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Den 2. Februar.

An Julie B. in H.

Geliebte!

Du hast diesen Brief mit allen Erwartungen Deines feurigen Herzens geöffnet. Nach dem ersten Blick auf die matte verwaschene Schrift legst Du ihn – nein, Du wirfst ihn von Dir. Deine schönen kraftvollen Finger spreizen sich im Gefühl des Ekels, Deine guten Augen sind von Mißtrauen verschleiert, und Dein schmaler, Mund öffnet sich zur stummen Klage, zum Vorwurf.

Was ist es mit der Schrift? Bist Du noch immer verwirrt, oder erinnerst Du Dich schon der Briefe auf dem Pulte Deines Vaters, wie sie von Feuchtigkeit durchzogen, an den Ecken sich werfend, aus der Kopierpresse kamen? Nun, ich bekenne meine Schuld: ich kopierte diesen Brief, oder nein, ich werde ihn wie alle anderen kopieren, die ich an Dich schreiben will. Aber bist Du wirklich im Recht, mir wieder und wieder jene kühle und berechnende Vorsicht, jene peinigende Zergliederung und Bespiegelung meines Selbst vorzuwerfen, die Dir so oft die Lust des Kusses verdarb?

Ach, Liebste, begingst Du nicht selbst den Fehler, in mir einen zu lieben, der ich gar nicht bin? Du wolltest mich hingerissen, unüberlegt, mit der stürmischen Dreingabe des ganzen Menschen an ein eben aufwallendes, unerprobtes Gefühl. Aber hättest Du mich geliebt, wenn Du mich so gefunden? Ach, an jenem ersten Tage, da ich vielleicht so war, wie Du mich wünschest, hast Du mich überhaupt bemerkt?

Ich habe Dir nie erzählt, wie oft schon diese jungen Flammen niedergetreten waren, bevor sie Dir entgegenschlugen. Nicht ich trage die Schuld, daß ich mit achtzehn Jahren reif genug war, mir Erfahrungen zu nutze zu machen. Aber Dir gebührt die Krone, weil ich Dich als erste der Mühe wert fand, die Erfahrungen anzuwenden, mit allen Zünften der Verstellung Deine Aufmerksamkeit zu erregen, und langsam Deines Vertrauens würdig – würdig – zu werden: Du weißt nicht, wie ich mich haßte, da ich als zuverlässigster der Freunde neben dir durch eine warme Herbstnacht trabte. Deine Brust war voll Gefühl für einen andern, der Dich nicht bemerkte. O, was wäre aus Dir und mir geworden, wenn ich in jener Nacht der gewesen wäre, der ich war?

Nun, da Deine Liebe zu mir verbrieft und besiegelt ist, willst Du mir die Wege vorwerfen, auf denen ich sie erschlichen? Ja, es war ein volles Jahr der Lüge und List, ein Biedermannsspiel über allen Abgründen. Aber war mein Ziel deshalb ein weniger edles? Wahr ist es, daß ich am Ende kaum noch die Kraft hatte, das Geschenk Deiner Liebe zu empfangen. Deine Wangen, Dein Kuß war meinen Gedanken zu lange vertraut gewesen, bevor Dich meine Lippen berührten. Meine Wünsche hatten mit Deinem Haar gespielt, zu spät umflutete mich sein Duft. Mich erschlug die sanfteste Liebkosung Deiner Hand – wie eine Wirklichkeit, die den gar zu säumigen Träumer notwendig vernichtet. Fassungslos hielt ich Dich in meinen Armen, plötzlich beschwert – nicht vom Glück – von Sorge, von Sorge!

Julie, ich habe mir sagen lassen, es gäbe Menschen, die mit aller Selbstverständlichkeit ungebrochener Natur, Glück auszuteilen, Glück zu empfangen vermögen. Ich bin kein solcher Mensch, bist Du es? Warum tragen wir beide den Fluch, am Morgen unseres Glückes die Nacht unserer Leiden mit untilgbarem Gewicht auf unseren Schultern zu spüren? Wir waren jung und fühlten gleichwohl unsere Vereinigung nicht als den hoffenden Anfang unseres Lebens, eher als den tröstenden Beschluß verquälter Jahre. Da wir ungeübt, ungescheut uns im heitersten Genusse hätten finden können, hatten unsere Herzen schon ihre Geschichte, und wir wurden nicht müde, in ihren Blättern zu lesen.

Wir wollten uns beide nicht verloren geben, wir wollten uns zu gutem Lächeln endlich zwingen, und es gelang uns nicht. Ich riß mich von Dir los wie in der unbestimmten Hoffnung, daß Sehnsucht der beste Teil unserer Liebe sei; ich floh hierher. Ich sah Dich nicht wieder. Ich schrieb Dir.

Aber was schrieb ich Dir? Ich weiß es nicht. Vor mir liegen Deine brennenden Briefe, ungeordnet und ewig zur Unordnung bestimmt; vergebens suche ich meine Frage aus Deiner Antwort, meine Antwort aus Deiner Frage zu erkennen. Was schrieb ich Dir? O, ich weiß, Du bist wahrhaftig. Du hast Dich mit langverhaltener Glut in das Abenteuer gestürzt, von dem Dein bestes Gefühl will, daß es das letzte bleibe. Deine Handschrift trägt die Zeichen der Leidenschaft, oder der Besonnenheit, der Sehnsucht oder eines fernen Friedens. Aber immer ist es Deine Handschrift, immer ist es unverkennbar Dein Gesicht, in Lust oder Qual, Zweifel oder Laune.

Meine Handschrift war nie dieselbe. Das weiß ich, ist aber auch das einzige, was ich weiß. Begreifst Du nun meinen Schrecken, als mir neulich wer sagte, ich sähe von Tag zu Tag völlig verschieden aus. Was ist mir? Wer bin ich?

Julie, ich will Rechenschaft haben vor mir selbst. Ich will meine Worte der Liebe nicht in den Wind streuen, als seien sie nicht gesagt: Ich weiß, sie leben weiter. Du hältst sie in Deiner Schatulle, Du greifst zu ihnen, Du kannst sie vergleichend untersuchen, Du reihst sie zu einem Bild zusammen – zu welchem?

Julie, ich ertrage es nicht länger, nicht zu wissen, wer ich bin. Noch bin ich völlig im Gewoge unbekannter Triebe. Einmal aber will ich Entschlüsse fassen können, und dann will ich Geschriebenes in der Hand halten, für mich, wider mich, Ordnung will ich haben.

Ich weiß, Julie, noch ist Dein Mißtrauen kaum beruhigt. Deine gute Seele hat früh gelernt, was Skepsis ist. Und ohne Hoffnung legst Du den Brief zu den übrigen.

Ich aber hoffe! Denke nur, ich hoffe! Fünf Jahre, immerhin, sind es, daß meine besten Gefühle für Dich sind. Das Glück der Belasteten ist ein anderes, als das der Ungebrochenen. Aber ich hoffe, es wird ein Glück sein! Ein tieferes, ein schmerzlicheres und doch ein vollkommenes. Gab es für unsere Herzen so früh eine Geschichte, so gibt es – ich fühle – für sie auch eine Religion. Und wir sind so weit, daß wir über ihren Sinn nicht mehr uneinig werden können.

Schreibe mir, Julie, aber nicht über diesen Brief. Und nicht über unsere Liebe, von der wir nicht zu sprechen brauchen, weil sie ist. Schreibe mir von Deinem Leben, Deinem Alltag, und ich werde von Festen lesen. Schreibe mir.

Ludwig.

 

Den 2. Februar, 9 Uhr abends.

An Emmy Förster.

Liebe Emmy!

In aller Eile. Ich hatte mich leider um einige Minuten verspätet. Mußte noch einen wichtigen Brief auf die Post tragen; aber es waren wirklich nur fünf Minuten, und die hättest Du doch immerhin warten können. Und ich stand da und wartete so lange, so sehr lange.

Also hoffe ich auf morgen, um dieselbe Stunde.

Ich küsse Dein blondes Haar
Dein
Ludwig.

 

Den 3. Februar.

An Frau Helene von T. in H...

Nun muß ich auch Dich wegen dieser blassen Schrift um Entschuldigung bitten, aber ich danke Dir im voraus dafür, daß ich bei Dir nicht so viel Worte machen muß, wie bei Julie. Sonderbar, je ernster eine Liebe ist, um so strenger fordert sie ein Zeremoniell für sich; die Liebhaberei ist überhaupt konservativ, und jede kleine Neuerung bedarf der vorsichtigen Einführung und der zartesten Empfehlung.

Gut also, Helene, daß wir uns nicht geliebt haben. Aber meine Briefe an Dich kommen doch in dieses Buch, durch das ich eine gewisse Übersicht anstrebe. Sei trotzdem versichert, daß Dein Platz in diesem Buch ein ehrenvoller sein wird. Nein, nein, nur nicht zeremoniell werden, nur nicht Dir gegenüber. Aber ich habe eine so unendliche Dankbarkeit gegen Dich. Vielleicht lag es nur an meiner Jugend, daß es mir noch heute ein so seltenes Glück erscheint, Dich gefunden zu haben: das Mädchen, an dessen Lippen ich hängen durfte, ohne verpflichtet zu sein, in den Pausen der Lust Unsinn zu sprechen, Schwüre zu stammeln, Luftschlösser zu bauen. Nein, Helene, wären wir nicht beide in einem gewissen innersten Punkte unseres Herzens so kalt, so unerwärmbar, wir hätten fast das Recht gehabt, uns Freunde zu nennen!

Und taten es beide nicht, weil wir beide uns gegenüber den sonst unerlaubten Luxus gönnen konnten, ganz wahr zu sein, den grenzenlosen Egoismus, durch den wir uns ja nicht vor anderen Menschen auszeichnen, einzugestehen. Hilf Himmel, die durchdringendste Aufrichtigkeit gegen sich selbst ist ein billiger Scherz, wenn man nicht den Mut hat, sich ein noch so kleines Publikum dafür zu suchen. Es gab Stunden, wo ich gewünscht hätte, Dir einen kleinen Mord beichten zu können; die Pfirsichhaut Deiner Wangen hätte sich kaum gerötet, Deine Lippen, so gerade und so voll, hätten sich nur zu einem Lächeln gekräuselt. Deine Augen, die so grau, klug, schimmerlos in das von allen Reizen erfüllte Gesicht gesetzt sind, hätten mich unverwirrt angesehen, und Du hättest mit Deiner kühlen, gleitenden Stimme nur gefragt: »Wie hast Du es gemacht?«

Indessen, ich habe den Mord noch immer nicht begangen. Als man mir neulich beim Bäcker zehn Mark statt einer Kupfermünze herausgab, machte ich mich nichts wissen – nun, weil ich das Geld sehr brauchen konnte; daß ich vor vierzehn Tagen in einer meiner armseligen Buchbesprechungen drei Sätze des Kritikers J. verwandte, geschah übrigens nur aus Bescheidenheit. Es war der aufquellende Widerwille gegen mein Handwerk, das mich zwingen will, meine eigenen Ansichten der Veröffentlichung für wert zu halten. So äußerte ich über das Buch von W. die Meinung J.s über den Tell des Schauspielers H. Es wird gedruckt, bezahlt und hat seine Wirkung.

Ach ja, das Handwerk! Was ich immer noch nicht recht verstehe, Helene, daß es so ganz und gar schlecht und niederträchtig sein soll, die Hände in den Schoß zu legen, aus dem Fenster zu schauen, dem Fluge der Wolken nach, oder dem weichenden Schatten bei aufsteigender Sonne. Ich kann immer noch nichts Moralisches bei der Arbeit finden; hinter dem Schalter eines Postamtes, in den giftigen Gasen einer Plättstube, in den Fabriken, in den Börsen, in den Krämerläden – überall wird entsetzlich gearbeitet. Alles, was in den Läden liegt, ist gearbeitet, und selbst das Schwein, das sein Hinterteil zum Schlächterwagen heraushängen läßt, sagt mit einer letzten, nicht unappetitlichen Geste: Fressen ist auch Arbeit.

Ach, Helene, ich überanstrenge mich nicht einmal beim Essen. Dazu reicht es nicht. Das sage ich ohne Klage. Ich bin froh, wenn ich knapp so viel habe, meinen Hunger zu stillen. Ich möchte nur für mich das Recht jener Bescheidenheit in Anspruch nehmen, die sagt, lieber nicht arbeiten als Schlechtes und Überflüssiges. Und was sehe ich nicht in meiner nächsten Nähe arbeiten: der Komponist Walter E. komponiert vielleicht auch; aber nicht deshalb genießt er die allgemeine Achtung unseres Kreises, sondern weil er fünfzehn unbegabten Rangen wohlhabender Familien für einiges Geld die zwecklosesten Klavierstunden erteilt. Der Dichter Heinrich von K. arbeitet an seinem Doktor, und der Mediziner Max P. schreibt Novellen, der Sänger A. zeichnet Entwürfe für eine Tapetenfabrik und selbst der Spanier Juan de L. y. B., ein Mensch, dem man wirklich nicht vorwerfen kann, daß er die Feder zu etwas anderem mißbraucht hätte, als um einen Wechsel zu unterschreiben, steht von früh bis spät am Billardtisch.

O, diese keuchende, vorwärtswollende Menschheit. Sage mir nur nicht, Helene, daß ich je etwas gewollt hätte. Wenn ich es selbst mal geglaubt habe, so war es ein Irrtum. Ich habe gestern einen langen Brief an Julie geschrieben, und dann eine halbe Stunde auf ein kleines Mädchen gewartet. Übrigens vergebens. Ich habe heute diesen Brief geschrieben, und werde nachher wieder auf dasselbe kleine Mädchen warten. Und ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß mich diese Tätigkeit vollkommen ausfüllt.

Was übrigens Julie betrifft – aber nein, es ist besser davon zu schweigen. Du bist ihre Freundin, und deshalb nicht ungefährlich. Aber kannst Du mir das eine sagen: wenn es wahr ist, daß sie mich liebt, warum hat sie den ganzen Krempel ihrer dämlichen bürgerlichen Existenz nicht hinter sich geworfen, warum kommt sie nicht, um ein Leben mit mir zu teilen, das im Grunde nicht weniger kühn und herrlich ist als das eines Bergsteigers, nicht weniger einsam als eines Königs, nicht weniger reich als das eines Bettlers? Und wenn sie nicht kommt, warum kommst nicht wenigstens Du?

Dein

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Den 3. Februar, 9 Uhr abends.

An Emmy Förster.

Liebe Emmy!

Heute aber war ich wirklich pünktlich. Und stand eine ganze Stunde im rieselnden Regen. Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll.

Ich küsse Dich
L.

 

Hauptpostlagernd.

L. K. 100.

Kätchen!

Noch weiß ich nichts von Ihnen als diesen lieben zärtlichen Namen! Und in meinen Augen ist Ihr freundlich frohgemutes Bild. So schlank und kühn kämpften Sie sich durch das Schneetreiben. Aber so dicht die Flocken fielen, mich berührte dieser tiefe blaue heitere Blick. Der Schnee selbst hatte Ihre braunen Locken gezeichnet und lag dicht auf dem schwarzen runden Pelzkäppchen. Ich kämpfte mich Ihnen nach, sah die schön nach vorn gewölbte Stirn, die so besonders geschwungene Nase, von der ich noch nicht weiß, was sie bedeutet. Das starke Kinn.

Sie bemerkten mich, Sie waren nicht böse, ich stellte Sie, Sie lächelten, und nun erst sah ich den frischen, mit den köstlichsten Zähnen bewehrten Mund. Viel Zeit hatten Sie für mich nicht. Aber Sie erlaubten mir, Ihnen zu schreiben.

Das tue ich nun und habe Ihnen noch so gar nichts zu sagen. Ich bin nur neugierig auf Sie. Schreiben Sie mir auch – wann werde ich Sie sehen? Ich freue mich auf Sie und drücke inzwischen Ihre kräftige, schlanke Hand.

Ludwig Benrath.

 

Den 4. Februar.

An Fräulein Melanie H. (mit einigen Büchern).

Geehrtes Fräulein!

Als Sie in dem gestrigen allgemeinen Gespräch bedauerten, die Bücher H.s nicht zu kennen, hielt ich mich nicht für berechtigt, Ihnen nach einer Bekanntschaft von der Dauer weniger Minuten die geringste der Gefälligkeiten aufzudrängen.

Nun sind immerhin schon sechzehn Stunden vergangen, daß ich Ihnen begegnen durfte, und ich bin glücklich, Ihnen aus meiner nicht eben reichen Bibliothek das zu übersenden, was ich von H. besitze – es ist zugleich alles, was er geschrieben hat.

Wundern Sie sich bitte nicht über diese Geste – und deuten Sie sie nicht falsch! Ich habe über das Verleihen von Büchern meine besonderen Anschauungen. Es gibt nichts Schöneres, als aus dem eigenen, fast ärmlichen Schatz eine Gabe reichen zu dürfen, deren Wert in tiefstem Grunde unschätzbar ist. Gerade indem wir diesem Buch, diesem einen von Tausenden gleich aussehender Exemplare, einen Eigentumswert beimessen, weil wir darin gelesen und wieder gelesen haben, schöpfen wir die Hoffnung, es möge von unserer Zuneigung, von unserem Heimatsgefühl zu dem Werk, aus diesen schon etwas verbrauchten Blättern eine gleiche Wärme und Güte zu dem neuen Menschen aufsteigen, der sich mit ihnen befaßt. Wenn Sie mir gestatten, Ihnen diese Bücher zu leihen, so beglücken Sie damit doppelt einen Menschen, (einen Schriftsteller, wenn Sie wollen), der zu arm ist, Gäste an seinen eigenen Tisch zu laden, der aber nicht müde wird, die Bücher zu verteilen, die er selbst geschrieben haben möchte.

Sollten Sie belieben, mir diese Bändchen bei Gelegenheit zurückzustellen, so werde ich Sie nun doppelt in Ehren halten, weil ich weiß, daß eine neue Flamme entzündet wurde. Aber ich bemerke, daß ich von den Leuten, die Bücher nicht zurückgeben, nur diejenigen verachte, die es aus Vergeßlichkeit unterlassen. Die aber mit Bewußtsein Bücher stehlen, tun es aus einer Kraft und Begierde des Gemütes, die Eigentumsrechte verleiht.

Muß ich hinzusetzen, daß auch ich diese Bücher gestohlen habe?

Mit den ergebensten Empfehlungen
Ihr
Ludwig Benrath.

 

4. Februar.

Fräulein Emmy Förster.

Meine Liebe!

Dein Brief hat mich überrascht. Also deshalb hast du mich drei Tage vergebens warten lassen, um mir am dritten Deine Bedingungen mitzuteilen? Wie eine Festung ihrem Belagerer? Aber nein, Kindchen, Du irrst Dich ganz entschieden, Du bist nämlich gar nicht belagert. Ich habe Dich gern – ich habe Sehnsucht nach Dir, aber Du weißt ja alles, was ich habe. In diesen zwei Wochen hast Du mir – nein, ich sage Dir doch nichts davon. Wir haben sehr wenig gesprochen, wenn wir zusammen waren, und haben sehr genau gewußt, was wir wollten. Und nun sollen wir uns plötzlich Briefe schreiben? Von einer Straßenecke zur anderen?

Nein, Liebe, aber sei nicht böse deshalb. Ich habe schon sehr viele Briefe geschrieben, und es war gar nichts dahinter. Ich könnte mir denken, mit einem Menschen stumm zu leben, zu glücklicher, tiefer – nein Kindchen, man zerstört viele Dinge, wenn man sie ausspricht. Und andere kommen nicht auf den Weg, und wenn man sie hundertmal vor sich herbetet.

Man könnte sich nur fragen: warum es nicht geschah – oder noch nicht? Aber das kommt einfach daher, daß du eben keine Festung bist, und ich kein Belagerer. Komm, schweige, und wir werden so viel Glück erleben, als unsere Herzen reichen.

Ich küsse Dich.

 

5. Februar.

Fräulein Gusti K.

Liebe Freundin!

Die paar Blumen zu Ihrem Geburtstag. Ich muß im Bett liegen (ein dummer Gaul hat mich gestern von hinten angerannt, aber es ist nicht weiter schlimm), und so kann ich Ihnen heute nicht die Hand drücken. Aber nichts bringt mich davon ab, die gewohnte Stunde mit Ihnen zu verplaudern.

Also es ist kurz nach Tisch. Die Bürger liegen auf ihren Sofas, die Künstler sitzen in den Kaffeehäusern, die Leutnants lungern in den Kasinos. Es ist eigentlich auch Ihre Ruhestunde, aber dann komme ich und nehme mir Ihre – meine Stunde.

Wissen Sie denn überhaupt, Gusti, daß Sie die sonderbarste Person unserer höchst sonderbaren Stadt sind? Und das Sonderbarste, daß man es Ihnen sagen darf! Es liegt nicht an Ihnen allein, das wissen wir alle. Der merkwürdige Gedanke Ihres Prinzipals, einen Zigarrenladen so einzurichten, wie – nun, wie den dämmerigsten Winkel eines frauenreichen Paschahauses. Sie werden mit Ihrer göttlichen Nüchternheit mir gleich auseinandersetzen: Tabak, Orient. Nein, nicht diese Ideenfolge ist das Wunderbare. Der Prinzipal ist kein Phantast, es gehörte nur eben die ganze Unbekümmertheit eines kaufmännischen Gemütes dazu, einen so wollüstigen Winkel mitten auf die nüchterne öde Theresienstraße zu setzen, durch bunte Scheiben das kalte Licht abzuwehren, und nun mit echten Teppichen, unechter Holzarchitektur und weichen Polstern einen Raum zu schaffen, der weiß Gott zu allen Dingen besser geschaffen wäre als zum Zigarrenverkaufen. Ich sage das übrigens nicht aus Bewunderung für diesen Raum; ich betone nur seinen eindeutigen Zweck. Und in diese dunkle fremdländische verführerische Pracht, setzte der Prinzipal Sie, deutschestes der deutschen Mädchen.

Natürlich, er wußte schon, was er tat, der gute Mann, der es aus mehr als einem Grunde nicht mehr nötig hat, sich selbst hinter den Ladentisch zu stellen, und um dessen Geschäft und Diwans es schlecht stünde, hätte er nicht Sie gefunden!

So stehen Sie hinter der Theke wie hinter einem uneinnehmbaren Wall, derb, breit, treu. Für jeden Gast holen Sie Stöße von Kisten hervor, lassen Ihre Sachkenntnis glänzen: Sumatra mit Havana, Borneo mit Sumatra! Aber Sie, die noch niemals ein Krümchen Tabak auf der Zungenspitze gehabt haben, Sie verkaufen nicht nur, Sie kaufen auch ein. Wissen, wie es Ihre Kundschaft liebt, empfinden mit untrüglichem Instinkt, was jeder rauchen will, Arbeiter, Gelehrter, Künstler, Offizier. Und keiner hat nötig, ein zweites Mal zu suchen, Sie kennen von jedem den Namen und die Sorte seines Krautes.

Aber überlassen wir es dem Prinzipal, Ihre geschäftlichen Tugenden zu kennen, zu preisen und zu belohnen! Was sind Sie uns – Kunden!

Gusti, Sie stehen hinter dem Ladentisch und sprechen vom Tabak. Das ist das erste. Klar, sachlich, ob er leicht ist, ob schwer, ob preiswert, ob nicht. Sie sprechen von den neuen Zöllen, von der kostspieligen Verpackung einer neuen wertlosen Zigarettensorte. Noch einmal, Sie bleiben bei der Sache, obgleich die Wärme Ihres Herzens sich in keiner noch so nüchternen Aufklärung verbirgt. Denn es ist das Wohl des Kunden, das Sie unter allen Umständen vertreten. Das, was Sie verkaufen, soll verglimmend dem Genusse dienen, und so wahr Sie eine bürgerliche Person sind, Gusti, Sie sind voll Gefühl für die Feierstunde der Zigarre, für den lässigen Witz der Zigarette, für die derbe Lust des Knasters und für die schläfrige Wollust des feingeschnittenen Tabaks. Ich lese nicht gar so viel aus Ihrem Gesicht, obgleich es ein Beispiel dafür ist, wie ein guter grader Sinn, ein prächtiges Herz und ein klarer Verstand Züge zu meistern verstehen, die nicht durch den Ausgleich der Formen, durch den Reiz der ersten Frische bestechen. Ihr blondes Haar dürfte üppiger sein, Gusti, die Stirn freier von Runen gründlicher Gedanken, das Auge kräftiger und bestimmter in der Farbe, die Wangen schmaler und zugleich weniger bleich. Ihre Lippen – ja, diese Lippen sind lebensvoll und empfänglich für Genuß. Aber die wohlgepflegten Zähne, die sie umschließen, sind allzu unregelmäßig gestellt, urkräftig, unmittelbar aus dem Volke, das Nüsse aufbeißt. Auch die Gestalt ist aus diesem mehr kräftigen als zärtlichen Volke.

Aber diese Hände! Gusti, ich muß immer denken, diese Hände sind nicht von Vater und Mutter. Die haben Sie ganz allein gemacht! Und weitab weise ich den Gedanken, unter den Zimmerherren Ihrer Mutter sei mal ein adeliger Jüngling gewesen. Nein, diese Hände haben gar nichts von einem solchen. Sie sind ehrbar, kurz, voll, aber herrlich gebildet und gepflegt, voll der Güte, Weisheit, Milde, Kraft und Lust eines Weibes.

Was tun diese Hände? Sie tragen Zigarrenkisten, sie greifen hinein in die dürre, raschelnde, braune Tiefe dieser Kisten, sie packen zu, kraftvoll genug und doch mit einer sichern Zartheit, die nie beschädigt, nie verletzt. Tüchtig sind diese Hände, wenn sie dem Arbeiter sein kräftiges Rauchzeug in die Tüte gleiten lassen; zierlich sind diese Hände, wenn sie dem malenden Jüngling die Zigarette reichen; geschickt und pünktlich sind sie, wenn sie dem Steuerrat die volle Kiste in das gelbliche Papier einschlagen, es mit drei, vier Falten kniffen, klack, klack, und mit dem Siegellacktropfen schließen. Aber zum Gottesdienst erheben sich die Hände, wenn sie aus dem obersten Fach die dünnen Kisten der Importen heben. Und ein loses Spiel treiben sie, wenn sich diese weißen, durch stete Arbeit stets veredelten Finger spitzen und den feingeschnittenen Tabak auf die funkelnde gelbe Wiegeschale träufeln lassen.

Nie aber kennzeichnen sich Wert und Würde dieser Hände so wie im Ergreifen des Geldes, das, Hunderte von Malen täglich geübt, weder zur Gewohnheit wird noch zur scharrenden Gier. Immer derselbe Ausdruck tastender, achtungsvoller Bescheidenheit; Achtung vor dem Geld des Kunden, das mit den Fingerspitzen zur Kasse geführt, plötzlich Geld des Prinzipals geworden ist, nie mit einem Grenzblick der Seele zu Ihrem eigenen Gelde wurde.

Doch über diese erfüllte Sachlichkeit des Handelns – der warme vollblütige Mensch! Wahrlich Sie kargen nicht mit jener Freundlichkeit, die als Geschenk dem ärmsten, wie dem reichsten Ihrer Kunden zugewogen wird. Aber Sie vermögen die Höflichkeit Ihres Herzens zu einer Teilnahme zu steigern, die ohne zu fragen das letzte Geheimnis aus den Menschen herausholt, es bewahrt und doch wieder vergißt.

Wirklich, Gusti, Sie kennen nicht nur mein Geheimnis. Es gibt Stunden, in denen mich die Eifersucht quält, die Eifersucht der Beichtenden gegen den Unsichtbaren hinter der grünen Gardine, der soviel weiß und soviel verzeiht. Mit welcher Macht haben Sie es gezwungen, uns alle gefügig zu machen. Mit welcher Hoheit haben Sie jene Grenze aufgerichtet, die höher und unüberschreitbarer ist als der Ladentisch; und wiederum diese Grenze niedergerissen und eine andere gezogen, eine feinere, geistreichere!

Ich weiß nicht, ob es ein lächerlicheres Bild gibt als das eines Zigarrenkunden, der über die Theke hinweg sich auf die Hand der Verkäuferin beugt. Und doch ist in diesem Laden – und nicht nur von mir – der seltene Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen gemacht worden. Und dieser Handkuß war gesättigt von Achtung und Dankbarkeit.

Dankbarkeit – wofür?

Ich spreche nicht für die andern. Von mir aber sage ich, daß in der Verwahrlosung meines seelischen Zustandes dieser Zigarrenladen der Salon ist, in dem ich meine Erziehung genieße, und die Verkäuferin die Dame, die nachsichtig meine Gegenwart erträgt.

Ihr
L. B.

(Nicht abgeschickt)

 

Liebste Helene!

Ich brachte es nicht über mich, diesen Brief an die Adressatin zu schicken. Nimm Du ihn an Dich und bewahre ihn als das Zeugnis für eine Menschlichkeit.

Übrigens hat mich gar kein Pferd gestoßen. Ich werde Gusti die Blumen selbst bringen.

Viele Grüße
L.

 

Den 6. Februar.

An Julie B. in H...

Meine geliebte, meine ausgezeichnete Julie!

Verzeih mir, ich bitte Dich, ich bitte Dich auf den Knien! Verzeih mir, auch wenn Du nicht weißt, was! Aber ich will Dirs sagen. Ich unterschätzte Dich so maßlos. Verbrachte drei ratlos unruhige Tage, voller Angst, was Du zu der abgeblaßten Tinte sagen würdest. Kaum hatte ich den Brief in den Kasten geworfen, als ich ihn wieder herausholen wollte. Wie vor etwas unendlich Schicksalvollem stand ich vor der gelben Eisenkiste. Ratlos, unfähig, ohnmächtig. Dann trollte ich mich beiseite, wollte auf den Postmenschen warten, schämte mich, ließ es. Vergeudete Zeit, bis es mich nach Stunden abermals anpackte. Ich rannte nach dem Bahnhof, stand vor dem Zuge, wieder ohnmächtig, unfähig, bis er mir davonfuhr.

Und nun sehe ich Deine Großmut. Du sprichst kaum darüber, Du lächelst kaum. Gewährst mir diese Laune, wie Du mir andere gewährt, in der Gewißheit, daß sie vorübergeht, daß ich einen Scherz nicht bis zum Überdruß treibe. Du hast recht, Julie, es ist nicht der Rede wert. Früher, als ich glaube, wird mir das Spiel zuwider sein. Heute noch nicht, aber bald, bald.

Also Dank, Julie, Dank! Auch für das andere, was Du schriebst, und von dem ich weiß, daß eine gewisse kühlere Tonart nicht auf Rechnung meines plumpen Scherzes zu setzen ist.

Jetzt habe ich meinen Brief an Dich nochmals gelesen, und dann noch einmal Deine Antwort. Es bleibt bei der kühleren Tonart, an der ich gewiß alle Schuld trage (wenngleich nicht eben durch das Kopierbuch). Nein, meine ausgezeichnete Julie. Ich habe andere Dinge auf dem Gewissen, schwerere, weniger verzeihliche.

O, Du weißt, daß meine Sehnsucht nicht so selten ist, wie es meine Briefe sind. Aber Du kennst den jähen, plötzlich aufschwellenden Charakter meiner Sehnsucht, die dann wieder in sich zusammenbricht. Noch fehlen meinem Gefühl die Stützen. Das ist wach auf nächtlichen Heimgängen von der Kneipe. Es überrascht mich beim Anblick einer sinnlos brennenden Straßenlaterne, oder ich sehe ein Häuflein Kot, oder ich sehe das Schild eines Posamentierladens – und ich sage mir plötzlich: dies und das sehe ich – und Dich nicht. Warum nicht Dich, nicht Dich, das einzige, was zu sehen ich wünschte!

Oder ich erlebe. Ich gehe im Rausch über den federnden rostbraunen Boden des Waldes. Oder ich sitze im Kolleg, und mich betäubt der Wortschwall des kleinen, großen Mannes, dessen Gehirn so arbeitet, daß die Adern auf der vorgewölbten Stirn anschwellen, daß die Gedanken Körper werden und anstürmen gegen letzte Türen. Oder ein Buch. Oder der Kronleuchter erlischt, und nur unten im Orchester werfen grün beschirmte Lampen helle Reflexe auf den braunen köstlichen Lack! – Du weißt nicht, Julie, wie oft es ist. Oder, wenn ich nachts in mein Zimmer trete, oder gar mittags, wenn das Licht so kalt und unbarmherzig ist, und die Tapete mich angrinst. Oder des Morgens, wenn ich erwache.

Tausendmal in Monaten, in denen ich Dir kein Wort schreibe. Weil ich's nicht hinübertragen kann vom Herzen aufs Papier. Als könnt ich's heute! Aber immerhin, mal schreibe ich, und dann soll es gleich Dich treffen, Dich berühren, Dich rühren! Wochen hast Du gewartet, wärst für den flüchtigsten Gruß empfänglich gewesen, dann wurdest Du ruhiger, vielleicht auch bitterer. Die Schatten um den Mund sind vertieft, das Auge geschützter vom Mißtrauen. Nun aber schreibe ich, und Du sollst wie in Sonne gebadet sein? frohlocken?

Nein, Julie, ich weiß, das kann nicht sein. Aber es sind nur die Nerven, die sich verfehlen. Nicht unser Glauben.

Also, Du warst nicht in Sonne gebadet; und in einer leichten Kühle wirfst Du Fragen auf.

Meine liebe, meine beste Julie, diesmal unterschätze ich Dich nicht. Selbst hättest Du – was Du nicht tatest – diese Fragen so gesetzt, mit den nämlichen Worten, wie dieser oder jener andere, Du meinst sie nicht so, sondern so.

Du fragst nach meiner Arbeit, und das ist nicht Neugier, nicht Kontrolle, und auch nicht jenes Entsetzliche, das man Interesse nennt. Es ist Dein Recht. Jahrelang hast Du dieses Recht nicht geübt, in einer tiefen, weisen, kraftvollen Selbstbescheidung. Nun aber ließ es sich nicht länger hintanhalten, und doch hattest Du noch die Gewalt über Dich, diese Frage leise, wie zum Spiel, kühl, fast ohne Betonung hingleiten zu lassen.

Ich danke Dir, Julie. Hättest Du mich zu anderen Zeiten gefragt, ich hätte meine Augen demütig senken müssen, ich hätte nach Entschuldigungen gesucht, ich hätte Ausreden gefunden, jetzt aber trifft die Frage zur guten Stunde.

Ein Jahr ist es her, Julie, ein ganzes Jahr, und noch bis jetzt habe ich diese Herrschaft über mich, und ich hoffe sie zu behalten. Seit einem Jahr habe ich keinen Bogen weißen Papiers zu dem mißbraucht, was man Arbeit nennt; nichts geschrieben, Julie, gar nichts, keine Zeile.

Du aber, Julie, bist die einzige, die meinen Triumph zu teilen weiß! Ich danke Dir! Dir, Du einzige, vertraue ich auch an, wie schwer es mir wurde, ihn zu erringen! Du allein weißt, wie mich diese Lust zu schreiben, diese entsetzliche, immer wieder verführte, wie ich ihr nicht widerstehen konnte, ihr erlag. Es war eine Angewohnheit, mehr als das – eine Sucht, ein Laster. Meine armen Wände hatten gesehen, wie ich mich in dieser Sünde wälzte. Wie ich nur schreibend zu leben glaubte.

Julie, ich habe das nicht von einem Tag zum andern überwunden. Wie in einer Trinkerheilstätte maß ich mir von Tag zu Tag kleinere Rationen zu. Nicht ohne wieder für Stunden der alten Gewohnheit zu verfallen, Stunden, in denen ich glaubte, vor Talent zu bersten.

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Es ist vorbei, meine Liebe. Ich brauche nicht mehr zu schreiben, und nun bin ich so wundervoll frei. Ich sehe keine Bedrohung mehr für die Zukunft. Kein Phantasiegebilde beengt mehr meinen Horizont. Und frei öffne ich der Weit mein Auge.

Und wie ist diese Welt plötzlich schön. Ich lebe in ihr, ich leide auch, ich begehe auch Unrecht und werde dafür gestraft. Aber ich leide, sündige ihretwillen, meinetwillen, uneingeschränkt von irgendeinem noch so weit gesteckten Ziel.

Wie würdig sind meine Tage. Wie rein meine Stunden! Nun erst werde ich Mensch, nun erst trägt mich das Leben ohne sichtlich gewollten Zweck, zu Ehren meines höheren Zwecks, der mir noch verborgen ist, aber dem ich vertraue.

So stark und so ruhig, wie ich bin, schließe ich Dich in meine Arme.

Dein

 

Den 6. Februar.
Hauptpostlagernd.

L. K. 100.

Liebes, reizendes Kätchen!

Nun habe ich Sie gesehen, und Sie wollen dennoch, daß ich Ihnen schreibe, Sie lieben die Briefe so.

Wir haben uns geküßt, und wir wissen vielleicht immer noch nicht, wovon wir reden sollen. Aber es ist nicht nötig, daß man das immer weiß. Halt, ich weiß doch etwas, das wert ist, geschrieben zu werden: dieser Kuß.

Wie tief hast Du mich beschämt! Eine halbe Stunde hatte ich Dich begleiten dürfen. Dann standen wir vor einem alten grauen Haus. Es war so ziemlich hell noch, und ich, Lichtscheuer, hätte Dich fortziehen mögen, in einen verschwiegenen Winkel.

Da sagte ich: »Ich möchte Sie küssen –«

Und statt aller Antwort legtest Du großmütig, am ziemlich hellen Tage, vor allen Menschen Deinen Arm um meine Schulter und küßtest mich auf den Mund. Ich danke Dir, ich habe gelernt in dieser Stunde!

Wovon sprachen wir noch, wir wissen es beide nicht mehr, und doch liefen die Münder. Oder? War es nicht auch ein Irren und Verstecken? Warum, Kätchen, weiß ich Deinen Namen noch nicht, noch wo Du wohnst? Ich möchte Dein Geheimnis nicht stören, das sicher so reizend ist, wie Du selbst – und ich bin doch so neugierig.

Schreib, schreibe bald

Deinem
L. B.

 

Fräulein Emmy Förster!

Gewiß, liebes Kind, ich bin heute abend zu Haus und freue mich herzlich auf Dich.

 

Den 7. Februar.

Frau Forstmeisterswitwe Groeger.

Liebe Frau Groeger!

Sie hatten den Zartsinn, eine mündliche Unterredung zu umgehen, und mir Ihre Meinung in einem kurzen, aber deutlichen Briefe zu sagen. Ich bestreite Ihnen nicht das Recht, mir mein Zimmer zu kündigen, das ich nun schon drei Monate innehabe. Und ich nehme die Kündigung mit sofortiger Wirkung an: denn daß ich, um Ihnen eine Gefälligkeit oder eine Genugtuung zu bereiten, auf das verzichte, was Sie Damenbesuch nennen, das glauben Sie ja wohl selbst nicht. Somit wäre die Sache eigentlich erledigt; aber da Sie eine gebildete Frau sind, möchte ich nicht ausziehen, ohne Ihnen einen kleinen Aufschluß zu geben. Das heißt: Sie sagen, Sie seien eine gebildete Frau, die den besseren Ständen angehört, und die nur durch das Unglück gezwungen sei, Zimmer zu vermieten. Niemals würden Sie sich gefallen lassen, daß man solche Dinge in Ihren Räumen betreibe.

Sie haben zweifellos das Recht, über Ihre Zimmer zu verfügen, und wenn Sie große Geduld und Ausdauer besitzen, wird es Ihnen vielleicht gelingen, Mieter beiderlei Geschlechts aufzutreiben, bei denen solche Dinge aus Gründen des Alters oder anderer unangenehmer Eigenschaften ausgeschlossen sind. Leuten meiner Art indessen, bei denen sich dergleichen nicht ereignet, rate ich Ihnen, mit dem größten Mißtrauen zu begegnen.

Es war übrigens nicht meine Schuld, daß Sie bei mir solange darauf warten mußten, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sich das Ereignis schon früher abgespielt. Indessen muß man mit den Umständen rechnen, liebe Frau. Und deshalb, lassen Sie es sich gesagt sein, es war nichts Unnatürliches dabei, und vor dem Natürlichen muß man die größte Achtung haben.

Wie Sie aber auch über den Vorgang selbst urteilen mögen, bedenken Sie das eine: alle Ströme fließen ins Meer, aber höchst unterschiedlich sind ihr Lauf und ihre Schicksale. Es gibt gemeine, langweilige Küstenströme, und es gibt andere, die ihren Ursprung in einer Welt der Größe und der Reinheit haben, die durch trotzige Schluchten und melancholische Öden ziehen müssen, bevor sie an freundlicheren Ufern vorbeikommen. Also wissen Sie nicht, von welcher besonderen Art das Abenteuer ist, das Ihr Zimmerherr zu bestehen hat, und in Ihren Wänden kann sich ein Erhabenes vollziehen, das zu stören Ihnen selbst leid tun würde.

Bedenken Sie ferner, daß Ihre Zimmer nicht sehr schön sind. Auf die banalsten Tapeten haben Sie Bilder Ihrer häßlichsten Verwandten gehängt. Möbel stehen herum, die nicht den geringsten Anspruch auf Schönheit und Frische machen. Seien Sie davon überzeugt, daß man sich auf die Dauer in einem solchen Raum nicht aufhalten kann, wenn man nicht zuweilen einen Gegenstand von höherem Reiz einführt.

Ich versichere Ihnen, liebe Frau, daß die Dame, die gestern mein Gast war, auch die Erwartungen des gewiegtesten Kenners übertroffen hätte. Eine Jugend, eine Frische, eine Anmut erfüllte den Raum, der plötzlich licht und heiter wurde. Die Lampe brannte heller vor Freude über das, was sie beschien, der Spiegel wurde plötzlich der Rahmen des reizendsten Gemäldes, und selbst in dem alten häßlichen Waschbecken gewannen die dummen Blumenornamente wirklich beglücktes Leben, als sich im ersten Frühschein eine junge Brust darüber beugte.

Ich gebe Ihnen zu, verehrte Frau Groeger, daß Sie persönlich von der Sache wenig Vergnügen gehabt haben – es sei denn, daß auch zu Ihnen ein Laut des Lachens und der Freude drang. Indessen war diese Freude von jener tiefen glanzvollen Helligkeit, von der ein Nachschein immer auf Ihrem Zimmer ruhen möge!

Bedenken Sie schließlich, daß ein Zimmer, das sich solch heiligen Zwecken verschlösse, für Menschen meiner Art und meines Alters gar kein Zimmer ist, sondern höchstens ein Schlafbüro. Daß 99 Prozent aller jungen Leute, die in dieser Stadt studieren, oder sonst was treiben, überhaupt immer nur zu diesem besonderen und immer und unter allen Umständen heiligen Zweck ein Zimmer mieten.

Und nun überlegen Sie, ob Sie weiter Zimmervermieterin bleiben wollen. In jedem, noch so alltäglichen Beruf gibt es einen kritischen Augenblick, ein verdichtetes Problem, das sich nur mit dem Einsatz hoher menschlicher Sittlichkeit, weltgeprüfter Weisheit und einer zarten seelischen Kraft lösen läßt. Da Sie eine gebildete Frau sind, bin ich überzeugt, daß Sie das Problem lösen werden.

Was mich betrifft, so empfehle ich mich Ihnen, nicht ohne Ihnen zu danken für die glücklichen Stunden, die ich in Ihrem Hause verleben durfte.

Ihr sehr ergebener
L. Benrath.

 

Fräulein Emmy Förster.

Meine liebe Emmy!

In aller Eile verständige ich Dich, daß ich von heute ab obere Talstraße 92 wohne. Frau Groeger hat mich hinausgeworfen. Die neue Wirtin macht einen sehr verständigen Eindruck. Übrigens ist der Tausch kein schlechter, und wir werden unter allen Umständen glücklich sein.

Dein
L. B.

 

7. Februar.
Obere Talstraße 92.

Frau Helene von T.

Liebste Helene!

Nur meine neue Adresse. Sage sie auch Julie.

Übrigens, wer ist Dankwart Leppien? Dieser Mann kommt zweimal flüchtig erwähnt in Julies letztem Brief vor. Sie tut so, als müßte ich unbedingt wissen, wer das ist – aber ich weiß gar nichts. Julie wollte ich nicht fragen.

Ludwig.

 

9. Februar.
Hauptpostlagernd.

L. K. 100.

Liebes Kätchen!

Schwerer ist eine Neugierde nie bestraft worden!

Wie heiter waren wir zusammen. Du hattest mir endlich eine ganze Stunde Deiner merkwürdig kostbaren Zeit geschenkt. Ich durfte Dich in eine Konditorei führen, und Du erlaubtest mir, meine Hand auf Deine zu legen. Was – trotz des Kusses – für mich gar nicht so ausgemacht war. Irgend etwas an Dir gebietet Entfernung. Aus Deinem Freimut heraus darfst Du vieles tun, was mir verwehrt ist. Oft frage ich mich, woran es liegt. Noch immer kenne ich Deinen Namen nicht, noch weiß ich, womit Du Deine Tage zubringst. Und selbst Dein Kleid ist so ein undurchdringliches Schwarz. Wahrhaftig, es ist nicht die feinste Wolle einer Prinzessin, ist nur sauber, und wäre völlig schmucklos, trügest Du es nicht mit Deiner eigenen starken Leuchtkraft, heiter und selbstsicher.

Aber vielleicht verstehe ich Deine Heiterkeit am wenigsten. Als Du heute von Paris erzähltest – das war so sonderbar, so gegen allen Menschenverstand. Die Dame des Hauses hatte Dich schlecht behandelt, und Du liefest davon, natürlich begreife ich das. Am Ende auch, daß Du in der Verwirrung kein Quartier fandest, daß Du herumirrtest, müde warst, auf einem der äußeren Boulevards auf eine Bank sankest und einschliefst. Aber diese – gläserne – Heiterkeit, mit der Du so was erzählst – ich versteh sie nicht, sie war mir unheimlich.

Und dennoch, solange wir zusammen waren, fühlte ich mich warm bei Dir, und es war gut. Dann aber nahmst Du mir das Versprechen ab, Dir nicht zu folgen, und ich brach mein Wort. War ungesehen dreißig, vierzig Schritte hinter Dir. Du schienest mich zu fühlen, gingst kreuz und quer, durch Straßen, die voller Menschen waren, und die meine Verfolgungen begünstigten, und dann durch leere Gassen, die sie unmöglich machten. Ich verlor Dich, fand Dich durch Zufall wieder und folgte Dir, bis Du endlich hinter jener Tür verschwandest.

Hinter jener Tür!

Nicht, als ob ich gleich gewußt hätte, was diese Tür bedeutet! Ganz vorsichtig schlich ich mich heran. Da sah ich erst, daß es ein Laden war, ein Laden mit technischen Spielereien, häßlichem dummen Schwindel, und Zigarren. Und zuletzt erst las ich das Ladenschild: K. Rapp.

Eine Erinnerung, dann eine Gewißheit. Aber noch tat sie mir nichts an. Warum solltest Du diesen Laden nicht aus irgendeinem Grunde betreten? Du würdest ihn ja wieder verlassen, und ich wollte warten. Ich zählte die Minuten, dann die Viertelstunden. Selten, selten betrat ein Kunde das armselige Geschäft. Aber Du bliebst!

Und dann, ohne rechte Überlegung, trat ich selbst ein. Hinter dem Ladentisch stand ein alter weißbärtiger Mann mit dünner gefalteter Haut auf den dicken Backenknochen, mit kleinen grauen, tiefbeschatteten Augen. Du aber saßest im Hintergrunde, putztest Patentfeuerzeuge. Sahst von der Arbeit auf, kaum überrascht, gar nicht böse, lächeltest.

Er legte mir Zigarren vor. Ich wählte, zahlte und ging. Aber ich sage Dir, Kätchen, Du darfst bei ihm nicht bleiben. Du weißt doch! Aber nein, wenn Du es wüßtest, wärest Du ja nicht bei ihm. Er hat es Dir sicher nicht erzählt, es ist lange geschehen, bevor Du herkamst – das heißt: das letztemal. Und es war gar nicht so Stadtgespräch, als man denken könnte. Ich wußte nichts, und erst vor wenigen Wochen erzählte mir eine Freundin diese furchtbare Geschichte ... Ihn selbst habe ich heute das erstemal gesehen, aber als ich sein Namensschild las, da wußte ich es, daß er es ist, obgleich das ›K‹ nicht stimmt. Er heißt Ludwig, wie ich, ich weiß es genau.

Die Geschichte ist in wenigen Worten erzählt. Rapp soll aus guter Familie stammen, das Leben hat ihn hinauf und hinunter geführt. Mehr als einmal. Dreimal, das weiß ich bestimmt, stand er ganz oben. Denn jedesmal hatte er eine Frau – eine andere. Er plagte seinen Kopf, schindete sich ab. Hatte Einfälle und spekulierte, raffte das Gold und ließ es durch die Hände der Frau laufen, bis es zum plötzlichen Ende kam: er war ruiniert, stand plötzlich bettelarm vor der Frau, die er so hoch gehoben. Und dann geschah jedesmal dasselbe. Er krümmte sich unter ihren Vorwürfen, sie weinten zusammen, und da sie keinen Mut fanden, von neuem zu beginnen, beschlossen sie, aus dem Leben zu scheiden. Zu gleicher Zeit, aber nicht gemeinsam. Er sagte, er könne sie nicht töten, sie müsse es selbst versuchen. Die Frau ging aus dem Hause. Die erste erschoß sich im Parke, die zweite ertränkte sich im Fluß, die dritte erhängte sich in einem Hotelzimmer. Er aber blieb jedesmal zu Hause; ob er das Schreckliche versuchte, weiß ich nicht. Aber er blieb am Leben! Und lebt nun heute noch!

Ich weiß nicht recht, Kätchen, warum ich mich um Dich ängstige. Ich wüßte keinen ganz vernünftigen Grund dafür. Aber Du darfst bei ihm nicht bleiben! Komm, komm zu mir! Ich bin wahrhaftig nicht reich, aber ich will für Dich von ganzem Herzen sorgen, bis wir eine neue Stelle für Dich gefunden haben.

Komm, Kätchen, vertraue mir, ich bin Dein Freund! Ich fordere nichts, nicht einen Händedruck, den Du mir nicht freiwillig gibst, aber fliehe diesen fürchterlichen Menschen und komm!

L. B.

 

11. Februar.

Meine liebe Mutter!

Ich danke Dir für die Geldsendung, die man mir hierher an meine neue Adresse (obere Talstraße 92) nachgeschickt hat. Ich habe bei der alten Wirtin fortwährend Ärger gehabt. Es war eine sehr unruhige Wohnung, und ich wundere mich überhaupt, daß ich es solange ausgehalten habe.

Nochmals Dank für das Geld, das Du Dir abgespart hast – wie jeden Monat. Ich wäre untröstlich, müßte ich annehmen, Du littest Entbehrungen. Indessen kenne ich unsern Haushalt zur Genüge, um zu wissen, daß Du selbst solche Ersparnisse gar nicht absenden kannst, ohne daß Vater sie Dir stillschweigend zur Beförderung übergibt. Aber ich achte und ehre diese Fiktion, so schmerzlich sie mir ist, da sie mir ein Zeugnis von seiner unabänderlichen Meinung, wenn auch zugleich von seiner unabänderlichen Gesinnung ist.

Du schreibst nun, Vater würde seine Meinung ändern, wenn er einmal Taten sehen würde, Ergebnisse meiner Arbeit, womöglich Erfolge. Aber, geliebte Mama, das heißt denn doch, das Problem völlig verdrehen. Es scheint mir in der Tat kein Heldenstück, einen Sohn anzuerkennen, der auf Grund einer höchst wunderbaren, nur in den seltensten Fällen beobachteten Begabung mit dreiundzwanzig Jahren ein bedeutender Dichter ist. So wenig ich mich in die Seele eines Dichtervaters zu versetzen vermag, so will es mir scheinen, daß zunächst er es ist, der die große Prüfung zu bestehen hat.

Geliebte Mutter, ich spiele auch nicht zum Scherz den Franz Moor und erhebe nicht den Einspruch des ungebetenen Geborenseins. Denn ich freue mich, daß ich auf der Welt bin, genieße das gemeine Leben, und darüber hinaus ein höheres, an dem ich einst teilzunehmen hoffe.

Indem mein Vater mir (auf eine etwas verschrobene Art), wie in Erfüllung bürgerlicher Pflicht, die Fristung des gemeinen Lebens (von äußerster Knappheit) verstattet, durch sein unverbrüchliches Schweigen aber meine edelsten Wünsche mißbilligt, schiebt er mir gewissermaßen die Verantwortung für mein besonderes Dasein zu, und in diesem Punkte irrt er ganz entschieden.

Es ließe sich darüber streiten, ob es richtig ist, die ganze Jugend eines Volkes auf einer idealistischen Grundlage zu erziehen, die mit der praktischen Berufsübung des Mannes in so geringem Zusammenhange steht. Ich spreche hier natürlich nicht über die besonderen Einrichtungen unserer Schulen und ihre Beziehungen zu irgendwelchen Berufen. Ich spreche von dem Geiste, den man – wenn auch auf noch so mechanische Weise – der Jugend einzuprägen versucht. Vaterlandsliebe, Gottesfurcht, Verehrung, Freundschaft, das sind die goldenen Schalen, in denen uns die köstlichsten geistigen Gerichte geboten werden, und es liegt vielleicht nur an deren oft sehr mittelmäßigen Zubereitung, daß nicht alle Abiturienten Dichter werden. Jedenfalls besteht die Absicht, dem jungen Geist die edelste Form zu geben, und ein Elternhaus wie das unsere unterstützt diese Bestrebungen. Niemals ist von den Listen und Tücken die Rede, von der kalten Kraft und dem unzarten Willen, der nötig ist, um in diesem Leben eine sichtbare Stellung zu erreichen. Nicht einmal von den Hinterhalten, Fallen, Selbstschüssen, die uns erwarten, werden wir gewarnt. Man vertraut offenbar auf eingeborene Instinkte, auf jene Bestialität, die durch die geistige und seelische Dressur wohl nur gemildert, nicht ausgetilgt werden sollen.

Ach, meine liebe Mutter, ich habe mir schon als Kind dunkle und unbestimmbare Gedanken über die Bestialität gemacht, die ich auf Gassen und Plätzen sah, die ich aber in meinem Elternhaus vergebens suchte. Jawohl suchte – jawohl vergebens. Ich hielt es nämlich für einen etwas unwahrscheinlichen Zustand, daß gerade vor der Schwelle unseres Hauses die Gemeinheit eine Grenze finden sollte. Uns umgab eine Harmonie, an die ich einfach nicht glaubte.

Ihr habt das Beste gewollt, ja ich erinnere mich nicht mal an falsche Töne der Gelehrsamkeit, oder salbungsvolle Schöntümelei. Ihr hattet den sehr ehrlichen Glauben an das Buch; Vater selbst hat keine freie Stunde vorübergehen lassen, ohne sich mit sehr anständigen, sehr ehrenwerten Dingen zu beschäftigen, die außerhalb seines Berufes lagen, und Du, liebe Mutter, bist mir, soweit ich denken kann, mit einem Buche in der Hand gegenwärtig. Aus kindischem Widerspruchsgefühl wurde ich von einer ehrlichen Abneigung gegen alles Gedruckte beseelt, nur die väterliche Macht zwang mich zum Lesen, Lesen und Lesen. Und ich las so lange, – bis ich schrieb.

Ich frage: ist das auch nur verwunderlich? Aber ich frage härter: was ist daran entehrend? Eines gebe ich zu: ich habe ohne List und Tücke gehandelt. Ich habe es verschmäht, die Finte mancher Kameraden zu gebrauchen, die sich hinter Philologie, Jurisprudenz und andere schöne Dinge versteckten, um heimlich ihren Dichterwünschen solange nachzugehen, bis sie – Philologen und Juristen wurden. Ich wies jeden Beruf von mir ab und sagte: ich will leben, und wir werden sehen, was dabei herauskommt.

Und es wird genau das herauskommen, wozu die Kräfte meiner Eltern und Vorfahren reichten. Aber was haben diese von mir zu verlangen? Daß ich sie liebe und verehre. Und weiter? Daß ich leiste? Daß meine Vollbringungen im Einklang mit meinen Prätensionen stehen? Aber habe ich etwas versprochen?

Ihr befindet Euch in nicht ungünstigen Lebensumständen, Ihr verfügt über eine ganze Anzahl behaglich eingerichteter Stuben. Ihr setzt Euch täglich in sauberen Kleidern an einen wohlgedeckten Tisch und laßt Euch dabei von dem Sohne unterhalten, der Euch geblieben ist. Dem besten aller Brüder. Der als Kammergerichtsreferendar zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Er verdient es, daß man seiner glänzenden Laufbahn die größten Opfer brachte, die Euch nicht ganz leicht wurden. Opfer, die vielleicht weniger seiner wissenschaftlichen Ausrüstung zugute kamen. Aber ein Jurist muß ja wohl das Leben kennen, muß ja wohl auch mit neunzehn Jahren beginnen, seine gesellschaftliche Stellung zu begründen. Er wird nicht verfehlen, mit dreißig Jahren Assessor, mit vierzig Amtsrichter, mit fünfzig Amtsgerichtsrat zu sein, um mit sechzig in Pension zu gehen. Nun, ich gebe Euch mein heiliges Versprechen, daß ich ihm in letzterem Punkt nicht gleichen werde. Ich werde zwischen sechzig und siebzig Jahren keine Pause machen, ich werde nicht aufhören zu schreiben, zu schreiben, bis zu meinem letzten Atemzug.

Wann ich aber damit anfange, das ist eine völlig andere Frage.

Welcher Weg zur Erreichung meines Zieles der richtige sei, weiß ich nicht. Es gibt Dichter, die von der Not wunderbar beflügelt wurden, und wiederum gibt es eine ganze Reihe von Beispielen dafür, daß die frühzeitige Stellung im gesellschaftlichen Rang, die kostspielige Ausrüstung zu allen geistigen und materiellen Genüssen, selbst großen Talenten nur fördernd waren.

Mein Vater ist so schwer enttäuscht, daß er nur verpflichtet zu sein glaubt, das Notwendigste für meinen Lebensunterhalt zu leisten. Gut. Er ist, wenn ich mich nicht ganz irre, nebenbei der – übrigens wenig kostspieligen – Überzeugung, daß das wahre Talent in der Dachkammer blüht. Da er mich liebt – und selbstverständlich liebt er mich mit unabänderlicher Treue – kann er sich sicher nicht enthalten, alle möglichen Dichterbiographien zu lesen und insbesondere die Lage der Dichterväter nachzuprüfen. Nur den Fall von Vater Goethe läßt er außer Betracht. Was mich betrifft, mit Recht; auch erfreute jener Sohn jenen Vater durch juristische Examina. Aber wenn es außerhalb meiner Fähigkeit liegt, ein Johann Wolfgang zu werden – entbindet es meinen Vater von der Pflicht, dem Herrn Rat nachzueifern, der in keiner Beziehung so hervorragend war als in dem Verantwortungsgefühl, in dem Bewußtsein, einen Menschen hervorgebracht zu haben, dessen edelste Gaben zu entwickeln sein schönstes Recht, seine liebste Pflicht war? Nein, meine liebe Mutter. Wenn ich mich in unserm jungen Dichterkreise umsehe, so sehe ich wenig Möglichkeiten, die auch nur in irgendeinem Wesenszuge an jene Gestalt erinnern, die wie eine Gottheit uns nicht nur erhebt – auch tief bedrückt. Aber wenn ich mir von meinen Freunden erzählen lasse, wie es mit ihren Vätern steht, so sehe ich wenig Tröstlicheres. Nur von einem hörte ich, der das Letzte hergibt, um seinem Sohn, einem Maler, das Studium zu ermöglichen. Dieser Jüngling ist so talentlos, daß sein Professor dem Vater schrieb, er solle den Sohn schleunigst von der Akademie fortnehmen und ihn Schuster werden lassen. Aber der Vater schrieb zurück: »Sie dürfen nicht glauben, Herr Professor, daß ein schlechter Maler ein guter Schuhmacher werden könne. Tüchtigkeit oder Unkraft wird sich in jedem vorgefaßten Berufe erweisen, die größten Hemmnisse überwinden, oder vor den leisesten Anstrengungen zusammenbrechen. Wer aber ist für die Fähigkeiten seines Kindes verantwortlicher als ein Vater?« Wahrlich, nicht der Sohn, aber dieser Vater verdient sich ein Denkmal!

Du siehst, meine liebe Mutter, ich bin nicht ungerecht, und ich fasse alle möglichen Fälle ins Auge. Aber Du wirst an dem Ernste eines Menschen nicht zweifeln, der das beste Leben haben könnte, wenn er sich zu einem Brotstudium entschlösse, und der sich durch keine Verführung grobsinnlicher Art davon abbringen läßt, das zu werden, was ihm seine Eltern in die Wiege gelegt.

Dein
treuer Sohn.

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12. Februar.

Gusti, liebe Freundin!

Ich könnte Ihnen das alles ebensogut erzählen. Ich werde Ihnen vielleicht in einer Stunde selbst diesen Brief bringen. Aber ich muß Ihnen schreiben, nur um die Zeit hinzubringen, nur um meiner qualvollen Erregung Herr zu werden.

Gusti, ich habe etwas erlebt, ich bin im Begriff etwas zu erleben. Aber Sie haben ein Anrecht darauf, es zu erfahren, denn ohne Sie wüßte ich gar nicht, was ich erlebe!

Erinnern Sie sich, daß Sie mir von dem sonderbaren Schicksal des Kaufmanns Rapp erzählten?

Nun hören Sie. Ich lerne durch Zufall ein junges und liebenswürdiges Mädchen kennen, das einigen Eindruck auf mich macht. Ich erfahre nichts als seinen Vornamen, dann ermittle ich, daß es in einem armseligen Laden beschäftigt ist, in dem Rapp Grammophone, Feuerzeuge, Zigarren feil hält. Ich werde Kunde in dem Geschäft, obgleich Rapp in mir vom ersten Augenblick ein gewisses Grauen erweckt. Er ist dabei sanft und zuvorkommend, in jeder Weise höflich. Aber ich sehe in dem mageren dünnhäutigen Greis immer einen dreifachen Mörder, den klügsten und abgefeimtesten, den es je gab! Im Hintergrunde des Ladens aber sitzt das junge Mädchen, lächelt mich mit heimlichem Einverständnis an.

Ich wechselte mit dem Mädchen einige Briefe. Aber das war noch, bevor ich wußte, wer ihr Brotherr ist. Dann erfuhr ich es, und ich gehorchte nur einem Zwange als ich ihr schrieb, mit wem sie zu schaffen habe, daß sie sofort die Stellung verlassen müsse, daß ich alles für sie tun werde, was in meiner Macht liegt.

Auf diesen Brief erhielt ich keine Antwort. Ich versuchte, sie auf der Straße abzupassen: vergebens. Betrat ich den Laden, so lächelte sie mich an. Da faßte ich den Plan, sie in meine Wohnung zu locken. Ich wußte, daß sie für Rapp die wenigen Gänge besorgt, die das elende Geschäft erfordert.

Ich ging also heute vormittag hin, sagte, ich wolle gern hundert Zigarren kaufen, hätte aber kein Geld bei mir, er möge sie mir heute nachmittag mit der Rechnung schicken. Er sagte – und ich war darauf vorbereitet:

»Sie mögen sie gern mitnehmen, Sie können ja morgen vorbeikommen und zahlen.«

Ich wehrte mich sofort. Ich hätte in der Stadt noch mehrere Gänge zu machen und wollte mich nicht mit dem Paket schleppen. Da dachte er einen Augenblick nach und sagte langsam:

»Eigentlich habe ich niemand zum Schicken, aber schließlich könnte Ihnen ja meine Frau die Zigarren bringen – nicht wahr Kätchen, Du bist so gut –«

Gusti, daß ich in diesem Augenblick meine Haltung bewahrte, begreife ich immer noch nicht. Kaum, daß meine Hand zitterte, als ich ihm meine Adresse aufschrieb. Ich war in völliger Verwirrung, da ich den Laden verließ. Ich fühlte nicht die Klinke in meiner Hand, ich war völlig bewußtlos, und die Beine trugen mich nur aus alter Gewohnheit.

Sie hätten vollkommen recht, zu behaupten, daß mich dieser alte, schreckliche Mann nichts angeht. Und weil Sie mich genau kennen, würden Sie nicht einmal irren, mir zu sagen, seine Frau bedeute für mich nicht eben sehr viel. Nein Gusti, nicht mehr als ein gerade und schlank gewachsenes Geschöpf mit leuchtenden tiefen blauen Augen, mit dem schönsten frischesten Lächeln für mich bedeutet. Die Sache wird an sich nicht wesentlich ernster und erfüllter dadurch, daß dieses Mädchen eine Haltung, einen Gang hat, der auch den Schatten eines Verdachtes von Gemeinheit ausschließt. So wenig dieses Besondere sein mag – wäre es nicht, ich hätte dem Zufall nie erlaubt, mich ihr näherzuführen. Wäre sie frei – ich gebe Ihnen völlig recht – es wäre im äußersten Falle eine jener Beziehungen entstanden, denen freilich die Flüchtigkeit nichts von ihrer Schönheit nimmt.

Nun aber steht das Bild dieser Frau plötzlich gegen den Hintergrund einer abscheulichen und unnatürlichen Ehe, deren widerwärtiges Geheimnis zu lösen mich nicht einmal gelüstet. Was wird es, was kann es anderes sein als dieses: Rapp ist von seinem letzten Zusammenbruch her tief verschuldet. Er kann kein eigenes Geschäft führen, ohne sich sofort der Pfändung auszusetzen. Er brauchte ein Firmenschild und heiratete eine Frau – irgendeine. Er hätte auch eine andere geheiratet, eine weniger schöne und junge. Diese aber trieb vorm Winde, ohne das Steuer der Herkunft, der Klugheit, des eigenen und bewußten Zieles. Vielleicht gaben schmerzliche Erfahrungen ihrer Haltung die Würde, ihrem Lachen aber die gläserne Gleichgültigkeit, die mich erschreckt.

Das Firmenschild trägt ihren Namen, K. Rapp – Katharina.

»Im besten Falle eine jener Beziehungen«, ja – tausendmal ja! Aber nicht der beste Fall ist eingetroffen! Der schlechteste! Ich bin plötzlich in die Lebensgeschichte nicht nur dieser Frau, sondern auch jenes Mannes verstrickt, deren bestimmende Punkte mit Blut gezeichnet sind.

Ich liebe die Frau nicht, obgleich sie mir in den ersten Stunden meiner Bekanntschaft einen stärkeren Ausdruck von Mut und Freudigkeit offenbarte, als ich je bei einer andern wahrgenommen.

Aber ich liebe vielleicht – den Mann dieser Frau!

Lachen Sie mich nicht aus, Gusti. Sie kennen einige meiner Leidenschaften, unter denen meine Neigung für Sie wirklich nicht die unlauterste ist. Aber was ist alles Lieben, das sich mit einigen gefühlvollen Briefen abtut, das mit einer Blume den Gipfel, mit einer zurückgesandten Locke das Ende erreicht? Habe ich je mein Leben eingesetzt, hat man es je von mir verlangt? Und doch ist nur die Liebe groß, die auf den Wellen des Blutes spielt, deren reizendstes Abenteuer von Gefahr umwittert, an deren letztem Ziele ein Grab geschaufelt ist. Darf ich noch abmessen, was Kätchen an persönlichem Range etwa Julie T. oder Melanie H. gegenüber bedeutet? Sie hat den Tod für sich und erhebt sich damit zu einer so wunderbar fernen Höhe, die sie vor allen andern auszeichnet. Ihr Lächeln, das ich einst gläsern schalt, ist die frühe, noch ungesungene Klage eines Menschen, der unwissend zum Schicksal bestallt ist. Zum Schicksal, Gusti, was mehr und adliger ist, als zum Glück, denn dies ist immer ein Bescheiden.

Und die besten Kräfte meines Daseins drängen mich, dieses Schicksal zu teilen, nicht an Arterienverkalkung, sondern an der Liebe und an der Logik zugrunde zu gehen. Raten Sie mir nicht ab! Behaupten Sie nicht, daß die tiefste Logik und die tiefste Liebe sich nur im höchsten Bewußtsein erfüllen können. Nur im völlig Unbewußten schlummern alle Möglichkeiten.

Sie wird kommen.

Fürchten Sie nichts. Wenn Sie diese Zeilen erhalten, bin ich am Leben wie früher. Sie ist zwar gekommen, aber ich habe sie nicht gesehen. Ich habe meiner Wirtin das Geld ausgehändigt, sie hat Kätchen an der Tür abgefertigt, die Gefahr ist vorüber.

Die Gefahr und die einzige Chance. Wie beklage ich meinen Mangel an Mut, an Ritterlichkeit. Denn Kätchen ist ihres Schicksals gewiß und geht heiter ihres Weges. Ich aber bin belastet mit der Schuld der Feigheit, von der mich kein Geständnis reinwäscht.

Leben Sie wohl
L. B.

 

13. Februar.

Fräulein Melanie T.

Sehr verehrtes gnädiges Fräulein!

Nun ist es schon viermal geschehen, daß wir auf unsern nicht sehr ausgedehnten Spaziergängen in jenen kleinen, abgelegenen Wirtschaftsgarten eingetreten sind, um dort in aller Heiterkeit zu vespern. Eine schmutzige, stumpfe Kellnerin brachte uns den dünnen Kaffee und den erbärmlichen Kuchen. Die schon so tief wärmende Februarsonne dieses Jahres wurde durch die kahlen Zweige nicht gehindert, uns freundlich zu bescheinen, und wir sahen weit unter uns die qualmende, lärmende Stadt mit ihren glänzenden Türmen, mit ihren eng aneinandergepreßten Häusern. O, wir leben sonst auch in diesen Häusern, haben Teil an dem Dasein an dem Termitenhaufen der Menschen. Aber nun hatten wir uns frei gemacht, und es war uns, als gehörte nur eine kleine Aufwendung von Kraft dazu, um öfter, um wieder, um für immer frei zu sein.

Wie nutzten wir die Freiheit? Wir sprachen, wir plauderten einfach vor uns hin. Wir gaben unsern Gedanken keine feierlichen Gewänder, keine größeren Gesten. Nicht das kleinste Geschehen unseres täglichen Lebens war unwert, erwähnt, behandelt zu werden. Fast vorsichtig vermieden wir, uns allzuviel in künstlerische und literarische Fragen einzulassen. Dem Leben selbst wandten wir uns zu, und unser Gespräch war nicht tiefer als das zweier Menschen, die sich zu kurzem Zusammensein in einem Eisenbahnwagen treffen.

Gab es etwas, was unserm Gespräch bei aller Geringfügigkeit seiner Stoffe bedeutenden Inhalt gab? Vielleicht, ich hoffe es.

Wir haben bisher nicht davon gesprochen, und wir werden es uns mit Worten von Mund zu Mund vielleicht nie sagen; aber wäre es nicht eine Unaufrichtigkeit, ja eine Heuchelei niederster Art, wollten wir das für uns Wesentliche einander für immer verschweigen? Kommt nicht im Leben alles auf die Ausbildung und Durchdringung menschlicher Verhältnisse an? Ließen wir uns nicht etwas entgehen, versäumten wir es, auch jenen besonderen Kreis zu umschreiben, der uns umgrenzt?

Ich bin mir der Unbescheidenheit bewußt, die ich begehe, wenn ich von »uns« spreche. Ich bliebe besser bei mir allein, und will es versuchen, mich darauf zu beschränken, wo es zulässig ist. Indessen, ich weiß, daß unser Abenteuer auch für Sie etwas Ungewöhnliches hat, und es ist mein Recht, gewisse Buchungen für mich vorzunehmen. Denn Sie sind die Dame der Gesellschaft. Das sind Sie in allererster Linie, und Sie sind gesonnen, Ihre besonderen Begabungen, Ihre Ansprüche an das Leben auf dem Grunde dieser Gesellschaft zu entwickeln, in der Sie geboren sind, in der Sie sich bewegen, und die ich hasse. Die zu hassen ich ein Recht habe, weil ich keiner schlechteren Gesellschaft angehöre, weil ich weiß, daß die Freiheit des Blickes und der Rede und der Tat uns von ihr ausschließt. Auch Sie, mein gnädiges Fräulein. Aber Sie selbst sind es, die sich mit allen Kräften an das Gegebene hält.

Sie sahen unsere Welt. Die ungepflegte Welt derer, die entschlossen ist, sich auf keine Mißverständnisse mehr einzulassen, die nichts mehr dazu tun will, diese Mißverständnisse aufzuklären. Denn darauf kommt es an, mein Fräulein. Ich kann mich nicht im Kreise von Menschen bewegen, für die jedes unserer Worte eine Erklärung benötigte. Und wiederum unterscheidet nicht die Tiefe unserer Gedanken, noch das äußere deutliche Maß unserer Bildung. Lediglich die Freiheit des Blicks, jene besondere allerinnerste Unabhängigkeit, die dazu führte, daß wir uns vernachlässigten und daß wir unsern Haß so weit trieben, durch offensichtlich rohe Sitten die andere Welt zu ärgern, unsern Bruch endgültig zu machen.

Und doch wir. Doch Sie und ich.

Wir können es nicht mal Freundschaft nennen. Vielleicht ist es mehr: das tiefe Vertrauen, das wir nur zu unserm Feinde haben. Vertrauen ohne jede Vertraulichkeit.

Und Feinde sind wir, weil wir bewußt gewählt haben. Und wir treffen uns in einer neutralen Zone, wandeln mit verhaltenem Atem, sprechen nicht das Wort aus, um dessentwillen wir uns an den Hals springen würden.

Feinde sind wir als Frau und Mann. Wäre es noch zu verheimlichen, daß ich Sie liebe? Ich schreibe dieses Wort ohne zu bangen, ohne zu zögern. Schreibe dieses Wort, das der Inhalt meiner Tage und Nächte ist. Das mich aufjauchzen läßt, wenn ich Sie sehe, das mich aufschreien läßt, wenn ich Sie verlassen muß.

Mein gnädiges Fräulein, Sie haben von Aufjauchzen und Aufschrei nie etwas gehört. Nicht ein Blick der Bitte, nicht ein Seufzer der Klage drang zu Ihnen. Kein Wort, keine Hoffnung, keine Verzweiflung.

Rufe ich mir Ihr Bild ins Gedächtnis, so weiß ich, daß es in meinem Leben keinen Augenblick gab, in dem ich Sie nicht geliebt habe; das war, bevor ich Sie kannte, und wird sein, wenn ich Sie nicht mehr kennen werde. Unter der schmalen Stirn, unter den hochgewölbten, festverwachsenen Brauen stehen die dunkeln, weitgeschlitzten Augen, die ich mir vorstellte, als ich zum ersten Male das Wort Liebe hörte. Nicht minder kühn träumte ich mir je eine Nase, nicht reicher, nicht ausdrucksvoller zeichnete meine Phantasie einen Mund, nicht reiner und adliger die schmale Form der Wangen. Der Stolz, die Kraft, die Einsamkeit sind bei Ihnen.

Aber es ist eine Liebe ohne den Willen zur Hoffnung. Bin ich mir selbst überlassen, so kreise ich in allen Leidenschaften, ohne den fernsten Wunsch der Erfüllung. Und wenn ich Ihnen, weil es die Sitte will, die Hand reiche, ist es ohne die kleinste der Sensationen, von denen der Verliebte seine Träume nährt.

Niemals liebte ich so die Frau eines andern wie in Ihnen, die Sie nicht verheiratet sind, die ich der höchsten Liebe für fähig halte und von der ich weiß, daß sie nie lieben wird.

Jawohl mein Fräulein, ich weiß, daß es nie geschehen wird, obgleich ich überzeugt bin, daß Sie heiraten werden. In meinen ausschweifendsten Träumen sehe ich Sie als Priesterin, vielleicht als Nonne, mit einem Antlitz, das in allen Zügen von der mächtigen Leidenschaftlichkeit des Geistes und des Herzens Zeugnis legt, aus dunkelsten Gründen körperlicher Unmöglichkeiten der Tragödie der Keuschheit verfallen ist. Und sehe Sie in anderen Stunden als die Müde, Ergebene eines wohlerzogenen, eines fertigen, eines ausgeglühten Mannes, von dem nichts mehr zu fürchten ist. O, ich ahne auch die vergebliche Zwiesprache eurer Körper; ich empfinde diesen Mann, der in dieser Ehe seine ebbenden Leidenschaften verrinnen sehen will, und ich empfinde Sie, spät erwachend, sehr spät, zu spät – in einem letzten Schrei nach dem, was ich – was ich nicht bin und nie war, mein gnädiges Fräulein, ich schwöre es Ihnen ohne falsche Bescheidenheit; aber von dem ein Stück, ein wesentliches, wenn auch nur in der Phantasie meiner Seele vorhanden ist.

Feinde sind wir im Alter. Nichts ist feindlicher als die Frau von achtundzwanzig Jahren, die nicht gelebt hat, und der Mann von vierundzwanzig, der erfahren ist. Wie hasse ich Sie, an der ich schon den fatalen Duft des Altjungfertums wahrzunehmen glaube, wie hasse ich die künstliche Überlegenheit der Spröden, und nun erst die natürliche der Reifen! Wie hassen aber auch Sie den Halbverkommenen, dessen kleine Abenteuer Sie verabscheuen und den Sie doch beneiden, weil er weiter ist als Sie, weil die Stunde kommen wird, da er Sie vollends überflügelt.

Und Feinde sind unsere Kleider. Wie könnte man diesen vernachlässigten Rock auch anders denn mit Widerwillen betrachten, dieses braungraue Fadengemengsel, das ich mir jeden Morgen ohne Gedanken über die Schulter werfe. Diese ermüdete rotbraune Krawatte, die ich binde, ohne in den Spiegel zu schauen, und die armen Stiefel, die mich auf so dunkle Wege tragen.

Und meine Röcke hassen Ihre Kleider, die ordentlich, korrekt den Körper einschließen, sich fast schämen, etwas zu verraten. Die gouvernantenhaft die Formen dressieren, die ohne Leichtsinn gewählt, in keinem Augenblick gefallen wollen, die, duftlos und stofflich, nur wärmen und Blöße decken, nicht locken, nicht verführen. Schenken Sie mir das schwarze Band ihres Hutes, und ich werde es achtlos in die Tasche versenken, um es mal zu finden, kaum zu erkennen, wegzuwerfen.

Und dennoch, dennoch, mein Fräulein.

Würden Sie an meiner Seite so ruhig sitzen, wenn Sie mich nicht gebändigt wüßten, wenn Sie nicht überzeugt wären, daß kein Zittern meiner Stimme je den gleichmäßigen Fluß unserer Gespräche stören könnte?

Würden Sie es aber nur der Mühe für wert halten, neben mir zu sitzen, wenn Sie nicht ebenso sicher wüßten, daß diese Ruhe das künstliche Ergebnis eines gewaltigen Selbstzwanges ist, daß ich nichts will, als einmal vor Ihnen niedersinken, meinen Kopf in die Falten Ihres gehaßten Kleides zu drücken und zu weinen, zu weinen!

Es ist mein größtes Unglück, daß ich Ihnen das alles einmal sagen mußte. Sie hören es wie etwas, das Sie hören wollten. Und Sie vergessen es, wie jede Frau ihre zu leichten Triumphe vergißt.

Aber Ihr Vergessen gibt mir die Hoffnung, Sie wieder sehen zu dürfen. Und Sie werden mich finden als den Ruhigen, den Beherrschten, der haßt, was sich ziemt, weil er es übt.

Gestatten Sie, mein gnädiges Fräulein, den Ausdruck meiner vollkommensten

Hochachtung und Verehrung
Ihr
Ludwig Benrath.

 

15. Februar.

Fräulein Emmy Förster.

Liebe Emmy!

Ich danke Dir, daß Du kommen willst. Aber heute nicht. Ich kann nicht, ich bin beschäftigt, ich bin in einer großen Arbeit. Nein, ich bin es nicht. Denke was Du willst. Aber komme nicht.

L.

 

17. Februar.

Frau Katharina Rapp.

Meine liebe Frau Rapp!

Ich halte Ihren Brief in der Hand, dessen große ungelenke Buchstaben mich so rühren. Aber auch die Worte bewegen mich. Ich bin von Glück und Gunst nicht so besonnt, ich habe nicht ungezählte Herzen zu meiner Verfügung, als daß nicht jeder einzelne mir geltende Herzschlag mir teuer sein müßte.

Sie wissen, wie eifervoll ich um die Freude Ihres Besitzes warb, und glauben Sie, nicht die Erkaltung meines Gefühls hält mich von Ihnen fern. Aber bedenken Sie selbst: als ich Ihre Lebensumstände noch höchst ungenau kannte, war mein erster Gedanke, Sie aus der Nähe Rapps entfernen zu müssen. Dann wollte ich der Ihre sein – ohne ein bestimmtes Ziel, im heitersten Genuß Ihrer Gegenwart.

Die Gegenstände unserer Liebe, meine arme reizende Frau Rapp, verführen uns zur verschiedenartigsten Behandlung. In einem Falle wird uns die Schwierigkeit des Besitzes auf alle Schleichwege der List und Verstellung locken, im andern werden wir in der Entfaltung leidenschaftlichen Schmerzes die eigentliche Erfüllung unserer Wünsche sehen, hier wird die Narretei, dort die Eifersucht den wesentlichen Inhalt dessen bilden, was wir Liebe nennen. Stolz und Unterwürfigkeit, Hartnäckigkeit und Verzicht, scheue Verehrung und derber Besitz – jedes Gefühl hat seine Legitimation.

Mit Ihnen wollte ich jung, unbelastet sein. Frische, wolkenlose Kühle atmete ich in Ihrer Nähe, und daran wollte ich mich satt atmen.

Ihre Lebensumstände erfordern eine andere Methode. Eine, die nicht zu uns beiden paßt, die eine Verbindung zwischen uns in idealer Weise nicht herstellt. Nicht die Tatsache einer Ehe überhaupt ist das Hindernis für uns beide. Die Literatur hat den besonderen Fall des betrogenen Alten nach der tragischen wie nach der komischen Seite abgewandelt. Die tragische schaltet in diesem Falle aus, weil meine Neigung zu Ihnen sich kein bestimmtes, für ein Leben bindendes Ziel setzen kann. Auch ist die Ehe mit Ihrem Manne mir nicht genügend motiviert. Sie deuten einen Beweggrund an: Sie waren allein, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Mittel. Der Mann konnte nicht den Himmel versprechen, aber wenigstens Essen und Trinken. Glauben Sie nicht, Frau Rapp, ich wäre so unmenschlich, das nicht zu verstehen. Das Leben ist ohnehin traurig genug; es durchzudarben wäre widersinnig, wäre nutzlose Häufung überflüssiger Qualen. Ich sehe auch deutlich jene paar Menschen vor mir, die mit kupplerischem Rat dabeistanden.

Frau Rapp, was Sie taten, war menschlich, ich habe kein Recht, zu urteilen. Für mich aber entscheidend bleibt die weitere Frage: was war es mehr als menschlich? War es auch schön?

Und war es nicht schön, was habe ich damit zu tun?

Wir könnten es komisch nehmen – aber wir können es nicht. Die Rolle des geprellten Alten ist zu abgespielt. Sie hat Jahrhunderte auf dem Buckel, es waren die Jahrhunderte der Unfreiheit für die Frau. Der alte reiche Esel, der sich das junge Blut von betrügerischen Vormündern zuschanzen ließ, erhielt noch seine gerechte Strafe, wenn er betrogen wurde. Er starb aus, als die Frau erwachte, als sie sich auf ihre Rechte besann. Sie aber, Frau Katharina, waren Herrin Ihres Schicksals. Ich will diese letzten moralischen Schlüsse nicht ziehen; vielleicht ist Rapp dennoch einer der wenigen Männer, die ein Recht auf die Treue ihrer Frauen haben. Sie zu betrügen ist zu leicht und darum unästhetisch.

Ach, meine Freundin, die Wahrheit liegt wo anders. Soll ich sie nennen? Elend ist um Euch beide. Sie sagen, wie zur Entschuldigung, Rapp ist nicht so alt, als er scheint. Aber gibt es Elenderes, als den Mann, der – meinetwegen nicht mit den Jahren – aber mit Körper und Herzen ins Grab gehört, der nur noch mit der Zähigkeit der Nerven der Welt abtrotzt, was sie zu bieten vermag: Erwerb, Genuß, Weib.

Gibt es Elenderes, als die Frau, die zu guter, reiner Menschlichkeit geboren, keine Wahl mehr hat? Ach Kätchen, wären Sie eine von jenen, die ich nicht kenne – ich kennte Sie nicht! Was Sie heraushebt, ist etwas Ungetrübtes, vom eigenen Elend Ungebrochenes.

Mögen Sie weiter, ahnungslos, willfährig nur dem Zufall, jenen sonderbaren, spannenschmalen Weg gehen, mit Ihren leuchtenden Augen, Ihrer gewölbten, lockenumspielten Stirn, mit dem Mute, den nur die Unkenntnis der Gefahr gibt.

Ich aber kenne die Gefahr, bin nicht mehr schwindelfrei.

Lassen Sie mich!

(Nicht abgeschickt)

 

17. Februar.

Frau Katharina Rapp.

Liebe Frau Rapp!

Fragen Sie mich nicht nach den Gründen, warum ich Ihnen fern blieb. Aber kann das nicht sein, was wir wollten, so bleibe ich gleichwohl in Freundesschuld. Diese werde ich abtragen.

Da Sie, wie Sie sagen, jeden Abend mit Ihrem Mann eine Stunde ins Café Orion gehen, wird es sich unschwer machen, daß auch ich mal dazukomme und Sie begrüße. Fordert er mich dann auf, so will ich mich auch niedersetzen.

Glauben Sie mir, Frau Rapp, daß ich nicht aufhöre, Ihr Freund zu sein.

L. B.

 

20. Februar.

An Julie B. in H.

Liebste, einzige Julie!

Dein Brief erreicht mich in einem Augenblick, da ich mich für die sich mir so plötzlich bietende Möglichkeit eines tragischen Erlebnisses völlig ungeeignet fühle. Ich habe ein resedafarbenes Gewand an. Gar keine Hosen, nur Trikot unten 'rum. Mein Haar ist auf eine etwas absonderliche Art zurecht gemacht. An den Füßen trage ich Sandalen. Aufrichtig gesprochen, ich bin im Begriff, auf ein Kostümfest zu gehen.

Aber das soll nicht heißen, daß ich nicht jederzeit für Dich zu haben wäre, liebe, liebe Julie. Es ist ja noch früh, und erst in einer halben Stunde werde ich von Freunden abgeholt. Trotzdem, als ich mir noch vor einer halben Stunde ein paar Kleinigkeiten für mein Kostüm besorgte, ahnte ich nicht, daß mich zu Hause ein Brief erwartete, der mich ganz plötzlich einem Abgrund nahebringen würde.

Ich fühle es, Julie. Obgleich Du noch nichts aussprichst. Ich fühle es, und mir ist eine eiskalte Hand auf dem Herzen. Ich fühle es, Julie, das Furchtbare, das jetzt kommt. Eine verheerende Wahrheit, die eine Lüge ist: Du liebst mich nicht mehr!

Ich weiß gar nicht, warum ich noch auf das Fest gehen soll.

Ich könnte mir denken, in dem Augenblick, da Du mich nicht mehr liebst, (wo es erwiesen ist, unumstößlich erwiesen) mir wäre plötzlich auf der Welt alles, alles – ich wüßte nicht mehr, was ich sollte.

Julie, noch hast Du nichts gesagt. Aber Du sprichst von Enttäuschung. Ja, bist Du denn auch so? Ich glaube nicht daran, ich will es nicht glauben!

Aber ich verstehe Dich, Julie. Du bist eine Frau; nein, Du bist ein Mädchen, Du fühlst Dich geliebt. Aber Du willst, daß die Liebe die Kraft Deines Erwählten stählt. In plötzlicher Erleuchtung soll er das Werk schaffen, das ihn erstens geachtet, zweitens reich und drittens unsterblich macht. Du hast alle Ursache, Julie, das zu wünschen. Aber da Du bescheidener bist, denkst Du zunächst an eine einfach möblierte Dreizimmerwohnung!

Du hast so Unrecht nicht, meine Julie, das Werk ist mir leider noch nicht gelungen. Aber selbst, wenn das mit der Wohnung nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen und nicht über ein Jahr ist – ich weiß nicht, wie sich das alles auf Deine Liebe beziehen soll? Als ob die Liebe was mit dem Glück zu tun hätte!

Unsinn. Die Liebe ist doch das einzig Wahrhafte, Wirkliche, Unzerstörbare. Und ich glaube an Deine Liebe, an die unteilbare, unauslöschliche.

Nun bin ich wieder ruhiger geworden und gehe auf das Fest.

Leb wohl, meine Liebste.
L.

 

21. Februar.

Frau Helene von T.

Liebste Helene!

Eigentlich wollte ich Dir etwas über Julie schreiben, die mich gestern mit einem sehr sonderbaren Brief beunruhigt hat. Aber es ist etwas dazwischen gekommen, Helene, eine Nacht ist dazwischen gekommen –

Heute kann ich Dir nichts über Julie sagen. Man ist zuweilen außerstande, chronologisch vorzugehen – also über Julie ein andermal. Für heute genüge Dir die Versicherung, daß ich Julie nicht freigebe, nie!

Was ich Dir schreibe, ist nur für Dich. Ist ein so herrliches Erlebnis, das ich keinem Freunde mitteilen kann, ohne es zu entweihen. Aber Du bist würdig, Du allein.

Es war ein Fest, gestern. Du weißt, daß ich Feste nicht liebe und daß ich aus tiefem Sucherdrange immer wieder zu Festen gehe. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich der ungeeignetste Mensch für Feste bin. Ich habe weder das Herz voll Fröhlichkeit, noch die Taschen voll Geld. Eins kann das andere ersetzen, zur Not. Ich hatte keins von beiden. Die andern kommen lachend in den Saal, tanzen und schwitzen sich müde, zechen sich voll, nehmen sich ein Weibliches, gleichviel welches, tanzen, lachen, schwitzen, zechen weiter, handeln bewußtlos und sind schön darin. Aber wenn sie in den Saal kommen, sind sie noch leicht und frei; sie suchen nichts, das Leben spielt es ihnen zu. Sie haben die Erfüllung der Kraft, und sie kennen nicht die Schwüle, die Verlegenheit, die mich vom ersten Augenblick an quält.

Ich trete ein, ich lache nicht, ich bin düster. Bin es ohne Pose. Ich habe mich gestern genau beobachtet. Ich weiß, es liegt daran, daß ich nicht tanze.

Aber daß ich nicht tanze, ist mehr ein Rätsel als eine Erklärung. Ich denke an die tausend jungen Menschen, die gestern in engen Räumen miteinander waren. Wer von ihnen kann empfänglicher für den heißen, stampfenden Rhythmus sein als ich? Wer kann leidenschaftlicher die bluterfüllte Melodie eines Strauß'schen Walzers, seine hinströmende Lust erleben? Oder den taumeligen Marsch der Française? Aber das sonderbare: was in meiner Seele vor sich geht, überträgt sich nicht auf den Körper. Alle magnetischen Kräfte der Musik genügen nicht, meinen Fuß vom Boden zu heben.

Ich fühle mich nicht häßlich, nicht einmal plump. Und ich habe mich durchaus nicht willenlos in mein Schicksal gefügt. Ich scheute nicht die Lächerlichkeit vor mir selbst, ging vor einem Jahr zu einem Tanzmeister und bat ihn, mir die Schritte beizubringen. Es war ein braver alter Mann, der sein Geld nicht stehlen wollte. Er nahm mich einfach um die Hüfte und walzte mit mir im Saale herum. »Aber Sie können ja tanzen, Sie tanzen ausgezeichnet, ich kann Ihnen nichts beibringen«. Ja aber, wenn's drauf ankommt, dann kann ich es eben nicht, sagte ich mutlos. Da machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und meinte bloß noch: »Dann liegt das aber nicht am Tanzen, sondern an Ihnen.«

Das ist es, Helene, es liegt an mir. Ich habe nicht die kindische Jugend in mir, nicht das bißchen dumme Selbstgefälligkeit. Ich stehe in einer Ecke des Saales. Ich sehe die andern hintappen, Dutzende, die sich drehen ohne Kraft und Geschmeidigkeit, immer am Rhythmus vorbei, ohne jedes Gefühl für Melodie und Linie. Aber sie drehen sich doch, grinsen vergnügt vor sich hin. Ich lache über sie und beneide sie dennoch.

Dann aber sind die andern, über die ich nicht lache, die ich nur beneide. Sie leuchten. Wir sind auch auf manches Fest gegangen, Du und ich, Helene. Du leuchtetest auch, Du zogst die Tänzer an, Du gingst mir verloren, wie oft! Es ist noch immer so.

Es war ein Fest, draußen auf der Kindlbrauerei. Sie hatten gesagt, es solle türkisch sein. Die Maler hatten die Wände mit irrsinnig sich spreizenden Gemälden beworfen, aber die Lampen hatten sie wollüstig verhängt. Und man sah fast nichts von dem banalen Getisch und Gestühl einer Bierbrauerei. Ich war resedafarben. Frage mich nicht, warum.

Die Mädchen waren auf türkische Art verschleiert. Von einigen sah man die Augen. Andere hatten die gewöhnliche Maske vorgebunden, die den Mund frei läßt, andere trugen zum Überfluß einen kleinen Vorhang von Spitzen über den Mund.

Helene, ich weiß, warum ich nicht tanze. Ich habe dieses entsetzliche, in erotischen Dingen nur zweckwidrige Gefühl für Qualität. In den Stunden, da ich einem maskierten Ball beiwohne, arbeitet meine Phantasie mit der höchsten Kraft. Aus den Regungen der Körper, aus ihrer Biegsamkeit und Schönheit, aus dem Schritt der Füße, der Kraft der Umarmung, aus dem Ruhen der leichtgespreizten Hand auf der Schulter des Tänzers, aus Blick, Lächeln, Flüstern – erlebe ich. Es ist nicht ein einzelnes Paar, das ich mir wähle. Vielleicht sind es sechs oder zehn Paare, die ich mir aussuche, mit denen ich bin, schwebe, mich drehe. Nein, ich beneide nicht. Ich genieße nur reiner, unkörperlicher, weniger beschwert von dem Druck der Wirklichkeit. Eine wundervolle Hand hebt das Glas zu einem köstlichen Munde. Ich bin berauscht, aber ich brauche nicht zu trinken.

Ich mache in diesen Stunden des Zuschauens keinen sehr glücklichen Eindruck. Selbst meine Freunde verstehen mich nicht; mancher, den ich sonst zu unterhalten wußte, wendet sich verlegen, gelangweilt von mir.

Aber es geschieht dann auch, nach Stunden, daß sich die Klarheit meines Bewußtseins trübt. Daß ich bezecht bin von ungetrunkenem Wein. Rauch, Wein- und Menschendunst haben mich schwach gemacht.

Stunden brachte ich in der Ecke zu. Nun taumele ich weiter, wanke zwischen den Tischen hindurch, ich blicke durstend auf die halbleeren Gläser, auf das junge blühende lachende Fleisch, und ich habe nicht mehr das Gleichgewicht im Hirn, ich falle –

Ich fiel, aber ich fühlte Hände, die mich hielten, weiche starke Mädchenhände. Das gab mir plötzlich meine Kraft wieder. Ich stand aufrecht, hielt ein zartes Duftendes im Arm. Und ich hörte Worte:

»Ich sah Dich all die Stunden abseits, warum willst du nicht tanzen – komm!«

Was ich sah? Einen süßen, jungen Hals, unter gelbem weichen Seidenstoff zwei straffe Brüste, unter lockerem Haarputz quellendes braunblondes Haar. Aber nichts sah ich von dem Gesicht, nichts von Augen und Lippen, die unter einer häßlichen Larve blieben –

Helene, und meine Augen haben auch jetzt noch nicht gesehen. Aber meine Hände haben gesehen, als die Lampe gelöscht war, als ich mit den Spitzen meiner Finger diese hold gefüllten Augengruben abtastete, das sanfte, feste Fleisch dieser Wangen, die frische reine Zeichnung der Lippen.

Helene, ich weiß nicht, wer bei mir war. Ich fühle nur noch den reinen guten Menschen, der erleben mußte und erlebte. Der gleich mir in einem Winkel des Saales geblieben war, weil er es nicht wagte, sich selbst in den Zufall zu mischen. Der alle girrende, gemeine, hinfließende, ihn umbrandende Verliebtheit ausschlug, um das Besondere, das Abseitige ausfindig zu machen. Und schließlich mich in Armen hielt, mir gar nicht widerstrebte, sich forttragen ließ, zu mir.

Und doch den bürgerlichen Namen, das öffentliche Gesicht nicht zu enthüllen vermochte. Wie gut verstand ich sie. Wie ganz begriff ich sie, da sie von meiner Seite schlich, im Dunkeln den Weg zum Klavier fand und nun in dieser schwarzen Nacht, in der jeder Pulsschlag hörbar war, die Tasten berührte.

So, so Helene, ist Chopin auf die Welt gekommen.

Klingende Pulsschläge, ein Lächeln durch die Nacht, das vielleicht Weinen ist, ein Berühren unseres zartesten Seelengewebes, das schmerzt und lindert, ein plötzlicher, himmlischer Augenaufschlag – den man greifen möchte, den man nicht greifen kann, weil sich das süße Haupt längst abgewendet hat, weil die Tränen schon wieder fließen, hinklingen.

Nächtliches Wiegenlied, das uns tief einschläfert, unsere Seele mit aller Güte eines Frauenleibes umwindet, mit unendlicher stummer tönender Güte. Chopin – übersetze dieses sonderbare Wort ruhig mit Güte. Mit der Güte eines Herzens, das leidet.

Sie hörte mich weinen, brach ab, kam zu mir.

Dann ging sie.

Sie nannte nicht ihren Namen. Ich bat auch nicht darum. Aber sie sagte, es könne sein, daß ich mal ans Telephon gerufen würde. Etwa, wenn ich mittags im Kaffeehaus sitze, oder des Abends.

Es ist Mittag, Helene, ich muß hingehen.

Leb wohl für heute.
L.

 

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24. Februar.

An die Unbekannte!

Nun bin ich drei Tage ohne Dich. Drei Tage ohne einen Gruß. Früher ging ich in das Kaffeehaus aus Faulheit, Selbstverlassenheit, ich weiß nicht, warum. Jetzt hat es plötzlich einen Zweck, es ist Absicht, harte Pflicht, Gehorsam gegen meinen jämmerlichen Willen, der nichts will als Dich.

Meine Nerven suchen nichts mehr als Erinnerung. Ich atme tief, um mich Deines Duftes zu erinnern, meine Hände greifen in die Luft, um nachzuzeichnen, meine Lippen, mein Körper, es ist ein einziges Hinhorchen, Hinfühlen nach Dir. Aber meine Augen sind stumpf und blind, weil sie allein leer sind von Deinem Bild.

Deine Stimme. Einmal, zweimal glaubte ich, ich hätte sie schon gehört. Aber Du sprachst so wenig; erst, als Du im Feuer standest, sprachst Du, überschüttetest mich mit den Wellen der hochgehenden Lust. Da war mir die Stimme nicht mehr vertraut; sie war mir fremd und neu, so stark und heiß, wie ich eine Stimme nie gehört!

Glaube nicht, Geliebte, ich hätte, seit Du mich verlassen, mein altes Leben weiter gelebt. Ich habe nicht gegessen und nicht getrunken.

Ich will nicht essen und nicht trinken, bis ich Dich wiedergesehen! Komme, laß mich nicht verschmachten oder mache mich nicht – was schlimmer ist – wortbrüchig.

Ich sitze auf meinem Kaffeehausstuhl und warte. Ich sehe auf diese kalte gerade Straße hinaus und die Menschen wandeln an mir vorüber, alle Menschen des Quartiers; die pünktlichen zu ihrer Stunde, die Regellosen aber fliegen hin und her wie Tiere, die ihrem unbekannten Gesetze gehorchen.

Unter welchen bist Du? Sage es doch – sage es mir doch endlich!

Sah ich Dich heute? Warst Du die kühle stolze Dame, deren Blick zu vornehm war, um einen der Insassen hinter den großen Fensterscheiben nur zu streifen? Oder warst Du das tapfere braune lachende Malmädel, das mit den steifen dummen Gefährtinnen an unserm Fenster vorbeizog? Warst Du die blonde, kühn ausschreitende Tochter des Generals, die wie gebändigt neben dem besternten Vater über die Straße ging. Warst Du die dunkle bleiche schmachtende Frau am Arm des jungen spitzbäuchigen Kaufmanns?

Sage doch – sage es doch!

Oder die Dirne da – warum nicht die? Die jedem ihr freches Gesicht zeigt – vielleicht nur nicht mir?

Bei jedem Glockenzeichen schrecke ich auf und warte in unerträglicher Spannung, daß das Fräulein mir vom Büfett her zuwinkt.

Aber ich erlebe das nun seit drei Tagen und ich weiß, daß es nicht sein wird. Die helle Sonne liegt auf der Straße, ich fühle die Zeit rinnen, die eine, die kostbare Zeit. Ich sehe, wie der warme Schein auf den gelben und grauen Häusern verblaßt, ich sehe wie sie erkalten, ich träume in die frühe Dämmerung hinaus, sehe die aufflackernden Versuche der Bogenlampen, das sterbende Tageslicht noch zu bekämpfen. Dann ist es Nacht, und die Kellner ziehen die Vorhänge vor die Scheiben.

Um mich herum sind Menschen, und ich weiß nicht welche. Ich weiß auch nicht, warum wir zusammen sind. Wir lieben uns nicht, sind einander nicht nah, kennen nicht unsere Arbeiten. Nur unsere kleinen Schmutzereien, unsere Weiber, unsere Schulden. Es ist eigentlich kein Gespräch, kein Übersteigern von Gedanken, die, eben geboren, sich aufrecken, anstürmen, siegen wollen. Jeder spricht nur, was er längst gedacht, stumpf, fühllos vor sich hin. Gedanken, Anekdoten, Witze, die längst erkaltet sind.

Und ich bin froh, daß diese Menschen da sind, daß sie mich unter sich dulden! Wehe mir, wenn es Nacht ist, und ich allein bin!

Es ist Nacht. Ich bin allein. Du hast mich nicht gerufen, Du wirst mich nie rufen. Ich friere, ich fiebere.

Und halte in der Hand ein kleines Stückchen der schwarzen Spitze, das ich mir heimlich von Deiner Larve abgerissen habe.

 

24. Februar.

An Fräulein Melanie T.

Sehr verehrtes gnädiges Fräulein!

Ich bin Ihnen Dank schuldig für die paar freundlichen verzeihenden Worte. Ich habe eben noch einmal übergelesen, was ich Ihnen schrieb. Ich führe nicht umsonst mein Kopiebuch. Mein Brief war etwas stark, vielleicht lächerlich.

Sie sind gütig genug, diese Seite der Angelegenheit nicht zu berühren. Und sie sind vorurteilsfrei genug, jene sonderbare heiße und aufrichtige Liebe weder Lügen zu strafen, noch für unser zukünftiges Verhältnis irgendwie maßgeblich zu machen.

Sie geben mir das Recht, an Ihrer Seite weiter zu gehen, und ich werde Ihr Vertrauen durch keinen verräterischen Blick, durch kein Wort mißbrauchen. Aber ich gehe auf diesen Pakt nur ein, wenn Sie die Güte haben wollen, an dem Grade meiner Korrektheit abzulesen, wie groß, wie hoffnungslos meine Liebe ist.

Ich bin in diesen Tagen nicht gesund, rechnen Sie es mir nicht nach, wenn ich nicht zur gewohnten Zeit an Ort und Stelle bin. Ich werde kommen, sowie ich wieder ganz Herr meiner selbst.

Ihr
sehr ergebener
Ludwig Benrath.

P.S. Sie sagten neulich, daß Sie vielleicht in der Lage wären, mir durch Ihre Verbindungen eine Karte zur Rotweißen Redoute zu verschaffen. Dürfte ich Sie noch einmal an Ihre freundliche Zusage errinnern?

 

25. Februar.
Tettenbornstr. 11.

An Fräulein Gusti K.

Liebe Freundin!

Ich bin nicht wohl. Schicken Sie mir bitte durch die Botin mein gewöhnliches Quantum Zigaretten. Ich hoffe, am Ersten zahlen zu können.

Inzwischen küsse ich mit Inbrunst Ihre Hände.

L. B.

NB. Ich war gestern doch im Café Orion. Daß wir gerade unsern besten Grundsätzen untreu werden! Sie war reizend, unverändert. Er sehr artig und bedauerte seine Frau, der er nichts vom Faschingvergnügen bieten könne. Ich stellte mich ohne fühlbare Wärme zur Verfügung, und er griff sofort zu. Ob ich Kätchen nicht am Sonntag im Maskenkostüm spazieren führen wolle. Wir würden uns dann später um 12 Uhr nachts mit ihm im Orion treffen.

Es gruselt mich, Gusti!

Aber ich habe zugesagt.

 

26. Februar.

Frau Helene von T.

Meine liebe Helene!

Diesen Ton verbitte ich mir! Entweder Du bringst soviel Seelengröße auf, meine Vertraute zu sein – oder ...

Oder, liebe Helene.

Und Vertraute sein heißt nicht, gute Ratschläge geben oder das Recht irgend Jemandes verteidigen müssen. Seelengröße heißt gelassen bleiben um jeden Preis. Zuschauen können, ohne sich zur Abfassung moralischer Werturteile berufen zu fühlen. Ich hätte das Recht, über Dich zu urteilen. Als Du mit mir die Freundin betrogst, wie es in Deiner neuen Sprache heißt, da warst Du gelassen. Und um einer Unbekannten willen schlägst Du plötzlich Töne an.

Machen wir uns gefälligst nicht lächerlich. Wollten wir die ganze Geschichte, die Leben heißt, von der Seite nehmen, dann wären wir wirklich so bespeienswert, wie nur irgendein Herr X oder eine Dame A, die betrügt.

Ich betrüge nicht, verstehst Du mich? Das einzige, wodurch ich mich von Herrn X unterscheide, ist, daß ich mich keiner meiner natürlichen Regungen schäme, daß ich vielmehr keiner einzigen meine Andacht weigere, daß ich nicht immer glücklich bin, und doch immer ohne Schuld. Während Herr X über nichts so glücklich ist wie über das ihn vor sich rehabilitierende Schuldbewußtsein. Wenn ich nicht immer jedem gegenüber wahr sein kann, so geschieht es nicht lediglich aus Gründen der Opportunität, die übrigens in Liebessachen ihre Geltung hat. Mehr aber noch hindert mich die mangelnde Erkenntnis dessen, was wahr ist. Ob es wahr ist, daß ich die Unbekannte liebe, oder wie es in deinem ärmlichen Wörterbuch heißt, »wirklich« liebe? Oder die Gusti aus dem Zigarrettenladen oder ein gewisses Fräulein Melanie T oder eine ebenfalls nicht ungewisse Emmy Förster oder – ich könnte Dir noch mit ein paar Namen dienen – oder Julie?

Ich fühle mich heute nicht stark genug, Dir eine Antwort zu geben, die so saftig und so sauer ist, daß Dir die Augen übergehen. Nur was Julie betrifft, sage ich Dir das eine: das ist nicht Liebe, wie Du sie vielleicht verstehst, das ist jene tiefste Geschwisterlichkeit, die eine Erfüllung zur Schande macht. Es ist im übrigen etwas, das sich nicht verrücken läßt. Durch keinerlei zufällige oder gewollte Ereignisse. Möge sie unglücklich sein, bin ich es nicht auch?

Diese Tatsachen hindern, das weiß ich, auch eine Frau wie Julie nicht, Mittel anzuwenden. Also, Herr Dagobert Leppien hat es schon zum Bratschisten im Akademie-Quartett gebracht. Ist ja erstaunlich. Ganz erstaunlich. Im Blütenalter von zweiundzwanzig Jahren. Was Du sagst! Ich hatte übrigens mal Aussicht, stellvertretender Vorturner in der fünften Riege zu werden. Eine ganz niederträchtige Intrigue war daran schuld, daß ich es nicht wurde.

Ob ich eifersüchtig bin?

Man liebt die Bratsche, das ist gewiß. Aber immer nur bis zum Punkte, wo sie ihr gefürchtetes Solo hat. Dann ist der Zauber zu Ende. Die Bratsche heiratet nie. Sie bleibt einfach sitzen und läuft höchstens verschmachtend in dem ohnedies dreieckigen Verhältnis mit. Man soll sie nicht daran hindern.

Aber das, Helene, sage ich Dir mit einem Ernst, der durch keinen andern Ernst überboten werden kann: ich gebe keines von meinen heiligen Rechten auf, die ich auf diesen Besitz, auf meinen einzigen, habe. Hüten wir uns, die Dinge bis zu den Grenzen ihrer Möglichkeit zu verfolgen. Sie könnten ihren Rahmen überspringen und uns von jenseits ein Gesicht zeigen, wie es fürchterlicher nicht gedacht werden kann.

Und namentlich reize man mich jetzt nicht. Ich bin ohnedies krank genug.

Die Unbekannte habe ich nicht wiedergesehen, obgleich ich mein möglichstes tat, sie aufzuspüren. Obgleich ich mich krank wartete und hungerte. Mein Trost ist, der Karneval währt noch einige Tage, und vielleicht finde ich sie dennoch.

Dein
Ludwig B.

 

27. Februar.

An Fräulein Emmy Förster.

Mein liebes Kind!

In diesen Tagen einer dunklen, brütenden Seelenkrankheit ist Dein Brief die einzige erheiternde Labsal. Ich habe ja dem, was ich Dir bei unserer gestrigen zufälligen Begegnung sagte, von mir aus eigentlich nichts hinzuzusetzen. Aber Du tust mir und unseren bisher so angenehmen Beziehungen Unrecht, wenn Du Dich nun schriftlich darüber beschwerst, ich hätte Dich immer als eine Geliebte zweiten Ranges behandelt. Nein, Kind. Ich habe in meinem Herzen mehr Ehrfurcht für die Gaben gefühlt, die Du mir brachtest, als für die, die mir andere vorenthielten. Aber ich will nicht mit großen Worten sprechen. Es hat sich ja bei mir gar nichts verändert. Ich bin Dir unvermindert gut und wünsche mir nur recht bald das bißchen Heiterkeit wieder beisammen zu haben, mit dem ich Dich froh machen konnte. Aber so, wie ich jetzt bin, hättest Du nichts von mir.

Es war nicht recht von mir, daß ich Dir das Abenteuer mit der unbekannten Dame erzählte. Und nicht ohne Grund sagst Du in Deinem Briefe etwas bitter: ›Freilich, Geheimnisse habe ich Dir nicht zu bieten, ich bin, und Du weißt wie ich bin.‹

Ja, mein Kind, dafür war ich Dir dankbar, bin es noch und hoffe, es Dir später wieder bezeugen zu können. Aber Du nimmst das Leben genau. Auch Dir bietet es allerhand, und Du möchtest in kluger Sparsamkeit des Herzens Dich nicht Neuem zuwenden, bevor Du ganz genau weißt, ob ich Dir endgültig verloren bin. Auch ich versuche genau zu sein, und gerade deshalb kann ich Dir nichts Abschließendes sagen. Unsere Freundschaft war denn doch gewiß zu kurz, als daß man von ihr behaupten könne, sie sei im Überdruß erstickt.

Nein, Herz. Das war es nicht. Ich gebe Dich nicht auf, wie ich noch niemals jemand aufgegeben habe. Aber ich brächte es auch nicht über mich, einen Zwang zu üben. Lebe Dein geliebtes Leben. Was Dein und was mein Leben miteinander zu tun haben, wird die Zukunft zeigen.

Für heute nimm meinen Dank und leb wohl.

L. B.

 

28. Februar.

Fräulein Marie, Café Minerva.

Liebste Marie!

Wenn ich Sie dringend bitte, dem Überbringer dieser Zeilen einen Betrag von zwanzig bis sechzig Mark leihweise auszufolgen, so bin ich mir des Unschicklichen vollkommen bewußt. Aber erstens schulde ich Ihnen – wenn auch nur für gelieferte Getränke – genug, um auch für eine Barleistung als kreditfähig zu gelten; und dann, Marie, wenn ich Sie liebte, wäre es verbrecherisch. Aber wir sind Freunde! Auch wagte ich es nicht, wenn ich am Verhungern wäre – ich wüßte meinen Tod zu sterben!

Doch ich muß auf ein Fest!

Dank und Gruß
L. Benrath.

 

28. Februar.

Fräulein Melanie T.

Mein gnädiges Fräulein!

Ich danke Ihnen für die Übersendung der Karte zur Rotweißen Redoute und erlaube mir, den schuldigen Betrag hier beizuschließen.

Sie sehen übrigens, daß der grimmste Gesellschaftsverächter in die Lage kommen kann, von guten Beziehungen Gebrauch machen zu müssen. Aber ich habe mich plötzlich entschlossen, von den wenigen Festen, die dieser Karneval noch zählt, kein einziges zu versäumen.

Daß ich Sie heute noch sehen werde, freut mich besonders. Freilich, es ist kein Spiel mit gleichen Waffen. Sie werden unter dem Schutze der Maske sein, aber ich werde Ihnen ganz unbeschützt begegnen. Treiben Sie Ihre Spottlust nicht zu weit gegen Ihren

dankbaren und untergebenen
L. Benrath.

 

28. Februar.

An die Unbekannte.

Und halte immer noch das Stückchen schwarze Spitze.

Ich habe in diesen letzten Tagen die äußere Ruhe gewonnen, einige Briefe zu schreiben. Ich habe auch meine Mahlzeiten wieder planmäßig eingenommen. Ich erinnere mich auch, einiges gelesen zu haben. Aber nicht erinnere ich mich dessen, was ich las. Die Tage über saß ich im Kaffeehaus.

Vor vier Tagen fiel es mir ein, eine einzige Gelegenheit, Dich wieder zu sehen, könnte ein anderes Fest sein. Und ich bin in diesen Nächten von Ball zu Ball gelaufen. Ich schlüpfte von einer närrischen Verkleidung in die andere. Suchte und suchte – wie hätte ich auch finden können? Nur Du bist es ja, die mich finden kann. Wenn Du willst.

Wirst Du heute wollen?

Ich bin bereit. Ich sitze im Frack an meinem Schreibtisch. O, dieses geschonteste meiner Kleidungsstücke! Einziges, zu dessen meisterlicher Herstellung mein Herr Vater mir einen außerordentlichen Zuschuß gewährte! Mit dessen Hergabe er wohl den Gedanken einer seelischen Zurückeroberung verknüpfte! Ich trage es heute zum erstenmal. Ich bin sehr sorgfältig frisiert, ich habe mir Lackschuhe gekauft und konnte vor dem Spiegel keinen Unterschied mehr machen, zwischen irgendeinem korrekten jungen Herrn und mir.

Aber nur ich weiß, in welcher vollkommenen Zerrüttung ich mich befinde. Dabei arbeitet mein Verstand mit ungetrübter Klarheit. Dieser Verstand sagt mir mit vollkommener Deutlichkeit, daß es für mein Leben aller Wahrscheinlichkeit nach ganz gleichgültig ist, ob ich Dich wiederfinde oder nicht. Daß ich mich über Dein Wesen überhaupt völlig täuschte. Denn hättest Du aus einem stärkeren Triebe denn aus augenblicklicher Laune gehandelt, oder hätte das Erlebnis Dir mehr gegolten, wäre es Dir mehr geworden – Du hättest mich gesucht! Du hättest Dich zu mir finden müssen! Aber wie Du auch warst, Du wolltest nicht mehr. Vielleicht überschätzte ich Dich: Du schämst Dich, Du bereust.

Einerlei, Unbekannte. Ich kann mir alles sagen, und es sagt mir nichts. Es ändert nichts an der Tatsache, daß ich vor Sehnsucht nach Dir verkomme.

Ich bin bereit. Auf dem heutigen Feste werde ich Dich nicht suchen. Einmal werde ich durch den Saal gehen, aber nicht um Dich aufzuspüren. Ich werde eine Kriegslist anwenden. Ich nehme mir eine andere, irgendeine. Ich werde mit ihr tanzen und trinken.

Und dann wirst Du kommen.

 

Schalttag.

Fräulein Melanie T.

Mein gnädiges Fräulein!

Ich weiß nicht, wegen welcher meiner Sünden ich Sie dringender um Vergebung bitten soll – der vergangenen oder der neuen, die ich jetzt zu tun im Begriff bin. Nur damit meine Selbstanklage um so deutlicher wird, schicke ich meine Verteidigung voraus:

Ich habe mich nie verpflichtet, meine Liebe zu Ihnen zu verschweigen. Ich folgte meinem eigenen Gesetze, da ich es wochenlang tat, da ich in der nüchternsten und dennoch phantasieerfülltesten Maskerade des Angerührten neben Ihnen herschritt, von dem Stolz getragen, der Unempfänglichste, der völlig Unreizbare in Ihrer Nähe zu bleiben. Aber ich war es auch. War es auch noch, als ich mein eigenes Gesetz durchbrach, als ich Ihnen jenen Brief schrieb, darin ich von meiner Liebe und meinem Hasse deklamierte.

Die Wahrheit ist, daß ich in jenen Wochen ein Gefühl nährte, das ich wie ein mir selbst, ja meinem ganzen Jahrhundert fremdes ansah. Erst heute, da ein unerwartet auf mich gekommener Sturm jenes Gefühl für immer hinweggestäubt hat, um andere tiefere Quellen bloßzulegen, wage ich es, Ihnen mit dürren Worten das Letzte zu sagen.

An Ihnen erlebte ich alle Erschütterungen einer verehrenden Seele. Was ich an Ihnen haßte, das war im Grunde das, was mich davor bewahrte, das Weib in Ihnen zu sehen: die bürgerliche Kleidung, die gesellschaftliche Haltung.

In den Stunden aber, die ich fern von Ihnen war, da lag ich vor Ihrem Altar! Rückhaltlos hingegeben! Aufgegeben!

Ich bin auch heute nicht von Sinnen, ich, der ich mich nicht mit Unrecht anklage, es nie ganz zu sein. Ich kann es mir ganz nüchtern und kühl erklären, warum Ihre Wirkung auf mich diese und keine andere sein konnte. Von meiner völligen Verwahrlosung lernten Sie ja nur die äußere Seite, die erträglichere kennen. Jawohl, die erträglichere. Denn wie hätte ich es über mich gewinnen können, einem anderen Menschen einen Einblick zu gönnen, den ich selbst kaum zu tun wagte.

Heute sollen Sie sehen!

Wie harmlos ist jene Sorte von Schwindlern, die mit erborgtem Namen, mit gestohlenen Kleidern sich unter die Menge mischen, um ihr Glück zu machen? Indem sie sich glaubhaft zu machen vermögen, sind sie schon weniger Schwindler als sie selbst es zu sein wähnen. Treibt die Genußsucht und Eitelkeit über ihren eigenen Stand, so sind sie undenkbar ohne eine philosophische Verachtung jener höheren Klasse, die darzustellen sie sich üben, deren Handeln und Gebaren sie so leicht erlernen.

In welchen Rang der Gauner soll man aber die einreihen, die sich und der Welt einreden, etwas zu bedeuten? Die sich erfrechen, auf Titel, Würde, Rang, auf das gefällige Leben der guten Kleider und der bürgerlichen Sitten zu verzichten, um was zu sein!

Um was zu sein! Um was?

Die am Ende nur die Verzweiflung über sich selbst zum Geschäfte machen, aus der Verzweiflung Sonderrechte ableiten, Ansprüche erheben, Hoffnungen erwecken! Der vernünftigen, staunenden Welt aber weiszumachen suchen, daß die Verzweiflung unbedingt früher oder später zu Leistungen führen müsse!

Nichts, mein Fräulein, von der souveränen Verachtung dessen, was man zu sein vorgibt. Nichts von der Stirn des wahren Eroberers, der das Erhabene niederzureißen sich erdreistet, um sich selbst Platz zu machen. Nein, knechtische Ehrfurcht vor der geringsten, notorischen Leistung, die es zur kärglichsten der Anerkennungen gebracht!

Und könnte man nur heute recht verzweifelt sein. Man hat allen Grund dazu, und ist es nicht. Man ist zu faul dazu, und im Zeitalter des Komforts und der Hygiene gebricht es an den natürlichen Kulissen, es fehlt an Schicksal.

Mögen Ihnen, mein Fräulein, diese Andeutungen eines elendesten Zustandes genügen.

Nun aber kamen Sie. Ich fühlte Hoffnung auf menschliche Erhebung. Einer, der von allen Qualen vielleicht nur die des Fleisches mit zulänglicher Aufrichtigkeit erduldet, erlebt plötzlich die Frau, die diese Qualen ausschließt, ausschaltet.

Eine Heilige hatte mich berührt und selig lag ich im Staube. Dies ist die Wahrheit, und keine andere. Eine tiefe, ruhige Stimme floß über mich hin, zwei machtvolle, leidgewölbte Augen hatten die Gnade, mich zu dulden. Zwei feingeübte Ohren nahmen keinen Anstoß an meinen Worten, und das gütige, menschlichste Lächeln brachte mir Vergebung.

Wahr ist, daß ich mein dunkles Leben weiterlebte, daß ich gut und einfach nur in Ihrer Hand war. Wahr ist, daß ich mich gegen diese neue Macht auflehnte, um ihr nur um so tiefer und glücklicher zu erliegen.

Mein dunkles Leben. Ein Abenteuer verstrickte mich jäh. Ein wildes zärtliches Geheimnis heischte Aufklärung. Und unbedenklich versah ich mich sogar Ihrer ungewollten Mitwirkung.

Ich bat Sie um eine Karte zu dem Fest. Daß ich Sie dort sehen würde, war gewiß, aber es machte mich nicht besonnener. Ich war ja gewöhnt, Sie an allen menschlichen Gepflogenheiten teilnehmen zu sehen, ohne daß Ihre Stellung sich für mich veränderte – warum nicht an dieser?

Ich dachte nur an meinen Zweck: eine Unbekannte zu finden, die nur mich finden konnte. Ein kleiner kindischer Plan war gefaßt. Die Eifersucht sollte das Reizmittel sein; eine – irgendeine – wollte ich wohl finden; und dann würde die andere kommen.

Um jenen Gegenstand zu finden, der geeignet wäre, Eifersucht zu erwecken, durchschritt ich den großen Saal, ging über die Balkons in das Innere des Hauses, verlor mich in die kleinen Räume, bis ich endlich im chinesischen Zimmer stand – und vor Ihnen.

Ich muß hinzusetzen, daß dieses Fest, von dem Augenblick, da ich in den Bereich seiner Violinen trat, auf mich eine außerordentlich erregende Wirkung übte, die sich fast bis zur Unerträglichkeit steigerte, als ich mich mitten im großen Saal befand. Die Parole Weiß-Rot, die man für die Damen ausgegeben hatte, war vielleicht an sich nicht künstlerischer als die irgendeines königlichen oder großherzoglichen Geburtstages, der eine Hauptstadt verpflichtet, irgendwelche Landesfarben zum Fenster hinauszustecken. Aber dieser Eindruck betäubte meine Sinne. Es war ein Schrei der Farbe in einem ungeheuren lärmenden Tumult des Lichts. Die Violinenklänge steigerten sich in meinem Ohr – wie in dem eines Narkotisierten – zu Trompetenstößen. Ich begriff nichts mehr, mein ursprüngliches Vorhaben war mir nicht mehr gegenwärtig. Ich hatte keinen Gedanken mehr für diese besondere, sich durchaus nicht orgiastisch gebärdende Gesellschaft bestimmter Klasse, deren Frauen in der großen Mehrzahl gar keine Neigung hatten, den Maskenscherz durchzuführen, und sich ohne Larven im Saale bewegten. Ich sah die Frauen nicht, ich hörte nur die mitleidlosen Farben und erlag dem Licht. Ich strauchelte und floh. Ich war keines Gedankens fähig, dachte weder an mein Abenteuer noch an Sie, als ich Sie plötzlich sah.

Und unvermutet führte mich mein Glück zu meinem einzigen kleinen, mich überwältigenden Erfolge. Ein normales Auge hätte diesen Erfolg nie wahrgenommen. Ich aber sah mit den geschärften Sinnen eines vielfach Verliebten, eines Anbetenden.

Was war es? Auch Sie hatten die Maske abgelegt, befanden sich mit den Herren Ihrer Umgebung in einer jener von grundloser Heiterkeit getragenen Festunterhaltungen, als Sie mich erblickten. Da erröteten Sie plötzlich (wer anders als ich hätte das in diesem Meer von Rot wahrgenommen – und vielleicht wäre auch mir das nicht gelungen, wären Sie nicht in jenem Augenblick die einzige Dame in Weiß gewesen), Sie erröteten, Sie führten in plötzlicher Aufwallung Ihre Hände vor das Gesicht, um sie gleich wieder sinken zu lassen. Sie sprangen vom Tische auf, Sie kamen mir entgegen, Sie lachten, aber es war eine Trauer, ein Ärger, eine Enttäuschung in Ihrem Lachen und Sie sagten:

»Nun ist mir die ganze Freude verdorben –«

»Welche Freude?«

»Ich wollte Sie unter der Maske ein wenig narren –«

Daß Sie das gewollt, daß das Mißlingen Ihres Planes Sie enttäuschen konnte, daß Sie in Betreff meiner Person überhaupt einen Plan hatten, das war mein Erfolg, dem ich in meinem Herzen ein Denkmal errichte. Schelten Sie mich arm, verachten Sie mich meiner Armut willen. Aber in jenem Augenblicke – nein, noch zu dieser Stunde, habe ich für mich selbst eine so mitleidige, achtungsvolle Zärtlichkeit, eine so tiefe Neigung, über mich selbst Tränen zu vergießen, weil ich das vermocht!

Aber dann ging die große, die plötzliche Wandlung in mir vor, jenes gedankliche Verbrechen, dessen ich mich nie für fähig gehalten. Sie wissen, daß ich Ihre Kleider haßte. In den Stunden meiner einsamen Andachten waren Sie mir immer in einem priesterlichen Weiß erschienen. Nun trugen Sie weiße Seide, und Sie glühten dennoch für mich in einem Rot –

Ich beeile mich, Ihnen das Zeugnis auszustellen, daß Sie mit keinem Zuge Ihres Wesens meine Verwegenheit begünstigten. Daß selbst jener Wortwechsel bei unserer Begegnung durch keinen Blick eine andere als die harmloseste Bedeutung gewinnen konnte. Kaum, daß Sie mir gestatteten, mich über ihre Hand zu neigen. Und selbst als Sie mir in dem weiteren Gespräch sagten, daß ich mich im gepflegten Frack denn doch ungleich vorteilhafter präsentierte als sonst – es geschah, ich schwöre es, viel eher im Tone der Erzieherin denn der Geliebten.

.

Und dennoch waren Sie für mich nur noch Geliebte.

Heute, nur heute darf ich es Ihnen sagen. Heute und jene letzten paar Tage, in denen dieser Karneval, in denen ich noch am Leben bin. Ist das zu Ende, so sollen Sie mich in jener Haltung wiederfinden, durch die ich mir ein Recht auf Duldung erworben habe.

Heute aber schrei ich es hinaus, daß ich Sie liebe, Sie begehre, so wie Sie mir gestern erschienen in jener wunderbaren Frauenreife, zu höherer Glut geschaffen, als ich Tor es je geahnt!

Melanie T.! Rechne ich die Worte zusammen, die wir im Laufe dieser Nacht gesprochen, es fänden sich keine drei Dutzend. Keines dieser Worte ging über den Rahmen unserer sonstigen Gespräche hinaus. Sie vermieden es, mich an Ihren Tisch zu ziehen. Als wir uns später begegneten, verließen Sie für Augenblicke Ihren Tänzer, um an meinem Arm wenige Schritte durch die Säle zurückzulegen. Nur einmal sahen Sie mich zittern. Sie lösten Ihren Arm und ich konnte es nicht mal hindern.

Aber was Du nicht hindern konntest, Melanie T., ist, daß Du dennoch in dieser Nacht auf wunderbare dunkle Art mein Weib geworden bist.

L. B.

 

1. März.

Frau Professor Gabriele von W.

Meine liebe, meine liebenswürdige, meine elegante Tante!

Die Welt ist zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Wegen durchwandert worden – aber entschuldige, wenn ich mit dieser Neuigkeit so ins Haus falle. Ich hatte nur für einen Augenblick vergessen, die von Anstand und Sitte diktierten Fragen zu stellen, für die sich weder der Briefschreiber noch der Adressat besonders interessieren. Um Dir die Arbeit zu sparen, beantworte ich sie selbst:

Wie geht es Dir? Danke schlecht, meine Schneiderin hat mich im Stich gelassen. Was macht Dein Mann? Danke gut, er ist in den letzten vierzehn Tagen noch etwas berühmter geworden.

Wie steht es mit Deinem einzigen Herbert? O bitte, er fühlt sich in der Untertertia dauernd wohl –

Die nun von Dir gestellte Gegenfrage ist nicht so leicht zu beantworten, und ich muß auf die Welt und ihre Wege zurückkommen.

Die mangelhaften Verkehrswege alter Zeiten verpflichteten die Dichter, ihre Wanderungen über den Erdball zu Fuß zurückzulegen. Es wäre nicht uninteressant zu ermitteln, ob nicht eine Fußreise, etwa von Berlin nach Rom durch den starken Sohlenverbrauch, das häufige Nachtquartier und vor allen Dingen die verlorene Zeit ganz erheblich teurer zu stehen kam als heute ein gutes Billett erster Klasse im Expreß.

Ich sehe Erstaunen auf Deinen ebenmäßigen, wohlgepflegten Zügen. In Deinen vom Reichtum des Lebens, von der Schönheit der Dich umgebenden Dinge so erfüllten Augen erspähe ich sogar einen Schatten Langeweile, und Dein üppiger Mund fragt mich ungeduldig, was diese Betrachtungen zwischen mir und Dir zu schaffen hätten.

Und ich fürchte, Deine Geduld zu mißbrauchen, wenn ich Dir obendrein erkläre, daß es durchaus nicht meine Absicht ist, sei es zu Fuß oder zu Bahn nach Rom zu fahren.

Indessen – ach, meine elegante Tante, ich fürchte wirklich, es gibt Dinge in meinem Leben, die nur Du verstehst. Ich fürchte es sogar nicht mehr, ich bin zu der Erkenntnis gekommen, und ich nenne mein Wissen ein trauriges, weil es Dinge in unser Verhältnis hineinträgt, die meiner aufrichtigen Überzeugung nach nie zwischen einer Frau und einem Mann sein sollen.

Ich könnte diese etwas langatmigen Auseinandersetzungen damit beschließen, daß ich Dich kurzweg bitte, mir mittels einer Postanweisung zwanzig Mark zu schicken. Aber ich fürchte, daß diese Summe mich und Dich beschämen würde, und mich um so mehr, als sie meinen Zwecken nicht entspricht. Andererseits tut es keinem mehr leid als mir, daß die leidige Bitte für eine größere Summe einen größeren Aufwand von Worten erfordert.

Was die moralische Seite betrifft, so ließe sich ja das einwenden, was die männlichen Geschwister meiner Eltern ohne Scham dem Papier anzuvertrauen belieben: »Du erhältst, mein lieber Ludwig, ja alles Notwendige von Deiner guten Mutter, und ich erspare ihr und Dir gerne die Schande, auch noch Schulden zu machen.« Es kommt eben nur darauf an, was man unter Notwendigem versteht. Unter den trüben und korrekten Menschen unserer Familie bist Du die Einzige, die einen Reiz des Lebens jenseits der Notwendigkeiten anerkennt. Von Dir will ich gern glauben, daß Du einmal zu Deinem studierenden Sohn sprechen wirst:

»Vater gibt Dir zu leben, aber ich gebe Dir zu lieben.«

Ja, Tante, ich liebe –

Auf dieses Geständnis hin könnte ich in herzlicher Einfachheit um fünfzig Mark bitten. Aber auch Du bist unsern Familienmaximen nicht so entwöhnt, daß Du nicht fragtest:

»Wieso kostet das Geld? Bist Du nicht ein leidlich aussehender junger Mann, ein phantasieerfüllter dazu, dem es leicht werden muß, billige Gunst zu erwerben?«

Da fasse ich nun Deine schöne ringgeschmückte Hand und sage nichts als:

»Aber Tante –«

Oder ist es ein anderer Grund als der meiner Abwesenheit, daß ich nicht mehr an den Mittwoch Nachmittagen in Dein Zimmer trete und meine Blumen zu den andern stelle? O, meine Tante, schilt nicht nachträglich die Armut meiner Gaben – müßte ich nicht dann auch Deine Gunst abzirkeln, die mir eine so flüchtige Ahnung dessen gab, was Du zu gönnen hast –

Wie, Tante, wäre es gewesen, wenn ich aus geheimnisvollen Taschen Gegenstände hervorgezogen hätte, die auf kleinstem Raume materiellen und künstlerischen Wert vereinigt hätten? Nicht, daß ich glaubte, ein Wert (der immer kühl bleibt) hätte Dein Herz zu schnellerem Schlage antreiben können. Aber Du kennst den Ausdruck eines Geschenks, das seinen Sinn der Wahl, Opfermut und Zärtlichkeit in sich begreift, das eben einfach die faßbare Darstellung einer Liebe ist, das durch seinen Wert nicht bestechen, aber rühren will! Du, Tante, mußt begreifen, welche edle Glut sich offenbart, wenn einer sich um einer Frau willen ruinieren möchte. Ich begreife es auch, obgleich es mir nie gelingen wird – bin ich doch auch ohne Liebe so ruiniert wie möglich.

Ich bitte Dich nicht um hundert Mark – ich erzähle Dir nur, was mich einst mit zornigem Gram erfüllte, als ich auch verliebt war, und es wagte, Onkel Eugen, den man in der Familie den Galanten nennt, um eine Zuwendung zu bitten. Hättest Du das Gesicht des alten Krachers gesehen, wie er sein an sich verzeichnetes Maul bis in die Mitte der rechten Backe verzog und sagte:

»Einen Ring willst Du ihr schenken? Schicke mir das Maß ihres kleinen Fingers, ein Freund von mir hat ein Engrosgeschäft, ich werde Dir sowas besorgen –«

Er hat es mir besorgt, liebe Tante, und ich habe es mit den Absätzen meiner Morgenschuhe in Pulver getreten.

Nein, liebe Tante, nicht die zweihundert Mark sind es, die man für jene paar Millimeter Gold und Kunst braucht, um ein Frauenherz zu freuen. Hätte dieser Onkel so viel Güte gehabt, wie er Erfahrung hatte, so würde er sein Maul auf die linke Backe gesetzt und gesprochen haben:

»Das Ringlein alleine tut es nicht. Ja, eine Perle von unwahrscheinlichem Wert würde ihren Zweck verfehlen, wenn sie nicht in der Fassung eines Lebens geboten würde –«

Fassung eines Lebens, das ist es, Tante!

O, ich verkenne nicht die geringe Berechtigung dafür daß ich meine Ansprüche an Dich stelle! Selbst wenn Du reicher noch wärest, als Du es bist, nicht Deine Sache kann es sein, mein Leben so köstlich zu machen, daß es die Süßigkeit, die Anmut selber wird.

Aber einmal, Tante, einmal will ich nicht bloß träumen. Da ist Fasching und ich liebe. Frage mich nicht, wen. Ich wüßte keine Antwort. Aber ohne die Angst vor meiner Armut will ich einmal, gerade jetzt mit meinen vierundzwanzig Jahren, das Geld hinströmen lassen.

Schick mir dreihundert Mark!

Einmal will ich auch im Spiel der Sohn meines Hauses sein. Nicht aus der Maskengarderobe will ich mein Gewand entleihen. In eigener Seide will ich rauschen, die Kellner sollen sich vor mir neigen, aber die eine Frau, die aus meinem Becher trinkt, soll beneidet sein!

Schicke mir fünfhundert, und wenn die Summe Dich beleidigt, schicke mir tausend oder zehntausend, und ich verspreche Dir, in drei Tagen soll kein Pfennig übrig sein!

Schicke mir – und glaube nicht, betrogen zu sein. Denn wer weiß, ob ich das Geld nicht etwa anwende, um zu Dir zu eilen, Dir das Geschenk zu Füßen zu legen, das einzig Deiner würdig wäre, Dein eigenes Herz zu rühren, das so groß und so gütig ist, wie Deine Augen, Deine Lippen und Hände zur Liebe gestaltet.

O meine anbetungswürdige Tante, schick mir fünfundzwanzig Mark!

Dein L.

 

Den 2. März

An Julie B. in H.

Meine liebe, meine geliebte Julie!

Ich nenne Dich so und werde Dich so nennen, solange mein Herz nicht aufhört zu schlagen und zu fühlen. Keine Enttäuschung, kein Gram, kein gerechter Zorn über Deine Beleidigungen wird mich je davon abhalten.

Vielleicht ist es der bedenklichste Punkt in der Anlage meines Charakters, daß die einmal erreichte Höhe meines Gefühls nie wieder herabgedrückt werden kann. Ich gleiche darin, verzeihe das prosaische Bild, einem Maximalthermometer, das steigen, aber nicht fallen kann. Aber selbst Erschütterungen vermögen an meinem Zustande nichts zu ändern – man müßte mich denn zerbrechen. Ich kenne nicht Stimmungen, nicht Verstimmungen. In meinem Dasein fehlen Dämmerungen, so ungewiß und schwebend ich heute noch erscheinen mag. Wohl aber sind Dinge in mir in Entwicklung, die abzuwarten ich mir selbst die größte Geduld auferlegen muß. Und dieselbe Geduld muß ich von einem Geschöpf verlangen, das als einziges mir so nahe steht. Ich muß das, weil mir anderes nicht übrigbleibt.

Sanfte Duldung ist alles, was ich von Dir erwarte, und was ernte ich? Hohn, jenen mürben Hohn, dessen Berechtigung ich Dir nach weiteren vergeblichen zwanzig Jahren nicht absprechen würde, den ich heute mit allem Stolz von mir abweise.

Nichts gleitet wirkungsloser an mir ab, als die Anspielungen, die Du über die Herren Deiner Bekanntschaft zu machen beliebst. Nichts würde weniger meiner Würde entsprechen, als wollte ich mich herbeilassen, einem dieser Herren eine gefühlsbetonte Stellung einzuräumen oder mich gar auf einen Wettstreit mit ihnen einzulassen. Dabei gelingt es mir mühelos, ihre Tüchtigkeiten anzuerkennen. Diesmal sprichst Du von einem Manne, der mit einundzwanzig Jahren als Redakteur des Krambambuli und der Auster bereits in der Lage ist, seine Mutter und seine unmündigen Schwestern zu ernähren. Von solch einem Manne werde ich beispielsweise nie behaupten, daß er eine schlechte Handschrift habe. Schicke mir seine gesammelten Werke und ich werde sie lesen, ohne über sie zu lachen. Ich bin schließlich der ehrlichen Überzeugung, daß keine Atmosphäre wie die des Krambambuli und der Auster so geeignet ist, ausgezeichnete Söhne und Brüder hervorzubringen. Wenn ich ein Bedenken habe, so richtet sich das nicht eigentlich gegen ihn oder sein Metier, wenngleich es mich mit einer gewissen Sorge für seine Verwandten erfüllt. Mit keiner Gabe geht der liebe Gott gemeinhin sparsamer um als mit der des Witzes, oder – allgemeiner gesprochen – des Einfalls. Wie Du weißt, ist die Zahl der Eier, die ein Huhn zu legen hat, eine begrenzte. Nicht anders steht es mit den Einfällen des Schriftstellers. Der Tragiker aber kann aus einem Einfall ein ganzes Werk bestreiten. Mag er zu seiner Ausarbeitung die höchste Intensität seines Weltbewußtseins, seines Kunstverstandes, seines schöpferischen Gefühls bedürfen: der Einfall, die plötzliche Erleuchtung, das haarscharfe Erkennen seines Gegenstandes (oder seiner selbst – was auf dasselbe herauskommt), ist nur ein Mal von Nöten. Hat er sich erst auf den von ihm geschauten Punkt gestellt, so hat er – im Falle er ein wirklich großer Mensch ist – nichts mehr nötig als Talent. Der Komiker indessen kennt nicht die Wohltat der langsam wachsenden Entwicklung, die sich wie eine Girlande von einem Einfall zum andern fortsetzt. Ohne daß er – wenn er ein wahrhafter Komiker ist – des Gefühls entraten könnte, ist der erste Einfall noch lange nicht der Entscheidende. Jedes einzelne seiner Worte muß vom Einfall gekrönt sein; mag der tiefste Grund seiner satirischen Natur der des Tragikers an Ethik nicht nachstehen, oder sie gar übertreffen – er wird sie nicht zur Geltung bringen, wenn das Wetterleuchten seines Geistes nur einen Augenblick nachläßt. Aber die Zahl der Einfälle ist, wie gesagt, beschränkt. Wie viel rascher muß sich der Komiker erschöpfen!

Deshalb halte ich die Tätigkeit des Tragikers für die zuträglichere, gesündere und letzten Endes rentablere. Heute ist es vielleicht noch Zeit, den jungen Mann auf die Karriere aufmerksam zu machen, in der übrigens, wie ich höre, einige Stellen offen sein sollen. Vor allem wäre dieser Wechsel im Interesse der bedrängten Mutter und der unversorgten Schwestern sehr zu hoffen.

Was Dich betrifft, meine geliebte Julie, so vermag ich beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen Dir und jenem Herrn zu erkennen. Jede Frau hat nur einen Einfall, und der Deine bin ich.

Dein in tiefster Liebe
Verharrender.

 

Sonntag, 4. März.

Frau Professor von W.

Meine liebe – wie sagte ich doch? – elegante Tante!

Auf mein höfliches Schreiben, in dem ich Dich um die freundliche Übersendung von 200 Mark bat, schickst Du mir einen Brief und kündigst eine Postanweisung über 10 Mark an.

Es ist Faschingssonntag. Meine Wirtin war so freundlich, mir aus einem Rest schwarzen Kattuns einen Pierrot zu schneiden, während im Erker meines Zimmers die bildhübsche Frau eines älteren Zigarrenhändlers damit beschäftigt ist, einige lilafarbene Pompons aus Baumwolle zu verfertigen. Wir hatten zu Tische einen gemeinsamen Hering und zwei paar Wiener Würste, woraus Du siehst, daß ich das Geld nur so hinströmen lasse.

Was Deinen Brief betrifft, so kann ich Deinen Zartsinn kaum genug loben. Nichts scheint mir großmütiger, als einen Menschen dadurch von dem Eingehen einer (vielleicht nie bezahlbaren) Schuld abzuhalten, daß man sich selber als sein Schuldner bekennt. Es ist wahr, auch im Reichtum soll man sich das Gefühl für die Moral des Geldes nicht verderben lassen, Ehre der Frau, deren Mann täglich auf nüchternen Magen seine ersten fünf Blinddarmoperationen macht, und die sich dennoch nicht dazu hinreißen läßt, mit einem unbedacht hingegebenen Hundertmarkschein einen Bittsteller zu kränken.

Mit welcher Kunst hast Du ausgeklügelt, daß die Briefmarkensammlung, die ich vor drei Jahren Deinem Sohne Herbert übergab, noch nicht bezahlt sei. Da Herbert selbst von seinem ursprünglichen Entschluß zu sammeln abgekommen ist, hast Du es für gut befunden, das Album einem Händler zu verkaufen, und zwar laut Beleg zu einem Preise von M. 9.60. Du selbst hattest die Freundlichkeit, die Summe nach oben abzurunden, indem Du hofftest, der Mehrbetrag von 40 Pfennigen werde mich nicht zu sehr kränken.

Meine liebe Tante, so sehr ich Deine Feinfühlichkeit zu schätzen weiß, die sich in diesem Punkte wieder einmal so bewährt hat, so muß ich gestehen, daß wir rein geschäftlich nicht ganz konform gehen. Ich neige gewiß dazu, über die allerdings geringfügigen Differenzen hinwegzugehen – indessen hieße es Dich beleidigen, wollte ich zulassen, daß Du mich auch nur unbewußt in Nachteil brächtest.

Ich gebe Dir von vornherein zu, daß es ursprünglich nicht meine Absicht war, die Sammlung, die ich einst mit Liebe und Sorgfalt gepflegt, für die ich jahrelang mein ganzes Taschengeld geopfert, Herbert zu verkaufen. Ich wähnte, dem jüngeren Vetter ein Geschenk mit einem Gegenstande zu machen, an dem einst mein ganzes Herz hing, dessen materieller Wert mich innerlich nie viel angegangen war. Zwar habe auch ich nach Sammlerart meinen Schatz mehr als einmal überschlagen und sogar auf das genaueste berechnet. Aber die alten, vielfach unter Vaters Skripturen gefundenen Marken, die durch Tausch oder von meinen Ersparnissen erhandelten, waren mir die Freude meines – ich gebe zu kindlichen – Gemüts, während die Tatsache, daß sie bei meiner letzten Berechnung, die vor etwa sechs Jahren stattfand, einen Katalogwert von 3257 Mark ergab, niemals das Bewußtsein erweckte, ich könne meine Liebhaberei je verwerten. Eher hatte ich daran gedacht, daß diese Sammlung mal etwas wie ein Familieneigentum werden müsse, zu dem ich den Grundstein gelegt. Dein Sohn sollte sie weiter führen, später vielleicht mein Sohn, dann der Sohn Deines Sohnes. Gar niemals aber ist es mir eingefallen, daß Dein Sohn oder gar Du auf die Idee kommen könntest, die Sammlung zu Geld zu machen.

Nun bist Du, liebe Tante, der theoretisch-rechtlichen Überzeugung, ich hätte die Sammlung an Deinen Sohn verkauft. Es war das also ein Kauf, bei dem die Regelung des Preises nur hinausgeschoben war. Ich klage nicht über einen zu langen Aufschub, an dem ich selbst meine Schuld trage. Jetzt aber will ich nicht zögern, Dir den Preis zu nennen, den ich, um Dir verwandtschaftlich entgegen zu kommen, zu dem schon vor sechs Jahren gültigen Katalogwert von 3257 Mark berechne.

Ich bitte Dich also, mir freundlichst die Summe oder die Sammlung zurück zu schicken. Deine Postanweisung über 10 Mark, die noch nicht angekommen ist, lasse ich an Dich zurückgehen.

Mit innigem Gruß
Dein
L.

Nachschrift. Entweder ist der Händler, der Dir 9.60 M. gegeben hat, ein abgefeimter Betrüger oder Dein Sohn Herbert hat die wertvollsten Marken bereits selbst verkauft.

Mit wiederholter Innigkeit
der Deine.

 

Sonntag.

An die Unbekannte!

Die bildhübsche Frau eines älteren Zigarrenhändlers sitzt in meinem Erker und verfertigt Pompons.

Sie wird mein Vorspann sein, heute, im Gewühl der Straßen, in der Konfettischlacht, wenn ich auf der Suche nach Dir bin. Und wenn ich Dich heute nicht finde, so morgen und übermorgen. Denn ich werde Dich suchen, solange dieser Karneval einen Atemzug hat.

Ich spreche mit der Frau des Zigarrenhändlers nicht viel, denn ich denke an Dich. Sie ist zufrieden, wenn sie bei mir sitzt. Ab und zu gebe ich ihr zur Beruhigung einen Kuß. Aber das ist lediglich für Sie. Nur ich weiß, warum ich bei der leisesten ihrer Berührungen bis in den innersten Nerv erzittere.

Ach, Du schöne, Du sehnlich geliebte Unbekannte, wo bist Du?

Die Frau in meinem Erker ist schön, vielleicht ist sie schöner als Du. Eine Freundin hat ihr diesen prächtigen Pierrot aus weißer Seide geliehen. Sie hat die wundervoll schlanken Knabenbeine in den weiten Harlekinshosen übereinandergelegt. Die zitternde schwarze Spitzenkrause verbirgt mir halb das Gesicht, das nur in schwarzen Umrissen gegen die warme Märzsonne sichtbar wird. Den Spitzhut hat sie abgelegt, ihre vergoldeten Locken schwanken leise und ich brauche nur aufzustehen, um die reizendste Frau in Armen zu halten.

Und sehne mich nach Dir!

Vor zwei Stunden, als ich ihr die Tür öffnete, war ich ganz geblendet von ihrer ragenden Jugend, von dem Frühlingsatem, den sie von draußen mit hereinbrachte. Sie selbst ein so holder und verführerischer Junge. Aber dann, als sie sich mir an den Hals warf, wich ich zurück. Ich mußte mich zwingen, sie zu küssen, nur um sie nicht zu beleidigen. Ich habe den Jungen nicht überwinden können. Ich bin doch erst vierundzwanzig Jahre alt.

Eben habe ich sie gefragt, warum ihr die Freundin gerade dies Kostüm gegeben habe. Da hat sie gelacht und gesagt, es sei ja gar nicht von ihrer Freundin. Ihr Mann habe es ihr gegeben, es sei von seiner letzten Frau.

Unbekannte, Unbekannte, Du weißt nicht, wie tief mich das Grausen durchschüttelt. Wie ich Deiner bedarf, um gesund zu werden.

Sie ist mit ihrer Arbeit fertig; sie behauptet, sie müsse sich noch schminken. Sie geht vor den Spiegel, reibt das Gesicht kreideweiß ein und setzt auf jede Wange einen großen schwarzen kreisrunden Fleck! Warum auch das noch!

Nun werden wir gehen und Dich suchen!

 

Rosenmontag.

Frau Katharina Rapp!

Nein, meine Liebe, alles hat seine Grenzen. Selbst der Dank, den ich Ihnen zu schulden glaubte, ist durch die Ereignisse des gestrigen Tages reichlich abgetragen. Immerhin sollen Sie eine Erklärung haben und ich werde in diesem Falle einfach drauf losschreiben, ob Sie mich nun verstehen oder nicht.

Ich bemerke zuvor, daß ich Ihnen nicht zürne, daß selbst die widerwärtigen Vorgänge im Café Orion keinen nachhaltigen Groll gegen Sie gezeitigt haben, daß von der gewöhnlichen, ja sinnlosen Eifersucht, die mich gestern abend eine Stunde plagte, nichts zurückgeblieben ist. Im Gegenteil, Frau Rapp, machen Sie, was sie wollen, aber nicht mit mir.

Auf die Erklärung dieser Eifersucht kommt alles an. Sie sehen, ich leugne gar nicht die törichte Schwäche, der ich gestern plötzlich verfiel. Aber ich versuche den Beweis dafür anzutreten, daß ich diesem sonderbaren Ansturm gar nicht erlegen wäre, wenn in meiner Gefühlsdisposition sich irgendein Anzeichen bemerkbar gemacht hätte. Ich wurde eben einfach überrumpelt.

Ich kann Ihnen nicht einmal irgendwelche Vorwürfe über Ihr gestriges Verhalten machen. Als Sie sich anschickten, meine Wohnung zu betreten, um mich zu dem ausgemachten, von Ihrem Manne ausdrücklich gestatteten, ja in großen Zügen selbst verabredeten Bummel abzuholen, erwarteten Sie gewiß alles andere, nur das nicht, was geschah. Nicht im mindesten waren Sie darauf vorbereitet, daß ich Sie mit dem Nähen von Pompons beschäftigen würde, noch glaubten Sie, ich könne auf den Gedanken kommen, während des von beiden Teilen so lange ersehnten Alleinseins meine umfangreiche Korrespondenz zu besorgen. Sie waren zu einer Liebesfeier gekommen und sahen sich plötzlich in eine Näh- oder, wenn Sie wollen, in eine Schreibstube versetzt.

Muß ich Ihnen den einen Grund für mein Betragen erst auseinandersetzen? Ich fürchte, denn Sie verstehen ja überhaupt nichts von alleine. Jedenfalls können Sie davon überzeugt sein, daß die Rücksicht auf Ihren Gatten oder sein sonderbares Vertrauen nicht die geringste Rolle dabei spielte. Nicht sein Vertrauen, höchstens sein Bewußtsein war die Hypothek, die unsern Genuß beschwerte, die mir unsern Handel ganz und gar unappetitlich machte. Ihr Mann macht sich überhaupt einen ganz falschen Begriff, wenn er glaubt, daß es ein Vergnügen sei, ihn zu betrügen. Schon bei unserm mehrfachen Zusammensein war es seine unerträglich sanfte Überlegenheit, die Diskretion seiner platten Philosophie, die mich empörte. Dieser Mörder hat es wahrhaftig gut gehabt im Leben, jedenfalls unvergleichlich besser als die meisten seiner Berufsgenossen. Stellt man ihn sich aber als Kaufmann vor, so war er gewiß bevorzugt vor seiner Gilde. Weder das Stehen hinterm Ladentisch, noch das Hocken über Geschäftsbüchern haben ihm gleich den andern ein triviales und unblutiges Dasein garantiert. Erinnern Sie sich jenes Abends, Frau Rapp, als er uns im Orion die ungewöhnliche Anzahl gewaltsamer Todesfälle hersagte, die allein in seiner nächsten Familie vorgekommen waren? Unglücksfälle, Selbstmorde, Tötungen aus Leidenschaft, ja gemeine Raubmorde, wohin man nur sah. Ungewöhnliches mußte geschehen, Frau Rapp, um Ihren Mann als den letzten Träger seines Namens übrigzulassen. Mehr Leichen gibt es auch in einem Shakespeareschen Drama nicht. Es kommt natürlich darauf an, was man daraus macht. Nun mißverstehen Sie mich bitte nicht gleich wieder. Ihr Mann hatte natürlich nicht die geringste Verpflichtung, wegen einiger in seiner Nähe vergossenen Blutstropfen ein Dichter zu werden. Aber mehr als das hätte er sein können. Ein Charakter, der das Grauen um sich her aus der Sphäre der Lokalchronik zum Mythos emportrieb. Was ich ihm vorwerfe, ist, daß er ein Philister des Unglücks wurde. Die furchtbaren Begebnisse dienen ihm nur dazu, die Abendunterhaltung im Café Orion zu würzen. Es kommt ihm gar nicht darauf an, zwischen einem Doppelselbstmord und einer Gasvergiftung dem Kellner zuzurufen: »Ich habe Sie doch um zwei Stück Zucker extra gebeten.«

Man wäre bei alledem ungerecht, wollte man behaupten, diese Flut von Geschehnissen habe ihn völlig unberührt gelassen. Seine Nerven wurden schon in Schwingungen versetzt, er hat was erlebt; nur ist das Resultat eine kleinbürgerliche Philosophie, die der großen Kurve seiner Erlebnisse unwert ist. Und damit Sie wissen, was ich meine, führe ich ein Gespräch an, das er mit mir einmal im Laden führte. Er hatte gerade darauf gedrungen, daß Sie wegen eines unbedeutenden Fußleidens einen bekannten Chirurgen konsultierten. Sie hatten die Tür hinter sich geschlossen, und ich machte eine sehr despektierliche Äußerung über Ärzte. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte wichtig: »Die Leute wissen nicht viel, aber immerhin mehr als wir.«

Und zur Erläuterung fügte er hinzu:

»Es hat schon seinen Grund, warum ich bei der geringsten Kleinigkeit zum Arzt schicke. Ich lernte das beim Selbstmord meiner zweiten Frau.«

Ich sah ihn wohl etwas fragend an, und er sprach weiter:

»Auch Sie können schließlich daraus lernen, denn mich kann es nur trösten, meine Erfahrungen für viele gemacht zu haben. Sehen Sie, junger Herr –« er sagt so oft ›junger Herr‹ zu mir, was ich durchaus nicht leiden kann – »es ist immer ein großes Unglück, wenn eine Frau freiwillig aus dem Leben scheidet. Es ist aber zuweilen auch eine sehr große Unannehmlichkeit. Namentlich für einen Ehemann, der das zum zweiten Mal durchmacht. Ich gebe gern zu, daß ich mich damals in finanziellen Schwierigkeiten befand, die ich aber durchaus noch zu besiegen hoffte. Meine Frau dachte leider viel pessimistischer über meine Angelegenheiten. Oder sie dachte weniger, als sie gestimmt war. Es hatte sich ein körperliches Leiden eingestellt, das bemerkbar genug war, um ihr Gemüt zu umdüstern, das uns aber dennoch in dem Durcheinander finanzieller Transaktionen kaum besondere Sorge machte. Ich sagte mehr als einmal, sie sollte zum Arzt gehen; aber sie meinte, es werde nur Nervosität sein, was ja bei dem Stande meiner Geschäfte kein Wunder gewesen wäre. Da kam eines Morgens eine besonders beängstigende Nachricht. Es war immer noch nicht alles verloren, aber meine Frau war völlig von Sinnen. Sie warf sich mir zu Füßen, bat, daß ich sie töte. Ich schlug es ihr rund ab; endlich kamen wir überein, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Die Schilderung davon, daß wir es nicht vermochten, sondern beschlossen, den Tod auf getrennten Wegen zu suchen, gehört nicht hierher. Auch nicht die besondere Ausmalung meines Seelenzustandes, als mich meine Frau verlassen hatte. Ich brauchte ja eigentlich immer noch nicht die letzte Hoffnung aufzugeben; unwillkürlich machte ich mich noch einmal über meine Bücher, rechnete, rechnete, glaubte noch einen letzten Ausweg gefunden zu haben und schlief am hellen Morgen über meinen Schreibtisch gelehnt ein. Und schlafend – neben mir den unbenutzten Revolver – fand mich am nächsten Morgen die Polizei, als sie mir mitteilte, daß meine Frau in einem Hotelzimmer erhängt aufgefunden sei. Man verhaftete mich, ich brach zusammen; denn wenn sich auch nach zweimal vierundzwanzig Stunden meine vollkommene Unschuld herausgestellt hatte, die Zeitversäumnis in Verbindung mit der Nachricht von dem gewaltsamen Tode meiner Frau und meiner Verhaftung hatten genügt, meine Geschäfte hoffnungslos in Grund und Boden zu vernichten.

Was ich Ihnen aber eigentlich erzählen wollte, war das: als man dazu schritt, den Körper meiner Frau zu obduzieren – man zwang mich, dabei zu sein, und ich erinnere mich, als ob es gestern war, daß der Arzt das Messer noch nicht erhoben hatte – wandte sich dieser Mann höhnisch zu mir und sagte:

›Sie hätten sich übrigens die Arbeit ersparen können – ‹

›Ich mir – welche Arbeit –?‹ schrie ich empört.

›Ach richtig, Sie behaupten ja, daß Sie mit dem Selbstmord Ihrer Frau nichts zu tun hätten. Also Ihre Frau hätte sich die Arbeit ersparen können.‹

›Wieso?‹

›Keine vier Wochen, und sie wäre von selbst ihrem Brustkrebs erlegen.‹

Dann tat er seine Pflicht, und es begab sich, daß seine Diagnose vollkommen stimmte.«

Ich bemerke Ihnen, Frau Rapp, daß ich diese Erzählung Ihres Mannes nicht etwa aus dem Gedächtnis hier wiedergebe, sondern daß ich sie unmittelbar darauf für meinen Privatgebrauch schriftlich niederlegte. Nach meinen Aufzeichnungen machte Ihr Mann an dieser Stelle seiner Erzählung eine längere Pause, dann sagte er:

»Ich hätte meine Frau nicht weniger betrauert, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben wäre. Würde sie aber meinen Rat befolgt und rechtzeitig einen Arzt aufgesucht haben, so hätte sie sich zu Bett gelegt, die natürliche Hoffnung jedes Menschen, von einer Krankheit zu genesen, wäre zweifelsohne stärker gewesen, als der unnatürliche Drang, wegen einer Geldangelegenheit freiwillig zu sterben. Der Selbstmord wäre unterblieben, der Schimpf der Feigheit, die Schande der Verhaftung – vielleicht sogar der Zusammenbruch des Geschäftes wären mir erspart geblieben. Und am Ende – wer weiß – möglicherweise hätte eine rechtzeitige Operation ihr Leben auch noch gerettet oder zum mindesten bedeutend verlängert.«

An dieser Stelle machte Ihr Mann noch eine bedeutende Pause, wie er es immer tut, um seiner Weisheit Schluß wirksam vorzubereiten, und sagte dann trocken und sanft:

»Jedenfalls schicke ich seitdem bei jeder Kleinigkeit zu einem Arzt.«

Aber ich bin töricht, Ihnen das alles auseinanderzusetzen. Sie verstehen ja doch nicht, warum ich Ihren Mann so maßlos verachte. Die Zärtlichkeiten, die ich Ihnen trotzdem im Augenblick unseres Aufbruchs erwies, erklären sich aus mancherlei Erwägungen. Die breite Grundlage bildet eine Eigenschaft, die ich mit allen Männern teile. Ich habe deshalb keine besondere Ursache, mich ihrer zu rühmen, aber ich möchte auch durchaus nicht in jedem Punkte so anders sein, als andere Männer – ich wäre sonst kein Mann. Es ist vielleicht nichts als eine Art Gründlichkeit, ein Vollständigkeitsbedürfnis, das, wenn es nicht befriedigt wird, einem hinterher noch lange nachläuft.

Zum zweiten spielte Ihr Mann doch eine gewisse Rolle. Was dachte er sich dabei, als er uns so einfach uns selbst überließ? Wie sagte er doch (trocken und sanft): »Eine junge Frau will auch mal einen fröhlichen Tag haben.« Dabei ist denkbar, daß er zunächst nichts anderes im Sinne hatte als den Besuch der belebten Gassen, der gefüllten Restaurants und Cafés. An das andere aber mußte er auch denken. Hatte er sich damit abgefunden, so durfte es nicht unterlassen werden, weil das einen besonderen Hohn, eine Schadenfreude, einen Triumph von seiner Seite gegeben hätte, der imstande gewesen wäre, mein Selbstgefühl zu vernichten. Wahrscheinlich aber ist es (und am Ende des gestrigen Tages wurde es mir zur Gewißheit), daß er in seinem Dünkel nicht zu verhindern suchte, was er für unmöglich hielt. In diesem Punkte ergab sich die Notwendigkeit durch pure Logik.

Endlich wollte ich Ihnen gegenüber nicht unhöflich sein, und der Reiz Ihres Wesens, dem ich immer aufrichtige Bewunderung gezollt habe, tat ein übriges.

Trotz dieser plötzlichen Aufwallung spreche ich Ihnen nicht das Recht ab, enttäuscht zu sein. Ja, ich könnte Ihnen die schriftlichen Beweise dafür erbringen, wie wenig ich an Sie dachte, als Sie mir die Pompons verfertigten, und später, als wir durch die Straßen und Gasthäuser zogen, und Sie mich immer fragten: »Was suchst Du eigentlich.«

Möge es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage: ich suchte jemand.

Aber ich fand nicht. Ich war vom Laufen und von manchen Spirituosen berauscht und müde, als wir um Mitternacht endlich eine Droschke bestiegen, um zu dem Rendezvous mit Ihrem Manne zu kommen. Schließlich hatten mich die komplizierten seelischen Vorgänge des Tages moralisch geschwächt. Hatte ich tagsüber unser Zusammensein als kein besonderes Glück empfunden, so schmerzte es mich plötzlich, Sie wieder hergeben zu müssen. Ich schlang noch einmal meine Arme um Sie, küßte Sie noch einmal.

Und dieser Kuß brannte in Ihnen noch, als wir das Café Orion betraten, wo wir zu unserm großen Erstaunen Ihren Mann in dem zufälligen und sehr heiteren Zusammensein mit halb betrunkenen Studenten fanden.

Was weiter geschah, brauche ich Ihnen nicht zu schildern. Ich erkläre nochmals, daß ich Ihnen das bißchen Kokettieren mit den Studenten nicht mehr übelnehme. Wichtig aber bleibt die Tatsache, daß Sie mich in eine Lage brachten, die ich überhaupt nicht für möglich gehalten hätte.

Die Studenten tranken Sekt, Ihr Mann Bier. Von mir wußten Sie, daß ich fast mein letztes Geld für die Droschke ausgegeben hatte. Es war also eine grobe Taktlosigkeit von Ihnen, ganz laut zu sagen, wie ein ungezogenes Kind: »Ich will auch Champagner trinken.«

Zweifellos wäre es in diesem Augenblick die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit Ihres Mannes gewesen, Champagner zu bestellen. Ob es ihm nur an gutem Willen oder auch am Gelde gebrach, kann ich nicht unterscheiden. Jedenfalls hätte nur sein Takt die Situation retten können. Er aber sagte dem Kellner:

»Bringen Sie der Dame eine Tasse Schokolade.«

Worauf die Studenten in das schamloseste Gelächter ausbrachen und schrien:

»Onkelchen will nicht – Onkel hat keine Spendierhosen an –«

Ihr Mann lächelte bloß überlegen und sagte zu mir leise und freundlich:

»Machen Sie sich den Fleck von der Backe, Sie haben sich ganz schwarz gemacht.«

Und es war gar kein Zweifel, daß er die Herkunft meines Backenflecks von Ihrer schwarzbetupften Wange erkannte. Ich wurde ganz rot, stand auf, worauf die Bande schrie:

»Jetzt schmeißt › er‹ Champagner!«

» Er!« das war das furchtbare Wort. Denn plötzlich war ich »er« und Ihr Mann, das war im besten Falle irgendein alter Onkel, den man zufällig in später Nachtstunde getroffen hatte.

Ich setzte mich wieder und bestellte keinen Champagner. Wenn ich auch Geld gehabt hätte – jetzt war es mir völlig unmöglich. Ich achte Ihren Mann nicht sehr hoch. Hätte ich vor seinen Augen seine Frau mit Champagner regaliert, ich hätte ihn zum Zuhälter gemacht. Auch das wäre noch nicht so schlimm gewesen. Aber welche Rolle spielte ich dann selbst in diesem Handel?

Bin ich der Mann, der Briefe an eine öffentliche Frau schreibt?

Es hat übrigens keinen Zweck, Ihnen das weiterhin auseinanderzusetzen. Einiges von dem, was sich gestern ereignete, haben Sie ohnedies begriffen. Wie der dicke Student schrie:

»Na, wenn ›er‹ auch keinen Champagner spendiert, so trinken Sie eben mit uns, Fräulein.«

Er schob Ihnen ein frisches Glas zu, Sie lachten und tranken. Und dann legte er noch seinen Arm um Ihre Taille.

Jetzt, da Sie Ihren Rausch ausgeschlafen haben, vergegenwärtigen Sie sich die Situation: Ich bin ›er‹! Keinem von diesen Studenten wäre es auch nur in der Nüchternheit eingefallen zu denken, daß Sie die Frau Ihres Mannes seien. Ich, der ich zu diesen ganzen Vorfällen ein höchst unzufriedenes Gesicht zeigte, war der eifersüchtige, geizige oder geldlose Liebhaber eines reizenden Geschöpfes und mußte mir alle Hänseleien einfach gefallen lassen, weil es uns dreien – und wenn auch nur im tiefsten Unterbewußtsein – als die schändlichste und nicht einzugestehende Tatsache galt, daß Sie mit Ihrem Mann verheiratet waren. Andererseits: ich konnte mich grämen, ich konnte verzweifeln vor Eifersucht und hatte – so lange Ihr Mann nichts dagegen einwand – nicht das mindeste Recht, mir die zärtlichen Anwandlungen der Studenten zu verbitten oder sie gar zum Zweikampf herauszufordern.

Ihr Mann aber hatte an meiner Situation seine sanfte und trockene Freude. ›Hat er mich heute betrogen‹, so schien seine Miene zu sprechen, ›so erleidet er jetzt die schimpflichste Strafe der Ohnmacht.‹

Als Sie es dann noch über sich gewannen, dem Studenten Ihren Mund zu bieten, da riß mir die Geduld, ich sprang auf, warf mein letztes Geld auf den Tisch. Und Sie begreifen vielleicht doch, warum ich laut und deutlich sagte:

»Herr Rapp, ich glaube es ist Zeit, daß wir Ihre Frau Gemahlin nach Hause bringen.«

Und dieses, mein verehrtes Kätchen, war mein Triumph. Denn es war ein plötzliches Erbleichen und Ernüchtern in der ganzen Runde. Aus Ihrem Gesicht und dem Ihres Mannes war der letzte Blutstropfen gewichen. Die Studenten aber rissen ihre rohen Augen auf, sie saßen mit verzerrten Lippen da und hatten plötzlich das Gefühl, dem klirrenden Endakt einer Tragödie beizuwohnen. Ich selbst sah mich von ungefähr im Spiegel und wurde plötzlich daran erinnert, daß ich auch ein Kostüm trug. Mein schwarzer kattunener Pierrot machte sich in diesem Augenblick nicht schlecht. Mein Auge war scharf, die Falten meines Mundes gebieterisch. Und im Spiegel nahm es sich noch um einige Grade märchenhafter aus als in Wirklichkeit: das weißseidene, mit bunten Konfetti besprenkelte Kätchen, den grauen alten Mann zur Türe straucheln zu sehen.

Draußen waren Sie schlechter Laune, Frau Rapp. Sie schimpften sogar. Aber nicht lange. In solchen Fällen sind Männer sofort solidarisch. Sie gingen schließlich still voraus, wir beide schweigsam hinterdrein.

Die Straßen waren leer, das Laternenlicht spielte mit Ihrem weißen Gewand. Zuweilen traten wir Männer auf Ihren langen grotesken Schatten, der dann bei jeder Laterne zusammenschrumpfte, um sich eilends nach vornüber zu werfen.

Wir Männer sprachen lange kein Wort. Erst als Sie an der Haustür standen, hielt er mich zurück und sagte:

»Mein lieber junger Herr, gegen die Eifersucht selbst gibt es keinen Schutz. Sie einer Frau zu zeigen, ist immer schädlich. Nur wenn wir Männer dieses Gefühl vollkommen verbergen, sind wir sicher, nicht betrogen zu sein –«

»So sicher sind Sie –«

Und er nickte mit weit aufgerissenen Augen. »So sicher bin ich. Ich bin nun zum viertenmal verheiratet, und nie betrogen worden.«

Da packte mich Entsetzen vor dem Manne und ich floh, ohne Gruß.

Auch Ihnen, Frau Rapp, sende ich keinen Gruß zum Abschied. Ich gehe meiner Wege, folgen Sie den Ihrigen.

Nehmen Sie, wenn Sie mögen, diesen Brief auf Ihre Wanderschaft mit. Vielleicht sind Sie über Jahr und Tag klug genug, ihn zu verstehen und das tiefe Grauen, mit dem ich immer an Sie zurückdenken werde.

Ludwig Benrath.

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Montag.

Fräulein Melanie T.

Mein gnädiges Fräulein!

Merkwürdig, daß wir Menschen für die verschiedenen Persönlichkeiten unseres Verkehrs uns oft ein gar so verschiedenes Zeremoniell zurechtmachen. Freilich gilt das insbesondere für mich, der ich etwas unterhalb der ›Gesellschaft‹ stehe. Wäre ich meiner Sache ganz sicher, so würde ich wahrscheinlich gar nicht zögern, die kurze Treppe eines Hauses hinaufzugehen, nach Ihnen zu fragen, mit Ihnen zu plaudern. Und dennoch weiß ich, diese Handlung wäre – was Sie und mich betrifft – so ungewohnt, daß Sie mir mit der Frage entgegenkommen würden: Ist etwas geschehen?

Also es bleibt bei unsern seltenen Spaziergängen. Und habe ich Besonderes auf dem Herzen, darf ich Ihnen schreiben. Das ist eigentlich schon sehr viel, und ich kann Ihnen nicht genug danken.

Zuzugeben ist, daß unsere seltenen Begegnungen zuweilen nicht genügen, daß sich das plötzliche Verlangen regt, in Ihrer Nähe zu sein, mich an Ihrer festen, gütigen, tiefen Art aufzurichten. Ich schäme mich dessen nicht einmal. Sie sind die Ältere, die Reifere. Gewiß haben Sie nicht abgeschlossen, aber der Gang Ihres Herzens ist der stetigere. Und das ist unendlich beruhigend. Gibt mir ein so gläubiges Vertrauen.

Und doch vertraue ich Ihnen nichts an. Vielleicht würde ich mich aller Einzelheiten zu tief schämen. Es genügt ja auch das Eingeständnis, daß ich eine häßliche Sache von mir abgestreift habe. Aber häßlich war sie, und die Flecken tilgen sich nicht. An Entschuldigungen wäre kein Mangel. Ich hätte schon ein Recht, mein Schicksal anzuklagen, das mir die schönsten Verheißungen nicht erfüllt.

Aber die Verheißungen sind da. Waren da.

Ich denke an ein wundervolles Erlebnis meiner Sinne, das so überwältigend stark war, daß es mich glauben machte, alle andern Vorbedingungen für ein gesegnetes und erfülltes Leben müßten darin eingeschlossen gewesen sein: ein hoher, feiner Geist, ein gütiges, der Hingabe würdiges und fähiges Herz.

Wer war sie? Ich habe sie nie gesehen und kann sie nie wiedersehen.

Die andere Verheißung sind Sie.

Ich habe Ihnen, mein gnädiges Fräulein, schon einiges geschrieben. Ich habe Ihre Großmut in jedem Falle mißbraucht, vielleicht aber war ich nicht einmal in jedem Falle ganz wahrhaftig oder folgte den Trugbildern einer verstörten, aufgestachelten, erkrankten Phantasie.

Genug, ich weiß: Ich habe keine Erfüllung zu erwarten. Aber undankbar und gänzlich ohne Kennerschaft wäre ich, hielte ich nicht das, was Sie mir geben, in höchsten Ehren.

Da mir die himmlische und die irdische Liebe das Höchste und Letzte vorenthalten, bin ich ein taumelnder und frevelnder Mensch geworden. Banale Genüsse, über die ein Unbedenklicher kein Wort verlöre, drücken mich tief nieder. Und die Selbstqual erniedrigt mich um einen weiteren Grad.

Und doch wage ich es immer wieder, mich zu erheben. Sie sind ja da, leben und atmen, sind mehr denn eine Hoffnung, sind eine Gegenwart, die mich läutert, die mit zarter Frauengüte das Gleichgewicht in mir für Stunden wiederherzustellen vermag!

Noch einen Tag, mein gnädiges Fräulein, und der Fasching ist zu Ende. Vielleicht, daß wir uns morgen noch einmal zu tollerem Gruß begegnen. Aber nicht darauf hoffe ich.

Ich hoffe auf die Fastenzeit, daß es mir weiter vergönnt ist, neben Ihnen herzugehen, in tonlosen, gleitenden Gesprächen, nur den Abglanz Ihres eigentlichen Wesens genießend.

Mich selbst werden Sie, das kann ich Ihnen versprechen, so beherrscht finden – nicht, wie Sie, Gütige, es bedingen – wie es die tief wurzelnde Bedingung unserer Freundschaft ist. Die Lyrik wird verblüht sein, doch nur für Ihr Auge und Ohr. Seien Sie das letzte Mal versichert, daß das Beste in mir nicht verschüttet, nur verschlossen wurde. Dort bleibt es Ihnen verwahrt. Sie werden es nie ergreifen. Aber es wird Ihnen immer gehören.

L. B.

P.S. In diesem Augenblick erfreut mich Ihre Karte, in der Sie mich bitten, eine Ihnen bekannte junge Dame morgen auf der Feststraße zu begleiten und zu beschützen. Sie brauchte weniger anmutig zu sein, als Sie es versprechen, ich diente ihr mit Eifer, um Ihnen zu dienen. Übrigens freut es mich, eine junge Dame kennen zu lernen, die lieber mit Armen und Füßen im Strom um ihr Leben kämpft, als auf hohem Wagen sicher und stolz drüber hinweg zu rudern. Sollte dieser junge tapfere Mensch überhaupt zu ›uns‹ gehören – zu uns, von der andern Seite?

Aber Sie werden ungeduldig und ich küsse Ihnen ehrfurchtsvoll die Hände.

 

Aschermittwoch.

An Helene von T.

Helene!

Handle, wie Du es recht findest, verrate mich an jenes Sittengericht von Frauenzimmern, in dem Du die Rolle eines Staatsanwalts augenscheinlich übernommen hast! Verkaufe mich!

Aber lies diesen Brief, den zu schreiben mich keine Macht der Welt hindern wird!

Warum ich ihn an Dich schreibe? Frage lieber, warum nicht unmittelbar an Julie!

Aber Julie hat es verwirkt. Dieses edle Geschöpf hat bei aller Größe seiner Eigenschaften nicht diese unerschütterliche Ruhe, die nötig ist, um die vertrauteste Gefährtin meines Lebens zu sein. Das ändert nichts an meiner Liebe noch an meinem Verhältnis zu ihr. Vielleicht gebricht es ihr nur an der Kraft der Nerven.

Du aber, Helene, hast diese Kraft.

Es wäre noch die Frage zu beantworten, warum denn alles geschrieben sein muß, alles ausgebreitet, alles gebeichtet!

Ach, Helene; das ist ein schriftstellerisches Berufsgeheimnis für sich. Es gibt Dinge, die ich vielleicht völlig unbewußt in mich aufnehme und die dennoch sich eines Tages als die Bausteine meiner künstlerischen Existenz erweisen werden. Ich wäre nicht imstande, selbst wenn ich wollte, sie Dir heute schon in einem halbwegs lesbaren Briefe interessant zu machen. Übrigens kenne ich sie nicht einmal, weiß nicht, wo ich sie aufgelesen habe, wohin ich sie beiseite schaffte, und ahne dennoch, daß ich sie einmal zur rechten Zeit bei der Hand haben werde.

Dann aber gibt es ein anderes, buntes, wissentliches, abenteuerliches, zufälliges Erleben, eine Folge belustigender und erschreckender Tatsachen, die meiner Phantasie nichts geben, für deren dichterische Wahrheit ich viel weniger einstehe als für die tölpische wirkliche Wahrheit, die an ihnen klebt, die ich so verachte, daß ich sie nie zum Gegenstand meines Schaffens machen würde, und die dennoch die Kraft haben, meine Brust aufzureißen, mein Blut fließen zu lassen.

Sieh hier mein Blut!

Soll ich allein leiden, solange ich eine Freundin weiß?

Deshalb schreibe ich, und an Dich.

Von der holden, beglückenden Begegnung mit jener Unbekannten schrieb ich Dir schon, wie ich sie suchte, nach ihr forschte in allen Wirrnissen dieses Faschings – und vergebens.

Nicht aber erwähnte ich eine andere Frau, deren Namen ich auch heute nicht nennen darf. Was mich von einer Schilderung ihres Wesens abhielt, ist nicht ein Schuldbewußtsein gegen Julie. Obzwar ich anerkenne, daß die Qualität meines Gefühls für sie nur mit dem für Julie verglichen werden könnte. Könnte – Helene. In Wahrheit läßt sich gar nichts vergleichen. Eine Liebe ist so wenig ohne ihre Geschichte verständlich, wie ein politischer Vorgang ohne die seine. Juliens Geschichte ist die meine, mehr sage ich nicht. Die andere aber hat ihre Geschichte für sich, die ich nicht kenne. Als das reife Geschöpf einer eigenen Entwicklung trat Fräulein M. vor meine Augen, vor meine Seele. Welche Erfahrungen, welche Schmerzen sie so gebildet haben, weiß ich nicht, wird mir unbekannt bleiben. Stelle sie Dir vor, Helene, wie eine Frau, die keineswegs am Ende ist – die aber gleichwohl weit über unsere tastende, noch schwankende Jugend hinausgelangte, zu einer festen Lebensform, die ich bewundern mußte, die zu besitzen ich niemals strebte.

Was wollten wir von einander?

Was sie wollte, weiß ich auch heute nicht zu sagen. Ich genoß das melancholische Zusammensein mit einer Frau, deren Kraft und Sicherheit ich ebenso bewunderte wie haßte, an der ich mit heißem Willen nichts zu ändern vermochte, deren wachsendem Einfluß ich immer tiefer und schöner und verzweifelnder erlag. Denn verzweifeln machte mich meine Unfähigkeit, sie auch nur um die Breite eines Zolles zu verrücken. Und unsere Liebe ist ja nichts wie ein unendliches, unablässiges Verrückenwollen! Hinauf, hinab, nach rechts oder links – Grundlagen erschüttern! Das ist alles.

Ich gebe mir nicht die vergebliche Mühe, Dir zu schildern, wie diese Frau aussieht. Wollte ich Dir sagen, daß wilde, heiße, herrische, unzähmbare Leidenschaften in einer durch nichts mehr zu belebenden Marmorform eingeschlossen und versargt seien, so würde ich Dir verschweigen, welches liebliche Leben auf diesen gebräunten Wangen, auf diesem beschatteten roten Munde spielt. Nein, sie ist kein erstarrtes Götterbild, sie atmet, sie betet: Das Lachen verschönt ihren Schmerz, wie die Trauer ihre Heiterkeit verklärt. Sie ist streng und duldsam, einseitig und umfassend, keusch und – ja, es gab wirklich eine Nacht, eine einzige, da ich sie mir als Weib zu denken vermochte.

Daß es nur einmal geschah, will seine Erklärung, die den einzigen Fehler – nein, nicht Fehler! – ich finde kein anderes Wort – dieser Frau bezeichnet. Was ich so nenne, ist vielleicht nichts als ein natürliches und selbstgewähltes Schild gegen die Leidenschaft, die sie an allen Orten entfachen würde. Tatsache ist, daß sie den vollen Reiz ihrer persönlichen Gaben nicht mit der Mode zu verbünden trachtet. Nicht gleichgültig und nicht nachlässig ist sie in ihrer Kleidung. Aber man könnte glauben, es fehle ihr das bißchen Torheit, ohne das sich keine Frau putzen würde. Sie ist zu schön, um obendrein hübsch sein zu wollen. Man bekleidet sich, also zieht sie sich an.

Was wir beide an einander haben, ist noch schwerer zu sagen. Sie weiß, daß ich sie liebe, und deshalb brauchen wir nicht davon zu sprechen. Sie ist die Liebe gewohnt, und sie läßt sich durch die hoffnungsloseste nicht davon abschrecken, einem Manne gut Freund zu sein, der sonst seine fünf Sinne beieinander hat. Daß sie diese Liebe erwidern könnte, davon ist so wenig die Rede, wie daß Sonne und Mond zusammenprallen können. Ein Vorsprung von wenigen Lebensjahren genügt ihr, diese Gefühlswelt in eine theoretische Unwirklichkeit zu entrücken. Gesellschaftliche Untadeligkeit, gemildert durch eine nie versagende Güte – das ist sie. Tiefe, der Selbsterniedrigung fähige Ergebenheit, mit allen Mitteln der gesellschaftlichen Anstrengung verkleidet – das bin ich.

Im übrigen weiß sie auf mich zu zählen. Vorgestern beorderte sie mich, eine junge Dame ihrer Bekanntschaft zu beschützen, die nicht wie sie selbst und ihr engerer offizieller Freundeskreis (zu dem ich nicht gehöre) den letzten Tag des Faschings vom vornehmen Wagen hinab genießen, sondern sich auf zwei gesunden jungen Beinen tummeln wollte. Gestern mittag nahm ich dieses Wesen in Empfang: blond, heiter, eigenwillig, braunäugig, plötzlichen Trübsinns fähig. Suse Stein heißt sie – aber das ist so nebensächlich, wie ihre ganze Person mir eigentlich – obgleich ich ihr vielleicht mein Leben danke.

Ich trug meinen erbärmlichen Pierrot aus schwarzem Kattun, sie hatte einen lilafarbenen Domino übergeworfen, die lustige spitze Kapuze über den Kopf gezogen. Oben im Treppenflur stand im ernsten schwarzen Samtkleid Fräulein M., freundlich, gütig, segnend: Viel Vergnügen – vielleicht sehen wir uns heute noch.

Fräulein M. wußte keineswegs, welchen großen Dienst sie mir mit der Zuteilung der jungen Dame erwies. In meiner Sehnsucht nach jener Unbekannten war ich schon vor geraumer Zeit auf den – nur zu simplen – Gedanken verfallen, mich in der Öffentlichkeit an der Seite eines reizvollen Geschöpfs zu zeigen, das die Eifersucht der Frau erregen sollte, die mich ja jederzeit ungestört beobachten konnte. Ich hatte diesen Plan nie so recht zur Ausführung gebracht. Einmal trug Fräulein M. selbst sogar die Schuld, da sie mir plötzlich auf einem Fest in einer Erscheinung entgegentrat, die mein Blut jäh entzündete. Dann war es ein anderes trüberes Abenteuer, das mich hinderte, mit der rechten Inbrunst an meine Unbekannte zu denken. Nun war auch das abgetan. Ich hatte das gänzlich nebensächliche Fräulein Suse Stein zur Seite und in der Tasche den Fetzen einer Spitzenmaske, gerade groß genug, ein Muster zu erkennen.

Helene, das ist die Vorgeschichte. Ich habe es mir abgerungen, sie in aller Klarheit und Ruhe vor Dich hinzulegen. Keine flüchtige Unbedachtsamkeit, kein lässiges Mitleid mit mir selbst sollte Dir verraten, daß ich mit einem kranken Kopf arbeite, mit einer Seele, deren Spannung an der Grenze ihrer Dehnbarkeit angelangt ist. Ich bin nicht mehr imstande, die Haltung weiter zu bewahren. Für das Übrige nur wenige Worte.

Als wir die Feststraße betraten, war ich noch in gleichmütiger Stimmung. Vielleicht liebte ich die Unbekannte nicht mehr, vielleicht lockte mich nur noch Neugierde.

Es war das übliche Treiben. Tausende von eng aneinandergepreßten Menschen wallten die Straße auf und nieder. Masken und nüchtern gekleidete Zuschauer durcheinander. In der Mitte des Fahrdammes rollte die Kette der geschmückten Wagen. Menschenbrausen, Trompetenstöße, Konfetti, Papierschlangen. Ein und derselbe, unendliche Male wiederholte törichte Scherz. Dies alles in der weichen, schmerzenrufenden Frühlingsluft des März.

Ich trug wohlweislich keine Maske, war deshalb vielfach Zielscheibe des Spaßes mancher Bekannten, die mich nach aller Art neckten. Und die Scherze kamen von allen Seiten, von Fußgängern, von den Wagen herab. Ich fand noch gerade Zeit, meine Begleitung nicht zu vernachlässigen.

Einer der Festwagen war mir bald besonders aufgefallen. Er trug blutrote, schwarzmaskierte Dominos, die nicht anders aussahen als eine Horde von Scharfrichtern. Sie übten sich fleißig im Werfen von Schlangen und Konfetti, aber es war kaum zu unterscheiden, ob Frauen oder Männer unter diesen Kutten steckten. Meine volle Neugier erwachte erst, als mich eine Schlange an die Nase traf und ich für Sekunden durch ein geringeltes papierenes Band mit einer jener Gestalten verbunden war. Ich glaubte noch zu erkennen, daß es eine Frauenhand war, die das andere Ende der Rolle hielt. Doch der Wagen rollte weiter, wir wurden von dem Strom in die entgegengesetzte Richtung getragen und ich mußte meine Geduld zügeln, bis wir uns nach einer halben Stunde abermals begegneten. Und wiederum traf mich der wohlgezielte Wurf. Es war unmöglich, mich näher an den Wagen heranzuarbeiten, aber ich sah, daß die Gestalt eine Maske von schwarzer Spitze trug. »Wer mag das sein –« sagte ich mehr zu mir selbst als zu Suse Stein, deren helles Gelächter mir flüchtig bemerkbar wurde.

Und zum drittenmal begegneten wir dem Wagen. Diesmal hatte ich mich durch die Menge gerudert, Suse Stein hielt sich dicht hinter mir. Der Wagen war hochgebaut, die Plattform fast auf der Höhe meines Kopfes. Wieder holte die Gestalt zum Wurf aus – diesmal sehe ich genau: es ist die Maske, zu der meine Spitze gehört. Die Trägerin hatte sich nicht die Mühe genommen, das ihr unbedeutend erscheinende fehlende Endchen zu ersetzen. Sie ist es. Eine Menschenwelle schiebt sich zwischen uns und den Wagen, der schon an mir vorüber ist. Ich verfalle in eine namenlose Aufregung. Sie, die endlich gefundene Unbekannte, steht am vorderen Rande, dicht neben dem Kutscher, sie sieht mich nicht mehr. Mit rohen Fäusten breche ich mir Bahn, ich achte nicht mehr auf Suse, die sich an einen Zipfel meines Pierrots klammert. Ich versuche, mich von hinten auf den rollenden Wagen aufzuschwingen.

Suse ruft angstvoll hinter mir:

»Was tun Sie –«

Ich komme auf den hohen Wagen nicht hinauf und schreie schweißtriefend:

»Ich reiße ihr die Maske vom Gesicht –«

Ich habe die Höhe fast erklommen, hänge halb an dem rollenden Gerüst und sehe plötzlich Suse ganz verstört dicht unter mir –

»Warum nur – warum –«

»Weil ich wissen will, wer sie ist –«

Jetzt stehe ich oben, hart am Rand mit wankenden Knien. Und Suse schreit:

»Aber ahnen Sie denn nicht – es ist doch Fräulein M.«

Helene. Von diesem Augenblick des gestrigen Nachmittags bis zum heutigen Morgen habe ich nichts von mir gewußt. Als ich erwachte, lag ich mit verbundenem Kopf in meinem Bett, neben mir saß Suse Stein, als zarte, kräftige Wärterin, gütig und entschlossen. Die Wunden haben nichts auf sich. Erst als ich ihr versprach, ein paar Stunden zu schlafen, hat sie mich verlassen. Ich habe mein Wort gebrochen, um Dir zu schreiben.

Helene. Was ich erlebe, schildere ich Dir nicht! Die ich unbekannt in meinen Armen hielt, die aufgelöst in jauchzender Lust mein Lager teilte, war die Heilige, zu der ich wissentlich Auge und Sinne nie zu erheben wagte! Die meine Anbetung mit mir selbst betrog, die mich in vollem Bewußtsein genoß, um mir die ewige Sehnsucht zu lassen, stillbar nur in der Erinnerung, ohne Hoffnung, ohne Aussicht, ohne das Glück, das ich gelebt, das mich verlassen, eh ich es erkannt.

Helene, ich kenne die Frage Deiner Augen: was wird?

Nichts wird, Helene. Ich werde dieser Dame ein stummer Sklave bleiben, der vorgibt, ihre Bettgeheimnisse nicht zu kennen. Ich sehe Dein Lächeln, Helene, und wenn ich sie auch zum erstenmal in meinem Leben selbst erfuhr, ich kenne die alte Lehre: der heiligste Altar, den der Mann einer Frau bereitet, soll auf alle Fälle gut gefedert sein. Es wäre vermessen von mir, zu behaupten, ich habe eine Deines Geschlechtes überschätzt. Nein, Helene, ich glaube nicht einmal, daß ich ihr Bild auf einen falschen Platz meines Herzens gestellt habe. Ich hatte einfach die Bedingung ihres Besitzes erfüllt. Nie wäre sie die Meine geworden, wäre ich mit wissentlichem Begehren ihr entgegengetreten. Kannst Du selbst an der Keuschheit einer Glut zweifeln, die nur in der Nacht des Geheimnisses zu lodern wagt?

Und hätte ich auch Unrecht, Helene, ich würde nur mir selbst unendlichen Schaden zufügen, wollte ich mich bestreben, die hämische Weisheit aller Welt zu teilen. Ich kenne mit dem pochenden Blut meiner Jugend keine Liebe, die mir nicht heilig wäre. Aber ich wäre um eine Freude und ein Glück ärmer, kennte ich nicht auch die Liebe, die in süßer, schwärmerischer Phantasie genießt, indem sie verzichtet.

Denn dafür, Helene, bin ich Mann, daß ich alles darf, daß meine Welt so reich ist, wie mein Arm stark, sie zu fassen, wie mein Auge scharf, zu erkennen, zu unterscheiden, der Vielheit gewahr zu werden.

Die Unbekannte bleibt die Unbekannte, Fräulein M. bleibt Fräulein M.

Nun bin ich ruhig geworden. Und jetzt mag Suse Stein kommen und mich pflegen, bis ich genesen bin.

L. B.

 

8. März.

Frau Prof. von W.

Geehrte Tante!

Du überschätzest meinen Witz. Niemals in meinem Leben habe ich eine ernsthaftere Forderung als diese erhoben. Wenn ich nicht unverzüglich in Besitz meiner Sammlung oder meines Geldes komme, werde ich die Angelegenheit einem Rechtsanwalt übergeben.

Besten Gruß
Dein Neffe
L.

NB. Was Du über Verwandtenliebe und Geld sagst, stimmt nur teilweise. Es ist richtig, daß ich gelegentlich meines letzten Zuhauseseins Deine schöngeistige Bibliothek, deren Umfang und Inhalt Deinem Geschmack alle Ehre macht, ordnete; daß ich eine Umgruppierung Eures Bilderschatzes vornahm und schließlich zur Hochzeit Deiner reizenden Schwester zwölf Strophen dichtete, was mir alles in allem eine gute halbe Woche meiner kostbaren Zeit raubte. Ich schenkte sie Dir gern. Für die Entfernung meines Blinddarmes rechnete Dein guter Gatte fünfhundertfünfzig Mark – Familienhonorar, wie er es nannte, puren Ersatz für eigene Unkosten. Mehr verlange auch ich nicht, liebe Tante.

 

8. März.

Fräulein Melanie T.

Mein verehrtes gnädiges Fräulein!

Sie hatten die Güte, mir drei wundervolle leuchtende, duftende Marschall-Niel-Rosen zu senden, mit dem Wunsche für meine Besserung, mit dem Danke für die an Fräulein Stein geübten Ritterdienste. In der Tat bin ich der zu eigentlichem Dank Verpflichtete. Denn meine Dienste waren mehr Genuß als Mühe, und der glückliche Umstand, daß die junge Dame bei mir war, verhinderte die ernsten Folgen eines an sich so leichten Unfalles.

Aber ich behalte diese Rosen auch unverdientermaßen gerne. Denn keine Blume duftet edler als die den Weg von einer Frau zu einem Manne fand. Wagt sie die umgekehrte Reise, so ist sie gern der helle, prahlerische Bote stürmischerer Angriffe. Von Ihrem Auge, Ihrer Hand gewählt, ist sie nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Wort, ein Klang, ein Blick, kostbar im Augenblick, vergänglich im Sein, nicht der Geberin, nur dem Empfänger unvergeßlich.

Ihr
L. B.

 

9. März.

Fräulein Gusti.

Liebe Freundin!

Wie könnte ich gutmachen, was ich vor einer halben Stunde Schlechtes tat. Ich könnte mich schlagen für diese eine kurze Geste, die gewiß der wahre Ausdruck meiner plötzlichen Empfindungen war, die aber dennoch meiner überlegteren und beruhigten Stellungnahme gar nicht entspricht. Aber sagen Sie selbst, haben Sie mich nicht gar zu plötzlich vor die neue große Wendung Ihres Lebens gestellt, die auch mich angeht, weil sie mir den schmerzlichsten Verlust bereitet? Die endgültige Trennung von Ihnen?

Wie konnte ich ohne weiteres annehmen, daß der wackere junge Mann, den ich so oft in Ihrem Laden traf, Ihnen etwas anderes bedeutete, als eben einen Freund Ihres Bruders und damit den Ihren? Argwöhnen Sie jedoch nicht, daß ich ihn unterschätze, weil ich Sie so hoch neben die edelsten der Frauen stellte, denen ich je begegnet. Wahr ist, daß Sie sich in einem Konflikt befanden, wahr ist, daß Sie ihn auf keine schönere Weise lösen konnten; das sehe ich jetzt ein, eine halbe Stunde, nachdem ich Sie auf die Mitteilung von Ihrer bevorstehenden Vermählung plötzlich und grußlos verlassen.

Nein, Gusti, Sie haben nur so entschieden, wie es Ihrer würdig ist. War es zehnmal richtig, daß Sie mit der Liebenswürdigkeit Ihres Geistes, mit der Rechtschaffenheit Ihres Herzens sich Freunde erworben haben, die Ihrem häuslichen Kreise fernstanden – ich selbst hätte Ihre prächtigen Eigenschaften vielleicht weniger hochgeschätzt, wenn sie nicht gerade auf jenem Boden der einfachsten und besten Bürgerlichkeit erwachsen wären. Nicht als eine, die sich über ihre Herkunft erhob, liebte ich Sie. Ich sah in dieser Herkunft nur die Bedingung Ihres Wesens, nur die strengste und liebevollste Schule für das menschliche Herz.

Gewiß sind diese Vorzüge nur durch den Zufall Ihres Berufes allgemein und auch mir sichtbar geworden, sie haben sich vielleicht durch den mannigfaltigen täglichen Verkehr mit Männern aller Stände und Schichten zu besonderem Glanz geschliffen. Die Gefahr war vorhanden, daß Sie den Boden unter Ihren Füßen verlören, daß nicht Ehrgeiz, nein, eine nur natürliche Entwicklung Sie zu anderen Hoffnungen bereitgemacht hätte. Sie aber, Gusti, ließen sich weder von der ringgeschmückten Hand des Offiziers, noch von der zarteren des Gelehrten oder des Künstlers verführen, Sie nahmen die schwielige des Mannes Ihres Standes, die arbeitgewohnte.

Was besagt mein Glückwunsch noch der jungen Meisterin ihres Schicksals?

Nehmen Sie für diesen Augenblick die paar armen Rosen. Grüßen Sie den lieben Meister, dem ich in herzlichen Gedanken ein Freund bin.

L. B.

 

12. März.

An Suse Stein.

Nun schläfst Du, liebes Herz, und ruhst von dieser Nacht. Du hast so still und lange geweint.

Ich schreibe nicht an Dich, für Dich. Die Morgensonne liegt so voll in unserm Zimmer. Ich muß was schreiben.

Das Licht krönt Dein liebes Haupt, Deine gute Hand drückt sanfte kleine Gruben in die weiße Decke. Und ich wünschte, Du lägest oft und immer so da, und ich könnte im Frühschein schreiben, im Schutze Deines Schlummers.

Ich habe eine leise Angst. Aber ich bin auch nicht ohne Mut. Mir ist zum erstenmal, als hätte ich was getan. Und habe dennoch in mir eine so sonderbare, mir fremde Gewißheit, ich könnte dafür einstehen.

.

Einmal haben wir uns angelächelt, als kennten wir uns noch gar nicht, und seien wieder seit ewig bekannt. Und was geschah, das war fremd und hold und so für sich, wie nichts auf dieser Welt.

Du regst Dich, ich eile zu Dir. Du sollst nicht weinen.

 

14. März.

Meine liebe Mutter!

Dank für die Geldsendung, die gerade im rechten Augenblick kam. Was Tante Professor betrifft, so bin ich mit dem vorgeschlagenen Vergleich von 2500 Mark einverstanden, weil Du mich darum bittest, und weil Vater die Sache so unangenehm ist. Obgleich Vater immer seine harte Kaufmannschaft uns als Vorbild hingestellt hat. Aber es handelt sich ja bloß um mich. Ist das Geld erst angekommen, so werde ich bald weniger verwildert aussehen, als Deine Bekannten Dir berichteten, die mich wegen meines verwahrlosten äußeren Zustandes nicht anzusprechen wagten. Du mußt Dich darüber trösten, es gibt in jeder Nation Menschen, die keinen persönlichen Mut haben. Aber wenn die Leute gar den Eindruck hatten, ich sei ein tief unglücklicher Mensch, so irren sie sich ganz entschieden. Nie war mein Gemüt heiterer, leichter, freier. Nie mein Blick in die Zukunft hoffnungsfroher und sonniger.

Du selbst mit gutem Herzen suchst die Quelle meines Unheils in dem, was Du künstlerisches Ringen nennst. Mutter, ich ringe ja gar nicht.

Wohl gebe ich zu, daß ich in keiner glücklichen literarischen Zeit geboren bin, was aber kein Vorwurf an Deine oder Vaters Adresse sein soll. Das Schlimme ist, daß wir zu rasch leben, um Schulen zu bilden. Es ist sozusagen nicht erlaubt; was mich auf den Gedanken brachte, ein Dichter zu werden, ist künstlerisch längst erledigt. Ein oder zwei Meister leben fort, sozusagen gegen alle theoretische Wahrscheinlichkeit; dafür schweben mehrere Dutzend Experimente in der Luft, die alle ästhetische Richtigkeit für sich haben, denen es weder an Kühnheit des Entwurfs noch der Logik fehlt. Leider schmecken sie nur nach Geschmack, und ich verspüre nicht die mindeste Lust, mich in einem Laboratorium zu tummeln.

Unter diesen Umständen fange ich lieber gar nicht erst an. Ich könnte mich ja noch auf das verlassen, was ich mein natürliches Talent nenne. Aber wozu sich ohne Not bloßstellen? Auf Verdienstmöglichkeiten ist in gar keinem Falle zu rechnen, und ich bin ruhmsüchtig genug, den Tadel zu fürchten.

Doch das Leben ist auch so schön und ich danke Dir, daß Du es mir gegeben hast. Selbstverständlich auch Papa.

Viel herzliche Grüße
Dein
Ludwig.

 

15. März.

An Fräulein Suse Stein.

Liebes Mädchen!

Nun bin ich drei Tage ohne ein Wort von Dir. Du hältst Dich in Deinem Zimmerchen eingeschlossen; Du hast die Rolläden heruntergelassen, und ich fühle, ich weiß, was in diesem Dunkel Schmerzliches sich vollzieht.

Fürchte nicht, ich hätte für Deine liebliche Trauer Worte der Begütigung, Gebärden des Trostes. Wir wären ein so elendes Geschlecht, könnten wir keine Stürme vertragen, und wären erst recht bejammernswert, würden wir nirgends wurzeln, machte uns der mutige Schritt nach vorn so gar keine Beschwer.

Aber wissen sollst Du, daß Du nicht allein bist. Daß ich mit sehnlichem Verlangen Deinen Ruf erwarte.

Also rufe mich, Du Beste.

 

15. März, abends.

Fräulein Suse Stein.

Danke für Deine Zeilen, Dank auch dafür, daß es so wenig waren. Mir ist, als gäbe es in Deiner hellen Seele nichts, was ich nicht verstünde.

Schon sehe ich Dich gefaßt, und dennoch kannst Du nicht nach Hause, wie Du müßtest.

Höre, Kind; ich habe eine kleine Barschaft. Wir wollen hinaus aufs Land. Ich weiß einen guten alten Bauerngasthof oben auf der Hochebene. Es ist ein Wald, ein Flüßchen und eine Mühle daran. Vor uns wird sehr viel weite Fläche sein, nur hie und dort Gebüsch oder ein einsamer Baum. Da wollen wir den Winter ausschlafen, und dann aufwachen zu etwas, was wir nicht wissen.

komm, Du wirst mich bereit finden.

Ludwig.

 

Bruckmühl, den 18. März.

Fräulein Melanie T.

Mein verehrtes gnädiges Fräulein!

Nicht ohne Sorge sah ich dem Tag entgegen, da es Ihnen gefallen könnte, die ganze Verantwortlichkeit für den Fall der Suse Stein vor mir auszubreiten.

Sie konnten die Feder nicht ansetzen, ohne die Erhabenheit Ihres Herzens vollkommen zu dokumentieren, und so wurde das, was Sie schrieben, mehr eine Verteidigung denn eine Anklage.

Was hätte ich dem hinzuzufügen?

Doch etwas, das Beste: ich bin glücklich, und darf hoffen, daß auch sie es ist. Muß ich Ihnen die Ursachen meines tiefen Behagens noch erläutern? Suse Stein fühlt so klar und gut, wie ihr Körper rein und von edelster Gesundheit ist. Man täte ihr Unrecht, wollte man ihr obendrein ein vollkommenes Ebenmaß der Seele zuschreiben. Wie nur je ein Stück Natur, nimmt sie Beleuchtungen an, strahlt Wärme wieder, die man ihr gibt, verwildert in Launen, wenn man sie nicht pflegt. Aber kein Lachen ist bei ihr anderes als Ausdruck der Heiterkeit, keine Träne ist weniger als ein Schmerz. Ihr Verstand reicht so weit, nur das Schöne zu lieben, und niemals ist ihr die kranke Idee gekommen, aus ihrer Seele ein Kunstwerk zu machen. Sie hat die von der Natur ihres Herkommens gezogenen Grenzen nie verachtet, sondern in gewaltiger Selbsterschütterung überschritten.

Wie aber ich Suse erkenne, daraus mögen Sie meinen Wert und Unwert erkennen, die beide darin verankert sind.

Leise deuten Sie auf die Zukunft hin, noch leiser antworte ich. Es gibt keine Gewähr, keine andere als Jugend, Gesundheit und Gegenwart. Die drei gehören uns. Freuen Sie sich darüber!

Suse grüßt Sie von Herzen.

Ich bleibe
Ihr
L. B.

 

Bruckmühl, 18. April

Fräulein Julie B. in H.

Ich beantworte das nicht. Das nicht. Ich habe Deinen Brief zerrissen.

Ich habe ihn wieder mit Not zusammengesetzt. Ihn noch einmal gelesen. Ich habe ihn abgeschrieben und dann verbrannt. Nicht von Deiner Hand will ich das Entsetzliche bei mir tragen.

Du willst Dich – – der Teufel hole Deine Vokabeln!

Aber das ist ja gar nicht das Schlimmste! Das Schlimmste ist die Hoffnung, die Du mir lässest, die Du in mich hineinpfropfst. Noch sind Bedingungen da!

Mein Gott! Ich habe Dich geliebt, Julie, und es sind Dinge in uns und um uns gewesen, die uns zwei vor das nackte Bewußtsein gestellt haben: wir gehören zueinander. Glück oder nicht, daran ist nichts zu ändern.

Auch heute nicht, meine liebe Braut, das ist das Pfiffige.

Ich habe Dich betrogen, mit Frauen, um Jahre. Du willst Dich – mach Dir Deine Vokabeln allein!

Aber immerhin, Du gehst nicht im Sturmschritt voran. Du polkst Dir den ganzen Kurszettel Deiner Gefühle auseinander. Also 53? Prozent glühen noch für mich, und es käme nur auf meine Anstrengung an, etwa weitere 16? zu erringen. Zu hundert würde es freilich nie langen.

Julie, ich habe die größte Lust, Dir noch die Abschrift Deines Briefes um die Ohren zu schlagen!

Aber das Pfiffige bleibt: kein ordinäres Ansinnen von Dir, kein Hieb von mir ändert das geringste.

Ich bin nicht imstande zu schreiben. Es widert mich an, mit den Mitteln meines Handwerks (immerhin, immerhin!) meine persönlichen Gefühle auszudrücken.

Ver – vokabuliere Dich mit einem Barbier. So was ist imstande Briefe zu schreiben. Oder mit einem Schneidergesellen. Ich will Dir auf ein Stück Männerhose zweiundzwanzig bunte Knöpfe nähen. Vielleicht drückt das was aus.

Es ist nicht wahr, daß ich imstande bin, eine Träne zu weinen. Bei mir schlägt alles sofort auf den Darm. Die Menschen sind verschieden, wenn nur jeder auf seine Weise aufrichtig ist. Und so wahr ich lebe, mich schmerzt mein Gedärm und macht mich hundeelend.

 

Bruckmühl, 19. April

Fräulein Melanie T.

Verehrte Freundin!

Suse Stein ist mir heute davongelaufen, ohne Wort und Gruß.

Sie wissen vielleicht, wohin sie sich gewandt hat. Geben Sie oder schicken Sie ihr den eingeschlossenen Brief.

Ich danke Ihnen
Ihr
Benrath.

 

Bruckmühl, 19. April.

An Suse Stein.

Ich verteidige mich nicht, denn ich habe Dir nichts getan. Ich werfe Dir auch nichts vor, obgleich Du vielleicht anders denken würdest, wenn es überhaupt eine Sache zum Denken wäre.

Aber ich setze nichts auseinander. Du hast fort müssen, und das war Dein Gefühl, weil Du mich in einer Bewegung sahst, die nicht Dich betraf.

Wir waren sehr zufrieden, und nun sind alte Wunden aufgebrochen.

Ich erörtere nichts, und ich beteuere nichts.

Ich glaube, daß ich sehr elend bin, und ich fühle es so tief, weil ich glücklich war, solange wir miteinander lebten.

Ich weiß nicht, was wird; ich schreibe Dir nur, weil ich an Dich denke.

 

Bruckmühl, 19. April.

An Frau Helene von T.

Wie danke ich Dir, liebste Freundin, daß Du es bist, die in dem schwersten Augenblick meines Lebens sich zur Hilfe erbietet. Du willst kommen, mit mir sprechen, über Julie! Und ich empfinde diesen Willen schon als eine köstliche Gabe. Zwölf Stunden her – zwölf Stunden zurück in der Eisenbahn sitzen, Ermüdung, Zeit-, Geldverlust, um eine Herzensangelegenheit zu ordnen, – ist es nicht eine verdiente Ehre, die man der Liebe erweist? Ich würde mich vielleicht wundern, oder ich hielte es nicht für unangebracht, wenn eine gemischte, elfgliedrige Kommission der größten, herzhaftesten, leidenschaftfähigsten Liebenden Europas zusammengerufen würde, um meinen Fall zu untersuchen und ein Gutachten abzugeben.

Ob ich mich nach dem Spruche der Sachverständigen richten würde, ist eine andere Frage. Wie, wenn ich mich in eines der Kommissionsmitglieder plötzlich verliebte, und dadurch eine völlige Umlagerung meines Falles verursachte?

Siehst Du, Helene, und darum bitte ich Dich, nicht zu kommen. Trotz aller Verstrickungen, in denen ich mich befinde, habe ich Luft genug, beim Lesen Deines Briefes nichts anderes zu empfinden, als den Vorgeschmack Deines Kusses, des lang entbehrten, himmlisch kühlen –

Und dennoch, nimm meine Abwehr so ernst, als Du es vermagst.

Bisher hat noch jedes der langen Gespräche, die wir über Juliens und meine Liebe führten, mit Küssen geendet. Diesmal geht es aber nicht um Julie und mich allein, es geht um etwas drittes, mir halb unbekanntes, das ich vielleicht nur noch nicht genug liebe, um ihm schon untreu werden zu können.

Im übrigen, was ist von Julie noch zu sagen? Gings um die Liebe, ließe sich stundenlang reden. Sie aber will Heirat erörtern, und dafür bin ich nicht zu haben. Dafür wage ich keinen Angriff, und dafür setze ich mich nicht in Verteidigung. Auch ich werde vielleicht einmal heiraten, es aber erst wissen, wenn ich es getan habe. Die Sprache, in der eine solche Angelegenheit verhandelt wird, kenne ich nicht.

Und ist Julie nicht meiner Liebe sicher, wie ich der ihrigen? Als könnte ein Strom bei der Vereinigung mit seinem Hauptnebenfluß das tolle Treiben seines oberen Laufes verleugnen; als ahnte er, was ihm noch später alles zuläuft, als könnte er's hindern! Gewiß ist nur das gemeinsame Münden, das Meer. Also warum das Debattieren, wir kommen ja doch einmal alle zusammen, und die Trennung ist leider kürzer, als wir fürchten.

Wie schön wär's dennoch, wenn Du kämst! Aber laß Dich von meinen Lockungen so wenig verführen, wie von meinen Weigerungen abhalten.

Glaube mir, in diesem Augenblick denke ich nur an Deine Küsse

L. B.

 

Bruckmühl, 20. April.

An Julie B.

Also, das hast Du mir auch noch angetan. Ein Reh ist mir davongelaufen. Grinse nur, Du Verzweifelte! Da mache ich Dich noch dafür verantwortlich, daß mir die Mädels durchbrennen. Aber ja, aber ja!

An allem trägst Du die Schuld! Willst Du mir vielleicht sagen, was Du eingesetzt hast? Rede mir nur nicht von den Jahren, die Du vertrödeltest. Das ist Deine pure Schuld gegen Dich selbst, und Du hast alle Ursache, Dir die Haare auszuraufen. Meinetwegen hättest Du Dich schon vor drei Jahren verloben können. Entweder man hat die Courage, die Liebe zu spielen wie ein Stück Kammermusik. Oder man geht nicht an die Arbeit, bevor man ein solides Textbuch unter den Füßen hat, von einem eingeführten sicheren Schreiber, womit das Kunstwerk oder die Liebe sich als wirtschaftlicher Faktor etabliert.

O, meine liebe Julie, ich bin nicht ungerecht, ich kenne Deine ganze fletschende Verzweiflung! Wer hat wie Du ein reicheres Herz, einen begeisterungsfähigeren Sinn, einen sehnsüchtigeren Leib! Warum solltest Du geringeren Anspruch darauf haben, Blüte und Frucht im gehegten Garten zu treiben, wie alle die Mädchen und Frauen, die Dir nahe sind und die Deinem edlen Sinn so wenig gleichen. Warum Dir nicht die besondere Belohnung, das reichere Glück, die höhere Ehre! Und warum nicht Reichtum? Ist er eine Schande? Ach, liebes Herz, Reichtum! Ein schönes Wort und ein wundervollerer Inhalt! Nichts verachte ich weniger!

Hättest Du ihn nur ehrlich erstrebt! Wenn es in Deinem Bilde, das ich so tief geliebt, einen einzigen Makel gibt, so ist es der der Bescheidenheit. Es klingt noch gerade leidlich, wenn eine Frau sagt: Ich brauche ja nur einen Teller Suppe. Aber die Frau bringt sich um alles, die hinzufügt: Den Teller Suppe will ich freilich schriftlich haben, garantiert mit allen Sicherheiten. Die törichte Rechnerin vergißt, daß der Teller Suppe sich immer einstellt. Kein Tod wird seltener gestorben als der des Hungers, und wer wäre fähiger, Enge und Begrenztheit zu ertragen als ein großes Herz?

Aber siehe, meine Liebe! Es gibt in diesem Leben nur zwei ganz große Möglichkeiten: dem Gelde zu dienen oder das Geld zu kommandieren. Kaufmann, Dichter, König, Weib – ein jeder hat die Wahl und trifft sie nach dem Maße seiner Veranlagung. Ein Heuchler, der es von sich leugnet, gehorcht zu haben, um befehlen zu lernen. Narr aber auch der, der es nie wagte, schmutziges Wasser auszugießen, bevor er reines hat. Was nützt ihm das schmutzige? Kann er es trinken? Oder sich gar in ihm reinigen?

Einsatz ist alles. Als ich darauf verzichtete, mich an die Krippe zu stellen, hatte ich keine größere Garantie als die meiner Gesundheit und Jugend. Und ich habe heute noch keine andere. Damals haben Leute, die sich einiger Erfahrung schmeichelten, mich höhnisch vor einen Bücherschrank geführt und mich gefragt:

»Glaubst Du an Deine gesammelten Werke?«

Und ich hatte den Mut, auf die goldgepreßten Rücken zu speien! Gott verzeihe mir, wenn ich dabei den Namen eines Goethe oder nur den eines Theodor Körner besudelte. Ich spie nicht mal auf die schändliche Buchbinderarbeit. Nur auf das goldgepreßte Sklaventum, das unsere Heiligen im Dienste der Philister verrichten.

Ich nehme für mich das Recht, aufzuleben oder unterzugehen, auf meine Weise. Ich verstehe absolut nichts von dem Ruhm der Toten, der mich dreißig Jahre nach meinem Tode in wohlfeilen Ausgaben auf die Tische der Konfirmanden stellt. Aber noch mehr wende ich mich von dem der Lebendigen! Hätte ich eine einzige Angst vorm Leben, so wär es die: würde ich im Glücke sauberen Herzens bleiben?

Gewiß sorgt nicht der um sein Herz, der es wahrhaft rein hat; der mit originalem Gesicht durchs Leben geht und noch vor keinem Spiegel versucht wurde, einen neuen Wurf seiner Falten zu studieren. Aber die originalen Menschen findest Du in jeder anderen Menschenklasse häufiger. Ehre dem reinen Herzen, nicht Unehre dem gesäuberten!

Ich schreibe, schreibe, schreibe aus der Verzweiflung meiner Einsamkeit. Bis gestern saß sie da, Suse Stein. Sie trug ein weißes Kleid aus bedruckter Baumwolle und auf dem blonden Haar einen breitkrämpigen Panama. Sie ging niemals weit vom Bau. In der Hand trug sie ein Skizzenbuch und einen Tuschkasten, setzte sich an eine Biegung des Flusses oder auf eine Anhöhe vor einen Baum und griffelte drauf los. Bis ich kam, ihr den ganzen Quatsch aus der Hand nahm und sie abherzte. Wie gern ließ sie es geschehen!

Zuweilen dachte ich, wie hübsch es wäre, einen sehnsüchtigen und tragischen Brief an Dich zu schreiben, während sie so beruhigend in greifbarer Nähe ist. Gestern kam der Sturm, machte mich blaß und verstört. Sie sah es.

Ich rannte hinaus auf das Feld. Als ich wiederkam, war sie geflohen. Und ich schreibe ohne die sanfte Belastung ihres Menschentums. Ohne die Richtung einer Verantwortung. Ich bin ohne Zwang, und um mich ist keine Verführung. Mein Blick reicht weit – bis zu Dir!

Wenn ich jetzt wollte, so könnte ich einen Kampf bis aufs Messer anheben, ein Rennen ansetzen, ohnegleichen! Ein Rennen um Dich, meine Liebe. Wir schreiben jetzt April. Und ich habe keinen Zweifel, Dir in drei Monaten etwas auf den Tisch zu legen, was einer Legitimation gleichsähe.

Ich aber kämpfe nicht mit Legitimationen. Wozu auch? Du gehörst mir dennoch! Denn das ist das eigentlich Erschreckende!

Suse Stein hat den Einsatz gewagt. Hat weder nach Stilproben noch nach Belegexemplaren gefragt. Einmal, an einem Abend, sagte sie ruhig: Ich habe Vertrauen zu Dir. Und ich fragte: Wieso eigentlich? Sie lachte nur, legte meine Hand auf ihr Herz und sagte sehr nachdenklich: Ich bin so klug, zu wissen, daß ich dumm bin. Wollte ich mich nicht auf mein Gefühl verlassen – auf was denn sonst?

Niemals, Julie, hat mich das Wort einer Frau tiefer verpflichtet als dieses. Niemals habe ich aber auch stärker an Dich gedacht. Wie war's?

Ihr Vertrauen war gut und gerechtfertigt, solange ich Dich mit ihr betrog. Doch in dem Augenblick, da ich mich ihr überließ, da ihre Rechte sich gründeten und erhoben – betrog ich sie mit Dir.

Verlobe Dich ruhig. Du betrügst ihn doch mit mir. Aber mach Dir nichts draus, er betrügt Dich auch. Wir hängen alle in einer Kette aneinander.

Dieses würde an sich dem Gesamtbilde der Menschheit nichts schaden. Auch der einzelne findet sich damit ab, im Kampfe ein Glied gelassen zu haben. Nur unser nicht aussetzendes Bewußtsein duldet nicht die Befreiung von immerwährender Belastung. Unsere Geschichte ist unser Gewissen.

 

Bruckmühl, 21. April.

An Julie B.

Ich sage Dir nur, daß es zwei Uhr morgens ist. Ich habe in der Nacht alle Briefe an Dich überlesen, und auch andere Briefe.

Einmal hatte ich gehofft, davon klar zu werden. Es ist nichts damit. Ich bin durchschüttelt. Zwei Wahrheiten werfen mich hin und her:

Wir sind untrennbar –

und:

Ein Mensch kann nicht das ausschließliche Ziel eines Menschen sein.

Ich liebe – ich liebe Dich mit allem Inhalt dieses einzigen Wortes. All meine Ströme streben diesem Meere zu.

Und dennoch weiß ich: wird dieser Drang erfüllt, bleibt meinem Leben zu erfüllen nichts mehr übrig. Dann bin ich fertig, am frühen Ende, schmerzlos zwar, doch versiegt.

Ich kann Dich nicht ergreifen und kann Dich nicht lassen.

Aber verlaß Du mich nicht! Eines müßte fest sein in diesem Leben. Eines sei so groß, rein und unbescheiden, daß es eines oder nichts will.

Verlasse mich nicht, damit die Erde fest bleibt!

Nein, Du tust es nicht – ich weiß es –

 

Bruckmühl, 23. April.

An Julie B.

Du schreibst nicht – Du zögerst – was hast Du vor?

Du darfst Dich nicht anders entschließen, als ich sehnsüchtig erwarte, als ich es will.

Und ich will Dir danken und dienen. Wieviel Strophen verlangst Du bis zum ersten Juni, wieviel Romanseiten bis zum ersten Juli, wieviel Akte bis zum ersten August?

Ich will nicht mehr auf Ruhm bedacht sein, ich will schreiben wie mir der Schnabel gewachsen ist. Will die Pflaster von allen meinen Wunden reißen, mich nackt hinstellen, mögen sie mich bekränzen oder bespeien!

Nur verlaß mich nicht!

.

 

Bruckmühl, 24. April.

An Fräulein Melanie T.

Beste, verehrungswürdigste aller Freundinnen!

Welch ein Wunder, welch ein hohes Wunder! Wie danke ich Ihnen, daß Sie mir schrieben.

Ich soll ein Kind haben – soll begnadet sein – begnadigt?

Lachen Sie nicht über mich. Ich weiß, daß dieses Kunststück Leute zuwege gebracht haben, an denen sehr wenig zu bewundern ist.

Aber ich – daran habe ich nicht gedacht! Ich dachte nur an das Schreiben, hatte davor eine so entsetzliche Angst. Und unversehens gelang mir ein Kind.

Und Suse Stein soll Mutter sein? Wie gut, wie barmherzig ist der Himmel!

Jawohl, es kommt auch auf die Mutter an. Und wenn ich Sie heute an eine Nacht erinnern darf – wären Sie Mutter geworden, mein gnädigstes, mein verehrtestes Fräulein, es hätte mich in die tödlichste Verlegenheit gebracht und Sie vermutlich auch.

Aber Suse Stein, wie einfach ist das alles.

Nur müssen Sie mir helfen, mit all Ihrer Güte, Ihrer Reife, Ihrem Zartsinn.

Ich lege Ihnen den Brief an Suse unverschlossen bei.

Niemals darf sie auch nur aufs leiseste argwöhnen, daß ich sie heirate, weil sie ein Kind bekommt, weil sie Unannehmlichkeiten hätte, damit das Kind einen Namen hat, oder was die guten Leute sonst sagen.

Ich habe keinen andern Grund als den, daß sie Mutter, daß ich Vater sein werde, daß das Kind unser ist.

Ich flehe Sie an, lachen Sie mich nicht aus. Aber alle meine Mühe, Ihnen meine Seligkeit zu verhehlen, fruchtet nichts. Ich bin selbst noch ein Kind, ich weiß, aber ich werde mir Mühe geben, unendliche Mühe, um vor ihm ein Mann zu werden.

Ich will auch nicht schreiben – nicht so bald. Das Kind soll nicht glauben, ich habe seine heiligen Windeln mit meinen Gedichten erhökert. Es soll mein tiefstes und schönstes Gewissen sein. Und es wird nicht verhungern. Mein Herz und meine Hände werden es ernähren, nicht mein Talent – nur nicht das! Nicht eine so fragwürdige Sache, über die es mal sehr bitterer Ansicht sein könnte. Arbeit wird sich finden. Sagten Sie nicht einmal, Sie kennten den Verleger der Nachrichten? Legen Sie ein Wort für mich ein. Ich werde Ihnen keine Unehre machen, sofern mir eine Stelle zugewiesen wird, die keinen geistigen Aufwand erfordert.

Noch etwas. Sollte Suse auf Dinge anspielen, die ihr selbst dunkel geblieben sind, die sie in die Flucht getrieben haben, so sagen Sie ihr, als käme es von Ihnen: Wir Menschen kennen unser Ziel nicht, verirren uns im Sonnenschein oder kommen in stockdunkler Nacht ein sicheres Stück weiter. Wir wissen gar nichts, haben kein besseres Geleite als die Natur, und da ist ja das Kind!

Ich küsse Ihnen die Hände
Ihr
L. B.

 

Bruckmühl, 24. April.

An Suse Stein.

Liebes, liebes Suschen!

Sobald Du es mir erlaubst, komme ich zu Dir, und dann bleiben wir zusammen. Es soll dann auch alles so rasch wie möglich besorgt sein mit Papieren und Standesamt. Ich lege selbst keinen Wert darauf und wäre auch ohne dies bereit, so gut man das eben kann, eine Ehe zu führen; das Stück Papier macht sie nicht schlechter und nicht besser.

Aber so sehr ich der Paragraphen und der Schreibereien lache; die Paragraphen sind ja nur die schwachen Versuche der Menschen, dem eigentlichen Gesetze nachzuspüren und zu folgen. Das Gesetz ist heilig. Tun wir den armen Paragraphen die Ehre, ihnen zu folgen. Verbessern wir sie, indem wir ihnen unsern leiblichen Inhalt geben.

So klar mir alles ist, Du hast noch eine Frage –

Ob ich Dich liebe – ob wir uns lieben?

Wir haben uns das nie gesagt. Wir hatten davor die heilige Scheu unseres ehrlichen Gewissens.

Was mich betrifft, so hatte ich – vor andern Frauen – nicht immer diese Scheu. Ich habe das Wort oft gesprochen, und es war selten eine Lüge. Ich werde es vielleicht noch ein oder das andere Mal zu dieser oder jener Frau sagen, und es wird dann wohl auch keine Lüge sein.

Aber wir wollen eine Ehe führen, und da will es mir scheinen, als bedeute das Wort Liebe am Anfang sehr wenig. Von einer Ehe kann man nur am Ende sagen, wie sie gewesen ist. Und unsere Kinder mögen es dann auf den Grabstein setzen, wenn sie Grund haben, unsern Bund zu segnen.

Und nun rufe mich, und ich komme!

Ludwig.

 

Bruckmühl, 26. April.

An Julie B.

Julie!

Anstatt jeder Antwort lese ich im Tageblatt Deine Verlobung.

Auch ich hatte in diesen letzten Tagen Gelegenheit, mich festzumachen.

Vielleicht werde ich noch vor Dir verheiratet sein, und jedenfalls bin ich mit dem Kind früher dran.

Aber glaube nicht, daß ich irgendwas zurücknehme. Weder mein Wort von der Untrennbarkeit, noch die harte und unbarmherzige Verurteilung Deiner Handlungsweise. Wie recht ich mit allem, auch mit dem Teller Suppe, hatte, erkenne daraus, daß es nur eines Federstrichs bedurfte, um mich zum Redakteur der Nachrichten zu machen. Ich werde dort das Vermischte, die Unglücksfälle, Verbrechen, Naturereignisse aus aller Welt bearbeiten, und ich werde mein Gehalt beziehen, das mich und meine Familie sicher stellt. Du siehst, es kommt nicht nur der Teller Suppe, sondern auch die gebratene Taube. Aber man muß doch wenigstens das Maul aufsperren; das ist das wenigste, was man verlangen kann.

Im übrigen bleibt alles beim alten. Ich schreibe Dir nicht mehr, weil ich Dir ja alles gesagt habe. Der grimmigste Wasserfall macht nur so lange Geräusch, als wir in der Nähe sind. Kommen wir außer Hörweite, können wir auf Grund unserer Erfahrungen und Kenntnisse wohl sagen, daß er seinen gewohnten Gang nimmt. Aber daß er rauscht, das können wir nicht behaupten. Er rauscht tatsächlich nicht mehr. Er läuft blos noch. Kein Zweifel: er läuft ewig.

L. B.

 

Den 31. Mai.

Meine liebe Mutter!

Es ist mir außerordentlich peinlich, daß Du die Tatsache meiner Verheiratung von anderer Seite erfahren hast, bevor ich Dir Mitteilung machen konnte.

Konnte – liebe Mutter! An Zeit hätte es mir nicht gefehlt, obgleich meine Tätigkeit als Redakteur der Schreckensecke mich den ganzen Tag in Anspruch nimmt. Jetzt hat man mir noch den Gerichtssaal aufgehalst, und der Chefredakteur hat mir versprochen, wenn ich mich weiter so bewähre, wird er mir den Auftrag geben, die Pedrilla zu interviewen, die nächstens hier singt.

Was meine Ehe betrifft, liebe Mutter, so ist sie in erster Linie meine und Suses Angelegenheit. Nicht daß ich für alle Zeit der Eltern Wunsch und Segen hätte entbehren mögen. Indessen, man liest sich doch auch ein Manuskript wieder und wieder durch, läßt es eine Weile ruhen und liest es abermals, bevor man es dem Setzer übergibt. Und nun gar eine Vermählungsanzeige!

Ich habe das so seltene und besondere Glück gehabt, meine Frau kennen zu lernen, bevor ich sie heiratete. Aber hat man eine Bekanntschaft von außerordentlichem Wert gemacht, so hält man sie gern eine Weile geheim, selbst vor denen, die einem sonst am nächsten stehen. Man möchte sich der Freundschaft erst vollkommen versichern. Ist sie dann geschlossen, mögen die lieben andern an dem Glücke teilnehmen. Noch war aber unsere Freundschaft im Werden, als ziemlich unvermutet unsere Verheiratung dazwischen kam. Soll man sich nun durch solche Kleinigkeiten davon abhalten lassen, nach wohlerwogenen Grundsätzen zu handeln?

Nun hast Du es doch erfahren, liebe Mutter; unser junger Bund ist im glücklichsten Gedeihen, und Du wirst, wozu uns Gott seinen Beistand leihen möge, früher Großmutter sein als Du es je erwartet! Freue Dich! Meine Frau ist an Leib und Seele wohlgeraten, und so wird es unser Kind auch sein.

Deine Bemerkung über meine große Jugend entbehrt nicht der Richtigkeit. Aber es ist ein Umstand, über den Suse und ich uns täglich freuen: um so länger werden wir zusammen bleiben!

Nun ist nur noch nötig, von Papa zu reden. Allzulange, sagst Du, habe ich seinen Stolz gedemütigt. Nun mag er ihn wieder erheben; Frau, Stellung und in naher Aussicht ein Kind. Mehr kann er nie für mich erhofft haben!

Suses kleines Vermögen hat vollkommen ausgereicht, uns behaglich einzurichten. Doch, wenn ihr schenken wollt, wir halten dankbar unsere Hände auf.

Ludwig und Suse.

 

den ersten Juni.

Frau Helene von T.

Liebste Freundin!

Mein Glück ist zu groß, meine Wohnung zu klein, um Höllenmaschinen mit Sicherheit verbergen zu können. Und dieses Kopierbuch ist eine Höllenmaschine. Suse sitzt bei mir, tief hingegeben dem Wunder ihres Leibes. Und immer fürchte ich, sie müßte das leise Ticken dieses Buches hören, trotzdem es zu unterst im Schreibtisch geborgen ist. Ginge sie dem Schalle nach, berührte sie es nur – welch furchtbares Erleben!

Ich muß das Buch aus dem Hause schaffen.

Von seinen tausend Seidenblättern ist der größte Teil leer. Wohl hoffe ich, daß nur dies Buch, nicht das Leben leer bleibe. Aber ein Unglück soll es nicht herbeiführen, dafür habe ich es nicht angelegt.

Klar wollte ich werden. Wurde ichs?

Noch fand ich nicht den Weg. Ich weiß, ich werde oft genug irren, und ich freue mich darauf. Aber ich kenne die Himmelsrichtung, die Luftlinie, der man auf Erden nicht nachwandern kann, ohne zu verschmachten, ohne in Abgründe zu stürzen, oder an hochgerichteten Hindernissen zu verenden. Und dennoch ist sie das Wesentliche, auf die alles ankommt. Ich glaube, ich hab sie.

Nimm dieses Buch in Verwahrung, Helene. Zuweilen werde ich zu Dir kommen, wir werden zusammen darin lesen, und uns darüber küssen, mit der großen unpersönlichen Leidenschaft, deren nur wir zwei fähig waren.

Vielleicht kommt die Stunde, in der ich das Buch ihr bringen kann, die für heute und Jahre nur mich will, Gegenwart und Zukunft; und nach Geschichte nicht fragt, weil Geschichte nie aufhört und immer schmerzt. Vielleicht gehört das Buch erst unserm Kinde.

Im Januar soll es kommen. Dann will ich noch einen letzten Brief an diese neue große Liebe hinzufügen.

Du aber, Helene, nimm das Buch schon heute in deine treuen, klugen Hände.

Ludwig.

 

15. Januar 1901.

Fräulein Leonore Benrath.

Geliebtes Kind!

Der Brief wird lange unterwegs sein, bevor er Dich erreicht. Eben erst bist Du gelandet und wirst Dich an die zwei Jahrzehnte tummeln müssen, bis Deine lieben Augen auf diese Schriftzeichen fallen.

Man hat mir erlaubt, mich neben Deine Wiege zu setzen; eine kleine süße Wärme strömt von Deinem Bettchen zu mir her. Da schläfst Du nun allem Guten und Schlimmen entgegen, in der tiefen Sicherheit Deiner ersten Lebensstunde.

Eigentlich sind Deine Eltern noch gar nicht so viel weiter als Du. Sie haben noch nichts Feierliches, ihr Sinn spielt verlangend um viele Möglichkeiten, auch wenn sie ahnend wissen, daß Du ihre schönste sein und bleiben mögest. Und während Du Deine kleinen Torheiten begehst, werden Deine Eltern ihre großen betreiben.

Vielleicht, wenn Du am gläubigsten Dich unter ihrem Schutze fühlst, ihr Ja und Nein als das Wahre und Rechte verehrst, werden sie selbst der größten Gefahr ihrer eigenen Jugend begegnen.

Dann halte sie mit Deiner kleinen Wunderhand hold zusammen, daß Dein wissendes Auge einst zwei gute Leute sehe.

Von dem, was dazwischen lag, soll kein Zeugnis auf Dich kommen. Wohl werden noch Briefe geschrieben werden – mögen sie nach Ihrem eigenen Gesetz treiben, grünen, aber auch welken und vom Winde vertragen werden. In dieses Buch finde keiner seinen Weg.

Nur dieser letzte, und an Dich. Und vielleicht nur, damit Du weißt, Dein Vater habe in Deiner ersten Stunde nichts anderes getan als geschrieben.

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Dieses Buch wurde im Auftrage von Georg Müller in München in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig hergestellt. Die Bindung besorgte die Spamersche Buchbinderei nach dem Entwurf von Otto Schoff.

 


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