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Auf der Trommel.

Lang hatten die Kinder von Vater und Mutter nichts erfahren. Die Großmutter mochte wohl die Briefe, die sie von der Mutter bekam, vor ihnen verbergen. Öfter als Koja ließ die Schwester ihre Sehnsucht laut werden: »Ich möcht' zu der Mutter!« Da pflegte die Großmutter zu trösten: »Wenn die Zwetschgen blau werden und die Äpfel rote Backen kriegen, dann kommt die Mutter und holt euch.«

Und so geschah es auch.

Die Ernteferien waren vorüber. Der Wind fegte über die Stoppelfelder, wo große Scharen von Gänsen emsig weideten. Und bei den Gänsescharen hielten alte Weiblein Wache. Auch lungerten da Buben herum, Gänsehirten, die nichts zu tun hatten als ab und zu eine Gans zurückzutreiben, die sich auf einen fremden Acker verirrt hatte, und die Schar heimzutreiben, wenn es Abend wurde.

Ein sonniger Tag. Altweibersommer. Seidenfäden in den Lüften. Koja war nach der Schule in den Wald gegangen. Agi saß neben der Großmutter im Vorgarten; sie strickten um die Wette jede an einem wollenen Strumpf für Koja. Und sooft sie die Augen hoben, ruhten ihre Blicke in stillem Entzücken auf dem blühenden Kaktus, der im grellen Sonnenschein hinter dem schmiedeeisernen Fenstergitter stand. Und sie genossen das liebliche Weilchen wie eine Gnade.

Da erscholl fernher vom anderen Dorfende ein Trommelwirbel, dem ein noch unverständliches eintöniges Ausrufen von irgend etwas folgte, dann wieder ein Trommelwirbel. – Pause. Und dann klang es näher; der Trommler und Ausrufer mochte in der Mitte des Dorfes sein. Die Großmutter zog sich in die Stube zurück. Agi folgte ihr. »Was ist das, Großmutter?« – »Der Gemeindediener trommelt etwas aus. Vielleicht ist wieder eine Bauernwirtschaft ›auf der Trommel!‹«

Die Großmutter stellte sich strickend ans Fenster. Wieder ging ihr Agi nach. Da schauten sie auf die Straße hinaus, zwischen den blühenden Geranien und Fuchsien und den schmiedeeisernen Schnörkeln des alten Fenstergitters durch. Sie sahen eine Schar Kinder um die Ecke biegen, dahinter kam würdevoll der alte Gemeindediener in seiner abgetragenen Soldatenuniform, den Säbel in messingbeschlagener Scheide an der Seite, die Trommel am breiten Schulterriemen vor sich. Ihm folgten einige alte Weiber und Bauern.

Der Trommler blieb stehen, der Schmiede zugekehrt. In lockerem Halbkreis umstanden ihn die Gaffer; Schmied, Gesell und Lehrbub traten aus der Werkstatt zu ihnen.

Als der Diener des Gesetzes die beiden Schlägel in die Hände nahm, trat sofort erwartungsvolle Stille ein. Er schlug den Wirbel kunstgerecht wie ein Regiments-Tambour, entnahm der Brusttasche ein Schriftstück und verlas mit lauter, weithinschallender Stimme die Verkündigung: »Das Kaiserliche Königliche Bezirksgericht Holitz ordnet für Dienstag, den 20. September, 8 Uhr früh, die öffentliche Versteigerung des Lorentischen Wirtshauses zu Daschitz an. Alles liegende und bewegliche Gut geht über an den Meistbietenden. Die Kauflustigen werden zu dieser Lizitation eingeladen. Die Ausgleichsverhandlung der Gläubiger findet am 25. September um 8 Uhr im Zimmer 13 des Bezirksgerichtes statt.« Wieder ein Trommelwirbel, dann Stille und dann ein Geschnatter vieler Stimmen.

Einige von den Gaffern machten lange Hälse, um hinter den Fenstern der Schmiede jemanden zu erspähen. Aber die blühenden Geranien verbargen Großmutter und Enkelin, von deren Augen die Tränen niederperlten über die Wangen.

Die Pflaumenernte hatte begonnen. Im Hofe loderte ein Holzfeuer unter der großen Kupferpfanne, die von einem eisernen Dreifuß getragen wurde. Darinnen wurden Pflaumen zu Mus zerkocht. Es sollte als »Powidl« das ganze Jahr hindurch für Mehlspeisen und Tunken langen. Koja und Agi lösten einander beim Umrühren ab, damit das Mus nicht anbrenne. Die Großmutter hatte Brot gebacken und belegte große Bleche mit Pflaumen, um die Hitze der Mauerung des Ofens zum Dörren der Früchte auszunützen.

So merkte keiner, daß von der Straße her eine hochgewachsene Frau den Hof betreten hatte.

Als sie ganz nahe bei den Kindern stand, spürte Agi ihre Nähe, drehte sich um und hing im nächsten Augenblicke mit dem jauchzenden Ruf »Mutter!« an ihrem Halse. Da ließ Koja das Rührholz stecken im Mus, umklammerte die Mutter und barg sein Gesicht in den Falten ihres Gewandes.

Agis Ruf hatte die Großmutter herbeigelockt. Sie strich der Tochter über das Haupthaar: »Grüß dich Gott, Maria!«

»Zu Mittag war alles vorbei, da bin ich herüber.« – Die Greisin nickte.

»Geh mit den Kindern unter die Linde. Ich komm bald nach.« Sie zog mit dem Schürhaken die brennenden Scheiter unter der Pfanne weg, goß einen Kübel Wasser über die Glut, daß es dampfte, dann verschwand sie im Haus.

Bald darauf erschien sie wieder mit einem großen Tragbrett, auf dem die Kaffeekanne stand, der Milchtopf, ein Gugelhupf und daneben die schönen, goldgeränderten Tassen aus dem Glasschranke. Zwiefache Mutterliebe feierte das Wiedersehen. Als Agi sah, daß im Gugelhupf Mandeln und Rosinen waren, fragte sie mit leisem Vorwurf:

»Großmutter, du hast gewußt, daß heut die Mutter kommt!« – Ohne des Kindes Frage zu beachten, neigte sich die alte Frau zu ihrer Tochter: »Sag, Marie, wo ist dein Mann?« – »Ich weiß es nicht.«

*

Drei Tage später. Vater Lorent kam am Sonntag zu seiner Familie. Er trug eine alte Eisenbahner-Uniform und war nüchtern. Er hatte Arbeit gesucht und gefunden als Packer im Magazin der Süd-norddeutschen Verbindungsbahn zu Pardubitz. In drei Tagen sollte er den Dienst antreten. Am nächsten Morgen trug er mit dem Schmied die Habseligkeiten vom Boden und lud sie auf den Leiterwagen, dazu Föhrenscheiter, einen Sack Kartoffel, zwei Laibe Brot, deren jeder fast so groß war wie ein Wagenrad, einen Sack Mehl, einen großen Topf Schmalz und einen Hut Zucker aus den Vorräten der Großmutter. Die opferte noch vier hellrot blühende Geranienstöcke. Die alte Frau machte der Mutter und den Kindern das Kreuzeszeichen auf Stirn und Mund und Brust, küßte sie und tröstete: »Jetzt wird's wieder aufwärts gehen!« – »Gott geb's!«

Dann bestieg die Familie den Wagen, der Vater nahm die Leitseile, die Pferde zogen an, langsam und knarrend fuhr das Gefährt die Königgrätzer Straße zurück über die Elbe, außen um die Wälle des Pardubitzer Schlosses herum und vorbei an einem schmalen Wasserarm, der eine große Mühle trieb. Die Mutter erzählte den Kindern, was in Daschitz geschehen war. Fremde Menschen hatten die Einrichtung des Hauses zertragen und im Wirtshaus war jetzt ein anderer Wirt mit Weib und Kindern und Gesind. – Da hielt der Wagen vor einem neugebauten ebenerdigen Haus. Frisch gestreute Kohlenschlacke bedeckte den von einem Bretterzaun umgrenzten Hof.

Kein Baum, kein Grashalm, kein Unkraut belebte den häßlichen Boden. Und in dem Hause hatte die Familie Unter anderen armen Leuten ihr neues Heim. Es war nur Zimmer und Küche.« Als der Hausrat darin aufgestellt war, blieb wenig Raum zur Bewegung.

Kaum aber hatte die Mutter die zwei Zimmerfenster mit den blendendweißen gehäkelten Vorhängen und den blühenden Geranien geschmückt, war das enge Heim freundlich und traut. Der Vater fuhr mit dem leeren Wagen zurück. Die Kinder freuten sich der Veränderung um so mehr, als der Vater bald heimkehrte. Beim Auspacken der Kisten und beim Einräumen kam unter mancherlei Kleinigkeiten ein Päckchen Bilder zum Vorschein; die sie noch nicht gesehen hatten. Es waren Bilder aus der Böhmisch-sächsischen Schweiz. Nach dem frühen Abendmahl blieb der Vater daheim, legte im Lichtkreis der Petroleumlampe die Bilder auf und erzählte dabei aus seiner Herrnskretschner Zeit. Da war das Prebitschtor, ein Felsgebilde aus Sandstein, zu dem die Leute aus aller Herren Ländern kamen, um es anzustaunen. Dort hatte er als Bub im Dienste des Deutschen Michel den Fremden das lichte sächsische Bier aus dem Felsenkeller zugetragen und dafür Pfennige als Trinkgeld bekommen, für die er sich dann silberne Mark eintauschen konnte. Da war die Edmundsklamm, in der sich zwischen hohen Felswänden das Wasser des Kamnitzbaches staute; darauf machten die Fremden in schmalen Kähnen ihre Lustfahrten. – Da waren die« Basteifelsen, die Kuhstallhöhlen und andere wunderliche Sandsteingebilde, die märchenhaft anmuteten, darunter auch zuckerhutförmige, spitze Felstürme, die von waghalsigen Kletterern mit Hilfe langer Seile erstiegen wurden.

Noch einen Tag hatten die Kinder den Vater, wie sie ihn noch nie gehabt hatten, wie lieb und gut er mit ihnen war, während er im Schuppen das Holz zerkleinerte, das sie schichten durften!

Dann aber kamen traurige Tage, besonders traurig für Koja.

Wenn der Vater aus der Arbeit kam, war er müde und reizbar, und seine Hand strafte den Buben hart, wenn er dazu Anlaß gab. Und er gab Anlaß, ohne es zu wollen. Da begann er den Vater zu fürchten; von der ungewohnten Anstrengung erschöpft, hatte Lorent auf dem Heimwege in der Kantine vergeblich Trost gesucht im Trunk, den er als Bahnbediensteter auf Borg bekam. Und immer wieder hörte Koja die Worte aussprechen: »Hundeleben, Hungerlohn!« Die Mutter suchte den Vater zu beschwichtigen: »Das ist ja nur im Anfang so, später wird's besser,« aber es half wenig.

Die Kinder zogen sich in Gegenwart des Vaters gerne in den Ofenwinkel zurück, wo das aufgeschichtete Holz nach Wald duftete. Da erzählte Agi dem Bruder lispelnd irgend ein Lieblingsmärchen, damit er ja stille neben ihr sitze auf dem Schemel. – Und eines war darunter, das er erst jetzt so recht verstand. Das Klärchen vom Däumeling. Den armen Holzhacker, der für seine sieben Kinder nicht genug Brot schaffen konnte und sie in den Wald führte, stellte er sich jetzt leibhaftig vor wie seinen eigenen Vater, den rotbraunen Bart und die haare ungepflegt, das Gesicht verdrossen. – Und er selbst, Koja, war der Däumeling.


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