Heide steht?« Eine helle, jugendliche Stimme, die dem Maler merkwürdig bekannt vorkam, antwortete: »Ganz genau. Fünf Minuten hinter den Fuhren, bei den Hünengräbern.« »Aber in einer halben Stunde fahren wir nach Hause.« »Ja, dann bin ich längst wieder hier. Adieu, Vater!« »Adieu, Grete! Verlauf dich nicht in der Heide!«

Heim war vor das Tor getreten und sah, wie ein schlankes junges Mädchen eben leicht und graziös über die Hofmauer stieg und in den Fuhren verschwand. Ihr hellblaues Kleid wurde noch einige Male zwischen den Stämmen sichtbar.

Aus den Nachbarhäusern kamen einige schwarzgekleidete ältere Frauen. Am rechten Arm trugen die meisten einen Brettstuhl oder einen Schemel, in der linken Hand alle ein Gesangbuch. Unter ihnen war auch Frau Dreyer. Als sie an dem Maler vorüberkam, fragte sie: »Na, Herr Heim, wollen Sie nich 'n bißchen mit?« »Ist das denn erlaubt?« fragte dieser. »Das is hier so Sitte, daß die Nawersleute mitgehen. Herr Pastor sieht es gern. Die Leute kriegen denn doch auch ein Gotteswort ab, und das Singen geht ßu viel besser. Kommen Sie man!« Da folgte Franz Heim den Frauen in das Haus. Hinter dem breiten Rücken seiner Wirtin drückte er sich in die Stube und setzte sich still in eine verborgene Ecke.

Der enge Raum war festlich zugerichtet. Der unebene Lehmfußboden war mit weißem Sand bestreut. Den Tisch deckte ein sauberes, grobgewebtes Linnentuch. Darauf standen zwei Leuchter aus grünlichem Glase. Vor mehr als fünfzig Jahren hatten sie auf dem Hochzeitstisch vor dem jungen Ehepaar gebrannt und ihr bescheidenes Licht in junge, fröhliche Augen gestrahlt. Wenn sie nun noch einmal wieder aus dem Schrank genommen wurden, mußten sie wohl von den beiden Enden eines Sarges auf eine ernste Trauergemeinde herableuchten. – Das Tageslicht, das unter den dichten Eichen her durch die kleinen Fenster nur gedämpft in das Zimmer fiel, mischte sich mit dem gelben Licht der Kerzen und goß einen eigenartigen Schein über den alten eisernen Ofen mit der Darstellung der Hochzeit zu Kana und dem springenden Sachsenroß, auf die gekalkten Lehmwände und die verblaßten Bilder, welche sie schmückten. Da hingen einige eingerahmte Konfirmationsgedenksprüche, ein Öldruck des Christuskopfes nach Guido Reni, ein Holzschnitt der Schlacht bei Langensalza zur Erinnerung an den dort gefallenen Sohn des Hauses, ein Kranz und Strauß aus Goldpapier zur Erinnerung an die goldene Hochzeit und einige zerlesene Kalenderjahrgänge. Und ein wunderbarer Widerschein von diesem Zwielicht ruhte auf dem stillen Gesicht des Alten in der Butze. Neben ihm saß im geflochtenen Armstuhl die alte Mutter. Sie hat oft mit ihm gefeiert im Gotteshause. Nun will sie auch heute noch einmal vorm Scheiden mit ihm das heilige Nachtmahl nehmen. Sie hat ihren Abendmahlsschmuck angelegt, den nur die ältesten Frauen in der Gemeinde noch tragen. Auf dem schwarzen Kleide liegt das feine, weiße Brusttuch, und auf dem greisen Haupte sitzt die schwarzweiße Strichmütze, die sich eng an das Haar anlegt. Die welken Hände sind über dem Gesangbuch und einem weißen Taschentuch gefaltet. Zuweilen greift ihre Rechte nach einem bereitliegenden Fliederstrauch, um die lästigen Fliegen von dem Gesichte des Kranken abzuwehren.

Feierliche Stille ruht auf der kleinen Hausgemeinde, die das enge Zimmer füllt, während der Pastor seinen Talar anzieht und das heilige Mahl zurichtet. Das nachhallende Tick-Tack der alten Wanduhr klingt deutlich in das tiefe Schweigen hinein und mahnt die Besinnlichen unter den Leuten: Hin geht die Zeit, her kommt der Tod.

»Wir singen Gesang Nummer 209.« Einen Augenblick hört man nur das Umblättern der Gesangbücher. Eine alte Bauerfrau hält dem Maler ihr Buch hin, daß er mit aussehen kann. Dann stimmt der Pastor an, und sie singen Luthers Abendmahlslied: »Jesus Christus, unser Heiland.« Sie singen mit gedämpften Stimmen, wie es sich für ein Krankenzimmer geziemt. Nach einigen Versen legt der Pastor das Gesangbuch zur Seite und liest, nachdem die Gemeinde sich erhoben hat, 1. Mose 29,10, das Bekenntnis Jakobs bei der Heimkehr in das Land der Väter: »Herr, ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte getan hast.« Mit schlichten Worten und leise bewegter Stimme weist er den alten Knecht des Herrn darauf hin, wie Gott ihn geführt habe durch ein langes Leben, auf lichten und dunklen Wegen; aber immer seien es Wege des Friedens gewesen – der Alte bewegte zustimmend das Haupt – und wie nun auch auf der Heimfahrt noch diese Barmherzigkeit und Treue Gottes sich an ihm beweise und er ihrer inne werden könne im heiligen Abendmahl. Er werde aber auch mit dem Erzvater Jakob bekennen, daß er diese Barmherzigkeit und Treue Gottes nicht verdient habe, und so würde sie auch ihn wie jenen zur Buße leiten. Darauf spricht der Alte seine Beichte, alte in Vergessenheit kommende Verse, die nur von den Ältesten im Dorf noch gebraucht werden:

»Herzlich reuen mich die Sünden,
Welche ich bisher getan;
Herr, laß mich Vergebung finden
Und nimm mich zu Gnaden an.
Ach, um Jesu Christi willen
Laß mein Herz vor dir sich stillen!
Bessern will ich gern mein Leben,
Nie der Sünde mehr mich freun,
Ganz will ich mich dir ergeben
Und dein Bild in mir erneun.
Herr, zu diesem Heilsgeschäfte
Gib du selbst mir Mut und Kräfte!
Amen.«

Langsam und feierlich, in eigenartig schwebendem Tone hat der Alte die Worte gesprochen. Die greise Lebensgefährtin stimmt diesem Bekenntnis und Gelöbnis mit einem leisen, zitterigen Ja zu. Nun erhalten sie die Zusicherung der göttlichen Vergebung, und das Abendmahl kann gefeiert werden. Die kleine Hausgemeinde hat sich erhoben, der Pastor betet das Vaterunser und die Einsetzungsworte. Danach neigt er sich auf das Lager hinab und reicht dem Kranken das Brot und den Kelch. Um ihm das Trinken zu erleichtern, hat Arnsmudder sein Haupt in den Kissen angehoben. Darauf empfängt sie selbst die Gabe, stehend und gesenkten Hauptes.

Franz Heim hatte sich zu der schlichten Feier eingefunden, um seinem alten Freunde und dessen Familie eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Aber nicht lange dauerte es, so gewann sie ihm ein tieferes Interesse ab.

Wunderbar! Das letzte Mahl mit den Zwölfen im getäfelten Saal zu Jerusalem – wie oft hatte es Künstler aller Zeiten zum Schaffen angeregt! Sie zogen der Reihe nach an seinem Geiste vorüber, alle diese Bilder, die ihm aus der Kunstgeschichte bekannt waren, von den ungeschickten Wandmalereien in den Katakomben Roms über Lionardo da Vinci bis auf Eduard von Gebhardt. Und nun hier dieser wunderbare Nachklang und Abglanz jener Abschiedsfeier – nach fast 1900 Jahren – in der weltverlorenen Lüneburger Heide, in der armseligen Lehmkate, das schlichte Stübchen in dem stimmungsvollen Zwielicht des Tages und der Kerzen, die stillen, ernsten Gesichter der kleinen Gemeinde, die hohe Gestalt des Geistlichen, der seines Dienstes mit innerer Hingebung waltet, die ehrwürdige Mutter im Abendmahlsschmuck, das stille Antlitz des Alten – ist es sanfter Abendfriede, der auf den friedevollen Zügen lagert, oder sind sie schon von dem Morgenglanz der Ewigkeit überhaucht? Franz Heim schaute. Er schaute wie einer, der durch die Hülle, die über den Dingen liegt, tief in ihr Wesen und Geheimnis blickt. Er schaute entschleierten Auges mit einer Unmittelbarkeit, wie es den Sterblichen nur in ganz seltenen und ganz großen Augenblicken vergönnt ist. Da enthüllten sich ihm große Zusammenhänge, die er bis zur Stunde kaum geahnt hatte. Es war ihm, als schritte der Meister, der einst gesagt hatte: »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch«, leise segnend durch das enge Gemach, und die er anschaute mit dem tiefen Friedensblick, die er grüßte mit dem sanften Friedensgruß, die beiden Alten im weißen Haar, wurden voll des Friedens, der alles Verstehen übersteigt. Und auch die anderen alle, die zu der Feier versammelt waren, spürten einen stillen Hauch dieses Friedens. Davon zeugte die weihevoll heilige Stille, die über der kleinen Gemeinde ruhte.

Franz Heim schaute das alles als Mensch, der im Innersten ergriffen ist. Und was der Mensch empfand und schaute, das wurde dem Künstler zu einer Offenbarung. – Es kam plötzlich heiß über ihn. Eine hohe, helle Freude durchleuchtete seine Seele. Er hätte aufjubeln mögen. Ein Urbild hatte er geschaut. Seine Kunst hatte jetzt nur das Nachbild nach dem geschauten Urbilde zu gestalten. Was er bislang gemalt hatte, war ausgeklügelt und zusammengetüftelt. Das Bild, das ihm jetzt vor der Seele stand, hatte er empfangen. Es war ihm geschenkt in einem großen Augenblick, in dem eine hohe geistige Welt voll wunderbarer Zusammenhänge und geheimnisvoller Kräfte sich dem staunenden Auge enthüllte.

Inzwischen hatten die anderen Luthers Abendmahlsdanklied gesungen: »Gott sei gelobet und gebenedeiet.« Nun standen sie auf, rückten mit den Stühlen und gingen schweigend auseinander. Auch der Maler stahl sich leise zur Tür hinaus.

Langsam, das Erlebte in der Seele bewegend, schritt er über den Hof der Scheune zu. Eben wollte er eintreten, da bleibt er wie gebannt stehen. Vor seinem Bilde erblickt er die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens. Sie hat ihn nicht bemerkt, denn sie ist dem Bilde zugewandt und offenbar ganz von der Betrachtung hingenommen. Bald betrachtet sie es aus nächster Nähe, dann tritt sie einige Schritte zurück, endlich findet sie schräg seitwärts den rechten Augenpunkt und schaut das Bild mit langem Blick an. »Als ob es lebt«, so kommt es ihr unwillkürlich über die Lippen. Durch die Seitenfenster flutet eine breite Lichtwelle in den halbdunklen Raum, läßt ihr reiches Blondhaar goldig erglänzen und zeichnet die Umrisse eines schönen, regelmäßigen Gesichtes scharf auf die gegenüberliegende Wand. Das liebliche Bild nimmt den Maler so gefangen, daß er den Atem anhält, um die holde Beschauerin nicht zu stören.

Da kommt ein zufälliges Geräusch vom Hofe her. Das Mädchen wendet sich um und sieht den fremden Herrn. Sie entfärbt sich vor Schreck, dann jagt ein lebhaftes Rot über ihre zarten Wangen bis unter das blonde Haar, und mit großen, erschrockenen Augen sieht sie den Maler an. »Verzeihen Sie«, sagt sie, doch er hat die Mütze gezogen und sagt, sich höflich verneigend: »An mir ist es, um Verzeihung zu bitten, daß ich Sie gestört habe.« Eben will er sich vorstellen, da läßt sich auf dem Hofe die Stimme ihres Vaters hören, der nach der Tochter fragt. Dabei kommt Bewegung in ihre noch immer vor Schrecken regungslose Gestalt. »Vater wartet auf mich«, sagt sie schnell und eilt an dem Maler vorüber, sich leicht gegen ihn verneigend. In der Hand trägt sie einen großen Strauß blau blühender Heide, den sie noch schnell von einem alten Stuhl, der da stand, aufgenommen hat. Er schaut ihr verdutzt nach und sieht noch, wie sie leichtfüßig auf den Wagen springt. Unter dem freundlichen Schelten des Vaters und des Snarsbuern »Üh« ziehen die Braunen an, und der Wagen rollt von dannen.

Noch immer blickte Franz Heim hin, auch als der Wagen schon längst um die Ecke verschwunden war. Aus seinem Träumen weckte ihn die grelle Stimme von Frau Dreyer, welche die Gelegenheit benutzt hatte, mit dem Pastor ein paar Mundvoll zu schnacken und erst jetzt ins Haus zurück wollte. »Das ist den Herrn Pastor seine Grete, ein düchtiges Mädchen. Er hat man die eine, und denn noch ßwei Jungens. Sie haben wohl mit sie gesprochen. Sie kam ja mit 'n Galopp aus das Scheunentor herausgefenstert.«

»Kann ich essen?« fragte Heim kurz, um die redselige Frau auf etwas anderes zu bringen. Da besann sie sich mit Schrecken, daß es schon so spät war, und eilte ins Haus.

Langsam kehrte er in die Scheune zurück. Da sah er von ohngefähr einige Heideblüten am Boden liegen, die der schnell Davoneilenden entfallen waren. Er sammelte sie sorgfältig und betrachtete sie liebevoll. Die Blüten hatten einen bläulichen Schein. Er hatte wohl schon davon gehört, daß hin und wieder blaue Heide vorkommen sollte, aber noch niemals solche zu Gesicht bekommen. Indem er die feinen, zarten Glöckchen aufmerksam betrachtete, machte er die Entdeckung, daß die bescheidene Heideblüte die schönste Blume der Welt ist.

In seinem Zimmer hatte er ein feines, buntbemaltes Blumenväschen, das noch aus dem Hochzeitsgut seiner Mutter stammte. Das Gegenstück war ihm am ersten Morgen in Vierhöfen bei dem fahrigen Auspacken zerbrochen. Lange hatte die zierliche Vase keine Blumen mehr beherbergt; in der letzten Zeit war sie sogar zum Aschenbecher erniedrigt. Heute kam sie wieder zu Ehren. Sie nahm ein Sträußchen blühender Heide auf, und der glückliche Besitzer fand, daß sie gerade für einen solchen Strauß wie geschaffen war.

Merkwürdig! Die Erinnerung an das traurige Ereignis des Morgens wie an das große künstlerische Erlebnis des Vormittags war den ganzen Tag wie ausgelöscht. Die Erinnerung an die halbe Minute in der Scheune leuchtete in der Seele mit einem Glanz, vor dem alles andere erbleichen mußte. Wenn er die Gedanken auch einmal auf etwas anderes lenken wollte, sie ließen sich heute nicht kommandieren, sondern kehrten immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück und setzten alles mit diesem in Verbindung.

Wie hatte doch Lehrer Bartels in jener Nacht gesagt? »Laß deine Muse das schlichte Heidekind sein, mit blauen Augen und blonden Zöpfen!« Nun, Zöpfe trug sie nicht, aber das tat nichts zur Sache. Blond war ihr Haar, herrlich lichtblond. Wie hatte es in dem Sonnenstrahl geleuchtet! Und die Augen waren blau wie das Blümlein Vergißmeinnicht. Und wie es der rechten Musen Weise ist, hatte sie ihren Schützling an der Stätte seiner Arbeit besucht. Schade nur, daß er nichts als ein banales »Verzeihen Sie« mit ihr hatte austauschen können! – Aber die Muse hatte auch sonst noch etwas gesagt ... Richtig, jetzt fiel es ihm wieder ein. Arnsvaders Bildnis hatte auf sie einen Eindruck gemacht, »als ob es lebte«. Dies waren ihre eigensten Worte. Das war ja das schmeichelhafteste Urteil, das er sich wünschen konnte. Wenn das Bild lebte, war alles gut. Nun kam freilich bald der altkluge Geselle Verstand darüber und sagte: »Das Mädchen hat wahrscheinlich außer einigen Neuruppiner Bilderbogen und den Holzschnitten im ›Daheim‹ kein Werk der bildenden Kunst gesehen, und ihr Urteil ist am Ende nicht mehr wert als Frau Dreyers wortselige Bewunderung.« Aber dem Neunmalweisen wurde diesmal nicht geglaubt. Der Künstler betrachtete sein Werk mit freudigem Stolze und war fest überzeugt, daß es seiner Kunst Ehre machte. Ein spaltenlanger Leitartikel des geachtetsten Münchener Kunstkritikers hätte heute diese Überzeugung nicht so in ihm befestigen können, als das simple Wort des jungen Mädchens.

Er dachte zurück an jene Sonntagnachmittagsstunden im Tannenwald von Wendingbostel, wo er ihre helle, feine Stimme zum erstenmal gehört hatte. Ja, er hatte diese Stimme heute sofort wiedererkannt. Und er dachte an jenen nächtlichen Besuch des Wrieloher Pfarrgartens. Es war ihm, als seien sie alte Bekannte.

Wie nett war es doch, daß die so schnell Entschwundene ihm wenigstens ein Andenken hinterlassen hatte! Und er ging wieder in sein Zimmer, freute sich an dem Strauß und suchte ihn noch gefälliger zu ordnen.

»Wo bleiben Sie denn man bloß?« rief Frau Dreyers Stimme vor der Tür, »die Bratkartoffeln werden ja ganz kalt.« Als er in das Gastzimmer trat, fand er dort den Arzt, der soeben von Arnsvader gekommen war. Der alte Herr wohnte in Wendingbostel, und man hatte seiner nicht eher habhaft werden können, da er einen großen Landbezirk zu versorgen hatte. Frau Dreyer fragte ihn eben über Arnsvaders Zustand aus. So erhielt Franz Heim zuverlässige Nachricht über seinen alten Freund. Der Doktor meinte, der Alte habe einen Schlaganfall gehabt, diesen bei seiner guten Natur aber noch einmal überstanden. Er werde sich zunächst wohl noch weiter erholen. Aber über kurz oder lang werde der Anfall wahrscheinlich wiederkehren und dann dem Leben des alten Mannes ein Ziel setzen.

Dieses Gespräch, dessen Zeuge der Maler war, brachte ihn endlich auf andere Gedanken. Das Bild, das er am Vormittag in der Häuslingsstube geschaut hatte, wurde ihm wieder lebendig. Wenn er es gestalten wollte, durfte er nach den Worten des Arztes keine Zeit verlieren. So beschloß er, gleich am nächsten Morgen die neue Arbeit in Angriff zu nehmen. Noch am Abend traf er die Vorbereitungen, indem er das größte Stück Malleinwand, das in seinem Besitz war, auf einen Holzrahmen spannte. Auch holte er sich ein Dutzend Lichte vom Krämer, um die für das Bild erforderliche Beleuchtung herzustellen.

*

Am nächsten Morgen begab er sich sofort in das Häuslingshaus und trat an das Bett seines alten Freundes.

»Na, Arnsvader, wo geiht't?« fragte er.

»Oh, ick heww god slapen und mi all öllich verhalt. Man dat Butensitten is nu woll för jümmer vörbi. Ick föhl mi noch bannig swack. Dat deiht mi leed, dat uns Umgang nu ok woll sin Endschaft funnen hett«, antwortete der Alte.

»Abers, Vader, dat brukt jo gar nich to wän«, meinte der Maler. »Wenn 't em recht is, leist' ick em nu in de Dönzen Gesellschap.«

»Dat wör jo bannig fründlich von em und dankenswert. Dat Knütten geiht nicht mehr, und do ward de Tied lang.«

»Nix to danken«, wehrte Heim ab, »ick heww nämlich min egenen Affsichten dorbi. Ick woll hier in de Dönzen gern malen.«

»So? Wat denn?«

»De Abendmahlsfier, de hier gistern wän is.«

»De Abendmahlsfier? – Dat weet ick nich. – He mutt woll allens malen, wat he mit de Ogen to sehn kriggt.«

»Nee, Arnsvader, allens nich. Abers dat hett mi gistern so ton Harten spraken, dat ick 't gern up'n grot, schön Bild bringen möch.«

Der Alte hatte noch einige Bedenken, ob das auch wohl recht wäre. Aber es gelang dem anderen, diese zu zerstreuen. So konnte er seine Gerätschaften herbeiholen und die Arbeit beginnen. Er hatte nur wieder die Lichter anzuzünden und konnte dann malen, wie er alles fand.

An Arnsvaders Gesicht malte er am liebsten, wenn Claus Hinnerk, der Großsohn, ihm nach der Schule aus Scrivers »Seelenschatz« vorlas. Dann lag wieder etwas von jenem Friedensschein auf dem ehrwürdigen Gesicht, der es bei der Abendmahlsfeier verklärt hatte. Arnsmudder, die noch rüstig auf den Beinen war und die ganze Hausarbeit besorgte, gewährte dem Maler hin und wieder ein Stündchen und verstand sich schließlich auf Zureden des Alten sogar dazu, einige Male ihren Abendmahlsschmuck anzulegen. Die übrigen Glieder der Familie waren nur gelegentlich zu haben. Doch kam es auf diese weniger an, da sie nur als Nebenfiguren auf dem Bilde in Betracht kamen. So fehlte von den Hauptpersonen nur noch der Pastor. Aber deshalb bekümmerte der Maler sich einstweilen nicht sehr. Da würde sich schon noch Rat finden, dachte er. – Der Pastor war ja der Vater seiner Muse.

Franz Heim merkte bald, daß er dieses Bild nicht so leicht und gemütlich auf die Leinwand werfen konnte, wie alles das, was er früher gemalt hatte, das eben vollendete Bildnis nicht ausgenommen. Hier galt es, alle Kraft zusammenzunehmen, um das Abbild dem Urbild, das ihm vor der Seele schwebte, nachzubilden. So ging er denn immer mit zusammengepreßten Lippen und ernstem Gesicht an die Arbeit. Dabei geschah es, daß meist eine weihevolle Stimmung auf ihm ruhte. In den besten Augenblicken künstlerischen Schaffens hatte er eine ähnliche Weihe auch wohl schon früher empfunden, aber hier war sie dauernder und zugleich vertieft durch den einzigartigen Gegenstand. Zwar fühlte er oft lebhaft die Unmöglichkeit, den geistigen Inhalt desselben durch seine Kunst auszuschöpfen. Aber das drückte ihn weniger nieder, als es ihn anspornte, sein Bestes einzusetzen. Und er hatte das Gefühl, als würden dabei Kräfte in ihm ausgelöst, die er früher kaum in sich geahnt hatte.

Nicht nur auf den Künstler, auch auf den Menschen wirkte diese Arbeit zurück. Er wurde noch ernster und gesammelter, und zugleich noch freundlicher und aufgeschlossener gegen seine Umgebung. Er hatte nicht mehr den finstern Ernst eines Mannes, der die große Entdeckung gemacht hat, daß es eine Last und Qual ist zu leben. Aus den frohernsten Augen blitzte es: Es ist ein ernstes Ding um das Leben, aber eben darum ist's eine Lust, zu leben.

Es war freilich nicht die Arbeit allein, die ihn so froh und so ernst machte.

*

Am Montag hatte Arnsvader den Schlaganfall gehabt. Dienstag hatte Heim die neue Arbeit begonnen.

Am Freitag abend saß dieser in seinem Zimmer auf der Truhe unter dem Fenster und hatte das Neue Testament auf dem Knie. Er las die evangelischen Erzählungen von dem ersten Abendmahl und dazu die Abschiedsworte Jesu nach Johannes, die den Geist jener letzten Stunden so wunderbar spiegeln. Er tat das, weil er glaubte, es würde ihm helfen, daß er sich immer besser in seine Aufgabe einlebte.

Als er die genannten Stücke gelesen hatte, legte er das Büchlein zur Seite, stützte den Kopf in die Hand und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Da nahmen sie die Richtung, daß er daran denken mußte, wie er selbst das Abendmahl gefeiert hatte. Er erinnerte sich seines Konfirmationstages. Eine lange und bei der großen Zahl der Konfirmanden ermüdende Feier war voraufgegangen. Dann war er abgespannt und mit einer gewissen Rührung an den Altar getreten. Es war die Zeit gewesen, als er das Elternhaus verlassen und das Gymnasium beziehen mußte. Vor diesem wichtigen Lebensereignis war in seinem Bewußtsein die Konfirmation an Bedeutung weit zurückgetreten. Dann hatten die Eltern ihn noch einige Male mitgenommen, wenn er in den Ferien zu Hause war. Mit des Vaters Tode hatte das aufgehört. Da die Anregung von außen fehlte, ein inneres Bedürfnis aber nicht vorhanden war, hatte er die fromme Sitte des Elternhauses in der großen Stadt still fallen lassen.

Nun war er ja wieder in der Heide, und in manchem hatte er an die alte, heimatliche Art angeknüpft. Da kam ihm nun an diesem Abend der Gedanke, ob er nicht einmal das heilige Mahl, dessen Darstellung sein künstlerisches Ringen galt, auch selbst wieder feiern wollte. Der Gedanke, zunächst abgewiesen, kehrte wieder, und bald wurde er zum Wunsche.

Franz Heim hatte sich jedoch gewöhnt, wie viele einsame Menschen, seine Gedanken und Wünsche einer scharfen Prüfung zu unterziehen. Das tat er auch mit diesem Wunsch und Gedanken, ehe er ihn zum Entschluß werden ließ. War's nur die alte Dorfsitte, die jetzt wieder ihre Macht auf ihn ausübte? Er getraute sich hierauf mit einem runden Nein zu antworten. Oder war es ein gewisses ästhetisches Interesse, das mit seiner Arbeit irgendwie zusammenhing? Dieses war wohl mitbeteiligt, aber es war doch im letzten Grunde etwas anderes, was jenen Wunsch in ihm lebendig machte.

Den beiden Alten im Häuslingshause hatte die heilige Feier etwas gegeben. Dies unmittelbare Gefühl hatte er in der Stunde der Feier selbst gehabt, und ein stilles Nachleuchten hatte die ganze Woche auf Arnsvaders Antlitz geruht. Das verborgene Innenleben hatte etwas empfangen, das sich freilich wohl nicht in Worte fassen ließ, aber es war da mit segensvoller Gegenwart. Und was Franz Heim an seinem alten Freunde wahrgenommen hatte, das erhoffte er für sich selbst auch. So entschloß er sich, gleich am nächsten Sonntag in der Kirche von Wrieloh, in der er getauft und konfirmiert war, zum Tisch des Herrn zu gehen. Am Ende einer Woche, in der er ganz in dieser Gedankenwelt gelebt hatte, schien ihm das plötzlich wie natürlich.

Am Sonntagmorgen ging Franz Heim froh und ernst den Weg, den er vor einigen Wochen so scheu und traurig gegangen war. Heute schien ihm ja nicht das blasse, wehmütige Licht des Mondes, sondern die helle, freundliche Sonne. Und hell und warm leuchtete sie ihm ins Herz hinein.

Die Beichte begann in Wrieloh um neun Uhr, der Hauptgottesdienst eine Stunde später. Die Bauersleute, die jetzt schon unterwegs waren, mußten demnach Abendmahlsgäste sein. Er sah sie alle familienweise kommen, die Männer mit ihren Frauen, die Eltern mit ihren Kindern. Die ledigen Burschen, die als Knechte auf den Höfen dienten, hatten sich mit Kameraden vereinigt, und die Mädchen mit Freundinnen. Nur er ging seinen Weg einsam. Er hatte sich ja gut an die Einsamkeit gewöhnt, aber in dieser Stunde fühlte er sie mit Bitterkeit.

Ehe er in die Kirche ging, trat er an die Gräber seiner Eltern. Lebendig vergegenwärtigte er sich ihr Bild. Da wurde es ihm, als schauten sie ihn still und froh an und als folgte ihr Segen ihm ins Gotteshaus.

In der alten Kirche war ihm jeder Winkel so vertraut, als ob er sie gestern zum letztenmal gesehen hätte. Das Bild des Gekreuzigten über dem Altar schaute ihn mit dem tiefen Schmerzensblick so bekannt an. Die stämmigen Bronzemänner, die den uralten, schweren Taufstein auf den Schultern hatten und verzweifelte Gesichter dazu machten, hielten ihre Last noch ebenso sicher wie damals, als er in der Kinderlehre Schulter an Schulter mit ihnen saß. Das Rotschwänzchennest schmiegte sich auch noch hoch oben in die Pfeilerecke. Als Junge hatte er manchmal mehr auf das Vögelchen in seinem Nest geachtet als auf die Predigt. – Draußen war alles in ewiger Veränderung. Hier drinnen blieb alles, wie es von der Väter Tagen her war, was auch draußen Mode und Zeitströmung bringen mochte.

Die Beichte und der Hauptgottesdienst nahmen ihren Verlauf, wie Heim es aus seiner Jugend kannte. Den Schluß bildete eine Reihe von Abkündigungen. Darauf verließ die große Gemeinde die Kirche. Nur die Abendmahlsgäste blieben. Durch die geöffneten Türen drang wohltuende frische Luft ein. Herr Bartels schritt würdig den Haupteingang entlang und zündete die Altarlichter an. Als er an Franz Heim vorüber kam, nickte er ihm still zu. Nun begann die heilige Feier. Der Pastor intonierte zu sanfter Orgelbegleitung: »Erhebet eure Herzen«, die Gemeinde antwortete: »Wir haben sie beim Herrn.« Als die Abendmahlsliturgie beendet war, traten in langen schwarzen Reihen die Männer an den Altar. Dann folgten die Frauen, die älteren in ihrer würdigen Abendmahlstracht, das jüngere Geschlecht unbedeckten Hauptes in einfacher, schwarzer Kleidung.

Schon stellte sich die letzte Reihe an den Altar, da kamen noch zwei Damen aus dem Stand, welcher zur Pfarre gehörte und den ein starker Pfeiler vor Franz Heims Augen verborgen hatte. Er schaute hin, und ein jäher Schreck durchzuckte ihn. Da stand das junge Mädchen unbedeckten Hauptes in schlichtem, schwarzem Kleide, in der holden Anmut ihrer Jugend und in dem heiligen Ernst dieser Feierstunde. Als des Vaters Hand ihr das Brot reichte, ging eine leise Bewegung über ihre lieblichen Züge. – Franz Heim hatte nun nicht mehr das bittere Gefühl, als ob er allein und einsam mitfeierte.

Der Gottesdienst war beendet, schnell leerte sich die Kirche, während der alte Organist einige Schlußakkorde spielte. Heim blieb noch, um Herrn Bartels zu erwarten. An der Orgeltreppe empfing er ihn. Sie begrüßten sich mit einem herzlichen Händedruck. Als Herr Bartels die Altarlichter gelöscht und die heiligen Geräte herabgenommen hatte, verließen sie das Gotteshaus. Kaum waren sie draußen, da blieb der alte Lehrer stehen, sah den jungen Freund mißbilligend an und sagte: »Endlich läßt du dich mal wieder sehen. Ich dachte schon, du wärest, ohne mir Lebewohl zu sagen, über alle Berge gegangen. Da hörte ich freilich von einem aus Vierhöfen, du seist noch da. Morgen nachmittag wollte ich dich besuchen. Ich habe da doch in der Gegend zu tun. Aber daß du mich so ganz vergessen würdest, hätte ich nicht gedacht!«

»Na, Herr Bartels«, sagte Heim begütigend, »nun schelten Sie man nicht so! Sie haben recht, es war nicht nett von mir, daß ich mich gar nicht um Sie bekümmert habe.«

Sie gingen dem Küsterhause zu. »Was macht denn die Kunst?« fragte der alte Herr.

»Sie wollen mich ja morgen besuchen«, sagte der Maler. »Dann sollen Sie selbst sehen und urteilen.«

Franz Heim aß im Schulhause zu Mittag. Herr Bartels wollte ihn auch für den Nachmittag festhalten. Aber er wollte heute lieber allein sein. Bald nach dem Essen trat er den Heimweg an.

Merkwürdig, sagte er zu sich, indem er langsam über die Heide ging, daß sie auch heute gerade zum Abendmahl gehen mußte. Merkwürdiger Zufall! Oder doch vielleicht nicht Zufall? Konnte er mit dem Zufall alles erklären, was er in den letzten Monaten erlebt hatte? War es reiner Zufall, daß in jener dunklen Stunde an der schäumenden Isar die kleinen Schwalben ihm das Lied von der Heimat sangen, das ihn vor dem schrecklichen Schritt bewahrte? Zufall, daß er in jener Nacht, als er sein Heimatdorf besuchte, den alten Lehrer, der sonst im Aufstehen und Zubettgehen die Pünktlichkeit selber war, noch wach traf und von ihm in stiller Nachtstunde neue Aufgaben für seine Kunst und damit die große Wendung für sein Leben empfangen mußte? Nichts als blind tappender Zufall, daß er gerade einem Manne wie dem ehrwürdigen Arnsvader in die Hände fallen mußte, einem der Menschen, die doch so selten sind auf Erden? Und nichts als Zufall sollte es sein, daß er am letzten Montag, in jenem großen Augenblick seines Lebens, die hohe künstlerische Aufgabe empfing, und daß in derselben Stunde ein liebes, junges Menschenkind ihm nahetreten mußte, um durch ein unbedeutendes Wort ihm eine Freudigkeit für sein Arbeiten und Streben zu erwecken, von der er noch lange zehren konnte? Und daß sie von den vielen Sonntagen des Kirchenjahres gerade an diesem das Abendmahl feiern mußte, um das bittere Gefühl der Vereinsamung von ihm zu nehmen? – Das alles sollte eine Reihe blinder Zufälligkeiten sein? Um das anzunehmen, dazu gehörte ein starker Glaube. Nein, nein! Aus Farben, die blind und zufällig auf die Leinwand gegossen werden, wird nie und nimmer ein Kunstwerk, und aus lauter Zufälligkeiten noch weniger das Wunderwerk eines Menschenlebens.

Franz Heim ahnte in diesen Sonntagnachmittagsstunden die allmächtige und gütige Hand, die sein Leben lenkte und regierte. Und diese Ahnung füllte ihn mit Vertrauen und Freude. Er verstand jetzt etwas von dem Wort des alten Lehrers in jener Nacht: »Vertrauen mußt du haben auf etwas, das größer und mächtiger ist, als du selbst bist.«

*

Am folgenden Tage wollte die Arbeit nicht recht vonstatten gehen. Am liebsten hätte der Maler sein Bild genommen und wäre nach Wrieloh gepilgert, um zunächst einmal die Gestalt des Pastors auszuführen. Er schlug sich den Gedanken freilich aus dem Sinn und zwang sich zur Arbeit. Aber am Mittag schabte er alles, was er in den Vormittagsstunden geschafft hatte, wieder von der Leinwand hinweg.

Gegen drei Uhr klopfte es an die Tür der Häuslingsstube, und Herr Bartels trat ein. Er mußte sich ein wenig bücken, indem er durch die niedrige Tür trat. Nachdem er den Maler und Arnsvader begrüßt und sich nach dem Befinden des letzteren erkundigt hatte, stellte er sich vor die Staffelei und sah aufmerksam auf die Leinwand, wobei er den Griff seines Eichenstockes an das Kinn gelegt hatte. Zweimal wiegte er bedächtig das Haupt und machte »Hm«. Franz Heim kannte dieses »Hm« von der Schule her. Der alte Mann hatte ein besonderes »Hm«, wenn ihm etwas gefiel, und ein anderes, wenn das Gegenteil der Fall war. Dieses »Hm« war von der ersten Art.

Arnsvader nötigte zum Sitzen. »Kösters Vader, nu sett he sick doch dal! Mudder schall gliks 'ne Tass' Koffi bringen.« »Nee«, wehrte Herr Bartels ab, »besten Dank, düttmal nich. Ick mutt noch wieder. Kortenbur hett 'n Hünengraww upgrawen, so 'n Heidbarg, wo de olen Heiden ünnerliegt. De Buren sökt da bloß nach de groten Steen, faken finnt sick aber allerhand anner Tüg, ole Aschenpütt und Biele. Dor will ick tosehn, dat nix verlaren geiht. Franz, willst du mich begleiten?« wandte er sich an den Maler.

Dieser war mit Freuden dazu bereit, und so gingen die beiden über die Heide. An der Seite des Alten, der vornübergebeugt, die Hände auf dem Rücken, den Eichenstab unter dem rechten Arm, weit auslangte, schritt munter und aufrecht mit festem Schritt der Jüngere. Sie hatten beide Augen, um zu sehen. Der Alte hatte zwar meist den Blick gesenkt, aber wenn er ihn von Zeit zu Zeit erhob, lag darin viel gesammelte Kraft, die nicht gafft, sondern schaut. So sahen die beiden mehr als rote Heide und blauen Himmel und weiße Wolken. Sie sahen die zarten Farbenspiele, die entstehen, wenn die heiße Luft über dem Blütenmeere flimmert, sie entdeckten die einfachen, großen Linien der Landschaft. Sie sprachen über die Farben der dämmerigen Ferne, der Fuhrenwälder und Heidehöhen am Horizont, die das alte und das junge Auge etwas verschieden sahen. Plötzlich blieb der Alte stehen, stieß seinen Stock in die Erde, lehnte sich auf ihn und sagte, indem er den jungen Freund froh anschaute: »Franz, ich sehe, daß dir die Augen für unsere schlichte, schöne Heimat aufgegangen sind. Auch an deinem Bilde habe ich das gesehen.«

»Ich glaube auch«, sagte der andere einfach, »ich habe in der Heimat ganz neue Augen bekommen.«

Nun gelangten sie ans Ziel. An dem zerstreuten gelben Sande war die Stelle des ausgeraubten Hünengrabes weithin kenntlich. Sie gingen suchend auf dem Sande hin und her, bis Heim plötzlich sich bückte und ein kunstvoll poliertes und gebohrtes Steinbeil aufhob, das er alsdann dem hocherfreuten alten Herrn überreichte. Weiter fanden sie noch die Scherben einer Urne, und geringe Aschen- und Knochenreste lagen umher.

Auf dem nahen Kortenhofe lud der Bauer gerade ein Fuder Stalldünger auf. Der alte Lehrer ging mit schnellen Schritten auf ihn zu und schalt ihn tüchtig aus. »Wat hett he da nu wedder makt! Dütt Graww utröwert, den Aschenputt tweibraken, dütt Biel an de Siet smeten! Dat is rein to dull. In de School ward jo dat jümmer seggt, dat ji düsse ehrwürdigen Tügen ut ole Tieden schonen schöllt!«

Kortenbur, der während dieser Worte seine Holzschuhe notdürftig an der Forke gereinigt hatte, sagte trocken: »Du hest god schnakken, Köster. Ick harr de Steen för den Grund in min neen Swienstall nödig. Se paßten famost. De olen Heiden hewwt se all öllich trecht haut.« Dann spuckte er in die Hände, lud eine doppelte Last Dünger auf die Forke, um die durch den Dröhnschnack des Küsters verlorene Zeit wieder einzubringen, während die beiden Besucher den Rückweg antraten. »De Schoolmesters«, dachte Kortenbur, »hewwt nix to don. Dorbi kamt se up allerhand Grappen, för de 'n düchtigen Keerl keen Tied öwer hett.«

Es war ein wunderschöner Sommerabend, und Franz Heim begleitete seinen alten Freund noch über Vierhöfen hinaus. Sie gingen jetzt meist schweigend nebeneinander und freuten sich des stillen Abends. So waren sie in die Nähe der Hünengräber gekommen. Es bildeten deren neun einen Kreis, und ein größeres lag in der Mitte. Heim hatte den Ort, der ihm durch die blaue Heide lieb geworden war, in den Abendstunden öfters besucht und diese auch gefunden. »Wissen Sie auch, Herr Bartels«, so brach er jetzt das Schweigen, »daß dort an den Hügeln die Heide blau blüht?« »Gewiß«, entgegnete dieser lebhaft, »die blaue Heide ist eine große Seltenheit, und hier knüpft sich an sie noch eine alte Sage. Willst du sie hören?«

»Ja, bitte«, sagte der Maler.

»Dann setzen wir uns dort auf einen der Grabhügel. Es ist ein selten schöner Abend, und ich habe noch gar keine Lust, in mein einsames Haus zurückzugehen.«

Sie setzten sich auf die Höhe des Grabes in der Mitte und schauten von der blühenden Schlummerstätte alter Helden in das blühende Land hinaus. Herr Bartels hatte die Streitaxt auf den Eichenstab gesteckt und quer über seine Knie gelegt. Eine Weile schwieg er und blickte wie verloren ins Unendliche. Dann begann er zu erzählen, mit schlichten Worten und in ruhigem Tone.

»Es war vor Zeiten ein junger Sachsenheld, der wohnte dort hinter jenen Höhen unter hohen Eichen auf ererbter Hofstelle. Den rief des Wisenthornes Kriegsruf zu blutigem Streit, die Heimat und den Herd zu schützen. Aus den Gehöften kamen die wehrhaften Männer, dem Feinde zu begegnen, und riefen: Heil unserm Herzog! Da hing sich an den starken Helden das junge, blühende Weib, das vor einem Mond ihm zu eigen geworden. Sie umschlang sein stolzes Haupt mit ihrem flachsgelben Haar und sagte: ›Wotan segne deine Waffen, Freia schütze unsere Liebe!‹ Er aber riß sich los und führte die Männer zu blutigem Kampf. Hier auf der Vierhöfener Heide krachten die Speere und klirrten die Schilde, und viel rotes Blut troff auf die roten Heideblüten. Der Feind war überstark. – – Drüben hinter den blauen Wäldern saß an der Hofmauer das junge Weib, wand einen Heidekranz für des Siegers Stirn und spähte über die weite Heide nach dem Geliebten. Vergeblich, kein Sieger kam und kein Siegesbote. Wohl aber zogen heiser krächzende Rabenschwärme westwärts. Da erbebte sie, wie die von tödlichem Axthieb getroffene Tanne, und eilte schnellen Fußes den Unglücksvögeln nach. Und als es Abend wurde, fand sie den Geliebten, die Todeswunde in der Brust und den zerbrochenen Schild zur Seite. Er lag hier bei den uralten Grabmalen eines vergangenen Heldengeschlechts. Da brach sie über ihm im roten Heidekraut zusammen. – – Schauerlich hallte das Geheul hungriger Wölfe durch die Nacht. Davon erwachte sie. Mit des Gatten Speer durchbohrte sie den frechsten der Räuber, der sich nahe herangewagt hatte, und hielt treue Leichenwacht bei ihrem verlorenen Glück. Als es Tag wurde, sammelte sie dürres Holz und harzige Tannenzweige und schichtete den Scheiterhaufen. Darauf bettete sie den geliebten Toten. Und als es wieder Abend wurde, lohten die Flammen zum Himmel empor und leuchteten die ganze Nacht. Dazu klang die Totenklage des treuen Weibes und das wilde Geheul der Wölfe. Und als es wieder Morgen wurde, begann sie, über der Asche diesen Grabhügel zu richten, inmitten des Kranzes der alten Heldengräber. Tage und Wochen arbeitete sie mit der Heldenkraft treuer Liebe. Und als der Hügel die anderen alle überragte, da war ihre Kraft erschöpft, und sie hauchte ihre treue Seele aus. – – Als aber die Heide im nächsten Jahre sich mit Blüten schmückte, trug sie auf diesem Opferplatz der Treue blaue Blüten. Und mit dieser Farbe der Treue schmückt sie sich noch heute mit jedem neuen Jahre.

Vor fünfzig Jahren noch schlichen in stillen Augustnächten die ledigen Burschen hierher und pflückten ihren Liebsten einen Strauß blauer und roter Heide. Dann mußten sie ihnen treu und hold bleiben. Das hat heute wohl aufgehört. Das jetzige Geschlecht ist dafür zu nüchtern«, schloß der alte Erzähler wehmütig.

Er schwieg und schaute sinnend in die Ferne, wo eben die Sonne rotglühend in das Heidemeer tauchte. Seine Gedanken waren in der Vergangenheit. Der Jüngere an seiner Seite aber pflückte und ordnete liebevoll einen Strauß blauer Heide, die eben jetzt in schönster Blüte stand. In seinen Augen war ein stilles, gegenwartsfrohes Leuchten. Endlich hatte der Strauß die gewünschte Form, und Heim band ihn mit einem Ginsterzweig zusammen. »Kuck einer an«, meinte Herr Bartels, der ihm schon eine Weile zugesehen hatte, »da hast du ja ein allerliebstes Blauheidesträußchen. Schade nur, daß du niemand hast, dem du ihn schenken kannst.«

»Aber Herr Bartels, man kann sich doch auch selbst über so etwas Hübsches freuen«, meinte der Maler, indem er den Strauß von sich hielt und ihn liebevoll betrachtete.

Der alte Lehrer war aufgestanden. Hoch ragte seine Gestalt auf dem Grabhügel, und seine hellen Augen schauten nach der klar untergehenden Sonne. »Ich glaube«, sagte er, »das Wetter bleibt gut für unser Missionsfest am Mittwoch. Du hast ja gestern gehört, wie unser Herr Pastor dazu eingeladen hat. Du kommst doch auch? Es ist immer ein schönes Fest.«

»Wahrscheinlich nicht«, meinte der Maler. »Ich muß mal wieder tüchtig fleißig sein.«

»Na, den Tag gönne dir man mal!« entgegnete der alte Herr. »Ich erwarte dich. Nun will ich machen, daß ich nach Hause komme. Die Sonne ist schon zu Bett gegangen. Leb wohl! Auf Wiedersehen übermorgen!«

»Oder auch nicht! Kommen Sie gut nach Hause!«

Sie trennten sich. Jeder trug froh seine Beute heim, der eine die gefundene Streitaxt, der andere den blühenden Heidestrauß.

Als Franz Heim nach Hause kam, überreichte Frau Dreyer ihm einen Brief. »Er kommt aus Wrieloh«, sagte sie. »Ich glaube, der Herr Pastor hat ihn geschrieben. Den seine Handschrift kenne ich so ziemlich. Er schreibt öfters an unseren Lehrer.« Heim nahm ihr den Brief hastig aus der Hand und eilte auf sein Zimmer, den Umschlag unterwegs erbrechend. Indem er sich weit aus dem Fenster lehnte, konnte er die klare, feste Schrift trotz der hereinbrechenden Dämmerung noch lesen. Der Brief lautete:

 

Wrieloh, 5. Aug. 1887.

Sehr geehrter Herr Heim!

Gestern nachmittag erfuhr ich zufällig von unserem alten Lehrer, Herrn Bartels, daß der Sohn meines Vorgängers im hiesigen Pfarramt seit Wochen in meiner Gemeinde weilt. Es wäre uns sehr lieb gewesen, wenn Sie uns die Ehre Ihres Besuches schon früher einmal geschenkt hätten.

Ich möchte mir nun erlauben, auf dem Lande nehmen wir die Form nicht so genau, Ihnen meinerseits einen Anstoß zu geben, das Versäumte baldigst nachzuholen, und so möchte ich Sie bitten, am nächsten Mittwoch, also übermorgen, unser Gast zu sein. Wir feiern dann unser diesjähriges Missionsfest, und Sie erinnern sich wohl noch aus Ihrer Jugend, welch ein Fest das für das Pfarrhaus von Wrieloh ist. Sie würden da die Freunde Ihres Elternhauses, die sich Ihrer Familie noch oft und gern erinnern, fast vollzählig treffen, und diese würden sich gewiß sehr freuen, Sie wiederzusehen. Was unser Missionsfest zur Zeit Ihres verewigten Herrn Vaters war, ein Stelldichein für die Pastorenfamilien der Inspektion, ist es bis auf den heutigen Tag geblieben.

Einer freundlichen Zusage entgegensehend

Ergebenst
Fr. Werner, Pastor.

 

Franz Heim las den Brief noch zweimal Wort für Wort. Dann setzte er sich hin und schrieb folgende Antwort:

 

Vierhöfen, den 5. Aug. 1887.

Sehr geehrter Herr Pastor!

Ihre liebenswürdige Einladung hat mich sehr erfreut, und ich nehme dieselbe mit herzlichem Danke an. Sie geben mir damit zugleich erwünschte Gelegenheit, eine Pflicht, die ich als Ihr Gemeindeglied und als Sohn Ihres Amtsvorgängers wohl hatte, der ich aber bislang leider noch nicht nachgekommen bin, endlich zu erfüllen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Freundlichkeit und bitte wegen meiner Saumseligkeit um Entschuldigung.

Ihr sehr ergebener
Franz Heim.

 

Er wachte persönlich darüber, daß der Brief noch am Abend mit der Post fortkam. Es war nicht selten, daß die Briefe in Vierhöfen einen Tag oder zwei liegen blieben. Snarsbur hatte hinter seinen Bierflaschen von dem Geist, den Stephan in das Postwesen gebracht hatte, kaum einen Hauch verspürt.

Am folgenden Dienstag ruhte die Malerei fast ganz. Es fehlte die innere Ruhe und Sammlung. Die Gedanken spazierten schon immer ins Pfarrhaus von Wrieloh.

Es war Mittwoch morgen, vom Turm hatte es eben vier geschlagen, da zog der Pfarrherr von Wrieloh den Fenstervorhang seines Schlafzimmers in die Höhe und schaute durch das offene Fenster nach dem jungen Morgen. Der lachte ihn übermütig an aus Millionen blitzender Tautropfen, die an Busch und Baum und Gras, an den sich rötenden Backen der Äpfel und an den reifenden Pflaumen hingen und wie Diamanten funkelten. Einigemale atmete er mit tiefen Zügen die balsamische Morgenluft, dann suchte er wieder sein Bett auf. »Na«, fragte seine Eheliebste, die der große Tag auch schon früh geweckt hatte, »wie schaut das Wetter?« »Es wird, will's Gott, ein herrlicher Tag. Dieses Mal fällt unser Fest nicht ins Wasser, wie vorigesmal. Sollst man sehen, wir bekommen viel Besuch.«

Schlaf kam den beiden nicht wieder in die Augen. Er sann darüber nach, was er der Festgemeinde zur Begrüßung und zur Eröffnung des Festes sagen wollte. Sie rechnete nach, wie viele Mittagsgäste sie mit ihren Vorräten sättigen könnte, und zählte die zu erwartenden Gäste an den Fingern auf. Wenn sie zu der gefundenen Zahl auch zehn addierte, so reichte es immer noch.

Gegen neun Uhr begannen die Wagen in das Dorf zu rollen. Grüne Kastenwagen wechselten mit birkengeschmückten, dichtbesetzten Leiterwagen, und zuweilen wurden diese von einem auf Federn laufenden, vornehmeren Gefährt überholt. Dazwischen bewegten sich die langen, schwarzen Reihen der Fußgänger, die entsetzt auseinanderstoben, wenn ein Radfahrer auf halsbrecherischem Hochrad mit übereifrigem Klingeln dahergerast kam. Es waren erst wenige Räder in der Gegend, und die glücklichen Besitzer, meist Söhne der größeren Bauern, wollten durch unaufhörliches Klingeln und wildes Treten den Kutschern und Fußgängern klar machen, daß ihnen die Chaussee und die Zukunft gehörte und daß die anderen auf der Landstraße nur geduldet werden könnten, wenn sie sich schickten. Dafür flogen ihnen grobe Verwünschungen nach, und als ein ungeschickter Radler mit seinem Stahlroß stürzte, gönnten die meisten es ihm. Nur die alten gutherzigen Mütter kreischten vor Schreck auf. Sie begriffen nicht, wie ein junger Mensch seine gesunden Knochen so riskieren konnte, und noch viel weniger, wie es möglich war, daß so ein Ding auf zwei Rädern lief.

Vor der Einfahrt zum Pfarrhause standen die Pastorenjungens Hans und Fritz, um es sofort zu melden, wenn ein Wagen von der Hauptstraße des Dorfes in den sandigen Kirchweg, an dem das Pfarrhaus lag, abbog. Diesen Beobachtungsposten hatten sie freiwillig übernommen. Sie wußten von früheren Jahren her, daß sie sich bei diesem Dienst nicht schlecht standen; denn nicht leicht vergaß eine Pfarrfrau, den guten Jungen eine Tafel Schokolade oder Bonbons mitzubringen. Vor der Einfahrt brachten sie sich den Ankommenden durch höfliches Mützenschwenken gleich in Erinnerung und empfingen den süßen Lohn aus erster Hand. So wurde verhindert, daß die Mutter die Dinge in die Hand bekam, die mit Rücksicht auf den Magen ihrer Lieblinge immer alles »aufbewahren« wollte.

Nun biegt das erste Gefährt von der Hauptstraße ab. Hans und Fritz haben es sofort erkannt, stürzen ins Haus und rufen atemlos: »Beermanns kommen!« Als der Hausherr und die Hausfrau vor die Tür treten, um die Gäste zu empfangen, fährt eben eine altersgraue, wackelige, quiekende und knarrende Pastorenkutsche vor. Nach einigen Anstrengungen von außen und innen gelingt es, den verrosteten Schlag zu öffnen. Zunächst werden verschiedene Decken und Fußsäcke sichtbar, dann entwickelt sich aus dem altertümlichen Gefährt ein stattliches Pfarrehepaar, ebenfalls etwas altertümlich. Auch als die Hüllen und Decken in die Tiefe des Wagens zurückgesunken sind, ist der alte Herr noch immer durch eine warme Schirmmütze und durch einen soliden Überzieher gegen die Tücke und Unbilden der Witterung geschützt. Der Herr hat eine sehr kleine Gemeinde und keine Kinder. So hat er viel an sich denken können, und dabei hat sich eine unheimliche Furcht vor Erkältung bei ihm herausgebildet, gegen die er wie seine liebe Frau Warmanziehen für das beste Vorbeugungsmittel hält. Die natürliche Folge ist, daß sie in den Wintermonaten um die Wette husten und dem Apotheker des Kreisstädtchens viel zu verdienen geben.

Kaum hatte sich das stattliche Paar an dem bereitstehenden Frühstückstisch niedergelassen, so stürmen die beiden Jungen, diesmal Fritz voran, wieder in die Stube und melden: »Supperdents kommen!« Die Eltern eilen zur Begrüßung. Holla, das ist ein anderes Gefährt! Ein eleganter Landauer, der dem Städtchen, dem Sitz eines königlichen Landrats und eines hochwürdigen Superintendenten, alle Ehre macht, kommt in frischem Trab um die Ecke. Und was für ein munteres Leben bringt dieser Wagen mit! Vom Bock springen drei lustige Jungens, die droben den dicken Kutscher in qualvolle Enge getrieben haben, und hinten aus dem Wagen trippeln und klettern vier flachshaarige Mädchen, welche die Pastorsleute mit niedlichen Knixen begrüßen. Frau Superintendent, eine freundliche, liebenswürdige Dame, entschuldigt sich, daß sie mit allen ihren Trabanten das Haus überfällt. Aber Frau Pastorin meint: »Das freut uns herzlich. Wir haben Platz genug. Nun haben doch auch unsere Jungens ihre Gäste.«

Wieder das Rollen eines Wagens. Diesmal meldet Grete die Ankunft neuer Gäste. Hans und Fritz haben Wichtigeres zu tun. Schnell ist die alte Freundschaft mit Superintendents Kindern erneuert, und eben zeigen sie ihnen die Kaninchen und das Eichhörnchen, das zur Begrüßung der Gäste munter seine Trommel dreht, und Hans, die zahme Dohle, welche die kleine Gesellschaft aus ihren hellblauen Augen listig anschaut und mit einem lustigen »Djark« willkommen heißt. Die Stadtkinder fühlten etwas wie Neid auf die Freunde im Dorf. Eine solche lustige Menagerie haben sie nicht. Die Ankömmlinge, Pastor Bröker und Frau mit zwei erwachsenen Töchtern, werden zu den andern geführt. Es sind treue, einfache Leute, in der ganzen Inspektion wohlgelitten.

Noch einige Wagen kommen, dann folgt ein Radfahrer, von der Kinderschar, die sich inzwischen wieder vor dem Hause versammelt hat, mit großen Augen angestaunt. Gewandt springt ein junger Mann von dem Hochrade, den Kindern fröhlich guten Tag wünschend. Es ist der Pastor Fredrich, der erst vor einem Vierteljahr in der Gemeinde Prelle eingeführt ist. Einige der älteren Herren sind etwas mißtrauisch gegen ihn. Man kann doch nie wissen, was so ein junger Mensch, der noch vor drei Jahren in Göttingen studierte, alles in sein Amt und in den Kreis der würdigen Amtsbrüder mitbringt. Nun war es auf der letzten Konferenz vorgekommen, daß »der junge Mensch« in der Auslegung einer schwierigen Bibelstelle anderer Meinung gewesen war als die Mehrzahl der älteren Herren. Und da hatte Pastor Beermann sich in seinen Sessel zurückgelehnt und großartig gesagt, indem er ihn so von oben herab anschaute: »Herr Amtsbruder, Sie haben einen anderen Geist als wir.« Seine Bauern haben aber von dem bösen andern Geist nichts gemerkt. Daß ihr neuer Pastor jung und frisch ist und mit hellen Augen ins Leben schaut, haben sie gern.

Pastor Fredrich hat noch keinen Ring am Finger. Deshalb teilen einige Pastorenfrauen, die mit heiratsfähigen Töchtern gesegnet sind, weniger das Mißtrauen ihrer Eheherren und sind recht freundlich gegen ihn.

Endlich kommt auch unser Maler auf das Pfarrhaus zugeschritten. In der Hand trägt er den Strauß blauer Heide, den er am Montagabend nach der Erzählung des alten Lehrers bei den Hünengräbern gepflückt hat. Im Pfarrhause lieben sie ja diese Blumen, und der Strauß, den vor Wochen die Tochter aus Vierhöfen mitgebracht hat, ist wahrscheinlich schon recht trocken und welk geworden. Da will er nun Ersatz bringen.

Es war ihm ein eigenes Gefühl, als er nach sechs langen Jahren nun die wohlbekannte blanke Türklinke wieder in der Hand fühlte. Aber es war keine Zeit, solchen Erinnerungen nachzuhängen. Auf dem Hausflur trat ihm eine Dame entgegen, in welcher er sofort die Frau Pastorin erkannte. Indem er sich verneigte, nannte er seinen Namen, dankte für die Einladung und wurde herzlich willkommen geheißen.

Er bemerkte den fragenden Blick der Dame auf seinen Heidestrauß. Da sagte er, ein wenig errötend und verlegen: »Durch einen merkwürdigen Zufall weiß ich, daß Sie, Frau Pastorin, eine Freundin unserer blauen Vierhöfener Heide sind. Ich habe mir deshalb erlaubt, da diese jetzt eben in herrlichster Blüte steht, Ihnen einen Strauß mitzubringen.«

»Das ist sehr freundlich und aufmerksam von Ihnen. Ich danke sehr. Der allerliebste Strauß soll helfen, unser Fest zu schmücken«, antwortete Frau Pastorin, indem sie diesen entgegennahm.

In diesem Augenblicke wurde sie in die Küche gerufen. »Grete!« rief sie.

Die Tochter war sogleich zur Stelle.

»Meine Tochter – Herr Kunstmaler Heim«, stellte sie vor. »Grete, stelle diesen schönen Strauß, den der Herr Maler uns mitbringt, in die blaue Vase und führe den Herrn zu unsern Gästen! Ich bitte, mich einen Augenblick zu entschuldigen.«

Als Franz Heim in das Besuchszimmer trat, sah er viele wohlbekannte Gesichter auf sich gerichtet und fühlte seine Hand von alten Freunden kräftig geschüttelt. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Gesellschaft wieder zur Ruhe kam. Als man endlich wieder Platz genommen hatte, fand er sich an der Seite des alten Pastors Beermann, der ein geordnetes Gespräch, etwas salbungsvoll, also begann: »Also Maler sind Sie geworden, mein lieber junger Freund. Ich erinnere mich, daß Sie schon als Knabe gute Anlagen dazu verrieten. Ihr seliger Vater zeigte mir einmal einige recht hübsche Sachen von Ihrer Hand. Ich will nur hoffen, daß Sie sich der idealistischen Richtung angeschlossen haben, der Kunstrichtung, die unsere Herzen erhebt und adelt. Es gibt ja eine moderne Kunst, das heißt, sie nennt sich Kunst, diese Klexerei, die von dem in unserer Zeit herrschenden Geist des Materialismus angefressen ist, die nicht das Erhabene und Schöne, sondern das Kleine, Gewöhnliche, Alltägliche der Natur abkonterfeit, zum Beispiel den Hahn auf dem Misthaufen oder so ein altes Moorloch, und überhaupt Dinge, die man tagtäglich sieht und welche die Farbe nicht wert sind, die an sie verschwendet wird.« Franz Heim hatte keine Lust, mit dem alten Herrn, dessen Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit er kannte, ein unfruchtbares Gespräch über die Aufgaben der Kunst zu führen. Er sagte ausweichend: »Ich male, Herr Pastor, was mir Freude macht und was ich schön finde.«

Der weiteren Unterhaltung über diesen Gegenstand machten die Posaunenklänge ein Ende, die vom Kirchplatz her durch die geöffneten Fenster hereindrangen. Herrn Bartels' Chor blies, am Fuß des Kirchturms stehend: »Das ist der Tag des Herrn.« Der alte Lehrer hatte lange geschwankt, ob er es wagen dürfte, dieses neu eingeübte Stück – mit so schweren Aufgaben hatte der Chor es noch nicht versucht – spielen zu lassen. Nun ging es doch ganz gut. Auch die Zuhörer im Pfarrhause waren zufrieden. Nur Pastor Beermann meinte, der Einsatz hätte reiner sein können und das Pianissimo zarter. Er hatte früher vergeblich den Versuch gemacht, in seiner Gemeinde einen derartigen Chor ins Leben zu rufen, und war deshalb ein strenger Richter über die Chöre seiner Amtsbrüder, die hierin glücklicher gewesen waren.

Als die Posaunen schwiegen, läuteten wie an den hohen Festtagen alle drei Glocken. Es war freilich nicht mehr nötig, daß sie die Gemeinde zusammenriefen. Die füllte schon die geräumige Kirche von den letzten Ecken des Schiffes bis auf die höchsten Höhen der zweiten Empore, wo Leute mit Gardemaß sich hüten mußten, daß sie nicht mit dem Kopf an die platte Decke stießen. Für die Gäste des Pfarrhauses mußten die Jungens Stühle in die Kirche tragen und auf den Chorraum vor den Altar stellen, damit diese überhaupt ein Sitzplätzchen bekamen. Mehr als tausend neugierige Blicke waren auf sie gerichtet, als sie in langem Zuge, fast wie eine Prozession, sich an ihre Plätze begaben.

Nun begann der Festgottesdienst. Den brausenden Gesang der großen Gemeinde begleiteten abwechselnd die Orgel und der Posaunenchor. Nach der Liturgie und einer kurzen Ansprache des Ortspfarrers hielt der Superintendent die Hauptpredigt.

Gegen Mittag kam die Menge aus der Kirche und fiel wie ein Heuschreckenschwarm in das Dorf. Wer einen Gastfreund hatte, kehrte bei diesem ein. Die Mehrzahl zog in die Wirtschaften, wo die langen Tische schon gedeckt waren. Auch der geräumige Konfirmandensaal des Pfarrhauses war bald gefüllt. Aus der Kirche brachte der Pastor seine Kirchenvorsteher und Lehrer mit, und Frau Pastorin hatte unterwegs noch einige aufgegriffen, die es so eingerichtet hatten, daß sie mit ihr zusammentreffen mußten, weil sie ganz ohne Einladung nicht ins Pfarrhaus kommen mochten.

An die vierzig wurden in dem gastlichen Pfarrhause gesättigt.

Gegen zwei Uhr stimmten die Posaunen vor dem Pfarrhause eine muntere Marschweise an. Das war das Zeichen, daß man sich zum Aufbruch bereit machen sollte. Der Pfarrhof und die Straße waren schwarz von Menschen, die alle unter den Klängen der Musik zum Festplatz hinausziehen wollten. Nur die Alten, die nicht so schnell mitkommen konnten, und die Schwerhörigen, die einen Platz auf den ersten Bänken wünschten, waren schon voraufgegangen.

Herr Bartels zählte wieder eins, zwei, drei, vier. Auf vier erklang die frische Weise: »Geh' aus, mein Herz, und suche Freud' in dieser schönen Sommerzeit.« Die Leute setzten sich in Bewegung, wie ein jeder gerade ging und stand. Als die Spitze des Zuges schon über die Werlebrücke marschierte, waren die letzten noch beim Pfarrhause.

Heim hatte Grete Werner bislang nur ganz flüchtig gesehen. Heute erinnerte sie so gar nicht an die Muse der Malkunst, sondern war ganz die unermüdliche Schaffnerin, die für alles ein Auge hatte und überall zu Stelle war, wo etwas fehlte. Mit Bewunderung hatte der Maler sie dabei still beobachtet. Nach dem Mittagessen war ihm im Garten eine Tasse Kaffee von ihr gereicht worden. Dabei hatte er sie anreden wollen, aber ehe er die passenden Worte fand, war sie mit dem Servierbrett schon beim Nächsten. Als er sich nun in den Festzug einstellte, sah er ihr helles Kleid und ihr blondes Haar etwa zehn Schritt vor sich schimmern. Er drängte sich sanft vorwärts, um ihr näher zu kommen. Da sah er, daß der junge Pastor Fredrich ihr zur Seite ging und daß die beiden ein lebhaftes Gespräch miteinander führten. Ärgerlich hemmte er seinen Schritt und trat der Bauersfrau, an der er sich eben vorbeigeschoben hatte, auf die Zehen. Als er, um Entschuldigung bittend, sich umwandte, meinte sie giftig: »He mutt henkieken, wo he henpeddet.« Er schaute wieder nach dem Paar da vorne. Da kam der Zufall ihm zu Hilfe. Pastor Fredrich wurde von seinem beredtesten Kirchenvorsteher, der ihn notwendig sprechen mußte, am Rockärmel gefaßt und von seiner Begleiterin getrennt. Heim glaubte zu bemerken, wie unlieb diese Störung ihm war. Das junge Mädchen ging schneller, um ihren Freundinnen nachzukommen, die etwas voraus waren. Aber er beschleunigte seine Schritte noch mehr und gelangte an ihre Seite, ehe sie den Anschluß nach vorn erreichen konnte.

»Nun, Fräulein Werner, was macht die blaue Heide, die Sie sich damals aus Vierhöfen geholt haben?«

»Ach so, die ist recht trocken geworden. Es ist freundlich von Ihnen, daß Sie welche wieder mitgebracht haben. Mutter liebt sie so sehr, und ich auch. – Was macht denn Ihr Bild von Arnsvader? Sie haben mich furchtbar erschreckt, als Sie da so plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, hinter mir standen.«

»Ich muß noch einmal um Verzeihung bitten. Sie liefen mir so schnell weg, daß ich damals mit meiner Bitte nicht zu Ende kam. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie, ohne es zu wollen, so überrascht und erschreckt habe ... Oder, wenn ich die Wahrheit sagen soll, es tut mir gar nicht leid. Es freut mich sehr.«

Sie sah ihn fragend an. »Das ist ja ein merkwürdiger Widerspruch. Wie wollen Sie den lösen?«

»Nun, sehen Sie, ich malte seit Wochen so einsam für mich hin, und niemand sagte mir, welchen Eindruck mein Bild auf einen empfänglichen Beschauer machte. Und das kann doch für den Künstler von großem Wert sein. Auf die dicken Schmeicheleien, die Frau Dreyer mir sagte, Sie kennen die vortreffliche Frau gewiß auch, konnte ich natürlich nichts geben. Da überraschte ich Sie vor meinem Gemälde und hörte, wie Sie so vor sich hin sagten: ›Als ob es lebte.‹ Wie es mir schien, machte das Bild Eindruck auf Sie, und das war mir sehr lieb. Daß ich Sie so erschreckt habe, tut mir darum in meinem Interesse gar nicht leid.«

Seine Begleiterin lachte hell auf. »Meinen Sie denn, ich hätte eine Ahnung davon, wie man Bilder beurteilt? Ich habe ja in meinem Leben kaum welche gesehen. Bloß im Landesmuseum in Hannover bin ich mal gewesen. Ich verstehe von der Kunst nicht mehr als Sie von der Küche.«

»Sagen Sie das nicht, Fräulein Werner«, versetzte der Maler, »wie sagt doch der Schäfer in dem Gedicht: Der Kaiser und der Abt? ›Was ihr Gelehrten für Geld nicht erwerbt, das hab' ich von meiner Frau Mutter geerbt.‹ Es gibt Sonntagskinder, denen ist ein heller, klarer Blick angeboren, und sie haben's gar nicht nötig, sich anderer Leute Brille aufzusetzen, um zum Beispiel in der Kunst, die ja etwas allgemein Menschliches ist, klar zu sehen. Vielleicht gehören Sie auch zu diesen. Jedenfalls habe ich mir das eingeredet, weil es mir Freude machte, und ich habe Ihr Urteil genommen, als ob es aus dem Munde des gewiegtesten Kunstkenners käme. Und es hat mir bei meiner weiteren Arbeit geholfen.«

Sie sah ihn lustig an und meinte lachend: »Sie meinten erst, Frau Dreyer könnte gut schmeicheln. Sie verstehen's aber auch nicht schlecht.«

Er blickte ihr ernst in die schalkhaften Augen und sagte: »Nein, Fräulein Werner, ich sage Ihnen wirklich keine faden Schmeicheleien. Ihr freundliches Urteil hat mir nicht nur Freude gemacht in jener flüchtigen Stunde, es hilft mir auch jetzt bei der großen Aufgabe, die ich unter den Händen habe und die alle meine Kraft in Anspruch nimmt. Sie mögen es glauben oder nicht!«

Sie lachte jetzt nicht mehr, sondern blickte scheu von der Seite in sein ernstes Gesicht. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Endlich fragte sie schüchtern: »Was malen Sie denn jetzt?«

»Ich male, wie Arnsvader sein letztes Abendmahl feiert.«

»Auf den Gedanken sind Sie wohl gekommen, als Vater neulich in Vierhöfen war?« fragte sie.

»Ja«, antwortete er. »Ich war bei der Feier zugegen, und plötzlich kam es wie ein Zwang über mich, daß ich sie malen mußte

Sie blickte nachdenklich vor sich hin und sagte leise: »Ich kann mir wohl denken, daß dieser Gegenstand einen Maler fesseln kann.«

»Ich habe niemals mit solcher Lust und Freudigkeit gearbeitet«, sagte der Maler mit großer Wärme. »Es ist fast, als ob man bei solcher Arbeit ein anderer Mensch würde.«

Seine Begleiterin schaute umher, um zu sehen, wie weit sie noch vom Ziele wären. Sie wußte nicht recht, sollte sie es nahe oder fern wünschen. Da die Menge der Festbesucher sich nur langsam vorwärts bewegte, hatten sie immerhin noch einen Weg von einigen Minuten vor sich. Es war ihr nicht unlieb. »Wie weit sind Sie denn jetzt mit Ihrem neuen Bilde?« fragte sie.

»In grober Skizze ist das Bild entworfen. Augenblicklich stehe ich bei der Ausführung der Hauptperson. Es ist Arnsvader in seiner Butze.«

»Entschuldigen Sie mal eine dumme Frage! Malen Sie die einzelnen Personen aus dem Gedächtnis, oder wie machen Sie das?« fragte sie. »Ich weiß wirklich von diesen Dingen gar nichts«, fügte sie hinzu.

Heim antwortete: »Ich gehe mit meinen Siebensachen zu meinem alten Freund, zünde Lichter an und male so nach dem Leben. In Arnsvaders Dönze hole ich sie mir alle zusammen. Das geht ja leicht mit allen, nur nicht mit einer Hauptperson, die unmöglich fehlen darf.«

»So, Sie meinen wohl den Pastor?« fragte sie.

»Ja, sollte wohl Ihr Herr Vater später die Freundlichkeit haben, mir einige Stunden zu schenken?« fragte der Maler.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie nachdenklich. »Vielleicht ist es ihm unangenehm, sich auf ein Bild malen zu lassen.«

»Nun, er würde es schon tun, wenn die Tochter ein gutes Wort dafür einlegen wollte.« Er sah sie schelmisch an. Sie erwiderte den Blick und meinte: »Wir können ja später sehen. Jetzt ist's ja wohl noch nicht nötig. Aber versprechen tue ich nichts.«

Nun mündete der Menschenstrom in das Gehölz und ergoß sich über die Bänke. Das junge Mädchen sagte schnell: »Entschuldigen Sie, ich habe mit Mutter noch etwas für nachher zu besprechen«, und war in dem Gewoge verschwunden. Die langen Sitzreihen waren schnell besetzt. Franz Heim ließ sich auf dem schwellenden Moosteppich nieder und lehnte den Rücken an einen Eichenstamm. Und nun nahm das Fest in dem herrlichen Waldesdom seinen Verlauf. Die Posaunen bliesen von einem birkengeschmückten Leiterwagen herab, die Gemeinde, die sich seit dem Vormittag fast verdreifacht hatte, sang, ein Pastor, den man wegen seiner volkstümlichen Art für solche Feste im Freien besonders schätzte, hielt eine Predigt, ein Hermannsburger Missionar aus Südafrika, der zur Erholung in der Heimat weilte, erzählte von seiner Arbeit drüben im schwarzen Erdteil. Endlich sprach Pastor Werner ein kurzes Schlußwort und entließ die Tausende mit warmen Segenswünschen und einem: Auf Wiedersehen im nächsten Jahre! Die Kirchenvorsteher stellten sich mit blanken Zinntellern an die Ausgänge, und der Festplatz leerte sich nach und nach, während der Posaunenchor den Heimziehenden Grüße nachsandte. Ein sanfter Lufthauch trug die Weisen schöner geistlicher Volkslieder durch den Wald und über Feld und Heide. Das war das letzte Ausklingen des Missions- und Volksfestes in der Heide.

*

Die Gäste des Pfarrhauses fanden sich allmählich in dem Garten wieder zusammen, wo in den Lauben die Kaffeetische gedeckt standen. Es machte sich so von selbst, daß die Alten sich in der Lindenlaube sammelten, während die Jugend in der Brunnenlaube ihr fröhliches Reich allein hatte. Doch zwei Junge, Pastor Fredrich und Franz Heim, waren zunächst irrtümlich unter die Alten geraten. Als aber Pastor Beermann anfing, den jüngeren Amtsbruder seine Überlegenheit an Alter und Weisheit fühlen zu lassen, nahm dieser einen schicklichen Augenblick wahr und ging in die Brunnenlaube, von der fröhliches Lachen und muntere jugendliche Stimmen herüberklangen.

Nun wollte der alte Herr mit Franz Heim das am Vormittag unterbrochene Gespräch über Wesen und Aufgaben der Kunst fortsetzen, und sein Lehrvortrag war im besten Gange, breit und unfehlbar, langatmig und langweilig, und von drüben schallte jugendliche Fröhlichkeit und Grete Werners helle Stimme. Der, dem diese väterliche Belehrung galt, biß sich auf die Lippen und beklagte sein Geschick, das ihm diesen weisen Mann zum Nachbar gegeben hatte. Aber er hatte wieder einmal Glück. Der Herr Superintendent stellte eine Frage an den alten Herrn, so daß er sich einen Augenblick von seinem Opfer abwenden mußte. Dieses warf seinem Befreier einen dankbaren Blick zu und stahl sich zur Brunnenlaube. Grete, die am Tisch der Jugend Hausmütterchen spielte, hieß ihn munter willkommen: »Das ist nett, daß Sie sich auch noch zu den Jungen rechnen. Kinder, rückt ein bißchen zusammen. Bitte, Herr Heim, nehmen Sie Platz!«

Hans und Fritz und die Superintendentenkinder und die anderen kleinen Gäste lagen mit großem Eifer der süßen Pflicht ob, die hohen Butterkuchenteller herunterzuessen. Wiederholt mußte Grete im Hause neu füllen. Endlich waren die braven Kuchenesser an der Grenze ihres Könnens angelangt. »Ich kann nicht mehr«, sagte der ehrliche Hans stöhnend, indem er einen letzten Bissen mit den Fingern nachstopfte. Da die anderen schon früher klein beigegeben hatten, machte Fritz den Vorschlag, sie wollten etwas spielen. Der Gedanke fand in der ganzen Laube freudige Zustimmung. Daß die »alten Großen« auch mittun wollten, war dem Jungen freilich nicht ganz recht, aber er war höflich genug, seinen Ärger für sich zu behalten. Nur Grete erkannte ihn an der krausen Unterlippe und gab dem lieben Bruder lachend einen Klaps auf den Mund, um ihn zu warnen, daß er keine Ungezogenheit sagte.

Es wurde Kriegsrat gehalten und beschlossen, die sechs ältesten der Gesellschaft sollten Krocket spielen und die jüngste Welt Anschlag um das Haus. Nun war Fritz wieder vergnügt, und jubelnd tobte er mit seiner Horde ab. Nach einer Minute war das Spiel im Gange. Fritz stand vor der Haustür, die Augen mit den Händen verdeckend, und zählte erst langsam, dann immer schneller werdend, bis fünfzig, während die andern sich Verstecke suchten. Dann hörte man es an die Tür schlagen: »Anschlag für Liese! Anschlag für Georg! Anschlag für Hedwig!«

Auf dem schattigen Krocketplatz, der unter schlanken Akazien lag, begann der Kampf nun auch. Der Pastor und der Maler führten die beiden Parteien. Bald war der letztere entschieden im Vorteil. Die Gegenpartei wurde vor allem dadurch aufgehalten, daß Grete die Glocke nicht passieren konnte. Nun lag ihre Kugel wieder einmal günstig, und sie stellte sich bereit, sie hindurchzuschlagen. Aber vorher hatte der Maler den Schlag, und – o weh – er traf die feindliche Kugel, daß sie unmittelbar vor die Glocke flog. Grete machte sich auf das Schlimmste gefaßt, als Heim zum Krocketieren ansetzte, aber dieser richtete und richtete wieder, und schlug endlich, wie aus Versehen, die Kugel glatt durch das gefährliche Tor. Grete machte jubelnd einen Knix und sagte: »Danke schön! Das war edelmütig!« Nun kam sie mit ihrer Kugel gut vorwärts, und ihre Partei gewann einen glänzenden Sieg.

Man wollte eben ein neues Spiel beginnen, als einige der Teilnehmerinnen abgerufen wurden. Die andern gaben ihnen zum Wagen das Geleit. Auch des Superintendenten Landauer fuhr eben vor, und die Kinder, denen das Spiel die Wangen glühend gerötet hatte, nahmen mit schmerzlichem Bedauern Abschied von ihren fröhlichen Kameraden. Pastor Beermann war aus Furcht vor der Abendkühle schon früher abgefahren.

Auch der junge Pastor und der Maler wollten sich verabschieden. Aber man wollte sie noch nicht fortlassen. »Bleiben Sie noch ein Stündchen«, nötigte die Hausfrau, »es wartet ja niemand auf Sie zu Hause. Der Tag ist nun doch einmal angebrochen und der Abend so schön.« Beide ließen sich gern halten. Sie hatten einsame Stunden genug, der eine im großen, leeren Pfarrhause, der andere auf dem Snarshofe in Vierhöfen. Da taten ihnen die Stunden unter den liebenswürdigen, fröhlichen Menschen wohl.

Niemand dachte jetzt mehr an das Spiel, dafür war der Abend zu schön und friedlich. Die Gesellschaft zerstreute sich durch den Garten, indem die einzelnen, wie es gerade kam, Paare oder kleinere Gruppen bildeten, die sich, wenn ein Rundgang gemacht war, am Hause meist neu zusammenfanden. Endlich gelang es Heim, an Gretes Seite zu kommen. Schweigend gingen sie nebeneinander durch die stillen, dämmernden Laubgänge. – »Wie lange ist's her, daß Sie diesen Gartenweg gegangen sind?« fragte endlich das junge Mädchen.

»Sechs Jahre«, antwortete Heim. »Aber halt, nein«, widerrief er lebhafter, »ich habe mich geirrt, etwa sechs bis sieben Wochen.«

»Wie?« fragte sie erstaunt, »sechs Wochen? Wie soll ich das verstehen?«

»Das ist mein Geheimnis.«

»Vor sechs Wochen?« wiederholte sie. »Ich war da freilich verreist. Aber die Eltern, haben mir nichts davon gesagt. – Sie sind ja mit Herrn Bartels gut bekannt, der hat Sie wohl mal hergeführt, als Vater und Mutter gerade nicht zu Hause waren?« forschte sie weiter.

»Nein, Herr Bartels weiß auch nichts davon, ich war mutterseelenallein.«

»Das ist ja merkwürdig«, sagte sie verwundert. »Sie machen mich aber wirklich neugierig.«

»Na, ich merke schon, ich muß Ihnen mein Geheimnis beichten, wenn ich nicht will, daß Sie mich für wer weiß was halten. Ich bitte aber gleich um ein mildes Urteil. – Als ich im Juni in Vierhöfen ankam, wollte ich gern meine alte Heimat und die Gräber meiner Eltern wiedersehen. Ich hatte damals keine Lust, mich von den Wrielohern, die mich vielleicht erkannt hätten, ausfragen zu lassen. Deshalb kam ich des Nachts; es war eine linde, mondhelle Sommernacht. Als ich den Kirchhof besucht hatte, schlich ich am Pfarrgarten hin. Die Tür stand nur angelehnt. Ich blieb stehen, schwankte einen Augenblick, dann trat ich ein und schlich durch Ihren Garten, der einst mein Reich und meine Welt war. Diesem Weg, den wir jetzt gehen, folgte ich damals auch.«

Dem jungen Mädchen tat es jetzt leid, daß sie so in ihn gedrungen war und damit wehmütige Erinnerungen geweckt hatte. Sie hatte ein teilnehmendes Wort auf den Lippen, wagte aber nicht, es auszusprechen. Sie wußte nicht, ob sie das Recht hatte, sich in des fremden Mannes Leid einzumischen.

Sie kamen an ein blühendes Rosengesträuch, und ihr Begleiter blieb stehen. »In jener Nacht«, fuhr er fort, »als ich mich so vergaß, daß ich in fremdes Eigentum eindrang, hätte ich mich beinahe noch weiter vergessen. Die Rosen blühten so schön und dufteten so süß, daß ich Ihnen hier fast eine geraubt hätte. Nirgends duften die Rosen so süß wie in der Heimat.«

»Warum haben Sie sich nicht ruhig eine gepflückt? Aber wollen Sie jetzt sich nicht einige mitnehmen? Die zweite Rosenblüte ist in diesem Jahre fast noch schöner als die erste. Bitte, nehmen Sie sich diese!« sagte sie, indem sie ihm eine eben erblühende weiße Rose hinhielt. Er brach die Blume und noch einige, die sie zusammen aussuchten.

»Sie haben uns aus Vierhöfen die blaue Heide mitgebracht«, sagte sie, »dafür nehmen Sie sich aus Wrieloh diese Rosen mit. So sind wir quitt.« Damit schritten sie dem Hause zu, bei dem die übrige Gesellschaft bereits angelangt war.

Nun verabschiedeten sich die letzten Gäste, Pastor Fredrich und der Maler, und die Familie erhob keinen ernstlichen Widerspruch mehr.

Eine Strecke gingen sie zusammen, indem der Pastor sein Rad führte. »Ei, woher haben Sie denn die schönen Rosen?« fragte er. »Aus dem Pfarrgarten«, antwortete kurz der Maler. Die Dunkelheit brach schnell herein. An der Wegscheide entzündete der Radfahrer seine Laterne, reichte seinem Begleiter die Hand und schwang sich auf das Rad. Der Maler sah das Licht noch eine Weile über die Heide tanzen, bis es hinter einem Fuhrengehölz verschwand. Nun war er in der weiten Heide allein. In seiner Hand schimmerten durch das Dunkel die weißen Rosen, in der Seele leuchteten die vergangenen Stunden warm nach, und droben am Himmel funkelten die Sterne. Ein Wort Lenaus, seines Lieblingsdichters in der Zeit seines Weltschmerzes, kam ihm in den Sinn und stahl sich ganz leise über seine Lippen:

»Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken,
Wie ein stilles Nachtgebet.«

*

Am nächsten Morgen begann Franz Heim seine Arbeit in Arnsvaders Dönze später als gewöhnlich. Und als er endlich gegen zehn Uhr den Pinsel zur Hand genommen hatte, wollte es gar nicht glücken. Die Stimmung zum Malen fehlte gänzlich. Im allgemeinen hatte er sich, solange er in Vierhöfen war, mit Erfolg bemüht, die kleinen Stimmungen und Verstimmungen des Tages zu bekämpfen und sich durch dieselben nicht von der Arbeit abhalten zu lassen. Aber heute brachte er's mit dem besten Willen nicht fertig. Nachdem er hier und da den Pinsel anzusetzen versucht hatte, warf er ihn ärgerlich hin und sagte zu Arnsvader: »Nee, hüt geiht't nich. Wi wöt us 'n beten wat vertellen.«

Arnsvader richtete sich im Bette auf und sagte: »Man to! Denn vertell he mi man noch 'n beten van dat Mischonsfest!«

Das tat Franz Heim denn auch. Er erzählte von dem herrlichen Wetter, dem schönen Festplatz, von der großen Menschenmenge, die er auf dreitausend schätzte, von dem, was er gehört hatte. Und dann erzählte er mit besonderer Wärme, wie nett es im Pfarrhaus gewesen wäre und wie er sich da wieder zu Hause gefühlt hätte.

»Wo veele Kinner hett use Herr Pastor doch?« fragte Arnsvader. »Mi is dat ganz vergäten.«

»Dree«, sagte der Maler, »een Dochter und twee Jungens.«

»De Deern mutt de öllste wän«, meinte der Alte, »se is mit min Söhn sin Stine ut de Schol kamen. Wo heet se doch noch?«

»Grete«, antwortete Heim.

»Stimmt«, bekräftigte der andere. »In de Kunfirmandenstunn und in de Kinnerlehr vorn Altar is se jümmer de kläukste wän. Se harr 'n bannig hellen Kopp. Dorbi wör se keen beten stolz. De annern Deerns künnen ehr god verdrägen. In Stine ehr Stammbok hett se ok 'n schönen Vers schrewen.«

Der Maler hatte plötzlich Lust, Stines Stammbuch zu sehen. Der Alte wies ihn nach dem Schrank, wo er es unter einigen alten Büchern fand.

Heim nahm das Poesiealbum, das durch die vielen Hände etwas abgegriffen und unsauber geworden war, zur Hand und blätterte es durch. Was die vielen Minen, Trinen, Stinen, die Fidis, Heinis und Willis da mit hölzerner Schrift und orthographischen Fehlern und Tintenklecksen eingetragen hatten, interessierte ihn wenig. Endlich fand er ein Blatt, das die Unterschrift trug: »Zu dauerndem Angedenken schrieb Dir dies Deine Freundin und Mitkonfirmandin Grete Werner.« Die Schrift war fein und zierlich, die Anordnung der Worte auf dem Raum geschickt, während die andern meist oben in der Ecke mit ihren stakigen Buchstaben angefangen hatten und in der Mitte des Blattes schon mit ihrer Liebe und Freundschaft zu Ende waren. Auch die Wahl der eingeklebten Liebesmarke zeugte von Geschmack. Freilich die Verse? Nun, es waren die üblichen gereimten Freundschaftsbeteuerungen, die er selbst seinen Kameraden auch einst ins Album geschrieben hatte.

Als Heim das Albumblatt genügend betrachtet hatte, legte er das Buch wieder an seinen Platz und wollte es noch einmal mit der Arbeit versuchen. Aber plötzlich warf er den Pinsel hin und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer. Arnsvader sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Was mochte der Mann nur haben? So kannte er ihn ja gar nicht. – Nach ein paar Minuten kam er wieder und hatte eine kleine, bunte Vase, die mit Heide und drei weißen Rosen angefüllt war, in der Hand. Die stellte er in die Fensterecke, und nun begann er mit großem Eifer, sie in das Fenster seines Bildes zu malen. Wiederholt machte der Alte den Versuch, ein Gespräch anzuknüpfen. Aber der andere hörte nur mit halbem Ohre zu und war mit seinen Gedanken ganz wo anders. Arnsvader dachte darüber nach, was die Abendmahlsfeier, die jener doch malte, wohl mit Heide und Rosen zu tun hätte, und schließlich fragte er: »Wat schall denn de Blomenpott up dat Bild?« »Dat makt sick fein«, antwortete der Maler. »Wunnerlich Volk, düsse Malers«, dachte der Alte, und schüttelte den Kopf.

*

Um dieselbe Stunde spazierte in den Laubgängen des Pfarrgartens zu Wrieloh der Pfarrherr auf und ab. So gut wie heute morgen hatte ihm die lange Pfeife seit Wochen nicht mehr geschmeckt. Das Fest, das als wichtigstes Sommerereignis sein Haus lange in Atem gehalten hatte, war vorüber. Und es war wohlgelungen. Darüber war nur eine Stimme. Eine schöne Summe lag bereit, um an die Missionshauptkasse in Hermannsburg abgeführt zu werden. Wie wohltuend war die Stille, die nun wieder in Haus und Garten herrschte! Hinnerk Bollmann hatte soeben die Festprediger und eine alte Tante, die in den unruhigen Tagen der Hausfrau geholfen hatte, abgeholt, um sie zur Bahn zu bringen. Die Familie war nun endlich einmal wieder für sich. – Eigentlich hätte er in diesen Morgenstunden sich und seinen Jungens von Cornelius Nepos die Geschichte von Miltiades Cimonis filius weiter erzählen lassen müssen. Aber er hatte gemeint: »Lauft heute man hin, Jungens!« Die hatten sich das nicht zweimal sagen lassen und waren jauchzend zu ihrer Räuberhöhle im Garten gestürmt, die in sicherem Gewahrsam den Rest von dem süßen Raub des vorigen Tages barg, Schokolade und Kakes und andere schöne Sachen. Und der Vater spazierte mit der langen Pfeife im Garten und blies behaglich Wolken bläulichen Rauches von sich und besah hier und da einen Obstbaum, der ihm eine gute Ernte versprach.

Nach einer Weile sah er seine liebe Gattin aus dem Hause treten und auf sich zukommen. Er ging ihr entgegen und sah mit Wohlgefallen, wie gut ihr die saubere Morgenhaube stand und wie fröhlich sie dreinschaute. »Väterchen«, sagte sie, als sie nahe genug gekommen war, »in der Küche gibt's nichts zu tun, auf den Tisch kommen heute mittag Reste, da kann ich ein bißchen mit dir gehn.« Damit hing sie sich an seinen Arm. So hatte er in dem einen Arm seine Pfeife und an dem andern seine liebe Frau.

»Es war gestern doch ein schönes Fest«, meinte er.

»Ja, ich glaube auch, daß es allen unsern Gästen gut gefallen hat«, antwortete sie. »Der Braten war ja auch zart und saftig, nur der Butterkuchen hätte etwas lockerer sein können.«

Er lächelte. »Deine Eltern haben wirklich vorbeigegriffen, als sie dich Marie nannten. Sie hätten dich Martha taufen sollen.«

»Was wolltest du denn wohl anfangen«, gab sie keck zur Antwort, »wenn du eine gekriegt hättest, die gar nichts von der Martha hätte? So eine soll ja die Frau von deinem Vorgänger gewesen sein. Man erzählt sich noch im Dorfe davon, wie furchtbar unpraktisch die gewesen ist.«

»Na ja, du bist ja auch mein liebes, kluges, fleißiges Weib«, begütigte er. »Aber sag' mal, was meinst du denn von dem Sohn deiner unpraktischen Vorgängerin? Er scheint mir ein bescheidener, angenehmer junger Mann zu sein.«

»Ja«, sagte sie zögernd, »das mag er wohl sein, aber ...«

»Na, was aber?«

»Wie lange mag er wohl noch hier herum bleiben?«

»Das kann ich dir mit dem besten Willen nicht verraten. Hättest ihn selber fragen müssen. Wie kommst du darauf?«

»Ich meinte man ...« Sie hatte sich gebückt und nahm einige Raupen von dem Weißkohl.

Als sie dieses gute Werk getan hatte, brachte sie heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Sie schaute sich um, ob auch kein Unberufener zuhörte, und sagte leise: »Ich fürchte, der junge Mensch hatte ein Auge für unsere Grete.«

Der Pastor lachte laut auf. »Up de Art, seggt Unkel Bräsig! Was ihr Frauensleute da immer gleich für Gespenster seht! Wenn ein junger, frischer Mensch eine junge, frische Deern bloß mal ansieht, soll er gleich Heiratsabsichten haben.«

»Lache doch nicht so laut«, bat sie, sich ängstlich umsehend, »ich habe so meine Beobachtungen gemacht.«

»Du bildest dir wohl ein, dein Töchterchen wäre so unwiderstehlich, daß sie einem jungen Mann gleich mit dem ersten Blick das Herz stiehlt. So schnell schießen die Preußen nicht. Ich hatte dich wohl zehnmal und öfters gesehen, ehe mir auch nur der leiseste Gedanke kam, du könntest mal meine Frau werden.«

»Ja, das ist aber auch ganz was anders. Du warst ein schrecklich ehrsamer, wohlehrwürdiger Kandidat des Predigtamts. Ich sehe dich noch, wie du im langen, schwarzen Gehrock und hohen Vatermördern zuerst in unser Haus kamst. So ein Luftikus von Künstler wird dich wohl nicht gerade zum Vorbild nehmen. Und dann hat dieses Künstlervolk so einen Schein von Romantik um sich, der einem Mädchenherzen leicht gefährlich werden kann.«

»Na, Frau, für deine stille, gehorsame Grete brauchst du doch so leicht nichts zu fürchten. Oder, wenn du doch bange bist, rede doch mal ein vernünftiges Wort mit ihr!«

»Werde mich hüten! Da sieht man mal wieder, wie wenig ihr Männer von solchen Dingen versteht. Das wäre vielleicht gerade das beste Mittel, das schlafende Feuer zu wecken. Daß du auch auf den Gedanken verfallen mußtest, den Maler einzuladen! Wir hatten das Haus ja so voll genug. Aber das ist nun einmal geschehen. Nun müssen wir sehen, daß er möglichst nicht wieder unser Haus betritt. Ich freute mich gestern abend schon, daß du ihn beim Abschied nicht zu baldigem Wiederkommen eingeladen hast. Ganz ungebeten wird er ja wohl nicht kommen, wenn er der bescheidene Mensch ist, für den du ihn hältst. Hoffentlich ist er auch bald in Vierhöfen fertig und macht, daß er fort kommt!«

»Na ja, so wird's ja wohl werden«, schloß er, und sie schmiegte sich enger an seine Seite, froh darüber, daß sie mal wieder einer Meinung waren.

Nach einer Weile blieb sie stehen, hielt auch ihren Eheherrn fest, blickte ihm listig ins Gesicht und sagte: »Du hast mich nach dem Maler gefragt. Nun will ich aber auch mal was fragen: Was hältst du von dem jungen Pastor Fredrich?«

»Wie kommst du darauf? Hast du dem etwa auch schon ins Herz geguckt?«

»Allerdings, ein bißchen wohl«, meinte sie, geheimnisvoll lächelnd.

Er lachte laut auf: »Das ist aber doch rein zu doll! Ich meinte, wir hätten hier gestern Missionsfest gehabt, und keine Brautschau.«

Die kleine, gewandte Frau ließ sich aber nicht verblüffen. »Dein Bruder August hat seine Luise auch auf einem Missionsfest zuerst gesehen. Und wenn man alle Ehen so glücklich wären! Bälle und Theater und dergleichen haben wir Landpastorsleute nicht, und in die Bäder können wir auch nicht reisen. Da führen solche Feste uns zusammen. Und meinst du, daß der liebe Gott etwas dagegen hat, wenn zwei junge Menschenkinder sich auf einem Missionsfest fürs Leben finden?«

Das wollte der Pastor nun nicht gerade behaupten.

»Na also!« fuhr sie triumphierend fort: »Und ich glaube wirklich, Pastor Fredrich ist für unsere Grete eine gute Partie. Sie geben ein ansehnliches Paar. Ich habe es gestern gesehen, als sie nebeneinander standen. Ich halte ihn für einen treuen, fröhlichen Menschen. Und dann, denke doch, das schöne, alte Pfarrhaus, acht heizbare Zimmer und den großen Saal mit den Flügeltüren, der uns so sehr fehlt. Und der herrliche Garten mit den famosen Obstsorten! Und vor allem die gute Gemeinde, nicht zu groß und nicht zu klein, und nette Leute! Und wie schön wäre das, wenn unsere Grete so in der Nähe bliebe und wir unser einziges Töchterlein alle paar Wochen mal sehen könnten! Freilich, wie lange das dauern würde, weiß man ja nicht«, setzte sie halb traurig, halb vergnügt hinzu. »Pastor Fredrich ist im Kloster Loccum gewesen, und die werden ja meistens wohl bald Superintendenten.«

»Du tust ja gerade so, als ob du den Vogel gestern abend schon eingefangen hättest.«

»Das nicht, aber ich habe gesehen, daß es ein Vogel ist, der das Einfangen wert ist, und ich habe den Eindruck gehabt, daß er sich ganz gern einfangen läßt. Ich habe gemerkt, es ist ihm in dem großen Hause sehr einsam, und er sehnt sich nach einem lieben Gesellen. – Pastor Fredrich war nun gestern schon zum zweitenmal bei uns, und du hast ihm noch immer nicht deinen Gegenbesuch gemacht. Ich habe dich entschuldigt, und er hat es dir auch nicht übel genommen, weil er meinte, ein ödes Junggesellenheim habe zu wenig Anziehungskraft. Aber Ende dieser Woche kämen seine Mutter und Schwester aus Hannover zum Besuch, und wenn wir dann mal alle kommen wollten, sollten wir es ganz gemütlich bei ihm finden.«

»Na, hinfahren können wir ja mal. Meinetwegen am nächsten Montag«, meinte der Pastor. »Aber, Frau, eins mußt du mir versprechen: daß du keine Dummheiten machen willst. Glaube mir, manche töchterbesitzende Mutter hat sich auf diese Weise lächerlich gemacht oder auch so gefürchtet, daß alle etwaigen Heiratskandidaten in weitem Bogen um sie herumgehen. Und so ist sie selbst schuld daran, wenn ihre Töchter sitzen bleiben. Ehen müssen im Himmel geschlossen werden, und ihr lieben Mütter dürft dabei nicht eine zu große Rolle spielen wollen.«

»Du hast ganz recht, aber ein klein wenig darf man dem Himmel doch wohl helfen. Da ist man als Mutter doch die nächste dazu.«

»Ihr Frauen seid unverbesserlich«, schloß der Eheherr dieses Gespräch.

*

Während dieser wichtigen elterlichen Zwiesprache über ihr Lebensglück waltete Grete sorgsam und fleißig im Hause. Sie fegte aus, stäubte ab und rückte zurecht, was der gestrige Besuch in Unordnung zurückgelassen hatte. Sie war ein folgsames Kind, wie die Eltern draußen im Garten gerade anerkannten, aber heute war sie etwas ärgerlich auf die Mutter. Die hatte nämlich den schönen Strauß blauer Heide, den gestern der Maler mitgebracht hatte, der abreisenden Tante »zum Andenken« mitgegeben. Und diese war nicht einmal Blumenliebhaberin und ließ ihn wahrscheinlich im Zuge liegen. Es war der Tochter, als hätte die Mutter damit etwas verschenkt, was ihr nicht allein gehörte. Und weil sie sich über die Mutter ärgerte, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Maler zurück, der den Strauß mitgebracht hatte. Wie ernst und traurig hatte er ausgesehen! Er hatte gewiß viel Schweres erlebt, und wie einsam stand er wohl im Leben! Dann mußte sie wieder an die »Schmeicheleien« denken, die er ihr über ihr kunstverständiges Urteil gesagt hatte. – Nein, Schmeichelei war das nicht gewesen. Die konnte der ernste, stille Mann sicher nicht über die Lippen bringen. Ihr harmloses Wort vor dem Bild Arnsvaders mußte ihm wirklich von Wert gewesen sein. Darüber freute sie sich. Nun saß er wohl vor dem Abendmahlsbilde, von dem er so warm mit ihr gesprochen hatte. Wenn sie es doch einmal sehen könnte! Sie malte es sich in Gedanken aus und hätte zu gern gewußt, ob der Maler es mit dem Pinsel ebenso malte.

Als die Mutter aus dem Garten kam, bemerkte sie den sinnenden Zug in dem lieblichen Gesicht ihres Kindes. Da leuchtete ihr Auge in freudigem Mutterstolz, und ihr reger, zukunftsfroher Geist sah die Tochter als Pastorin von Prelle, und weiter als Superintendentin von Dingskirchen, und in der ferneren Zukunft war sie geneigt, dem lieben Kinde noch höhere kirchliche Ehrenkronen auf das Haupt zu setzen.

*

Sie saßen am Mittagstisch. Nun hatte jeder seinen Platz wieder inne. Am oberen Ende saß der Vater, links hatte er die beiden Jungens, rechts die Mutter, sich gegenüber die Tochter, die von da aus am schnellsten die Küche erreichen konnte. Wenn sie Monate lang so um den Tisch gesessen hatten, sahen sie es alle ganz gern, wenn ein Besuch diese Tischordnung für einige Tage störte. Aber wenn sie dann wiederhergestellt werden konnte, waren sie nicht weniger froh. So war es doch am gemütlichsten.

Der Vater nahm sich eben zum zweitenmal von dem kalten Kalbsbraten, und Fritz trat Grete auf den Fuß und flehte sie mit seinen großen Augen an, sie möchte ihn mit dem Stippkäse verschonen, indem er ein lüsternes Auge nach der Roten Grütze auf dem Anrichtetisch warf. Da sagte die Mutter mit vielversprechendem Blick: »Ich weiß was Schönes.« Ihre drei Kinder blickten gespannt auf, denn sie wußten, wenn die Mutter so anfing, war irgend eine Freude in Sicht. »Wir wollen nächsten Montag ausfahren«, sagte sie. »Wohin denn?« fragten Hans und Fritz wie aus einem Munde. »Nach Prelle«, antwortete sie, wobei sie Grete ansah. »Famost«, sagten die Jungens und wippten mit ihren Stühlen. Höhere Freudensprünge durften sie als wohlerzogene Knaben bei Tisch nicht ausführen. Grete aber fragte etwas erstaunt: »Nach Prelle? Dahin fährt doch wohl Vater allein, vielleicht mit den Jungens. Was sollen wir da? Da sind ja keine Damen im Hause.« Sie fühlte heute überhaupt eine merkwürdige Lust, der Mutter zu widersprechen. »Auch wir werden es dort nächste Woche sehr gemütlich finden«, lautete die Antwort. »Pastor Fredrichs nette Mutter und Schwester, die zum Besuch kommen, werden wir da kennen lernen.« »Soo! das ist was anders. Aber woher weißt du denn, daß die Damen so nett sind?« fragte die Tochter etwas spitz. Die Mutter wurde ein wenig verlegen und meinte: »Nun, das nehme ich an.« Sie ärgerte sich im stillen über ihren Mann, der heimlich grieflachte, anstatt ihr zu helfen.

*

Im Pfarrhause freute man sich auf den Montag. In Vierhöfen konnte Franz Heim kaum den Sonntag erwarten.

Endlich war er da. Froh hatte der Maler am Sonnabend den Pinsel niedergelegt. Die letzten beiden Tage hatte er nun doch wieder tüchtig geschafft.

Als Franz Heim am Sonntagmorgen an sein Fenster trat, tropfte es von den Bäumen. Es hatte die ganze Nacht geregnet. Noch immer trieb der Wind dicke, schwarze Wolken über das Dorf hin, die sich von Zeit zu Zeit in heftigen Regenschauern entluden. Manche Vierhöfener, die am Abend vorher schon die Sonntagsstiefel instand gesetzt hatten, blieben gewiß zu Hause. Sollte er es sich nicht auch zwischen seinen vier Pfählen gemütlich machen? Nein! »Dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen!« rief er sich zu, indem er sich in seinen Mantel hüllte, und mit langen Schritten stapfte er über die nasse Heide.

Bald hatte er ein altes Mütterchen eingeholt, das auf kahler, windumbrauster Heidehöhe mit dem Sturm kämpfte, der ihm bereits den Schirm umgeklappt hatte. Nun sah es aus, als wollte er jeden Augenblick die kleine zusammengetrocknete Person aufheben und irgendwohin ins tiefe Moor tragen. Franz Heim griff der erschöpften Alten unter den Arm, hielt ihr den Schirm über und pilgerte mit ihr, seine Schritte verkürzend, dem Kirchdorf zu. Unter dem Schutz des Schirmdaches kam seine Begleiterin bald wieder zu Atem, wurde sehr gesprächig und neugierig und hatte schnell herausgebracht, daß es dem alten Pastor sein Franz wäre, der sich ihrer angenommen hatte. »Nee, nee! Wo mi dat freit! Kiek mal eener an! Wat is he förn schönen jungen Keerl worrn! Mannig leewes Mal heww ick sin Mudder selig de Plichteier henbrocht! Düssen Korw vull schall ok de Pastörsche hewwen.« Als sie die Werlebrücke erreicht hatten, machte die Alte sich von ihrem Ritter los. Das wäre ihr zu schanierlich, »mit'n Keerl« durch das Dorf zu gehen.

Als Franz Heim am Pfarrhause vorüberkam, trat gerade Frau Pastorin aus der Tür, mit Schirm und Gesangbuch ausgerüstet. Er verzögerte seine Schritte, indem er dachte, sie könnten die halbe Minute bis zur Kirche zusammen gehen. Aber jene zog die andere Seite der Straße vor, obgleich das Regenwasser dort tiefe Lachen bildete, und den Schirm schien sie weniger gegen den Regen als gegen ihn zu halten. »Merkwürdig«, dachte der Maler. »Ob sie mich wirklich nicht gesehen hat?«

Inzwischen trippelte Wewerslene mit ihrem Eierkorb ins Pfarrhaus. Grete, die das Einhüten hatte, nahm ihr die Last ab und nahm aus dem Küchenschrank das Pfarrabgabenbuch, um die betreffende »Pflicht« zu streichen. Währenddessen erzählte die Alte, indem sie sich das Gesicht trocknete, mit großer Zungenfertigkeit von dem bösen Wetter, von ihrem Unglück und dem hilfsbereiten Retter. Das junge Mädchen hörte nur halb hin, denn die Alte war als Schnackersche bekannt. Als diese aber schloß: »Und da gung ick as 'n junge Brut ünner den swartsidenen Schirm an de Siet von den smucken jungen Keerl!« wurde sie aufmerksam und fragte: »Wat wör dat denn förn smucken jungen Keerl?« »Du hest nich uppaßt, Deern! Ick hewwt jo all seggt. Dat wör den olen Pastorn sin Franz. Wat is dat förn fixen Bengel worrn!« Nun ließ Grete es sich gefallen, daß die Alte die Geschichte noch einmal von vorn erzählte. Zur Belohnung erhielt sie eine Tasse lauwarmen Kaffee und ein Stück Butterkuchen, der noch vom Missionsfest übrig geblieben war. Sie wunderte sich, daß heute alle Menschen so freundlich gegen sie waren.

Als sie den braunen Trank mit Behagen ausgeschlürft hatte, schaute sie mit ihren kleinen Augen starr in den Kaffeesatz und sagte für sich hin: »De Deern, de mi düssen Koffi ingaten hett, ward nahstens Brut.« Das junge Mädchen errötete und rief ärgerlich: »Snack se doch keen dumm Tüg!« Die Alte ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Und se krigt 'n schönen, smietigen Brögam. Pastors Jung und Pastors Deern –« »Willt ji mal stillswiegen! Makt, dat ji to Karken kamt, se singt all.« Die Alte nahm ihren Korb, kicherte leise und trollte ab.

»Was für 'n Aberglaube!« sagte Grete zu sich. Sie konnte es aber doch nicht lassen, den Kaffeesatz sich anzusehen, und mußte den Tag über merkwürdig oft an das alte Weib denken.

*

Franz Heim brachte den Nachmittag im Schulhause zu. Als Herr Bartels seinen Dienst in der Nachmittagskirche beendet hatte und sie nun beim Kaffee saßen, bedauerte der alte Herr, daß er sich seinem Gast so wenig widmen könne. Um fünf Uhr beginne schon wieder der Dienst, die Übungsstunde des Gesangvereins im Schulzimmer. Und nun erzählte der alte Herr von seinem Verein, wie er ihm viel Arbeit, aber auch viel Freude mache; alle Stimmen seien gut besetzt, nur im Tenor hapere es augenblicklich etwas. Da unterbrach ihn der andere: »Wollen Sie mich als Tenorsänger haben? Solange ich in Vierhöfen bin, will ich Ihnen gern helfen.« Herr Bartels war froh überrascht und meinte, das wäre ja herrlich. Er wußte von früher her, daß sein alter Schüler musikalisches Gehör und eine gute Stimme hatte.

Gegen fünf Uhr wurde es vor dem Küsterhause lebendig. Arm in Arm kamen die in den letzten Jahren konfirmierten Mädchen die Dorfstraße dahergewandelt. Es mußte eine schon sehr hochnäsig oder ganz unmusikalisch sein, wenn sie sich von diesen Singstunden ausschloß. Die jungen Burschen dagegen kamen nicht. Es hieß, sie wechselten mit der Stimme. Aber auch, wenn sie damit längst fertig waren, ließen sie sich nicht sehen. In der Blüte ihrer Flegeljahre suchten sie ihr Sonntagnachmittagsvergnügen anderswo. Dafür stellte sich treulich ein fester Stamm gesetzter, verheirateter Männer ein, unter denen auch zwei Kirchenvorsteher waren. – Wenn die Mädchen Hochzeit hielten, brachte der Chor ihnen am Polterabend ein Ständchen, und als junge Frauen kamen sie nicht mehr zu der Singstunde. Dafür wirkten sie aber auf ihre Männer ein, daß sie an ihre Stelle traten. Sie wußten dieselben lieber bei dem weißhaarigen Herrn Bartels als bei dem rothaarigen wüsten Schenkwirt unten im Dorf. Diesem ging auf solche Weise manch guter Kunde verloren, der ihm früher viel Geld gelassen hatte.

Als es fünf Uhr schlug, begaben sich die Sänger, die bis dahin in Gruppen auf dem Spielplatz umhergestanden hatten, in das Schulzimmer. Wer da konnte, quetschte sich in eine der engen Schulbänke. Wem sein Leibesumfang das nicht mehr erlaubte, der setzte sich auf eins der Pulte, die Nähe der Tintenfässer ängstlich meidend.

Herr Bartels nahm die Geige zur Hand und bestimmte: »Der Sopran fängt an!« Als er aber die Häupter seiner Lieben in der ersten Stimme zählte, verbesserte er sich: »Nein, euer Hauptmann ist noch nicht da. Der Alt singt.«

»Weck'een is denn de Hauptmann von de Deerns?« fragte Franz Heim, der bei dem Tenor Platz genommen hatte, seinen Nachbarn. »Dor kümmt he just«, sagte der Mann, nach der Tür hindeutend, durch die eben Grete Werner eintrat. Mit freundlichem Kopfnicken grüßte sie die Mädchen, und diese machten ihr in der Mitte der Bank Platz. So konnten sie sich im Singen am besten nach ihr richten. Dem neuen Tenorsänger war die Lust, in Herrn Bartels' Chor mitzusingen, auf einmal bedeutend gewachsen.

Die Angekommene sah sich nach den Männerstimmen um, ob die heute genügend stark besetzt wären. Da begegnete ihr Blick dem des Malers. Schnell wandte sie den Kopf herum.

Der Alt brauchte lange Zeit, bis er seine Weise gefaßt hatte. Dann übte der Sopran, den Gretes helle Stimme führte. Da brauchte Herr Bartels nur zweimal mit der Geige zu begleiten. Nun kam der Tenor an die Reihe. Die Mädchen wandten sich um, den neuen Sänger singen zu sehen, und tuschelten untereinander: »De kann't.« Dann setzte der Baß ein, der in dem dicken Bäckermeister einen sicheren Führer hatte. Der letztere sang heute mit seltener Bravour und schielte von Zeit zu Zeit nach dem Tenor hinüber, um den Eindruck seines Heldenbasses auf den neuen Rivalen in der edlen Sangeskunst zu beobachten. Es kränkte ihn ein wenig, daß dieser davon gar keine Notiz zu nehmen schien und augenscheinlich an ganz etwas anderes dachte.

Und nun sangen sie im Chor. Zwar gingen die vier Stimmen zunächst noch etwas sehr ihre eigenen Wege. Aber nach einigen Wiederholungen fanden sie sich ganz nett zusammen, und einer, der nicht allzu hohe Anforderungen stellte, konnte wohl zufrieden sein.

Als das neue Lied aus dem Gröbsten heraus war, ließ Herr Bartels bekannte Lieder singen. Dabei mußte er öfters dämpfen und einige Male abwinken. Auf den gewohnten Bahnen waren sich einige Schreier zu sicher, die sich bei der neuen unbekannten Weise noch nicht hatten aussingen können. Gegen halb sieben entließ Herr Bartels den Chor.

Grete Werner war dabei, die Notenblätter des Soprans zu sammeln und einige derselben, die nicht gerade mit zarten Händen angefaßt waren, glatt zu streichen, als Heim herantrat, um sie zu begrüßen. »Ich habe Sie schon einmal singen hören, Fräulein Werner«, sagte er. »Wissen Sie, wo?«

»Nein!« antwortete sie, indem sie fortfuhr, die Blätter zu ordnen.

»An einem Sonntag im Juni kamen Sie mit einigen jungen Damen durch den Wendingbosteler Tannenwald, und da sangen Sie: ›Wenn ich den Wandrer frage.‹ Ich hörte das schöne Lied und nahm es als einen Willkommensgruß in der alten Heimat, in die ich damals erst kürzlich zurückgekehrt war.«

»Ach so – ja, ich war damals bei Pastor Brökers zu Besuch.«

Nun hatte sie ihre Arbeit beendet und legte die Notenblätter in den Schrank. Indem sie sich zum Gehen wandte, sagte sie: »Es ist nett von Ihnen, daß Sie unserm unglücklichen Tenor etwas helfen wollen. Der ist immer das Sorgenkind unseres Chores gewesen. Nicht wahr, Herr Bartels?«

Dieser nickte und nahm ihre Hand, die sie ihm zum Abschied reichte. Dasselbe tat nun auch der Maler, indem er sagte: »Ich bitte um einen freundlichen Gruß zu Hause.« »Danke schön«, antwortete sie, sich zum Gehen wendend.

Dieser Gruß wurde nicht bestellt. Sie hatte so das Gefühl, derselbe werde keine Freude erwecken. Von allen Gästen des Missionsfestes war in den letzten Tagen gelegentlich bei Tisch die Rede gewesen, nur von diesem einen nicht. Und einmal, als Fritz gefragt hatte: »Dürfen wir heute mal nach Vierhöfen? Der Maler, der da wohnt, hat uns eingeladen, wir sollten ihn mal besuchen«, hatte die Mutter kurz gesagt: »Ach was! Wir fahren ja Montag aus. Das ist auch viel zu weit für euch.« Und doch waren die Jungens schon im vorigen Jahre zum Pilzsuchen nach Vierhöfen gegangen.

Franz Heim ging fröhlich nach Hause. In der Stille der Heide und bei der Arbeit der nächsten Tage summte ihm immer das eingeübte Lied vor den Ohren. Aber nicht im Tenor, sondern im hellen, hohen Sopran.

*

»Mandag is Pastor sin Sünndag«, auch dem eifrigen Pastor Werner in Wrieloh seiner. Freilich, das Hauskreuz der meisten Landpastoren bleibt ihm auch an diesem Tage auferlegt: der Unterricht der eigenen Kinder. Die armen Jungens fürchten den Montag am meisten. Sie selbst können nach der goldenen Sonntagsfreiheit sich nicht sofort wieder in dem krausen Labyrinth der unregelmäßigen Verba und der Syntaxregeln zurechtfinden, und der Vater, der von der Sonntagsarbeit etwas abgespannt ist, hat an diesem Tage gerade am wenigsten Geduld. Die Mutter hört in der Küche mit Schrecken, wie laut es oft in der Studierstube wird, und seufzt: »Was ist das doch für ein Unglück, wenn man so unbegabte Kinder hat! Was soll bloß aus den Jungens werden!« – Wie wird das Mutterherz sich einst freuen, wenn Hans und Fritz zum erstenmal mit einem Zeugnis vom Gymnasium nach Hause kommen, und Hans schwenkt stolz die grüne Mütze mit dem Goldstreif und jubelt das große Wort: »Primus«, und Fritz fügt etwas bescheidener hinzu: »Und auf der ersten Bank sitze ich auch!«

An diesem Tage wurden die Montagsleiden etwas leichter ertragen, weil für den Nachmittag die Ausfahrt winkte, aber die Stunden waren doch sehr lang. Endlich klingelte es zum Essen, und der gestrenge Vater klappte die Bücher zu.

Bei Tisch wurden einige wichtige Fragen wegen der Ausfahrt gelöst. Hans und Fritz berieten, ob sie ihre Schmetterlingsnetze mitnehmen oder zu Hause lassen wollten. Schnell hatten sie sich für das erstere entschieden. Nicht so leicht fiel die Entscheidung in einer anderen Sache. »Was für ein Kleid willst du anziehen?« fragte Frau Pastorin die Tochter. »Ich denke, für solche Fahrt über Land tut's das blaue von vorigem Sommer«, meinte diese, »das neue rote ist für den Wagen zu schade.«

»Nein«, sagte die Mutter bestimmt, »du mußt heute eine Ausnahme machen. Pastor Fredrich, seine Mutter und Schwester sind aus der Stadt, und Stadtleute geben viel auf das Äußere.«

»Das blaue ist doch auch noch heil und rein«, sagte die Tochter wieder.

»Aber das rote kleidet dich besser«, wurde ihr bedeutet.

»Na, Grete«, warf sich jetzt der Vater ins Mittel, »mach's man, wie Mutter sagt!« Damit war auch diese Frage entschieden.

Um zwei Uhr kletterte die Familie auf Hinnerk Bollmanns »Faetong«, der sich dann gemächlich in Bewegung setzte. Hinnerk Bollmann war alt, und seine beiden Braunen auch. Er hatte sie vor Jahr und Tag unter den Namen Kastor und Pollux vom Pferdejuden gekauft, nannte sie aber, da die Namen ihm zu fremd klangen, Pastor und Bulldox. Auf dem Vordersitz flatterten wie Fahnen im Winde die weißen Schmetterlingsnetze, und wenn es gar zu langsam ging, schwenkte der unruhige Hans das seine den Braunen um die Ohren und machte: »Üh.« Aber Pastor sah zur Seite und machte ein Gesicht, als wollte er sagen: »Du grüner Pastorsjunge da oben, du hast mir gar nichts zu sagen.« Als das Gefährt die Grenze der beiden Nachbargemeinden überschritten hatte, wurde Frau Pastorin sehr beredt und machte auf die schöne Gegend, die gemütlichen Dörfer und behäbigen Gehöfte, die zum Preller Kirchspiel gehörten, aufmerksam. »In Prelle muß es sich gut leben lassen«, meinte sie. Und wenn sie schwieg, malte sie sich aus, wie oft und aus welchen Anlässen sie in den nächsten Jahren diesen Weg wohl fahren würde.

Endlich sagte Hinnerk Bollmann »Brr«, und der Wagen hielt vor dem Pfarrhaus in Prelle. Pastor Fredrich stand mit Mutter und Schwester vor der Tür, die Gäste zu empfangen.

»Sie müssen vorliebnehmen, wie Sie es finden«, entschuldigte die verwitwete Frau Kreissekretär Fredrich, eine Dame mit bleichem, leidendem Stadtgesicht. »Mein Wilhelm hat sich als Junggeselle nur provisorisch eingerichtet. Die Gemütlichkeit und Behaglichkeit muß noch kommen.«

Sie setzten sich an den Kaffeetisch, wo die Unterhaltung bald fröhlich in Gang kam. Die Herren sprachen über eine Angelegenheit der Gemeinde, in welcher der Jüngere den älteren Amtsbruder um seinen Rat fragte. Die jungen Mädchen hatten schnell entdeckt, daß sie dieselbe Pension besucht hatten. Damit war ein Gesprächsthema gefunden, das sich nicht so leicht erschöpfen ließ. Und Frau Kreissekretär erzählte mit ihrer leisen, fast flüsternden Stimme ihrer Sofanachbarin von Wilhelm, ihrem Einzigen, der ihre Freude und Stolz war: »Auf dem Gymnasium war er immer der Erste, und das erste theologische Examen hätte er beinahe mit Eins gemacht. Im Kloster Loccum, so erzählte mir sein Freund, der bei uns zu Besuch war, ist er der besondere Liebling des Herrn Abtes gewesen. Nun hat er ja hier die schöne Pfarre. Er hat mich öfters gebeten: ›Mutter, ziehe doch mit Lisbeth zu mir.‹ Aber das will ich nicht. Ich bin viel leidend, und es taugt nicht, wenn ein junger Mensch, der erst anfängt zu leben, immer ein leidendes Menschenkind um sich hat. Auch müßte ich dann bange sein, daß Wilhelm nicht zum Heiraten käme. Er hätte ja schon öfter sein Glück machen können. Aber in diesem Stück läßt der Junge sich gar nicht dreinreden.«

Frau Pastorin tröstete die alte Dame, die mit einem leisen Seufzer geschlossen hatte. Die Pfarre sei nun ja da, und die Pfarrfrau würde wohl bald nachkommen. Und nun fing sie an, über ihre Familie zu berichten. Die beiden Jungens seien leider etwas schwach begabt und oft recht wild. Aber die Grete – und hierbei leuchteten ihre Augen in mütterlichem Stolz – sei ihre ganze Freude. So fleißig sei sie, und ein Auge habe sie für alles, und die Last des Haushalts könne sie ihr schon zum großen Teil abnehmen. Sie möchte gar nicht daran denken, wenn die Tochter ihr mal untreu werde. »Dennoch«, sagte sie leiser und beugte sich näher zur Nachbarin, »glauben Sie mir, Frau Kreissekretär, eine erwachsene Tochter hier auf dem Lande macht der Mutter immer Sorge. Es ist so wenig Gelegenheit für unsere Mädchen, Herren kennenzulernen. Darum bleibt manche sitzen und wird eine alte Jungfer, die eine prächtige Frau geworden wäre.« Sie seufzte, als ob sie dieses schwere Los über den Häuptern von mindestens einem halben Dutzend unversorgter Töchter schweben sähe.

Die beiden Damen schauten sich ins Auge und erkannten sich als Bundesgenossinnen. Als ihre Blicke sich trennten, schaute Frau Pastorin mit Wohlgefallen auf den schmucken künftigen Schwiegersohn, während Frau Fredrichs kränklich umschleiertes Auge auf dem lieblichen Schwiegertöchterlein ruhte, das es ihr gleich angetan hatte.

Die beiden Jungens, die sich mit solchen schweren Lebensfragen noch nicht quälten, hatten inzwischen einen erfolgreichen Angriff auf den hochgetürmten Butterkuchenteller gemacht. Als sie endlich gesättigt waren, wurden sie so unruhig, daß man ihnen gern die Erlaubnis gab, aufzustehen und in den Garten zu springen. Wie der Sturmwind waren sie davon. »Könnt essen, was ihr findet«, rief ihnen der Hausherr nach. Das hörten sie noch. Die sofort hinzugefügte Mahnung des Vaters: »Aber bescheiden und mit Maßen«, erreichte sie nicht mehr.

Zunächst wurde der Garten mit den Schmetterlingsnetzen abgestreift. Da sich kein Wild sehen ließ, ging's bald ins Obst. Zuerst machten sie sich an einen Baum mit grasgrünen Äpfeln, die sie für Augustäpfel hielten. Dann kamen halbreife, wurmstichige Birnen an die Reihe. Daß sie beide nicht krank wurden, war fast ein Wunder. Aber es gibt noch gute Mägen, und die allerbesten gehören den Landpastorenjungens.

Endlich fanden sie einige Stachelbeerbüsche, die ihre dicken, roten Früchte noch trugen, da hier keine Kinder sie vorzeitig plünderten. Jeder nahm sich einen Busch vor, und Hans, der eine Beere nach der andern in den Mund schob, sagte zu Fritz: »Du, es ist hier jetzt eigentlich schrecklich langweilig. Früher war's hier viel schöner, als die Jungens von dem alten Pastor noch hier waren. Nich?«

»Ja«, meinte Fritz auch. »Bloß diese Stachelbeeren«, fügte er hinzu, »die sind ganz gut. Schmeck' diese mal!« Er reichte dem älteren Bruder eine dicke Beere hinüber. Die Folge war, daß dieser zu seinem Busch übersiedelte.

»Du«, sagte Hans nach einer Weile, »dieser Pastor sieht gar nicht aus wie'n Pastor. Und daß er noch immer keine Frau hat!«

»Aber er kriegt bald eine«, sagte Fritz wichtig.

»So? Wen denn?«

»Unsere Grete. Ich habe gestern abend zufällig so was von Mutter gehört, als sie mit Vater sprach.«

»Ach was. Das ist ja Unsinn! Ich will Grete nachher selbst fragen.«

»Du, das tu lieber nicht! Dann schlägt sie dir einen hinter die Ohren, wie mir gestern abend, als ich sie fragte, wie sie vom Singen kam.«

Dem wollte der kluge Hans sich nun nicht aussetzen, und er beschloß, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

»Wollen wir nicht was spielen?« fragte Fritz. »Wir können doch nicht den ganzen Nachmittag essen.«

»Ach nee, allein macht das keinen Spaß«, meinte Hans.

»Dann holen wir uns die Mädchens.«

»Nee, mit den alten großen Mädchens spiele ich nicht«, sagte Hans verächtlich.

Nach einer Weile gingen sie aber doch hin, und die »alten großen Mädchens« taten ihnen den Gefallen. Und bald kam auch die übrige Gesellschaft, sah zu und ließ sich bald von der Lust, mitzuspielen, anstecken. Nur die kränkliche Frau Fredrich hatte sich in einen Lehnstuhl gesetzt und schaute zu. Sie freute sich herzlich über ihren Jungen, dem heute nachmittag die helle Lebensfreude aus den Augen sprühte, und dachte im stillen, solch einem herzigen Menschen könnte ja gar kein Mädchenherz widerstehen. Und Frau Pastorin beobachtete mit ebenso herzlicher Freude die schnellen, warmen Blicke, die jener nach ihrem Kinde hinübersandte.

Ein Jahr lang hatte der alte Pfarrgarten, der schon so viel frisches, junges Leben gesehen hatte, still und öde gelegen, erst während der Vakanz und dann während der Junggesellenherrschaft. Heute hallte er endlich einmal wider von Lust und Leben. Die Küstersfrau, die jenseits der Weißdornhecke Bohnen pflückte, freute sich darüber und sagte nachher zu ihrem Manne: »Ich glaube, wir kriegen bald eine junge Pastorsfrau. Wenn's Pastors Grete von Wrieloh wird, können wir uns freuen.«

Es ging stark gegen Abend. Schon mehrere Male hatte Pastor Werner zum Aufbruch gemahnt, aber immer wieder hatten die Gastgeber noch um ein Viertelstündchen gebeten. Endlich wurde aber doch angespannt, ein herzliches: »Auf Wiedersehen« von hüben und drüben, und Bollmanns Braune zogen an. Als der Wagen um die Ecke verschwunden war, hing Frau Fredrich sich an den Arm ihres Sohnes und sagte: »Was sind das für reizende Leute! Du kannst dich wirklich freuen, daß du solche Nachbarn hast. Die Tochter habe ich ganz in mein Herz geschlossen.« Bei den letzten Worten blickte sie forschend ihrem Wilhelm ins Auge. Dieser mied den Blick und sagte nichts. Auch den ganzen Abend war er sehr still und schweigsam. Um so mehr hatte die alte Dame, die sich etwas angegriffen fühlte, Zeit, im Sofa zurückgelehnt, Zukunftsträume zu spinnen.

In dem heimkehrenden Wagen, der auf weichem Sandwege durch die abendliche, stille Heide fuhr, führte Frau Pastorin das Wort. Sie war von allem so recht befriedigt. Frau Fredrich fand sie so herzlich, die Schwester so bescheiden und ihn selbst so frisch und natürlich und liebenswürdig. »Welche den mal zum Manne kriegt, die ist nicht betrogen«, fügte sie nachdenklich hinzu.

Bei diesen Worten hatte Hans, der wieder auf dem Bock saß, sich umgewandt, und nun fragte er treuherzig: »Mutter, ist das wahr, daß Grete dem Pastor seine Frau wird?« »Junge, halt deinen Mund!« rief die Mutter mit erschrockener, böser Stimme, und wenn die Gelegenheit günstiger gewesen wäre, hätte er sicher von Mutterhand eine Ohrfeige bekommen, die sein Bruder in gleicher Angelegenheit schon von zarter Schwesterhand empfangen hatte. Im Wagen herrschte infolge der tollpatschigen Frage des Jungen eine merkwürdige Stille. Grete sah still vor sich nieder, die Mutter zupfte nervös an der Wagendecke, und der Vater blies den Rauch seiner Zigarre scharf nach rechts in die Landschaft hinaus.

Hinnerk Bollmann hatte genug gehört. Am andern Tage hieß es im Dorf, Pastors Grete sei mit dem Preller Pastor verlobt. In der nächsten Zeit kamen so nach und nach der Tischler, der Sattler und einige andere Handwerker, drehten die Mütze zwischen den Händen, sprachen vom Wetter, von den schlechten Zeiten fürs Handwerk, von der billigen Schundware, die aus den Fabriken käme, und meinten, die solide Handarbeit, die sie lieferten, sei billig und dauerhaft und allem andern vorzuziehen. Sie dachten: »Von uns lebt der Pastor. Da ist's billig, daß wir auch von ihm leben.«

 

Nach Vierhöfen, das die Woche über wenig Verbindung mit dem Kirchdorfe hatte, kamen diese Gerüchte einstweilen nicht. So konnten sie dem Maler auch nicht die süße Erinnerung an den Wrieloher Gesangchor stören. Er arbeitete mit angestrengtem Fleiß, fast in einer Art Rhythmus, den wohl die Lieder vom Sonntag und andere mit ihnen aus der Vergessenheit emportauchende Lieder mit sich brachten, die ihm durch die Seele zogen. Zuweilen kamen sie ihm auch über die Lippen. Dann wunderte Arnsvader sich sehr. Die Lieder, die sein junger Freund da sang, standen meist nicht im Gesangbuch, und es war ihm, als käme mit ihnen ein fremder Ton in ihren Verkehr. Ja, er hatte überhaupt das Gefühl, als stünden sie sich nicht mehr so nahe wie früher. Der Maler war anfangs viel mitteilsamer gewesen und hatte ihm auch aufmerksamer zugehört. Jetzt schien es manchmal, als ob er träumte und mit dem Geiste ganz anderswo wäre. Das machte den alten Mann traurig. Eines Abends in der Dämmerstunde sprach er es offen aus: »Mi is mannigmal so trurig to Mod.«

»Wat fehlt Se denn, Arnsvader?« fragte der andere teilnehmend.

»Dat is mang uns beiden nich mehr, as dat wän is.«

»Wo meent Se dat, oll Vader?«

»Oh, dat kann ick sülwst nich recht seggen, aber't is mi so.«

Über Franz Heims Züge kam ein stilles, glückliches Lächeln. Er setzte sich dicht vor das Lager des Alten, nahm seine Hand, blickte ihm warm ins Auge und sagte: »Ick weet woll, wovan dat kummt und will Se't verraden. Dormit segg ick Se wat, wat ick noch to keenen seggt heww und ok keenen seggen doh. Se könnt dorbi marken, wat förn Vertruen ick to minen olen Arnsvader heww und wo leew he mi is. Hören Se to! As ick ton irstenmal vor Ehre Ogen körn, da wör ick 'n unglücklich Minschenkind, mit unsen Herrgott und mit de Welt und mit mi sülwst uteneen. Dor harr nich veel fehlt, und ick harr 'ne Pistol nahmen oder wör in't Water gahn. Ja, Se verjagen sick! Wi armen Minschenkinner möt mannigmal an deepe, swarte Afgrünne vörbi, und et is 'ne grote Gnade von Gott, wenn wi nich hendalfallt. In düsse sware, düstere Tied hett de ole Köster Bartels und hewwt Se, min leewe Vader, mi upholpen, mit Ehre klare, gesünne, fromme Lewensweisheit. De hett mi an de Hand nahmen, und ganz gewiß harr uns Herrgott Se mi schickt. Und denn is de Arbeit kamen und hett mi wieder brocht. As Se mi dor an den Tun Zaun toerst to sehen kregen, wör ick ful und harr to nix Lust. Da hewwt Se mi to de Arbeit dwungen. Wenn ick ok so old weern schöll, as Se nu sünd, kann ick Se dat niemals vergeten. Abers uns Herrgott hett för us Minschenkinner noch anners wat, womit he us torechtbringt, as frumme Lewensweisheit und flietige Arbeit. Dor hett he vör allen de Leew ... de reine, seute Leew. Dormit kriegt he us, wi mögt wollen oder nich. Und wenn de in 'n Minschenhart intreckt, denn mutt alles andere torügstahn, Vader, Mudder, Broder und Fründ. Und, min leewe ole Vader und Fründ, ok unse Fründschap is dadör en beten nach achtern kamen. Se hewwt sick woll faken wunnert, dat ick mannigmal knapp henhörte, wenn Se mi wat vertellten. Und denn wör ick wedder so utgelaten, dat ick dat Singen nich laten kunn, und dat hett Se ok woll nich jümmer paßt. Abers nix for ungod! Wenn ol Arnsvader sick trügdenkt in de Tied, wo he as smucke, fixe Jungkirl um sin Marie freete, denn kann he nich bös wän up 'n jungen Minschen, den dat sülwige Minschliche passiert!«

Der Alte sah dem jungen Freunde verwundert in die strahlenden Augen. Dann lächelte er in glücklicher Erinnerung. Die goldenen Tage kamen wieder herauf, da ihm die erste junge Liebe warm im Herzen saß. Wie war er damals doch auch bald über die Maßen froh und dann wieder traurig und still gewesen, hatte bald die Sense geschwungen, daß der Bauer erstaunt hinsah, um dann gleich wieder etwas zu versehen, daß sein Herr heftig schelten mußte. – Ja, nun wunderte er sich über nichts mehr. Und herzlich schüttelte er dem Maler die Hand, als dieser ihm nun auch im Vertrauen den Namen derjenigen nannte, der nun sein ganzes Herz gehörte.

Gleich darauf trat Arnsmudder in die Stube und brachte den Buchweizenpfannkuchen, den sie zu Abend essen wollten. Sie hatte wenig mehr von dem, womit sie einst als dralle, rotbackige Großmagd das Herz ihres Stoffer erobert hatte. Aber mit glücklichen Augen sah der Alte ihr in das runzlige Gesicht und sagte: »Weest noch, Marie, as wi beiden den ersten Pannkoken tohopen eten hewwt? Et was in 'n Austmand August achtern Roggen. De smeckt mi noch.« Die Alte machte verwunderte Augen. Wie kam er just darauf? Und noch mehr wunderte sie sich, als Vater zulangte und nur von der Mitte des Pfannkuchens aß, um den leckern Rand ganz seiner Marie zu überlassen. Und sie wußte doch, wie gern er diesen sonst aß.

*

Wie ganz anders als früher eilte Franz Heim nun die Zeit hin! Sonst hatten die Tage, Wochen, Monate wie eine schnurgerade Chaussee vor ihm gelegen. Die Sonntage waren nichts gewesen als Kilometersteine, die ihre Zahl trugen und sonst sich aufs Haar glichen. Jetzt wanderte er in einem schönen Berglande. Die Sonntage waren die freien, leuchtenden Höhen. Wenn er die ersten Tage der Woche von solcher Höhe hinabwanderte, dachte er mit jubelnder Freude des Aufenthalts da droben, und wenn er vom Donnerstagmorgen an zu einer neuen Höhe hinanstieg, freute er sich auf die Stunden, denen er entgegenging. Auf dem höchsten Sonnengipfel dieser Höhen stand er, wenn er nach der Gesangübung einen Händedruck und ein paar kurze Worte mit Grete wechseln konnte. Dann war es ihm, als schaute er in ein fernes, schönes Land, dem er mit jeder Woche näherkäme.

Freilich, bei der Arbeit der Woche kamen ihm dann doch wieder Stunden, wo er daran zweifelte. Und ob er sich mit den Hoffnungen, die er auf sein Bild setzte, nicht doch täuschte? Solche trüben Gedanken wollten dann auch seine Schaffensfreudigkeit lähmen. Aber dann biß er die Zähne aufeinander und preßte die Lippen zusammen und sagte zu sich: »Ich arbeite für meine Liebe!«

*

So war es Mitte September geworden, und wieder waren die Sänger in Herrn Bartels' Schulstube versammelt. Franz Heim freute sich eben darauf, wie er Grete nach der Übungsstunde von dem Fortschreiten seiner Arbeit berichten wollte, wie er es jeden Sonntag tat. Da blickte Fritz Werner ins Fenster: »Grete, du sollst schnell nach Hause kommen; wir haben Besuch gekriegt.« Und fort war sie.

Mit dem Singen war es jetzt nicht viel mehr. Der Sopran, seiner Führerin beraubt, war außer Rand und Band. Auch mit dem Tenor wollte es nicht mehr recht.

Als die Sänger entlassen waren, wollte Franz Heim sich schnell nach Hause begeben. Aber Herr Bartels wünschte einen Abendspaziergang zu machen und begleitete ihn. Sie wählten einen kleinen Umweg und gingen durch das Gehölz, das sich an den Pfarrwiesen hinzieht. Schweigend schritten sie nebeneinander. Als sie um eine Wegebiegung kamen, sahen sie sich plötzlich der Pastorsfamilie gegenüber, die von einem Spaziergange zurückkam. Voran gingen die beiden Jungens, dann folgten die Eltern, und den Schluß machten Grete und der Pastor Fredrich, der sie angelegentlich zu unterhalten schien. Der alte Lehrer und Franz Heim traten zur Seite, um die Begegnenden auf dem schmalen Waldpfade vorüberzulassen. Dabei sah der letztere, daß Herr und Frau Pastor seinen Begleiter freundlich grüßten, ohne ihn zu beachten. Von Grete bekam er einen schnellen, scheuen Blick. Als sie außer Hörweite gelangt waren, sagte Herr Bartels: »Im Dorfe erzählt man, daß die beiden nächstens ein Brautpaar werden. Andere sagen, sie sind schon heimlich verlobt.« Franz Heim war auf dem noch enger werdenden Pfade plötzlich gegen einen Baum gerannt, wobei ihm der Hut vom Kopfe geflogen war. »Entschuldige«, sagte der alte Lehrer, »ich habe dich wohl zu weit an die Seite gedrängt. Hast du dir wehe getan?« »Nein«, sagte er kurz, »es war meine eigene Schuld.«

Am Waldsaum kehrte Herr Bartels um. Für den anderen war das wie eine Erlösung. Nun war er auf der weiten Heide allein. Wie glücklich und überfroh war er an den letzten Sonntagabenden diesen Weg gegangen! Und nun war er jäh aus dem schönen Traume aufgeschreckt, und alle süßen Hoffnungen waren in der Blüte erstickt. Er war wieder einsam wie die alte, sturmzerzauste Fuhre dort am Rande des Moores, wie die große Wolke, die hoch oben am klaren Abendhimmel einsam segelte.

Als er endlich gegen zehn Uhr – Dreyers waren schon zu Bett gegangen – nach Hause kam, setzte er sich im Dunkeln auf die alte Truhe, ließ die Hände lang herabhängen, starrte in die Nacht hinaus, seinen trüben, trostlosen Gedanken nachhängend.

Da klopfte es plötzlich stürmisch ans Fenster.

Er schreckte auf und öffnete.

In dem Dunkel erkannte er den Jungen aus dem Häuslingshause, der hastig kaum verständliche Worte herausstieß. Heim verstand so viel, daß Arnsvader im Sterben liege und daß er schnell kommen sollte.

Schnell stieg er aus dem niedrigen Fenster und ging mit dem zitternden Claus Hinnerk, der sich an ihn drängte und durch das Dunkel ihn anstarrte, wie wohl ein junges Menschenkind tut, das zum erstenmal die schwarzen Fittiche des Todes hat rauschen hören. Als sie in die matt erhellte Stube traten, stand Arnsmudder vor der Butze und flößte dem Kranken Brotwasser ein, während der Sohn ihm das Haupt hielt. Franz Heim sah gleich, daß der Schlaganfall sich wiederholt hatte und daß es zu Ende ging. Als die anderen zurücktraten, beugte er sich über den Sterbenden, nahm seine Hand und fragte mit leiser Stimme: »Arnsvader, kennt Se mi noch?« Da öffneten sich mühsam die geschlossenen Lider, und aus den großen, tiefen Augen traf ihn ein langer, inniger Blick.

Franz Heim hat diesen Blick nie vergessen. Etwas von dem, was er da gesehen hat, konnte er auch am andern Tage in das Gesicht des Alten auf dem Abendmahlsbilde legen, und erst dadurch ist dieses wirklich die Seele des Bildes geworden.

Heim trat von dem Sterbelager zurück und setzte sich zu den andern, die im Halbkreise vor der Butze saßen und auf die Stunde der Auflösung harrten. Von Zeit zu Zeit stand die alte Mutter auf und labte den Sterbenden mit Wasser, dann las sie mit zitteriger Stimme aus dem Anhang des Gesangbuches Sterbegebete, dann wieder saßen sie schweigend und hörten auf die unregelmäßigen Atemzüge des mit dem Tode Ringenden und auf das unbarmherzige Tick-Tack der Wanduhr. Einmal flog ein Käuzchen, durch den ungewohnten Lichtschein angezogen, mit flatterndem Flügelschlage gegen das Fenster und rief sein unheimliches: »Komm mit!« Der Junge schrie entsetzt auf, die anderen zuckten zusammen und sahen mit wirren Augen auf das Fenster. Aber Arnsmudder zog die dicke Hornbrille von der Stirn auf die Augen herab und las ein Gebet, das mit kräftigen Worten den Sieg des Glaubens über den Tod und seine Schrecken feiert. Da schwand das Grauen, das der unheimliche Totenvogel geweckt hatte.

Einige Minuten nach Mitternacht tat Arnsvader zwei tiefe Atemzüge und hatte ausgekämpft. Während die Kinder und Großkinder und der Maler in stillem Schmerz auf das ehrwürdige, friedvolle Totenantlitz schauten, drückte die alte Mutter ihrem voraufgegangenen Lebensgefährten die Augen zu. Dann wandte sie sich ab, verbarg das Gesicht in die Schürze und brach in heftiges Schluchzen aus. Franz Heim kehrte traurig in seine Wohnung zurück.

Am andern Morgen kam er zeitig wieder. Es wurde gerade beraten, welcher der Nachbarn auf der Pfarre die Beerdigung anmelden sollte. »Arnsmudder«, sagte der Maler, »ick bin Vadern in de leste Tied de nächste Nahwer wän; laten Se mi man hengahn.«

Es war gegen zehn Uhr des Morgens, als Franz Heim in das Pfarrhaus zu Wrieloh eintrat. Er wartete auf dem Vorplatz. Als Grete, die auf das Klingeln der Tür herbeikam, den unerwarteten Besuch erblickte, erschrak sie. Dann bemerkte sie den Ernst seines Gesichtes und die schwarze Kleidung und fragte schnell und ängstlich: »Was ist geschehen? Sie sehen ja so traurig aus, Herr Heim.« »Arnsvader ist diese Nacht gestorben. Ich wollte das bei Ihrem Herrn Vater anmelden«, sagte er. Da reichte sie ihm die Hand mit einem warmen Druck und sagte: »Das tut mir leid, da haben Sie gewiß viel verloren.« Dann führte sie ihn in das Studierzimmer ihres Vaters, an dessen Tür sie umkehrte.

Der Pastor bat ihn Platz zu nehmen und erkundigte sich nach Zeit und Umständen des Todes und machte sich Notizen. Dann lehnte er sich in seinem Schreibsessel zurück und sagte: »Da ist wieder einer von den guten Alten hingegangen, deren Reihe sich mit jedem Jahr mehr lichtet. Sie haben Arnsvader in der letzten Zeit ja auch wohl näher kennengelernt?«

»Ja«, entgegnete der Maler, »und ich bin dankbar, daß ich diesen Lebensabend habe schauen dürfen. Arnsvader war einer von den sehr seltenen Menschen, von denen man ohne ein einschränkendes Aber sagen kann: Er war ein Kind Gottes, voll Herzenseinfalt und Gemütstiefe. Und dabei war er so eckig und kantig, so echt und wahr, ein rechter Lüneburger Bauersmann.«

Der Pastor freute sich über das schöne und warme Zeugnis, das der junge Maler für den alten Häusling ablegte. Mit einem herzlichen Händedruck schieden die beiden Männer voneinander.

Am Donnerstag nachmittag fand die Beerdigung statt. So war es zwischen Franz Heim und dem Pastor verabredet worden.

Gegen ein Uhr wurde der einfache Sarg in der Mitte der Lehmdiele auf drei Holzstühlen aufgebahrt. Die grünlichen Leuchter, die auf dem Hochzeitstische und beim letzten Abendmahl gebrannt hatten, taten jetzt wieder Dienst. Die Flammen flackerten unruhig im Zugwinde und warfen ein unsicheres Licht in den dunklen, rauchgeschwärzten Raum und auf die ernsten Gesichter der sich allmählich sammelnden Trauergemeinde. Die Frauen traten heran und legten schlichte Tannenkränze auf den Sarg. Der Lehrer des Dorfes ließ die Singknaben singen: »Christus, der ist mein Leben«, und las ein Gebet, dann hoben Nachbarn den Sarg auf den mit Stroh belegten Wagen des Snarshofes. Vorne nahmen die Frauen des Hauses Platz, die den Kopf bis auf das Gesicht mit schwarzen Tüchern verhüllt hatten. Die andern folgten zu Fuße. Am Hoftor standen die jüngeren Kinder des Dorfes und schauten mit großen, fragenden Augen dem schwarzen Zuge nach.

Als der Wagen über die Wrieloher Holzbrücke fuhr, fingen die Glocken an zu läuten. Vor dem Kirchhofstor wurde der Sarg abgehoben, und der Pastor und Küster stellten sich an die Spitze des Zuges. Nachdem die Leiche in das Grab gelassen war, sammelte das Trauergefolge sich in der Kirche. Nach einem einleitenden Gesangsverse verlas der Pastor den Lebenslauf des Entschlafenen, den der Lehrer von Vierhöfen in den dafür feststehenden Worten und Wendungen abgefaßt hatte, darauf hielt er die Leichenpredigt. Seit langem war ihm die nicht so leicht gefallen. Das ganze Leben Arnsvaders war ja eine eindringliche Predigt gewesen, und das predigte auch am besten bei dieser Gedächtnisfeier. Franz Heim vermißte allerdings wohl den einen oder anderen Zug, aber er machte dem Pastor keinen Vorwurf daraus. Er war vielmehr dankbar, daß er den Alten im täglichen Verkehr genauer kennengelernt hatte, als es jenem aus der Ferne möglich gewesen war.

Als die Feier beendigt war, ging er mit dem alten Lehrer ins Schulhaus. Sie sprachen über den Verstorbenen, und Herr Bartels fragte, wie er denn nun sein Abendmahlsgemälde vollenden wolle. »Das Bild ist bald fertig«, sagte Heim, »als Hauptfigur fehlt mir nur noch der Pastor, dessen Gestalt ich erst in den Umrissen gezeichnet habe. Wenn ich nur erst wüßte, wie ich es da noch mache. Vielleicht müssen Sie mir noch als Modell herhalten, Herr Bartels.«

»Nein, davon wird nichts«, sagte der alte Herr lächelnd, »Herr Pastor gehört nun einmal auf dein Bild, und er ist sehr gefällig und wird dir gern einige Sitzungen gewähren. Aber wie machen wir das? Er kann natürlich nicht immer nach Vierhöfen laufen, und du nicht immer hierher.« Herr Bartels dachte einen Augenblick nach, dann fuhr er fort: »Ich will dir einen Vorschlag machen. Du vollendest dein Bild, so weit es möglich ist, in Vierhöfen. Dann siedelst du nach hier in mein Haus über und malst den Pastor. Angenommen?«

Heim sann nach. »Bis Ende der Woche«, meinte er zögernd, »könnte ich in Vierhöfen fertig sein.«

»Also kommst du Sonnabendabend hierher. Und dann gehst du zum Herrn Pastor und trägst ihm deinen Wunsch vor. Oder soll ich schon in diesen Tagen mit ihm darüber sprechen?«

»Nein, bitte nicht!« wehrte der Maler ab. Er schien noch immer in sich zu kämpfen, ob er der Einladung folgen wollte oder nicht. So schön hatte er sich die Stunden ausgemalt, wenn er im Pfarrhaus seinem Bilde die letzte Hand anlegen würde. Doch seit dem letzten Sonntage war das anders.

Aber das Bild, das nun so weit gediehen war, mußte vollendet werden. Und wenn die eine schöne Hoffnung auch dahin war, für das Bild, das er mit jener Hoffnung im Herzen gemalt hatte, wollte und durfte er nicht aufhören zu arbeiten und zu hoffen.

»Ja, Herr Bartels, ich nehme Ihre Einladung für ein paar Tage an und komme am Sonnabend mit Sack und Pack«, sagte er endlich.

*

Die letzten Tage in Vierhöfen eilten unter angestrengter Arbeit schnell dahin. Es galt vor allem, Arnsmudders Bild zu vollenden. Früher hatte sie für die Malerei in ihrer Dönze nicht viel übrig gehabt, und oft genug hatte sie gebrummt. Jetzt überraschte der Maler sie mehrere Male dabei, wie sie vor seinem Gemälde stand und still das Bild ihres Heimgegangenen betrachtete, wobei sie sich mit dem Schürzenzipfel eine Träne aus dem Auge wischte. Da die Unruhe und Aufregung der letzten Tage sie stark mitgenommen hatten, saß sie viel im Lehnstuhl, und Heim konnte sie gut malen.

Am Sonnabendnachmittag sagte er seinen Freunden Lebewohl. Dem Häusling hinterließ er ein Geldgeschenk, den anderen kleinere Andenken. Als er das Haus verließ, wandte er sich noch einmal um und warf einen langen Blick auf den Spruch über der Tür, mit dem für ihn ein neues, frisches Arbeitsleben begonnen hatte: »Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut.«

Frau Dreyer hatte ein reiches Abschiedsmahl bereitet. Sie war sehr bewegt und sprach wehmütige Abschiedsworte, vergaß aber auch nicht, den Snarshof und seine Wirtschaft durch ihren ersten Sommergast der Welt empfehlen zu lassen.

Snarsbur selbst wollte fahren. Nachdem die Habseligkeiten des Malers auf dem Kastenwagen untergebracht waren, nahmen die beiden auf einem quergelegten Sack Platz. Der Mann war schweigsam wie immer. Franz Heim schaute sich noch einigemale nach dem stillen Heidedorf um, das er nun verließ. Bald war es in der hereinbrechenden Dämmerung verschwunden.

*

Als der Wagen vor dem Küsterhause in Wrieloh hielt, herrschte bereits völliges Dunkel. Auch war es schon empfindlich kalt. Das Gepäck wurde ins Haus geschafft, dann führte der alte Lehrer seinen Gast auf das Giebelzimmer, das er ihm schmuck und behaglich eingerichtet hatte. Über das Sofa hatte er ihm die Bilder seiner Eltern gehängt, ein Ecktischchen war mit Urnen und Steinwaffen geschmückt, und in dem altmodischen Kachelofen knisterte ein munteres Feuer, das von harzigem Fuhrenholz und Torf genährt wurde. Über den Maler kam ein Gefühl der Behaglichkeit, wie er es lange nicht mehr gehabt hatte.

Bald wurde es aber doch zu heiß. Die Küstermagd hatte es gut gemeint. Franz Heim öffnete die Fenster und lehnte sich hinaus. Drüben lag in dunklen Umrissen das Pfarrhaus. Nach der Straße zu brannte nur die trübe Flurlampe. Stumm lag das Haus da. – Plötzlich tönten die Klänge eines Klaviers durch die Abendstille. Es war die schöne Weise: »Harre, meine Seele.« Und dann sang die helle Stimme, die er so gut kannte, die Worte mit. Atemlos lauschte er. O, dürfte er das Lied doch als heimlichen Willkommengruß für sich nehmen!

Aber er wußte ja, wie die Dinge lagen.

Oder sollte er sich doch täuschen?

Er freute sich des Liedes, zugleich dachte er an den Spruch vor der Häuslingskate in Vierhöfen und an sein eigenes Leben und wie er nach Tagen tiefer Hoffnungslosigkeit das Vertrauen wiedergewonnen hatte.

Das Lied war drüben längst verklungen, als er das Fenster schloß und in das Wohnzimmer hinunterging, wo der alte Lehrer mit dem Abendbrot auf ihn wartete. Nachdem er seinen alten Platz in der Sofaecke eingenommen hatte, schaute er Herrn Bartels, der ihm gegenübersaß, voll an und sagte: »Wissen Sie noch, wie ich zum erstenmal in dieser Ecke saß, in einer Juninacht? Damals war's anders.«

»Ja, Gott sei Dank, du bist heute ein anderer als damals«, sagte der alte Lehrer.

 

Am folgenden Nachmittage ging Franz Heim von halb fünf Uhr ab unruhig im Küstergarten auf und ab. So oft er an den Zaun kam, warf er einen Blick nach der Tür des Pfarrhauses hinüber. Als sich nach und nach einige Sänger einstellten, zog er sich etwas tiefer in den Garten zurück, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Aber das Pfarrhaus behielt er im Auge.

Endlich öffnete sich die Tür, und Grete Werner trat heraus. Er richtete es so ein, daß er an der Haustür der Lehrerwohnung mit ihr zusammentraf. Die Sänger traten sonst vom Spielplatz her unmittelbar in das Schulzimmer.

»Fräulein Werner«, sagte er, indem er grüßend näher trat, »wir haben öfters von meinem Abendmahlsbilde gesprochen. Darf ich mir vielleicht erlauben, es Ihnen zu zeigen? Ich habe es jetzt hier.«

»Das wäre mir sehr lieb«, meinte sie etwas unsicher. »Aber müssen wir jetzt nicht zum Singen?«

Er zog seine Uhr und sagte: »Wir haben noch genau vier Minuten Zeit. Darf ich Sie bitten, einzutreten?«

Er führte sie in die beste Stube, wo er das Bild in günstigster Beleuchtung aufgestellt hatte. Auch mit dem breiten Goldrahmen, der am Abend vorher angekommen war, hatte er es provisorisch versehen. »Bitte, treten Sie hierher! Von hier muß das Bild betrachtet werden«, sagte er. Sie nahm den ihr angewiesenen Platz ein. Zuerst schaute sie etwas neugierig hin, dann wurde ihr Blick stiller und ernster. Die schlanke Gestalt war leicht nach vorn geneigt und das Auge unverwandt auf das Bild gerichtet. Heim, der klopfenden Herzens neben ihr stand, beobachtete, wie sie das Bild zu sich sprechen ließ. – Nach einer Weile trat sie näher, um die Einzelheiten schärfer zu sehen. Da entdeckte sie in dem Fenster der Dönze die Blumenvase mit der blauen Heide und den weißen Rosen. Sie erschrak. Eine jähe Röte stieg in ihre Wangen, und sie fühlte den Blick Heims auf sich ruhen. Verwirrt senkte sie das Haupt.

In diesem Augenblick begann Herr Bartels im Schulzimmer seine Geige zu stimmen. Sie richtete sich auf und sagte hastig: »Wir müssen zum Singen.« Als sie dabei den Maler schnell anblickte, wurden ihre Augen von seinem ernsten, fragenden Blick festgehalten. Und da schauten sie sich in die Seele. In Heims Augen leuchtete es auf, und sie senkte, noch tiefer errötend, das Haupt.

Nun wandte sie sich zum Gehen. »Eine kleine Frage noch!« bat Heim. »Wollen Sie mir nun helfen, daß das Bild vollendet wird?«

»Wie kann ich das?« fragte sie leise.

»Wollen Sie Ihren Herrn Vater bitten, mir Gelegenheit zu geben, daß ich ihn in das Bild male?«

»Ist denn gerade mein Vater dazu nötig?« fragte sie zögernd, ohne ihn anzusehen.

»Es wäre für mich von größtem Wert, wenn ich das Bild in allem so malen könnte, wie es mir von Anfang an vorschwebte«, sagte er bestimmt.

Einen Augenblick schien es in ihr zu kämpfen. Dann richtete sie sich auf und sagte fest: »Ich will es tun.«

»Nun müssen wir aber zum Singen«, fügte sie schnell hinzu, da Herr Bartels eben anfing, eine Melodie zu spielen. Und schon war sie zur Stube hinaus, um über den Schulhof ins Schulzimmer zu gehen. Dem Maler blieb nun auch nichts anderes übrig, als sich zu den Sängern zu begeben. Er trat durch die Tür, die unmittelbar von der Lehrerwohnung in die Schule führte.

Der Sopran sang diesen Nachmittag etwas unsicher und zerstreut und mußte seine Stimme öfter als sonst wiederholen. Der Tenor dagegen machte seine Sache großartig.

*

Die Pastorsfamilie saß beim Abendbrot. Der Hausherr spähte über den Tisch und sagte schließlich: »Das Salz fehlt.« Grete flog zum Anrichteschrank und brachte es. Dann stand Fritz auf und holte sich ein Messer. »Das ist aber doch zu doll, Grete«, sagte die Mutter vorwurfsvoll, »wo hast du denn heute abend deinen Kopf gehabt?« Sie sah streng zur Tochter hinüber und bemerkte ihre bleiche Gesichtsfarbe. »Du bist doch nicht krank?« fragte sie zärtlicher. »Nein«, sagte diese, vor sich niedersehend.

Sie standen vom Tische auf. Der Vater begab sich nach seiner Gewohnheit zunächst in sein Studierzimmer, die Mutter in die Wohnstube, wo sich dann später die ganze Familie zu versammeln pflegte. Grete ging nach oben auf ihre Kammer. Dort stellte sie sich ans Fenster und drückte die heiße Stirn an die kalten Scheiben. Dann schritt sie unruhig in dem dunklen Raum auf und ab und ließ sich endlich müde auf dem Bettrand nieder. Eine Weile saß sie regungslos.

Als die Turmuhr acht schlug, raffte sie sich auf. Entschlossen erhob sie sich, strich sich das verwirrte Haar glatt und ging die Treppe hinunter. Leise trat sie in das Studierzimmer ihres Vaters, der am Ofen saß und den »Reichsboten« las. Sanft legte sie die Hand auf seine Schulter und sagte: »Vater, ich habe eine kleine Bitte an dich.«

Der Pastor blickte auf, faltete die Zeitung zusammen und fragte: »Nun? Was ist's?«

»Ich war heute nachmittag im Gesangchor.«

»Das weiß ich.«

»Das Singen geht jetzt immer sehr gut. Wir haben in der letzten Zeit einige tüchtige Mitglieder bekommen.«

»Das freut mich.«

Nun herrschte Stille. Der Vater sah seine Tochter verwundert an, und diese wurde immer verwirrter.

Endlich kam sie ohne Umschweife mit ihrem Anliegen heraus: »Ich wollte dich bitten für den Maler, der hier damals auf unserem Missionsfest war. Er hat ein großes Gemälde in Arbeit. Es stellt dar, wie du dem alten Arnsvater, den ihr letzten Donnerstag beerdigt habt, das heilige Abendmahl reichst. Nun möchtest du ihm doch Gelegenheit geben, das Bild zu vollenden, indem du dich auch darauf malen lässest.«

»Aber Kind, wie kommst du denn dazu, mich darum zu bitten?« fragte der Vater erstaunt.

Sie errötete und sagte, den Blick senkend: »Herr Heim, der seit gestern abend bei Herrn Bartels wohnt, hat mir vorhin sein Bild gezeigt und mich gebeten, seine Bitte an dich zu überbringen.«

»Soo! Warum kommt er denn nicht selbst damit über?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Nicht wahr, Väterchen, du tust ihm den kleinen Gefallen. Er ist ja ein Anfänger, und es kommt so viel drauf an, daß dieses große Bild ihm gut gelingt. Er hat schon viele Enttäuschungen erlebt und setzt nun alle Hoffnung auf diese Arbeit.«

»Woher weißt du denn das alles so genau?« fragte der Vater immer erstaunter.

»Herr Heim singt seit einigen Wochen mit in unserem Chor, und da haben wir uns zuweilen gesprochen.«

»Das ist mir ja ganz neu.«

»Herr Bartels«, fuhr sie eifrig fort, »ist sehr froh über dieses neue Mitglied. Gerade im Tenor konnten wir einen so sicheren Sänger gut gebrauchen. Du weißt ja, Riggers, der auch ganz gut sang, ist Ostern ausgetreten.«

»Weiß Mutter schon davon?«

»Nein«, antwortete sie unsicher.

Als ob man sie gerufen hätte, trat in diesem Augenblick die Frau Pastorin ein. »Wo bleibt ihr denn so lange?« fragte sie ärgerlich. »Ich warte schon eine Viertelstunde auf euch.«

»Wir haben etwas zu besprechen«, sagte der Vater.

»Da darf ich doch auch wohl dabei sein«, meinte sie und setzte sich breit mitten in das großblumige Sofa. »Na, was gibt's? Oder handelt es sich um ein Geburtstagsgeheimnis?«

»Nein. Nun, Grete, erzähle Mutter die Sache«, sagte der Vater.

»Ach bitte, tu du's«, bat sie.

Der Pastor lehnte sich zurück und sagte: »Na, denn man los! Also die Sache ist kurz die: Herr Heim, der seit einiger Zeit mit unserer Grete in Herrn Bartels' Chor singt – ich finde das sehr nett und freundlich von dem jungen Mann, daß er es sich unter den einfachen Bauersleuten wohl sein läßt, und werde ihm für seine treue Hilfe noch besonders danken – also Herr Heim hat ein großes Gemälde in Arbeit, das er heute, nachdem er gestern abend nach hier übergesiedelt ist, unserer Grete gezeigt hat. Da das Bild nun ein Krankenabendmahl hiesiger Gemeinde darstellt und ich der zeitige pastor loci bin, so kann er mich auf dem Bilde nicht gut entbehren und läßt mich durch Grete bitten, ihm einige Sitzungen zu gewähren. Was meinst du dazu, liebe Frau?«

Die liebe Frau meinte zunächst gar nichts. Sie rang nach Atem und sah mit starrem Blick bald den Mann und bald die Tochter an.

In diesem Augenblick traten Hans und Fritz ein, die im Wohnzimmer die Dominosteine ausgepackt und vergeblich auf die Mitspieler gewartet hatten. Ihnen gegenüber fand Frau Pastorin zuerst ihre Sprache wieder: »Macht, daß ihr ins Bett kommt!« »Aber, Mutter, es ist ja erst halb neun«, sagten beide gleichzeitig. »Schadet nichts! Marsch mit euch!« lautete der Befehl, der keinen Widerspruch zuließ. Die armen Jungens zogen mit dem Gefühl ihrer gekränkten Rechte ab. Für die Sonntage war ihnen ja ein für allemal das Aufbleiben bis neun Uhr bewilligt. Bis gegen zehn Uhr murrten sie noch in ihren Betten.

Inzwischen hatte die Mutter sich so weit gefaßt, daß sie wenigstens ihre Meinung zu der in Frage stehenden Angelegenheit sagen konnte. »Was ich dazu meine? Da bin ich ganz und gar gegen. Was? Du willst dich auf ein Bild malen lassen, das womöglich durch die ganze Welt reist, und dich überall von den Leuten angucken lassen?«

»Warum denn nicht?« fragte er, etwas belustigt, »sehe ich denn so garstig aus, daß ich mich schämen muß?«

»Und wenn Herr Heim noch was draus machte!« fuhr sie eifrig fort. »Was hat der denn bisher geleistet? Gehört hat man doch davon noch nichts.«

»Frau, wir beide haben das Bild noch nicht gesehen und können nicht urteilen. Grete, wie hat es dir gefallen?«

»Ich weiß gewiß, Vater«, sagte sie leise und sich enger an ihn schmiegend, über die unerwartete Bundesgenossenschaft froh, »wenn du das Bild siehst, wirst du eine herzliche Freude daran haben.«

»Was versteht denn das Gör von Bildern!« eiferte nun Frau Pastorin gegen die Tochter. »Du solltest dich man besser um die Küche und den Haushalt bekümmern, statt dich in Dinge zu mischen, die dich nichts angehen und von denen du nichts verstehst. Was geht denn dich der hergelaufene Maler an!«

»Mutter!« schrie Grete auf. Sie hatte den Mund geöffnet, um noch mehr zu sagen. Aber sie preßte die Lippen aufeinander und ging hinaus.

Die Mutter sah ihr überrascht und erschrocken nach. Dann zerknitterte sie eine Drucksache, die vor ihr auf dem Tisch lag, und sagte mit bebender Stimme: »Da haben wir die Bescherung. Man sitzt im Hause, ahnt nichts Arges, und drüben im Schulhause geht der alte Schleicher, der Küster, bei und verkuppelt einem die einzige Tochter.« Zornig stopfte sie das zerknitterte Papier in die Sofaecke.

»Frau«, rief der Pastor jetzt mit Nachdruck, »ich verbitte mir energisch, daß du so von unserm alten Küster sprichst. Du weißt ganz gut, daß er kein Schleicher und Kuppler ist. Sei doch vernünftig und beruhige dich! Es handelt sich hier lediglich um die Frage, ob ich dem jungen Maler seine kleine Bitte erfüllen will oder nicht.«

»Nein! Nein!« rief sie. »Onkel Julius hat sich auch einmal malen lassen, und nachher sagte er: ›Niemals wieder!‹ Das ewige Stillsitzen soll furchtbar anstrengen.«

»Na, wenn anders nichts ist! Ihr Pastorenfrauen sollt eure Männer nur nicht immer in Watte packen. Sonst werden wir alle solche Ruinen, wie unser alter Nachbar Beermann eine ist.«

»Aber das sage ich dir, Friedrich, meine Stuben gebe ich dazu nicht her. Ich habe keine Lust, nachher die Öl- und Farbenflecken wieder aus dem Fußboden zu scheuern und mir die guten Möbel verderben zu lassen.«

»Sollst du auch nicht. Ich werde in das Schulhaus hinübergehen. Dann brauchst du den schrecklichen Menschen gar nicht zu sehen, und deine Tochter bleibt auch vor seinen Blicken bewahrt.«

Sie wollte noch einmal wieder anfangen, aber er bat: »Bitte, Mariechen, tu mir den einzigen Gefallen und schweig jetzt still! Ich kann dem Maler unmöglich die kleine Bitte abschlagen, und damit Punktum! – Wir haben uns ja immer gut vertragen und wollen uns doch wegen solcher Lappalie nicht erzürnen. Ich will mal sehen, wo Grete steckt.«

Er ging und fand die Tochter in dem dunklen Eßzimmer. »Komm, Grete«, sagte er liebevoll, »ich werde morgen früh zu Herrn Heim hinübergehen und ihm seinen Wunsch erfüllen.« Als er mit ihr auf den erleuchteten Flur kam, sah er, daß ihre Augen gerötet waren. »Was? Du hast geweint, Kind?« Statt einer Antwort gab sie ihm zwei Küsse. Auch die Mutter mußte sich halb widerwillig einen Kuß gefallen lassen. Noch nie hatte sie an einem Kuß von dem roten, weichen Mund der geliebten Tochter so wenig Freude gehabt.

Die Wolken von diesem Gewitter am ehelichen Himmel – ein so schweres war zum Glück noch niemals vorgekommen – standen noch tagelang am Horizont, und einige Male schien es, als ob sie sich noch wieder zu einem Gewitter zusammenballen wollten. Aber endlich verzogen sie sich doch. Frau Pastorin gab der Geschichte allmählich eine harmlosere Auslegung und freute sich über ihre Tochter, die nach der Zerstreutheit der letzten Wochen nun wieder so fleißig und aufmerksam war, wie sie es bei ihrem lieben, gehorsamen Kinde gewohnt war.

*

Franz Heim war am andern Morgen eben zu seinem Bilde gegangen, als es an die Tür klopfte und der Pastor, den Talar auf dem Arm, bei ihm eintrat. »Ich höre von meiner Tochter, daß Sie mich für Ihr neuestes Gemälde wünschen, und stehe Ihnen zur Verfügung. Ach, da ist es ja.« Als er es eine Weile betrachtet hatte, sagte er: »Es ist mir eine Freude, daß ich auf diesem Bilde auch ein Plätzchen finden soll.« Der Maler dankte für das freundliche Entgegenkommen und ging dann sofort an die Arbeit. Die halb niedergelassenen Vorhänge und die Stummel der Kirchenlichter, die nach altem Recht dem Küster zufallen, schufen annähernd die Beleuchtung, die in der Häuslingsstube geherrscht hatte.

Der Pastor kam nun jeden Vormittag gegen halb elf, wenn er seine Jungens unterrichtet hatte. Die Langeweile, mit der seine liebe Frau ihn bange gemacht hatte, trat durchaus nicht ein. Im Gegenteil, es waren für ihn anregende Stunden, eine schöne Erholung nach der Paukerei mit Hans und Fritz. Gern hätte er den Maler, mit dem er von Tag zu Tag lieber verkehrte, für die Abende in sein Haus eingeladen. Aber diesen Schmerz mochte er seiner Frau doch nicht antun. Sie machte schon immer ein schrecklich böses Gesicht und überhäufte ihn nachher mit Vorwürfen, wenn er bei Tisch nur einmal von ihm sprach.

Als es wieder Sonntagnachmittag geworden war, erlebte Franz Heim die Enttäuschung, daß Grete nicht zum Singen kam. Wie hatte er sich darauf gefreut, da er sie die ganze Woche nur aus der Ferne gesehen hatte! Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte die Mutter für Sonntag abend einen so komplizierten Küchenzettel aufgestellt, daß sie nicht abkommen konnte.

Am folgenden Dienstag ging der Pastor zum letztenmal ins Küsterhaus hinüber. Als die Arbeit vollendet war, überreichte der Maler ihm ein Bild in hübschem, weißem Birkenrahmen und sagte: »Erlauben Sie, Herr Pastor, daß ich Ihnen dieses Ihr Porträt mit herzlichem Dank für Ihre Mühe und Geduld übergebe. Ich habe es in den Mußestunden der letzten Tage nach dem Gemälde hier gemalt.« Der Empfänger machte große Augen und war aufs angenehmste überrascht. »Das paßt ja herrlich«, sagte er, indem er das gut getroffene Bildnis besah und dem Maler die Hand schüttelte. »Meine Frau hat Donnerstag Geburtstag, und ich wußte noch immer nicht, was ich ihr schenken wollte. Nun bin ich ja mit einem Mal aus der Verlegenheit heraus. Sonst hätte ich morgen noch nach Celle müssen. Haben Sie herzlichen Dank!« Er packte das Bild, dessen Farben noch nicht ganz getrocknet waren, in einen Karton, wickelte diesen in seinen Talar und brachte den Schatz unbemerkt in seine Studierstube. Dort verschloß er ihn im Aktenschrank.

Der Geburtstagmorgen kam. In dämmernder Frühe brachten die Kinder nach der Sitte des Hauses dem Geburtstagskinde ein Ständchen, und als es dann bald darauf erschien, geleiteten sie es an den Geburtstagstisch. »Ei, ei!« sagte sie und bewunderte den Tischläufer, den Grete heimlich gestickt hatte. Dann nahm sie das Nähkästchen in die Hand, die gemeinsame Laubsägearbeit der beiden Jungens. Und als sie nun das Tuch hinwegzog, das ihres Mannes Geschenk verhüllte, da schaute dessen Bild aus dem sauberen, weißen Naturrahmen sie freundlich und lebhaft an. »Woher hast du denn das?« fragte sie, auf das höchste überrascht. »Das kannst du dir wohl denken«, sagte er lächelnd. Sie wurde ein wenig rot und verlegen und sagte, das Bild aufs neue betrachtend: »Aber das muß man sagen, wunderschön getroffen ist's. So ein hübsches Geschenk hast du mir noch nie gemacht.« »Also du freust dich doch? Das ist ja man gut«, setzte er, behaglich die Hände reibend, hinzu. »Es ist nur schade«, fuhr er dann fort, »daß wir nicht auch ein solches Bild von dir haben. Das gäbe einen wunderschönen Schmuck für die beste Stube.« »Ja, freilich«, antwortete sie, die Worte nachdenklich dehnend.

*

Sie konnte es nicht wieder vergessen: »Wenn wir doch auch solch ein Bild von dir hätten!« In gut vierzehn Tagen feierte ihr Eheherr seinen Geburtstag. »Wenn sie ihn dann mit ihrem Bilde überraschen könnte! Früher hatte sie das einmal mit einer großen Fotografie versucht, aber das war kläglich ausgefallen. Bei dem Dankesagen hatte ihr Mann ein so süßsaures Gesicht gemacht, und in einer offenherzigen Stunde hatte er rundweg erklärt, sie könnte alles von ihm verlangen, nur nicht dies, daß er dieses fürchterliche Bild mit dem matten, schmachtenden Augenaufschlag, der seiner frischen, munteren Frau so gar nicht anstehe, in seinem Zimmer aufhängen sollte. Wenn sie sich nun malen lassen könnte! Das würde gewiß anders ausfallen. – Aber, ach was! Sie wollte ja mit dem Maler gar nichts zu tun haben. Sie schlug sich den Gedanken aus dem Sinn.

Aber nach dem Mittagessen, als sie sich ein wenig hingelegt hatte, kam er wieder. Sie dachte, wenn sie das Bild bestellte und bezahlte, dann wäre das ein Geschäft wie jedes andere und hätte sonst nichts zu bedeuten. Aber sie wurde doch wieder bedenklich. Vorm Einschlafen am Abend war sie fest entschlossen, den unbesonnenen Streich, der den Maler näher an ihr Haus heranziehen könnte, nicht zu machen.

Als sie aber am andern Tage das schöne Geburtstagsgeschenk noch einmal liebevoll betrachtete, wurde doch wieder der Wunsch in ihr lebendig, das Gegenstück zu besitzen. Und nun dachte sie schon darüber nach, wie das am besten zu machen wäre. Als nach dem Kaffee ihr Mann und die Kinder den gewöhnlichen Spaziergang angetreten hatten, da machte sie sich schnell besuchsfertig und stahl sich über die Straße ins Küsterhaus.

Franz Heim machte sehr verwunderte Augen, als plötzlich die unnahbare Frau Pastorin bei ihm eintrat. Höflich bat er sie, Platz zu nehmen. »Mein Mann«, so begann sie etwas stockend, »hat mir viel von Ihrem wundervollen Abendmahlsbilde erzählt. Da möchte ich Sie nun bitten, mir es auch zu zeigen, wenn es Ihnen nicht zu große Mühe macht.«

Der Maler zuckte die Achseln und sagte: »Ich bedaure sehr, daß ich Ihnen damit nicht dienen kann, Frau Pastorin. Das Bild ist leider heute gerade zur Ausstellung nach München abgegangen.«

»Ach so ... das ist ja sehr schade. Aber ich habe noch etwas anderes auf dem Herzen. Sie haben meinen Mann gemalt, und ich möchte Ihnen danken für das ausgezeichnete Bild, mit dem er mir eine große Geburtstagsfreude gemacht hat ... Mein Mann bedauerte nur, daß er nicht auch ein solches Bild von mir besäße. Ich habe schon gedacht, mal wieder zum Fotografen zu gehen. Aber da werde ich nie gut, und ich fürchte, mit einer Fotografie würde ich ihm, wenn er heute in vierzehn Tagen Geburtstag feiert, keine rechte Freude machen. Er sagt immer, ich steckte da jedesmal ein besonderes Fotografiergesicht auf, das er nicht ausstehen könnte ...«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche«, sagte jetzt der Maler. »Wenn ich Ihnen mit meiner Kunst, die ja jene Gefahr des Unnatürlichen vermeiden kann, dienen dürfte, so würde mir das eine besondere Freude sein. Ich habe jetzt viel Zeit, da meine beiden größeren Arbeiten vollendet sind und ich einstweilen nichts Größeres anfangen möchte. Ich stehe Ihnen mit meiner Zeit ganz zur Verfügung und bitte Sie, nur zu bestimmen.«

»Es ist zu freundlich von Ihnen«, sagte Frau Pastorin mit ihrem liebenswürdigsten Gesicht. »Sie haben gleich erraten, was ich kaum sagen mochte. Natürlich müßten wir die Sache so einrichten, daß mein Mann nichts merkt. Nun macht er nachmittags nach dem Kaffee seinen regelmäßigen Spaziergang. Es fällt weiter nicht auf, wenn ich davon zurückbleibe. Dürfte ich Sie nun bitten, um diese Zeit, sagen wir um vier Uhr, zu mir herüberzukommen?«

»Mit tausend Freuden! Morgen bin ich pünktlich bei Ihnen«, sagte Heim, sich leicht verneigend.

Damit ging Frau Pastorin ihrer Wege, froh, die Angelegenheit so gut in Ordnung gebracht zu haben. Als sie das Schulhaus verließ, blickte sie rechts und links die Straße hinunter und freute sich, daß kein Mensch zu sehen war.

Heim stellte sich am andern Tage pünktlich ein. Er kam mit der frohen Hoffnung, bei der Mutter die Tochter zu finden. Doch diese ließ sich nicht sehen, und auch die nächsten Tage nicht, so sehr er auch von einem Mal auf das andere darauf hoffte.

Anfangs versuchte Frau Pastorin wohl noch einmal, das alte unnatürliche Fotografiergesicht zu machen. Auf die Länge ließ sich das aber nicht festhalten, und bald gab sie sich, wie sie war. Das schlichte, natürliche Wesen des Malers trug auch wohl dazu bei. Sie fand überhaupt bald heraus, daß dieser der verstiegene, leichtsinnige Künstler nicht war, als den sie ihn sich immer vorgestellt hatte. Wie wußte er so nett zu erzählen von der Einrichtung und Benutzung des Hauses zu Lebzeiten seiner Eltern! Einiges erschien der Frau Pastorin so praktisch, daß sie danach kleine Änderungen vorzunehmen beschloß. Andererseits erkannte der junge Mann auch manche Einrichtung, die sie getroffen, als zweckmäßiger an. Als sie über die Tapeten sprachen, die sie selbst vor einigen Jahren ausgesucht und gegen ihren Mann durchgesetzt hatte, erkannte der Maler, der sich doch darauf verstehen mußte, den in dieser Auswahl bewiesenen Geschmack mit Bewunderung an. So kam es, daß es ihr jedesmal leid tat, wenn sie im Blick auf den vorrückenden Zeiger der Kuckucksuhr sagen mußte: »Herr Heim, ich glaube, wir müssen aufhören. Sonst werden wir überrascht.«

*

Acht Tage etwa waren so verstrichen, das Bild ging seiner Vollendung entgegen, Heim, der eben wieder zum Aufbruch rüstete, erklärte gerade, daß er in drei bis vier Tagen fertig sein könne, da führte Doris, die nicht für die Förmlichkeit des Anmeldens war, Besuch ins Zimmer – Pastor Fredrich aus Prelle. Der Frau Pastorin, die tödlich erschrak, fiel sofort ein gewisser feierlicher Zug in seinem Gesicht auf, sie bemerkte aber auch ganz gut den Schatten, der über seine Züge ging, als er des Malers ansichtig wurde. Als sie sich von der ersten Überraschung erholt hatte, sagte sie: »Seien Sie uns herzlich willkommen, Herr Pastor! Leider sind mein Mann und die Kinder nicht zu Hause, aber sie werden bald da sein.« Inzwischen hatte Heim die Arbeit unterbrochen und wollte sich empfehlen. Die paar höflichen Worte der Frau Pastorin, die ihn zum Bleiben bewegen sollten, nahm er nicht für Ernst, und diese war froh, als er zur Tür hinaus war.

Sie eilte in die Küche, um ihrem Gast eine Tasse Kaffee zu besorgen. »Daß der Unglücksmensch nun gerade den Maler hier treffen muß!« murmelte sie vor sich hin. Dann fiel sie über das Mädchen her: »Heww ick di datt nich seggt, du schöllst fienen Besök erst anmellen und nich so bautz in de Stuw rinstöten.« hineinstoßen »Ick meente ...« entschuldigte Doris ... »Ach wat, meenen! Du schast nich meenen. Du schast don, wat di seggt ward.« Doris machte ein zerknirschtes Gesicht und dachte, wenn doch ihr August man bald Ernst machte. Das Dienen hätte sie nachgerade satt.

Als Frau Pastorin wieder zu ihrem Gast eintrat, entschuldigte sich dieser, daß er gestört habe. Er habe sich das Bild angesehen. Herr Heim scheine wirklich Talent zu haben.

»Sie stören nie, Herr Pastor«, sagte sie mit Nachdruck. »Sie wundern sich gewiß, uns hier so getroffen zu haben. Nun, ich lasse mich malen, für meines Mannes Geburtstag. Doch halt, ich muß das Bild schnell noch fortstellen, damit er's nicht sieht.«

Als sie es in die Fremdenkammer gebracht hatte, sagte der andere, auf die Wand weisend: »Da hängt ja auch das Bild von Ihrem Herrn Gemahl. Das hat Herr Heim auch wohl gemalt?«

»Ja«, sagte sie und biß sich auf die Lippen.

»Ich meinte aber doch, der Herr wohnte zwei Stunden von hier, in Vierhöfen, wenn ich nicht irre.«

»Ja, da hat er auch gewohnt. Vor kurzem ist er nach hier übergesiedelt.«

»Da wohnt er wohl hier bei Ihnen im Hause?« forschte der andere unbarmherzig weiter.

»Ich bitte Sie, Herr Pastor! Er wohnt bei seinem alten Lehrer, Herrn Bartels.«

Nun hörte man im Garten die Stimmen der Zurückkommenden, und bald traten Vater und Tochter ins Zimmer, um den Gast zu begrüßen.

Es dauerte nicht lange, da wurde Pastor Werner gerufen, um einem Bauern den Geburtsschein seiner Mutter auszustellen. Er mußte lange suchen, da der Mann die Zeit der Geburt nur auf ein Jahrzehnt etwa angeben konnte. Grete ging in die Küche, um das Abendbrot zu bereiten. Aber die Mutter kam ihr sofort nach und sagte bestimmt: »Dafür sorge ich. Du widmest dich unserm Gast.« Die Tochter gehorchte.

Von Zeit zu Zeit schlich die Mutter auf Socken in die Fremdenkammer und lauschte an der Tür. Sie schwebte zwischen Furcht und Hoffnung. Ob es heute endlich zur Aussprache kommen würde? Der junge Pastor hatte ihr ganz den Eindruck gemacht, als ob er die Absicht hätte, sich zu erklären. Wenn nur das fatale Zusammentreffen mit dem andern nicht gewesen wäre! – Als sie zum erstenmal an der Tür horchte, war es drinnen sehr still. Das gab ihr Hoffnung. Aber sie mußte wieder in die Küche. Als sie nach einigen Minuten mit bangem Herzklopfen wiederkam, sprachen sie drinnen von der Obsternte. Beide waren sich darüber einig, daß es ein sehr gutes Obstjahr sei. Arg enttäuscht ging sie an ihre Bratpfanne zurück, in der die Kartoffeln für den Abendtisch lustig brieten.

Beim Abendbrot ging es ziemlich einsilbig zu. Es lag auf der ganzen Gesellschaft wie ein Druck. Als der Gast sich bald darauf verabschiedete, sagte Frau Pastorin mit etwas gequälter Liebenswürdigkeit: »Auf recht baldiges Wiedersehen!« Der andere meinte aber, im Winter gäbe es viel zu tun und die Wege seien mit dem Rad schlecht zu passieren. Damit radelte er von dannen.

Kein Mensch im Hause wußte, was Frau Pastorin heute abend hatte. So ärgerlich und verdrießlich war sie noch nie gewesen. Der Hausherr hielt es für das klügste, sich früher als gewöhnlich in sein Studierzimmer zurückzuziehen. Grete ging der Mutter scheu aus dem Wege. Die Jungens brummten in ihren Betten, die sie wieder zu früh hatten aufsuchen müssen. Doris wurde in dem Entschluß, ihren August zur Aussprache zu bringen, befestigt. In ihrem Ärger durchstreifte die Gefürchtete das ganze Haus, und so kam sie auch schließlich in die verschlossen gehaltene Fremdenkammer, in der ihr unvollendetes Bildnis stand. Das dumme Bild, das war an allem schuld! Giftig sah sie es an. – Zufällig stand es neben dem Spiegel. So erblickte sie sich zweimal, einmal auf dem Bilde und daneben im Spiegel. Da fiel ihr plötzlich der Gegensatz zwischen dem freundlichen Ausdruck des Gemäldes und dem grimmigen, verärgerten Gesicht im Spiegel auf. Sie schämte sich und versuchte vor dem Spiegel ein freundlicheres Gesicht zu machen. Schließlich hatte sie damit auch einigen Erfolg.

Als sie zu Bett gegangen war, konnte sie lange keinen Schlaf finden. Ihr Lieblingsplan, den sie Monate lang gehegt hatte und der nun so kläglich gescheitert war, trat ihr immer wieder vor die Seele. Endlich versuchte sie, der Sache eine andere Seite abzugewinnen. In Prelle war es für eine junge Frau doch sehr einsam. Und vielleicht hatte das Mißtrauen, das die älteren Herren gegen den jungen Pastor Fredrich hegten, doch seine guten Gründe. Vielleicht war es ein Glück, daß es so gekommen war. Diese Gedanken beruhigten sie so weit, daß sie einschlafen konnte.

Mit dem neuen Tage erwachte der alte Schmerz von neuem. Es wäre doch zu schön gewesen! Und an allem schuld war der Maler. Mit dem wollte sie nichts mehr zu tun haben. »Doris«, sagte sie zu dem Mädchen, das in das Geburtstagsgeheimnis eingeweiht war, »gah in dat Kösterhus un segg to den Maler, he scholl man vört erste nich wedder kamen!« Doris strich sich mit der Hand das Haar glatt, band eine reine Schürze vor und wollte hinübergehen. Aber da widerrief Frau Pastorin ihren Auftrag auch schon: »Nee, bliew man erst hier!« Nein, das ging doch nicht. Sie konnte den Mann, der ihr so gefällig gewesen war, nicht auf diese Weise zum besten haben. Was half es auch, den Stall zu verriegeln, nachdem das Pferd gestohlen war. Es mußte nun gehen, wie es ging.

Als Franz Heim am Nachmittag kam, machte es ihm viel Mühe, der Frau Pastorin ein so freundliches Gesicht abzugewinnen, wie er es zu malen wünschte. Und als er eben recht in Gang gekommen war, wurden sie wieder gestört!

Leichte Schritte huschten über den Flur, Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen, Frau Pastorin sprang auf, aber schon ging die Tür, und herein trat – Grete.

»Hier bist du?« fragte sie munter, da erblickte sie den Maler und blieb wie angebannt stehen. Ratlos schaute sie abwechselnd auf diesen, in dessen Augen es froh blitzte, und auf ihre Mutter, die ärgerlich fragte: »Wo kommst du denn schon her? Ihr seid ja erst eine halbe Stunde weg.«

»Vater wurde unterwegs zu einem Kranken gerufen. Da bin ich umgekehrt. Aber was ist denn das hier?«

»Na, nun bist du leider doch dahintergekommen. Herr Heim malt mich für Vaters Geburtstag. Es sollte für euch alle eine Überraschung sein.«

Das junge Mädchen trat näher: »Ja, ja, das ist mein Mütterlein!« Damit flog sie stürmisch auf ihre Mutter zu und küßte sie einmal über das andere. Solche warmen Küsse hatte diese lange nicht mehr von ihrem Töchterlein bekommen. »Wie wird sich Vater freuen!« jubelte sie. Und dann wandte sie sich zu dem Maler, gab ihm die Hand und sagte: »Wie nett ist's, daß Sie mir mein Mütterlein malen!« Dabei sahen sie sich übermütig an, was die Mutter mit Schmerz bemerkte.

Das Geheimnis wurde gut gehütet. Einige Tage vor dem Geburtstag war das Bild vollendet und mit dem gleichen Rahmen versehen wie das Bild des Pastors. Sehr unangenehm war es der Frau Pastorin, daß der Künstler jede Bezahlung entschieden und fast als eine Beleidigung zurückwies. »Betrachten Sie, bitte«, sagte er, »das Bild, das ich in den Mußestunden gern hingeworfen habe, als einen schwachen Ausdruck meines Dankes dafür, daß Sie mir erlaubt haben, Ihren Herrn Gemahl für mein großes Gemälde in Anspruch zu nehmen.« Da sah sie ihn etwas verlegen und unsicher an.

Als einige Tage darauf am Geburtstagmorgen der Pastor die Hülle von dem Geschenk seiner Frau hinwegnahm, war er sprachlos vor Verwunderung.

»Da hast du, was du dir gewünscht hast«, sagte sie.

»Wer hat das Bild denn gemalt?«

»Das kannst du dir doch wohl denken.«

»Wann habt ihr denn das gemacht?« fragte er, noch immer aufs höchste verwundert.

»Nachmittags, wenn du spazieren gingst.«

»Das ist ja ganz wunderschön! Sieh mal, Frau, was du hier auf dem Bilde für ein freundliches Gesicht machst! So mag ich dich leiden. Das könntest du mir auch wohl zum Geburtstag schenken, daß du in diesem ganzen neuen Lebensjahre immer dieses Gesicht machst. Willst du?«

»Wollen mal sehen, was sich tun läßt«, meinte sie lächelnd. »Es kommt darauf an, ob ihr es danach macht.«

»Na, und wie wollen wir heute meinen Geburtstag feiern?« fragte er weiter. »Wollen wir nicht den jungen Maler und Herrn Bartels für heute nachmittag einladen?«

»Ach, ich denke, wir bleiben doch lieber unter uns«, sagte sie und zog die Unterlippe ein wenig kraus.

»Frau, so mußt du aussehen«, sagte er und hielt ihr das Bild unter die Augen. »Übrigens ist heute mein Geburtstag, und da kann ich mir einladen, wen ich will. Hans, du gehst gleich hinüber und bittest die beiden Herren zum Kaffee! Sie möchten gegen drei Uhr kommen.«

*

Franz Heim stellte sich pünktlich ein und wurde in das Familienzimmer geführt. Herr Bartels konnte erst gegen vier Uhr, nach Schluß der Schule, kommen. Als die Geburtstagsglückwünsche dargebracht waren und von der anderen Seite der Dank für das schöne Bild, fragte Frau Pastorin: »Aber, Herr Heim, was haben Sie denn nur? Sie sehen ja so überglücklich aus. Haben Sie auch Geburtstag?«

»Das nicht, aber lesen Sie, bitte, dieses Papier!«

Er griff in die Tasche und überreichte der Frau Pastorin ein Telegramm. Sie las es für sich durch, während alle Augen gespannt auf sie schauten und die des Malers leuchtend auf Grete ruhten. Dann las sie: »Ihr ›Letztes Abendmahl‹ von besonderer Seite für Ankauf in Aussicht genommen. Bedingungen stellen.«

Franz Heim sah, wie die helle Freude über Gretes liebliches Gesicht flog und ihr aus den blauen Augen leuchtete. Dann fanden sich ihre Augen in glücklichem Begegnen. Und nun umringten alle den Maler, schüttelten ihm die Hand und gratulierten herzlich. Der Pastor erklärte dieses Telegramm für seine schönste Geburtstagsfreude.

Grete ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen, die Jungens hatte die Unruhe in den Garten getrieben. Da wurde Heim plötzlich ernst, und, still vor sich hinblickend, sagte er einfach: »Ich habe hier in der alten Heimat viel gefunden. Ich habe mein Vertrauen wiedergefunden. Und ich habe meine Kunst gefunden. Aber ich glaube, ich habe noch mehr gefunden – das Schönste und Beste, was ein Menschenherz finden kann ... ein anderes liebes, treues Herz. Einstweilen gehört dieser Schatz noch Ihnen. Und nun möchte ich Sie fragen: Darf ich haben und behalten, was ich gefunden habe?«

Die Pastorsleute schwiegen. Endlich fragte der Pastor: »Sind Sie wirklich so gewiß, daß Sie gefunden haben?«

»Ich glaube es«, sagte Heim.

»Wollen Sie sich davon nicht lieber zunächst fest überzeugen?« fragte der Pastor.

»Darf ich?« fragte mit frohem, dankbarem Blick der Maler.

»Ja«, sagte der Pastor.

»Ja«, wiederholte etwas leise und kleinlaut die Frau Pastorin.

»Wir machen nachher einen gemeinsamen Spaziergang«, sagte der erstere mit freundlichem Lächeln.

*

Als der alte Lehrer eingetroffen war, setzte man sich an den Kaffeetisch. Dann wurde aufgebrochen. Durch den Garten und über die Wiesen ging es in den herbstlichen Wald.

Die Jungens streiften seitwärts durch das Gebüsch. Die drei Alten gingen sehr gemächlich. So fanden Franz Heim und Grete, die vorangingen, sich bald auf einem einsamen Waldwege allein.

»Fräulein Werner«, begann nach längerem Schweigen der Maler, »ich habe hier in unserer schönen Heimat viel gefunden: treue Lehrmeister, den lieben alten Herrn Bartels und den unvergeßlichen Arnsvader, und durch sie meine Kunst, ... und ich glaube ... ich habe noch mehr gefunden ... Habe ich?«

Er war stehengeblieben und schaute sie fragend an. Sie hatte das Haupt tief gesenkt. Nun erhob sie es, und ein leises »Ja« kam über ihre Lippen.

Da breitete er seine Arme aus und drückte den herrlichen Fund fest an sein Herz. Und sie hielten sich in langer, schweigender Umarmung.

Nun kamen die beiden Jungens um die Wegebiegung. Sie standen starr. »Das ist doch zu doll!« sagte Hans und ging mit strengem Gesicht näher. Aber der Maler rief überglücklich: »Jungens, seht nicht so dumm drein! Kommt und gebt mir einen Kuß! Eure lüttje Schwester ist meine liebe, kleine Braut!«

Jetzt gingen sie zusammen den Eltern entgegen. »Gefunden!« jubelte der glückliche Finder ihnen schon aus der Ferne zu.

Der alte Lehrer trat zur Seite und sah mit stillen, frohen Augen das jubelnde Glück seines jungen Freundes. Als der erste Sturm sich ein wenig gelegt hatte, trat er heran, ergriff ihn bei der Hand und sagte mit bewegter Stimme: »Franz, weißt du noch, was du mir in jener Juninacht gar nicht glauben wolltest? Nun bist du doch wieder ganz bei uns zu Hause, bist doch wieder ein rechter Heidjer geworden. Und so glücklich, wie du jetzt bist, konntest du nur bei uns werden, in der Heideheimat ...«

*


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