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Zweiter Teil
In das Gartenzimmer der Sommervilla scheint die helle Morgensonne, über der grünen Holzverkleidung, die die halbe Höhe der Wand bedeckt, leuchten gemalte Sonnenblumen auf weißgestrichenem Grunde.
Am Frühstückstisch, wo die Mahlzeit beendet ist, sitzen zwei Personen und sehen ihre Briefe durch. Die Morgenpost kommt in dieser für den Briefträger so überbürdeten Zeit der Sommergäste am Sonntag fast nie vor zwölf Uhr. Ein dritter Platz am Tisch steht schon verlassen. Neben dem Teller mit dem Eierbecher und einem ganz kleinen Löffel liegt ein Kinderlätzchen.
»Vater kommt auch heute wieder erst um sechs Uhr,« sagt die junge Frau, indem sie eine Postkarte weglegt. »Von seinem Tag auf dem Lande knapst er sich noch das meiste ab. – Ist dieser norwegische Brief von Inger Marie?«
»Nein, von Hermann,« antwortet ihr Mann. »Es scheint ihr recht schlecht zu gehen.«
»Ach, aber Ejnar, sie ist wohl wieder – –«
»Ja, sie hatte selbst geglaubt, das unerläßliche Kleine sei im Anmarsch. Und der Arzt – Gott mag wissen, was es für ein Pfuscher ist – war wohl derselben Ansicht. Aber jetzt hat er sie schließlich doch untersucht – und ihr geraten, einen Spezialisten zu fragen.«
»Es wird doch nicht ein schweres Unterleibsleiden sein? Ach, diese ewigen operierten Frauen!«
»Doch, es sieht beinahe so aus.«
»Wie traurig, die arme Inger Marie! Da ist es nur gut, daß sie nicht mehr ganz da droben zwischen den Wolken sitzen.«
»Ja, eine Reise nach Christiania ist jetzt gar keine Sache mehr. Oder – Inger Marie hat so großes Vertrauen zu deinem Vater. Hermann schreibt, sie möchte sich am liebsten von ihm untersuchen und gegebenenfalls auch von ihm operieren lassen.«
»Von Vater! Dadurch wird aber alles viel umständlicher.«
»Nun, die Reise ist ja gar nicht der Rede wert. Unter diesen Verhältnissen sehnt sie sich natürlich hierher. Hermann will seinen Urlaub im September nehmen und hier mit ihr in Kopenhagen sein, bis das Schlimmste überstanden ist. Das Schwierigste scheint, jemand zu finden, der für die Kinder sorgt. Sie hoffen, Frau Halling werde sich dazu hergeben; ihre Jugend braucht sie ja eigentlich nicht mehr; aber es ist noch nicht fest ausgemacht.«
»Das gibt keine fröhliche dänische Ferienzeit,« sagt Elsa, die nachdenklich mit den Krabbenschalen auf ihrem Teller spielt. »Und sie haben sich doch nun so lange darauf gefreut!«
»Fröhlich – darum handelt es sich jetzt nicht! – Auch ich möchte sie gerne hier haben. Ich glaube, es wird ihr den Mut stärken, wenn ich dabei bin – falls es dazu kommen sollte.«
»Dann kann Hermann bei uns wohnen – bis dahin werden wir ja wieder in der Stadt sein.«
»Ja, wenn er nicht meint, er sei im Gasthaus freier.«
»Du schreibst doch wohl gleich! Grüß Inger Marie und sag ihr, wir werden meinen Vater schon so weit bringen, zu entdecken, daß sie kerngesund sei.«
»Nein, das können wir nicht übernehmen,« versetzt der Doktor. »Gesegnete Mahlzeit, Kind!« fügt er noch hinzu, indem er aufsteht. Er faßt sie um den Kopf und küßt sie. Sie wischt sich mit der Serviette leicht den Mund. »Was, wischst du dir den Mund? Das kannst du mir antun? Nein, entschuldige, dann küsse ich dich aufs neue – dreimal – und nehme dir das Tuch weg.«
Sie lacht und läßt es geschehen.
»Es ist nur gut, daß sich Hermann und Inger wenigstens nicht auch noch dagegen sträuben, einen Arzt zu Rate zu ziehen,« sagt er nachher.
»Ja, aber es wäre eigentlich natürlicher, wenn sie es täten – so, wie sie nun einmal sind.«
»O nein« – der Doktor drückt die schmale Hand seiner Frau herzlich – »ganz verrückt sind sie doch auch nicht.«
Dann rafft er seine Briefe und Zeitungen zusammen und geht in sein Zimmer.
Elsa nimmt eine illustrierte Frauenzeitung zur Hand und setzt sich auf den gedeckten, mit Kletterrosen umrankten Altan; die leuchtend roten Blumenbüschel wiegen sich zwischen den Blättern.
Der Oeresund ist spiegelglatt, nur ab und zu wallt das Wasser ein wenig auf und dehnt sich in einzelnen kleinen Wellen dem Lande zu.
Wie angenehm ist diese sonnenwarme Zeit nach dem Gabelfrühstück – der Mahlzeit, die Elsa die liebste ist – wo sie auf dem geschützten Altan ein wenig hindämmert, wohl auch ein leichtes Nickerchen macht! Da ist das Leben eitel Behagen!
Arme Inger Marie – heute muß Elsa immerfort an die Schwägerin denken. Ach, damit ist das Behagen gestört!
Nun, die Operation ist ja noch nicht Tatsache! Deshalb kann sie doch in ihrem Roman »Der schwarze Diamant« weiterlesen. Sie war gerade mitten drin in dem geheimen Gang.
So ein rechter Knallroman mit Gift und Dolchstichen und Schönheit ist gut geeignet zum Ausruhen. Keine Spur von Gedanken, Seelenmalerei oder dergleichen, die an den Leser geistige Anforderungen stellen. Selbst das Grauenvolle erregt nur einen angenehmen Kitzel, weil es den eigenen Verhältnissen so fern liegt. Wann würde sie je einen Palast mit einem geheimen Gang in Venedig haben!
Sie öffnet die Zeitschrift … Nein, die Wirklichkeit läßt ihr doch keine rechte Ruhe zum Lesen.
Wie, wenn es nun doch auf eine Operation herauskommt und Inger Marie ihren Vater darum bittet? Welches merkwürdige Zusammentreffen – diese beiden! »Eminent tüchtig« –, da hat Inger Marie recht, das ist ihr Vater. Aber Inger Marie kennt ihren Vater ja gar nicht persönlich. Sie war schon verheiratet und fortgezogen, als sich Elsa mit Inger Maries Bruder verlobte.
Daß aber ihr Vater auch heute nicht um zwei Uhr kommen konnte! Er hatte es doch halb und halb versprochen, und hier ist es so herrlich! »Nein, meine Liebe,« hört sie ihn sagen, »jetzt hab' ich die dänische Natur fünfundsechzig Sommer lang genießen können, nun kenn' ich sie auswendig. Und mit dem, was wir miteinander zu bereden haben, können wir wohl in vier Stunden fertig werden.«
Wie doch ihr Vater immer derselbe blieb – im Großen wie im Kleinen!
Und doch hätte Elsa ihn ungeheuer lieb haben können – wenn nur die Erinnerung an ihre Mutter nicht immer dazwischen getreten wäre!
Die Mutter – die so viel hatte leiden müssen, ehe sie von hinnen gehen durfte, und deren Leben schon viele Jahre vorher ein tägliches Leiden gewesen war … Wie mager und zart und verscheucht war sie gewesen mit ihren beweglichen Schultern, ihren leichten, hastigen Schritten – immer wie auf der Flucht – neben Vaters unbändiger Kraft und ungeheurer Rücksichtslosigkeit! Wie zerzaust, ja wie aller ihrer Federn beraubt wurde sie in diesem hart zugreifenden Verhältnis! Nie erhielt sie auch nur einen Tropfen von dem, wonach sie dürstete – Zärtlichkeit. Sie verdurstete gleichsam – auf einem Felsen, der nur bisweilen Feuer speien konnte. Und das hatte sie vielleicht am meisten erschreckt.
Auch Elsa hatte von ihres Vaters Seite, trotz allem, was er von Kind an auf sie verwendet, nie das erhalten, was einem das Herz warm macht. Aber sie war aus anderem Stoff gemacht als die Mutter, und so vermißte sie es weniger.
Immerhin war die Heimat nach dem Tode der Mutter recht kalt und nüchtern gewesen. Und wenn der Vater wenigstens überhaupt nicht mehr hätte geben können, dann wäre nichts dagegen zu sagen gewesen! Aber wenn man es erleben mußte, daß er all das, was er seinen Nächsten vorenthielt, seinen operierten Kranken gegenüber ausströmen ließ – dann war es doch kränkend!
Da konnte der Vater Fürsorge zeigen, ja fast unnötige Rücksicht nehmen. Den Krankenpflegerinnen gegenüber war er hart und anspruchsvoll – sie zitterten und bebten vor ihm. Aber die Kranken verwöhnte er; da war er immer nachsichtig, konnte sogar nachgiebig und gerührt sein, alles in seiner gewohnten barschen Weise, die aber da durchsichtig genug war.
Nie war er zur Mutter mit einer Blume in der Hand nach Hause gekommen – zur Mutter, für die Blumen fast eine Lebensbedingung gewesen waren – ja, diese Art Freundlichkeit nannte er Gefühlsduselei. Aber dabei fällt Elsa doch ein, daß er jetzt im Frühjahr, wenn auch etwas stoßweise und angenommen gleichgültig, zu ihr gesagt hatte: »Hör, könntest du nicht, wenn das Wetter an einem Tag nicht so ganz erbärmlich ist, für ein paar Groschen geschnittene Tulpen auf dem Markt kaufen – da hast du Geld dazu – und damit zu einem armen Mädchen gehen, die ich draußen im Spital habe? Sie hat ein totes Kind zur Welt gebracht und ist dann schlecht behandelt worden – auch vorher schon von dem Halunken, der durchgegangen ist – es war ein wahrer Jammer. Jetzt liegt sie da draußen, und kein Mensch sieht nach ihr. Familie hat sie nicht, oder das Pack bleibt weg. Du brauchst nur zu sagen, du seiest die Tochter des Professors – und noch so ein paar Redensarten, es freue dich, daß es so gut bei ihr stehe – denn das ist nicht der Fall.«
Elsa war hingegangen und hatte am Bett des armseligen Fabrikmädchens gestanden – und unwillkürlich an ihres Vaters Ansprüche in Beziehung auf Schönheit und Feinheit denken müssen! Man hätte es nur wagen sollen, ihn eine solche Nase, solche Sommersprossen und solch dumme Augen in seinem Hause sehen zu lassen – da hätte man seine Liebe schon zu fühlen bekommen!
»Der Herr Professor ist über die Maßen gut gegen mich gewesen,« sagte die Kranke schluchzend, »vom ersten Tag an hat er ›mein Mädchen‹ zu mir gesagt. Und an dem schrecklichen Morgen, wo ich operiert werden sollte, sagte er geradezu herzlich: ›Nun, meine Kleine, jetzt ist's so weit. Aber wir werden es prachtvoll durchhalten.‹ Ich war geradezu nicht mehr unglücklich.«
Mußte man denn vollständig ganz ohne eigenen Willen, ohne eigene Kraft von ihrem Vater abhängig sein, mußte man in blinder Hingabe auf Gnade und Ungnade in seinen Händen liegen, sich von ihm zerschneiden, ja möglicherweise töten lassen, ohne einen Laut von sich zu geben, bis die Güte in ihm erwachte? Waren seine tyrannischen Instinkte so stark, daß sie erst dann befriedigt waren und etwas Milderem den Platz räumen konnten?
Sich einer solchen gewaltigen Herrschsucht zu unterwerfen, dazu hatte Mutter wohl weder Leidenschaft noch Klugheit genug gehabt, und auch nicht die Kraft, sich dagegen aufzulehnen. Sie wehrte sich dagegen mit einer milden Empörung, die nur aufreizte.
Na, nun wurde ja Inger Marie Vaters Patient und würde ihn also von seiner besten Seite kennen lernen. Aber die Sprache, die er führte, würde sie doch entsetzen!
»Mutter, komm – nun mußt du sehen – bitte!« ruft eine zarte Stimme von der weichen Sandfläche am Wasser her, wo der kleine Garten aufhört.
Elsa steht auf und geht nach dem Strand.
Da sitzt ein fünfjähriger Junge im Sand und häuft Steine und Muscheln aufeinander. Gerade vor ihm steht ein pechschwarzer Pudelhund und sieht mit glänzenden, feindseligen Augen auf das Bauunternehmen.
Elsa kauert neben dem Kinde nieder.
»Was baust du denn da, Hansemann?« fragt sie und streicht dem Kind über das weiche blonde Haar.
»Das ist der Turm zu Babel.«
»Ach so! Weniger tut es also nicht? Warum willst du denn gerade den bauen?«
»Weil er bis in den Himmel reicht.«
»Ach, da ist es noch weit hin, Hansemann! Wer hat dir denn vom Turm zu Babel erzählt?«
»Vetter Aage gestern. Er weiß es von der Schule her. – Aber, Mutter, Negro ist recht böse, so oft es am spannendsten ist, wirft er den Turm um.«
Negro beobachtet den Turm mit gespannten Blicken. Der Junge legt mit spitzigen Fingern noch eine kleine Muschel darauf – und in demselben Augenblick muß das Bauwerk für die Augen des Hundes wieder das Aussehen irgend eines rätselhaften Tieres angenommen haben, das ihm droht. Negro stößt ein kurzes, zorniges Bellen aus und läuft mit der Stirn gegen den Turm von Babel, der sofort zerschmettert im Sand liegt.
Der Junge schlägt hilflos auf den Hund ein. »Sieh jetzt nur, Mutter!« klagt er. »Und er war doch so schön!«
»Es wird am besten sein, ich nehme Negro mit mir, bis du mit dem Turm fertig – oder doch der Vollendung etwas näher gekommen bist.«
»Ja, bitte tu das, Mutter!« Das Kind sammelt geduldig Steine und Schneckenhäuser wieder zusammen, und Elsa ruft den Hund zu sich.
Aber Negro läuft weiter auf den Strand hinaus – dort steht er und wedelt wild und trotzig mit dem Schwanze.
Hinein – während hier draußen so etwas vorgeht! In einem zahmen, langweiligen Wohnzimmer liegen, während hier das rätselhafte Ungeheuer immer höher aus dem Sand herauswächst und über den Gegner, der ihm nicht zu Leibe kann, hohnlächelt – – Nein, danke! Es gibt doch auch für das, was ein Tier sich bieten lassen kann, Grenzen!
Aber dann kommt Ejnar, der einen Spaziergang machen will, und er pfeift Negro.
Ein Spaziergang – diese Lebensentfaltung im höchsten Grade, der kein Hund widerstehen kann, rettet den Turmbau zu Babel für Hansemann.
Der Doktor entfernt sich mit dem Hunde, der Junge baut tapfer weiter, und Elsa geht wieder auf ihren Altan.
Und – ja warum auch nicht sehen, wie sich »der schwarze Diamant« weiter entwickelt?
»Als die Marchesa di Piombini mitten in dem geheimen Gang angekommen ist, fährt sie zusammen, ein dumpfes Dröhnen dringt an ihr Ohr« – –
*
Der Professor ist angekommen.
Seine Tochter fordert ihn auf, die Aussicht zu bewundern – die Beleuchtung ist an diesem Tage besonders schön – aber er erwidert: »Ich kenne sie ja schon,« und wendet sich ab, um sein Enkelkind zu betrachten, das nach ihm genannt ist, aber außer dem Namen ganz und gar keine Ähnlichkeit mit ihm hat.
Hänschen hat sofort seinem Großvater die Arme um den Hals geschlungen, und das Kind ist so menschenfreundlich, daß es nicht einmal merkt, wenn andere das Gegenteil sind.
»Was stellt ihr nur mit dem Jungen an?« fragt der Professor. »Seine Aermchen sind zu mager.«
Elsa fühlt sich gekränkt. Der Junge sieht im Gegenteil durch und durch gesund aus.
»Ich glaube,« sagt Ejnar, der eben seine Nägel behandelt – trotz seiner Frau ausdrücklichem Gebot, diese Tätigkeit ausschließlich ins Schlafzimmer zu verlegen – »ich glaube, Elsa geht so allmählich zum Vegetarianismus über. Und davon werden wir zwei Mannsbilder ja mager.«
»Das fehlte wahrhaftig noch!« – Der Professor schneuzt sich die Nase mit ungeheuerem Spektakel, während Elsa etwas kurz erklärt:
»Das ist vorläufig noch gar nicht wahr! Ich vermindere nur die Fleischkost etwas – und das wirft er mir beständig vor. Und im übrigen hast du, Vater, selbst gesagt, der Vegetarianismus habe eine gewisse Berechtigung.«
»Jawohl hab ich das gesagt. Aber, notabene, nicht, wenn die Frauen ihre Finger darein stecken. Dann geht die Berechtigung zum Teufel.«
Ejnar lacht laut. Ach, wie abscheulich beide sind! Elsa ist nahe daran, die Überraschung, die sie für sie in Bereitschaft hat, zu bereuen.
Sie hat Hummer zum Essen herbeigeschafft, obgleich es ihr immer eine Überwindung kostet, ihrem Vater diese Speise vorzusetzen. Der Professor ist ein starker Esser, aber er ißt doch nicht unschön; in diesem Punkt ist er eigentlich nicht materiell. Nur bei einzelnen Gerichten, unter anderem bei Hummer, ist es anders; da sehe er geradezu gefräßig aus, meint seine Tochter.
Ihre Überraschung ruft große Freude hervor. Ejnar wirft ihr eine Kußhand zu.
»Ich habe es gar nicht deinetwegen getan,« sagt Elsa, indem sie mit einer kleinen ärgerlichen Grimasse den Kopf schüttelt.
Hansemann hat die roten Schalentiere höchlich bewundert, während die Mutter sie mit grünen Salatblättern auf einer silbernen Platte hübsch angerichtet hat.
»Sie sehen so königlich aus, nicht wahr, Mutter?« hatte er gesagt; irgend etwas von roten Lakaien schwebte ihm dabei vor. »Meinst du, ich dürfe sie auch kosten?«
»Ja, mein Schatz!«
Aber bei Tische erklärt der Professor, es wäre der reine Unsinn, ein solches Kind Hummer essen zu lassen. »Es kann sich daran den Magen tüchtig verderben.«
Ejnar stimmt stracks mit ein. »Nein, da kann keine Rede davon sein – nein, nein, durchaus nicht!« Aber daß er sich durch ihres Vaters Ausspruch gestärkt fühlt, ärgert Elsa.
Sie drückt das Händchen ihres Kindes unter dem Tisch und flüstert ihm in seine glänzenden, enttäuschten Augen hinein: »Morgen!«
Da ist der Großvater in seinem Operationszimmer und der Vater auf seiner Krankenabteilung in Kopenhagen – glücklicherweise!
Nun erzählt Ejnar dem Schwiegervater von dem Brief, den er von seinem Schwager erhalten hat. Der Professor ist noch beim Aussaugen der Hummerscheren und sucht mit der Gabel zwischen den Schalen – doch jetzt gibt er das sofort auf, schiebt seinen Teller zurück und hört aufmerksam zu.
»Nun sollen sie aber da droben nicht erst an ihr herumpfuschen,« sagt er. »Wenn ich sie behandeln soll, dann möchte ich sie gleich haben.«
»Das läßt sich nicht so schnell machen,« meint Ejnar. »Die Kinder müssen erst versorgt werden und so weiter – Aber ›so bald wie möglich‹ werde ich schreiben.«
Der Professor sagt nicht mehr viel bei Tisch. Er spricht überhaupt nur wenig, wenn er ißt. Wie gut erinnert sich Elsa an des Vaters barsches: »Halt deinen Mund und iß, was du auf dem Teller hast!«, wenn sie sich als Kind einmal bei Tisch mit einer schüchternen Frage hervorwagte.
Aber daß er die ganze Zeit an Inger Marie denkt, das sieht Elsa seiner Stirne an.
Beim Kaffee auf der Veranda schlägt sie ihrem Vater einen Spaziergang in den Wald vor. Sie ist den ganzen Tag zu Hause geblieben, um frische Kräfte zu diesem Gang zu haben.
»Was fällt dir ein?« sagt er. »Du weißt, Spaziergänge sind mir gräßlich langweilig. Wenn ich gehe, muß ich ein Ziel vor mir haben – ich kann nicht nur so ins Blaue hineinlaufen und schwatzen! Aber ist da wohl einer von den jüngsten Medizinern, der es mir nachmacht, Sommer und Winter den Hin- und Rückweg vom Spital zu Fuß zu gehen? Nein, sie stürzen aus der Straßenbahn heraus, oder schieben auf dem Rad daher, wie wenn sie keine Beine zum Gehen hätten. Na, ihr Fußwerk ist auch danach!«
»Großvater, willst du dann nicht mit mir hinuntergehen und meinen Turm zu Babel sehen?« fragt Hänschen eifrig.
»Wenn es ein richtiger Turm zu Babel ist, kann ich ihn wohl auch von hier aus sehen. Wie bist du übrigens auf einen so gewagten Bau verfallen, mein Junge? Du kannst dir ja damit den Zorn Gottes zuziehen! – – Nein, ich will lieber mit dir hineingehen, Ejnar, und mir den Brief von dem geistlichen Herrn ansehen, obgleich ich wohl nicht viel klüger dadurch werde. Ist viel salbungsvolles Gerede darin?«
»Nun – nein, das kann man eigentlich nicht sagen« – hört Elsa ihren Mann erwidern, während sich die Tür hinter den beiden Herrn schließt.
»Willst du dann mit Mutter gehen, Piephans?« fragt sie ihr Kind und nimmt sein Köpfchen zwischen ihre beiden Hände. »Wir können gut wieder da sein, bis du schlafen gehen mußt. Du wirst sehen, wie schön das Heidekraut dort droben ist.«
Der Junge ist überglücklich, und kurz nachher wandert Elsa mit seiner kleinen warmen Hand in der ihrigen dem Walde zu. Negro jagt wie besessen um sie her.
Zwischen den Tannen führt ein schmaler Waldpfad dahin, auf dem man die große Heidestrecke im Walde erreicht.
Das Heidekraut steht in voller Blüte, ja es ist sogar schon etwas am Verblühen, aber jetzt im Glanz der Abendsonne leuchtet es fast purpurrot.
Elsa fallen Ibsens Zeilen ein: »Doch dort am Abhang, wo ich geruht – leuchtet die Heide rot wie Blut.«
Aber wie merkwürdig, gerade wenn man etwas besonders Schönes gefunden hat, sehnt man sich immer fort! – –
»Mutter, warum sollte der liebe Gott böse werden, weil man bis zum Himmel hinaufbaut?«
»Weil es – vermessen ist!« Elsa ist froh, dieses Wort gefunden zu haben, über das sich Hansemann wohl kaum klar werden kann. Mit einer unverständlichen Erklärung geben sich die Leute ja meistens zufrieden.
Und doch – nein, diesmal nicht!
»Was ist vermessen, Mutter?« fragt das Kind.
»Das heißt, daß es verboten ist,« antwortet die Mutter, um der Sache ein Ende zu machen.
»Ja, aber Mutter, wenn du nun im Himmel droben wärst und ich bis zu dir hinaufbauen wollte, da könntest du doch nicht böse darüber werden, nicht wahr?«
»Nein, aber« – Elsa fühlt sich dem Ereignis des Turmbaus zu Babel gegenüber ganz leer – »nun hat es der liebe Gott einmal so bestimmt, daß die Menschen nicht ganz zu ihm hinaufbauen sollen.«
»Aber fliegen dürfen sie doch – nicht wahr? Mutter, Lars Peter hat einen Drachen bekommen, den ihm sein Vater aus einem alten Rollvorhang gemacht hat. Er sagt, der Drache könne höher fliegen als eine Flugmaschine.«
»Aber vorläufig ist Lars Peter nicht weiter gekommen, als daß er seinen Drachen im Sande hinter sich herschleift. Es wird schon noch eine Weile dauern, bis er mit dem nur halbwegs bis zum lieben Gott hinauffliegen kann.«
»Mutter, ich möchte auch einen Drachen haben, wenn ich nicht bauen soll.«
»Einen Drachen kann mein Hansemann gern bekommen. Aber in den Himmel hinein fliegt er nicht.«
»Kann man denn gar nicht in den Himmel kommen, ohne daß man stirbt?«
»Nein.«
»Aber warum freuen sich dann die Menschen nicht mehr aufs Sterben, Mutter?«
»Ach – weil es so traurig ist, von denen fortgehen zu müssen, die man lieb hat …«
Und noch aus vielen anderen Gründen, mein Hänschen! Unter anderem, weil der liebe Gott und sein Himmel vielleicht gar nicht da sind – –
Wie es hier nach Harz duftet! Die Nadelholzbäume sind nach dem langen, sengend heißen Tag ganz ausgetrocknet, und jetzt fällt der Tau.
»Mutter, wer geht denn hinter uns?«
Jäh hält Elsa an. Sie lauscht, während ein roter Schein über ihre Wangen läuft. Vor ihr steht Negro, dem Gedanken einer aufregenden Unterbrechung nicht unzugänglich.
»Es ist der Knecht mit den Kühen des Waldhüters,« sagt sie hastig. »Du weißt, wir haben ihn vorhin am Moor gesehen.«
Und ins Gehölz hinein ruft sie: »Bist du es?«
»Jawohl, ich bin's,« wird von drinnen heraus geantwortet.
Elsa muß lachen, sowohl über ihre Frage, wie über die Antwort.
»Siehst du, es war nur der Kuhhirte,« sagt sie.
Negro bellt ein wenig, halb geringschätzig. Dieses Ereignis ist nicht viel wert.
Immerhin hätte sie nicht so tief in den Wald hineingehen sollen, denkt Elsa. Das hat ihr Ejnar doch verboten! Es wird jetzt früher dunkel, und sie muß sich beeilen, herauszukommen. Wie gut, daß sie einen kleinen Jungen zu beschützen bei sich hat – jemand an der Hand zu führen und zu beruhigen – und einen Hund, der sie verteidigen könnte!
Der Harzduft begleitet sie, obgleich die Fichten jetzt von Buchen und Birken abgelöst werden.
Hohe Farnkräuter drängen sich, von grünlichblauem Dunst umflossen, um die Stämme her. Die Baumwipfel über den Wanderern ragen mit leisem Rauschen zu einem Himmelsgewölbe von mattgoldener Klarheit empor. Der Wald wird gar so groß, wenn die Schatten fallen …
»Mutter, wer geht jetzt hinter uns?«
Wieder bleibt Elsa stehen und hält unwillkürlich das Kinderhändchen fester. Negro ist sofort an ihrer Seite und starrt sie in erwartungsvoller Spannung an.
Aber der Wald ist lautlos still.
»Es ist ja niemand, Piephans,« sagt Elsa leise.
»Mir war aber, wie wenn jemand hinter uns herkäme, Mutter.«
»Dann muß es jemand sein, der weit weg ist – denn hier ist niemand.«
»Aber könnte man es dann hören?«
»Nein … Und doch – vielleicht kann man's – manchmal – selbst wenn es weit, weit weg ist.«
»Ja, ich hab auch gemeint, es sei weit weg.«
»Aber jetzt haben wir den Wald gleich hinter uns,« sagt Elsa laut und fröhlich. »Dann können wir auch sofort den Strand sehen und das Haus, wo mein Hansemann wohnt.«
*
Der Professor ist mit dem Zehnuhrzug in die Stadt gefahren. Tochter und Schwiegersohn haben ihn an die Bahn begleitet. Er hat sie auf Mittwoch zum Gabelfrühstück eingeladen; er möchte einigen zugereisten Ärzten etwas Aufmerksamkeit erweisen, und Elsa soll, wie gewöhnlich, die Hausfrau vertreten.
»Also auf Wiedersehen!« sagt er, als er in den Zug steigt. »Und nun laßt es dabei bewenden und bleibt nicht ins Endlose stehen und winkt, sondern geht gleich nach Hause!«
Sie sind nach Hause gegangen, und Ejnar hat es sich neben seiner Frau auf einem kleinen Ecksofa bequem gemacht. Seine eine Hand ruht um ihre Mitte, mit der andern hebt er ihren Arm leicht an seine Lippen, die ab und zu etwas nachdrücklicher darauf ruhen.
»Der Gigant war großartig heute,« sagt er. – ›Gigant‹ ist der Zuname, den er dem Schwiegervater gegeben hat. – »Du hättest seine Randglossen beim Lesen von Hermanns Brief hören sollen! Er hat sofort alles klar vor sich und zieht seine Schlüsse mit beispielloser Schnelligkeit, und seine Diagnose ist ja fast unfehlbar. Er meinte, allem nach müsse es sich um eine Ovariegeschwulst handeln. Na, das ist ja keine von den schlimmsten – aber immerhin –«
»Du hast wohl sofort an Hermann geschrieben! War das der Brief, den du mit zur Bahn nahmst?«
»Ja, und nun erhält er ihn – laß mich sehen –«
Der Doktor braucht ziemlich lang zum Ausrechnen. Er muß seiner Frau den Arm und alle fünf Finger küssen, ehe er es fertig bringt.
»Er bekommt ihn also spätestens am Mittwoch morgen. Aber vor drei Wochen werden sie wohl kaum kommen können. – – Dein Vater wird am Mittwoch gewiß ein feines Gabelfrühstück geben – du wirst sehen, es gibt Gänseleberpastete. Na, und du, Liebchen, du hast also Hummer aufgetrieben – aber nicht meinetwegen – he!«
Er erhebt die Hand, die um ihre Hüfte liegt, und zupft Elsa ein wenig am Ohrläppchen.
Sie zieht den Kopf zurück. »Nein, ganz und gar nicht,« versetzt sie. – – »Aber es ist doch recht sonderbar, Ejnar,« beginnt sie kurz nachher.
»Was ist sonderbar?«
»Jetzt haben wir über sieben Jahre lang ganz sorgenlos miteinander gelebt – und haben es immerfort nur gut gehabt –«
»Außerordentlich gut!« – Sein Gesicht beugt sich über den Halsausschnitt ihres weißen Kleides. – »Ohne eine einzige Wolke an unserem Ehestandshimmel! Und ohne größere Scharmützel, als eben solche, die gerade erfrischend wirken, aufmunternd wie ein kleines Sturzbad!«
»Und jetzt nähert sich der Ernst. Man kann ihn fast draußen herankommen hören.«
»Nun ja,« sagt er, indem er sich aufrichtet. »Du weißt, welch tiefen Eindruck der Brief gleich auf mich gemacht hat. Aber zu feierlich dürfen wir es auch nicht nehmen. Meiner Ansicht nach wäre es auch wirklich schade um die gute Inger! Jedenfalls will ich vorerst annehmen, sie werde alles gut überstehen.«
»Das ist ja auch möglich. Aber wenn der Ernst erst einmal unterwegs ist … Ich weiß nicht, es ist fast, als könne man ihn dann nicht mehr aufhalten.«
»Das ist Unsinn von einer so klugen Frau wie du! Warum sollte dies nun notwendigerweise anderes im Gefolge haben? Ich hoffe ganz bestimmt, daß wir noch ebenso viele frohe Jahre vor uns haben.« – Er liebkost wieder ihren Arm. – »Wie weiß er ist – fast nicht rot zu kriegen!« sagt er und drückt seine Lippen fester darauf. »Ich habe an Hermann geschrieben, er könne bei uns wohnen, wie du gesagt hast. Aber ich habe so eine Ahnung, daß er es nicht tun wird.«
Plötzlich zieht sie heftig ihren Arm zurück. »Laß das lieber, Ejnar! Es gibt so viel Ernstes auf der Welt.«
»Liebstes Kind, wenn man, solange es Ernstes auf der Welt gibt, nicht wenigstens in seine Frau ein wenig verliebt sein dürfte, dann –«
»Was dann?«
»Dann muß man das Heiraten bleiben lassen.«
»Ja vielleicht!«
»Denn dann wäre ja alles nur noch Abtötung.«
»O, ich sagte es übrigens auch nicht nur, weil es mir nach diesem Brief heute nicht so recht passend vorkommt, sondern weil ich diese nachlässig bequemen Liebkosungen, denen ihr euch so gern hingebt, hasse.«
»Was sagst du? Sagtest du bequem?«
Sie steht auf. »Ja, das tat ich. So auf einem weichen Sofa sitzen, satt von den guten Mahlzeiten des Tages – bisweilen mit einer Zigarre oder einer Zeitung – sich behaglich über alltägliche Dinge unterhalten und dabei einige recht ›nachlässige‹ Liebkosungen einstreuen – das paßt euch! Aber das wird mir bald zu viel. Nein, da eher Liebkosungen, bei denen Selbstvergessen, leidenschaftlicher Ernst, ja ich möchte fast sagen Andacht ist!«
»Bitte, solche kannst du auch bekommen!« ruft der Doktor, indem er aufspringt. »Meinst du, ich hätte etwas gegen solche Stunden des Ernstes und der Andacht! O nein, da setze ich gern alles andere beiseite!«
Und ehe sie sich's versieht, ist sie in seine Arme geschlossen – und unter seinen Küssen vergeht ihr der Atem.
*
Mitte September trifft die Pfarrfrau Inger Marie mit ihrem Mann in Kopenhagen ein, und um dieselbe Zeit ziehen ihr Bruder und seine Frau von der Villa am Strande wieder in ihre Stadtwohnung.
Hermann begibt sich in ein Gasthaus, Inger Marie aber fährt gleich nach dem Krankenhaus, wo sie der Professor zwei Tage später einer eingehenden Untersuchung unterwirft.
Das Ergebnis ist, daß er sie in den ersten Tagen der kommenden Woche operieren will. Er meint, die Geschwulst liege günstig, und hofft, es werden sich keine erschwerenden Nebenumstände ausweisen.
Elsa kommt es höchst merkwürdig vor, aber ihr Vater ist von Inger Marie sofort ganz eingenommen. Das hätte sie nie gedacht, und es ist fast, als ärgere es sie ein wenig.
»Seiner Hochehrwürden hat das aufgelegte Pfarrersgesicht und das gewöhnliche geistliche Mundwerk,« sagt der Professor. »Er langweilt mich gottsträflich. Aber die kleine Frau, das ist ein Prachtstück. So ein rundes Kindergesicht – gerade recht, es zwischen seine beiden Hände zu nehmen! Sie kann brandrot werden vor Aufregung, wenn ich von Untersuchung und Incision rede; aber im selben Augenblick zeigt sie ein paar herzige kecke Grübchen in den Wangen und sagt: ›Ganz wie Sie meinen, Herr Professor! Wie Sie es bestimmen, ist es jedenfalls am besten!‹ Wo hat nur Ejnar so eine Schwester her? Sie hat einen Mann, hat fünf bis sechs Kinder und noch sich selbst, an die sie denken muß – und dann denkt sie wahrhaftig auch noch an meine Seele. Das ist mehr, als sonst irgend jemand für der Mühe wert hält.«
Elsa fühlt sich vor Angst um die Schwägerin sehr beklommen und begreift nicht, wie diese so ruhig und gefaßt sein kann. Inger Marie ist außer Bett, und mit Ausnahme des letzten Tages darf sie immer Besuche annehmen. Elsa geht jeden Vormittag eine Weile hin.
»Dein Vater ist ein prächtiger Mann,« sagt sie. »Ich hab' ihn vom ersten Augenblick an liebgewonnen.«
»Ja, wenn man sein Patient ist, lernt man ihn von seiner besten Seite kennen.«
»Das kann man gewiß auch ohne das – wenn man es nur versteht, ihn von dieser zu nehmen.«
»Ach, du würdest es schon anders ansehen, wenn du sein Kind gewesen wärest! Er ist ein Haustyrann.«
»Wirklich!« – Elsa merkt wohl, Inger Marie meint, sie und ihre Mutter hätten den Vater nicht verstanden. »Ich bin so sehr betrübt über ihn, Elsa! Er ist viel zu gut, um dem Herrn nicht anzugehören. Und das hab ich ihm auch gleich am ersten Tag gesagt.«
»Er war auch ganz gerührt darüber. Wie kannst du aber auch noch an etwas anderes denken, als an das, was dir bevorsteht?«
»O doch, Elsa – die Seele ist doch so viel wichtiger als der Leib. Ich denke an euch alle. – Jetzt eben schreibe ich an meine Kinder. Jedes soll ein Briefchen von mir haben. Die beiden kleinsten können es nicht selbst lesen, aber die andern lesen es ihnen vor. Hier hab' ich das an Dodo, meinen Ältesten.«
Da Inger Marie Lust zu haben scheint, den Brief vorzulesen, fragt Elsa, ob sie ihn hören dürfe.
»Ja, gerne,« antwortet Inger Marie und entfaltet das Schreiben.
»Lieber Dodo, mein großer Junge! Am Dienstag Morgen wird Mutter operiert; aber der Gedanke daran ist gar nicht so schlimm, denn Du weißt, der liebe Gott ist der, der das Messer führt; dann kann Mutter nichts Böses widerfahren. Es wäre nicht einmal schlimm, wenn Mutter hinweggenommen würde. Aber der liebe Gott kann mich euch ja so gut erhalten. Und eins weiß ich, an dem Morgen werdet ihr einander bei der Hand nehmen und einen Kreis um Mutter schließen – selbst das Kleinchen müßt ihr dabei haben – und den lieben Gott bitten, mich zu beschützen. Und wenn Mutter nicht zurückkommen sollte, dann vergiß ja nicht, wie weh es mir immer getan hat, wenn Du, mein großer, guter Junge, oft so jähzornig warst. Und Du wirst Dich immer an den lieben Gott halten, das glaube ich von Dir, denn ich kenne Dein aufrichtiges Herz. Und Du wirst auch freundlich und nachgiebig gegen Deine Geschwister sein. Mutter unterhält sich jeden Tag mit euren Bildern und schickt Dir nun die herzlichsten Grüße zum Abschied.«
»Du wirst sehen, Inger Marie,« sagt Elsa bewegt, »du kehrst zu allen deinen lieben Kindern wieder heim. Du darfst gar nichts anderes denken.«
Die Pfarrfrau wischt sich die Augen. »Ich denke auch gar nicht vorwärts – wenigstens so wenig wie möglich; das lege ich alles in die Hand eines anderen. Aber sie brauchen mich ja noch so nötig.« – Sie stockt jäh, dann fährt sie fort. »Hermann gibt mir am Sonntag das Abendmahl, und er darf am letzten Abend bei mir sein. Und am Morgen, ehe ich geholt werde, darf er mir auch noch zunicken.«
»Daß du das so ruhig sagen kannst, Inger Marie!«
»Ach weißt du,« versetzt die Pfarrfrau, und ein Lächeln spielt um ihre Lippen, »ich hoffe nur, ich werde gefaßt sein, wenn ich an dem Morgen die Schritte vor meiner Tür höre und weiß, daß sie nun mit der Bahre draußen sind. Denk dir, ich werde jetzt schon nervös, wenn Schritte vor meiner Tür anhalten – wie vorhin, wo du kamst.«
»Dann hätte ich lieber nicht kommen sollen,« sagt Elsa. »Das ist ein schrecklicher Gedanke.«
»Ach nein! Es ist nur dumm von mir. Die Kraft, die ich brauche, wird mir ja doch zuteil.«
Auf dem Heimweg ist Elsa dem Weinen nahe. Sie weiß, sie hat Inger Marie immer etwas von oben herab betrachtet, und das fällt ihr jetzt schwer aufs Herz. Die Schwägerin ist ihr immer ein wenig engherzig, etwas lehrhaft und selbstgefällig vorgekommen – nicht bedeutend, und das ist sie ja auch nicht, aber jetzt wird sie es, mehr als sie – Elsa – selbst in dieser Lage sein könnte. Ist es wirklich, weil – –? Hermann sagt, weil sie an jedem Tag die nötige Kraft von oben erhalte.
Hermann ißt in dieser Zeit bei ihnen. Er ist gefaßt, aber sehr ernst. Ja, des Lebens ganzer Ernst tritt mit ihm über die Schwelle. Wenn Hansemann nicht da wäre, würde es nicht zum Aushalten sein. Aber der Junge, obgleich er tief bewegt ist von dem, was der Tante bevorsteht, hat die glückliche Gabe der Kindheit, alles Schwere abzuwerfen, ja, er hat sie sogar in ungewöhnlichem Maße. Obgleich man ihn eigentlich eher einen ernsten Jungen nennen könnte, ist er zuzeiten so übermütig, so recht von Herzensgrund lustig, wie weder Elsa noch Ejnar selbst es je gewesen sind; oder Elsa jedenfalls nur einmal in ihrem Leben.
Bei Onkel Hermann ist ein unschätzbares Talent zutage getreten; er kann ausschneiden, zeichnen, mit Bauklötzen bauen, und es ist ein wahres Fest, wenn Hänschen ihn mit ins Eßzimmer hineinziehen kann. Der Onkel spricht nicht viel, während er arbeitet – »er schwatzt nicht, sondern schlägt zu,« sagt Ejnar, und die Kosten der Unterhaltung trägt Hänschen. Da drinnen wird beständig geplaudert und gelacht.
Der Professor hat dem Pastor eingeschärft, am Dienstag morgen seiner Frau nur einmal zuzunicken, dann aber fortzugehen, sich auszulaufen und erst etwas nach zwölf Uhr wiederzukommen. Und nach dieser »Spannkraftentladung« werde er hoffentlich ruhig und gefaßt wiederkommen, um das Ergebnis zu erfahren.
»Vielleicht möchte er lieber im Krankenhaus bleiben,« sagt Elsa. »Du nimmst nicht viel Rücksicht auf die Gefühle der nächsten Angehörigen, Vater.«
»So?« erwidert der Professor. »Ja, da draußen bei uns können wir kein Jammern und Tränenvergießen brauchen. Was die prächtige kleine Pfarrfrau und ich miteinander vorhaben, machen wir am liebsten ohne unbeteiligte Personen ab, die um uns herumlauern. Im übrigen hab ich noch nie einen von diesen nächsten Angehörigen angetroffen, den ich nicht mit leichter Mühe hätte wegschieben können. Ich möchte nur einen von der ganzen Sippschaft sehen, der mit ins Operationszimmer wollte, selbst wenn man es ihm anböte. Alle wollten am liebsten wegbleiben – so weit sie nur können.«
»Das sieht nur so aus, weil sie sich dir nicht zu widersetzen wagen, Vater.«
»Dann sollen sie es doch tun, zum Kuckuck! Eigentlich hab ich immer auf ein Frauenzimmer gewartet, das ganz verzweifelt gewesen und auf seinen Knien bis vor die Operationszimmertür gerutscht wäre – und da, wenn man herauskam, der Länge nach gelegen hätte. Aber dieses Frauenzimmer ist eben bis jetzt nicht gekommen.«
»Sie wäre wohl auch gut empfangen worden,« sagt Elsa mit gekräuselten Lippen.
»Ja, ein wohlgezielter Fußtritt wäre ihr sicher gewesen – aber immerhin … So etwas verstehe ich vielleicht besser, als ihr meint – aber etwas davon gesehen hab ich eigentlich nie. Wie viel Feuer und Flamme, Salz und Pfeffer ist denn in den Gefühlen, deren die Leute sich so sehr rühmen? Wenn es gilt, dann sind sie so lau und gottergeben, daß einem ordentlich übel davon wird.«
Als Elsa nachher über diese Worte nachdenkt, fragt sie sich, ob ihr Vater mit diesen Angehörigen am Ende nicht nur die seiner Patienten, sondern auch seine eigenen gemeint habe.
Hat er in der Ehe, wo die Mutter verdurstete, am Ende seinerseits gehungert? Ist er mit einem beständigen Hunger umhergegangen, weil seine heftige Natur eine stärkere Kost brauchte, als die Mutter geben konnte? Vielleicht! – – Wie merkwürdig, daß die Menschen, die gerade das füreinander haben, was nötig ist, so oft nicht – ja fast nie – zusammenkommen können!
Am letzten Abend vor der Operation, ehe er nach Tisch fortgeht, übergibt Hermann seinem Schwager einen Brief.
»Von deiner Schwester,« sagt er.
Ejnar, der meint, es sei irgend ein Bescheid wegen des nächsten Tages – er wird ja bei der Operation zugegen sein – öffnet ihn sogleich; aber nachdem er die Anrede gelesen hat, geht er in sein eigenes Zimmer.
Elsa hört, wie er sich drinnen energisch die Nase schneuzt, und als sie eintritt, sieht er feierlich aus.
»Das lies,« sagt er; »so ist sie.«
Elsa nimmt den Brief und liest:
»Lieber Bruder Ejnar! Erinnerst Du Dich an einen Tag vor vielen Jahren – aber jetzt ist es mir gar nicht, als sei es so lange her – als wir miteinander spielten? Vater, Mutter und Kinder, glaub ich, spielten wir. Und da sagtest Du ganz ernsthaft: ›Inger, wenn du groß bist, darfst du dich ja nicht so weit weg verheiraten, daß ich nicht mitkommen kann. Denn ich will mit.‹ – Siehst Du, nun bin ich zwar recht weit weg verheiratet – aber wenn Du auch nicht ganz zu mir gekommen bist, so hast Du mich in den ersten drei Jahren, ehe Du selbst gebunden warst, doch treulich besucht. Und lieber Bruder Ejnar, dies möchte ich Dir sagen: siehst Du, nun gehe ich vielleicht wieder weit weg – und da möchte ich Dich so von Herzen gern sagen hören, gerade wie damals, wo Du noch ein süßer kleiner Junge im Flügelkleide warst: ›Ich will mit!‹ Ja, nicht jetzt gleich, aber so, daß ich Dich auf dem Weg nach demselben Ziele wüßte. Je mehr Menschen man hat, die einem von Herzen lieb sind, desto weniger kann man einen einzigen davon entbehren, das fühle ich jetzt selbst am besten. Denk daran, mein lieber Ejnar – Du weißt doch, was ich meine –«
Elsa läßt den Brief sinken. Warum muß Inger Marie gerade jetzt so lieb sein? Da ist man wie zum Sterben bereit – und das darf sie nicht.
In der Nacht klingelt das Telephon. Elsa und ihr Mann fahren beide erschrocken auf. Ein Kranker, der einen Blutsturz gehabt hat, verlangt nach dem Doktor. Glücklicherweise wohnt er in der nächsten Straße.
Als Ejnar weggeht, sagt er, Elsa solle nur weiter schlafen, wie sonst auch. Ja, das ist leicht gesagt – aber diesmal geht es nicht so leicht.
Sie wirft sich im Bett hin und her … Wachst du wohl auch, Inger Marie? Hast du Angst?
Dazwischen schlummert sie ein wenig, und da ist ihr, als werde weit weg nach ihr geläutet.
Tiefe Stille herrscht ringsum. Dann ertönt ein Schritt auf der Straße. Da kommt der Tag heran, der böse morgige Tag …
Nein, es ist Ejnar. Er sagt, nun müßten sie sich noch ein paar Stunden Ruhe verschaffen.
Am nächsten Morgen ist er aber doch früh auf und Elsa auch – obgleich ihr das Frühaufstehen etwas ganz Entsetzliches ist. Aber sie will nicht behaglich zu Bett liegen und der Ruhe pflegen, während Inger Marie so schwere Stunden hat.
Ejnar ist ärgerlich darüber.
»Du weißt, du kannst es nicht ertragen und siehst den ganzen Tag bleichschnäbelig aus,« schilt er. Und dieser kleine Zank gereicht ihm offenbar zur eigenen Stärkung.
Er ist überhaupt, bis er fortgeht, sehr geschäftig und etwas kurz angebunden.
»Grüß sie von mir, grüß sie von mir!« sagt Elsa.
»Ja – ja,« erwidert er und ist damit auch schon zur Tür hinaus.
Elsa geht ins Wohnzimmer. Was soll sie sich vornehmen? Jeden Augenblick sieht sie auf die Uhr … Ob sie wohl jetzt mit der Bahre daherstapfen – und liegt wohl Inger Marie jetzt in ihrem Zimmer mit glühend heißen Wangen, weil sie sie herankommen hört?
Unwillkürlich steckt sich Elsa die Finger in die Ohren – – Das ist nicht zum Aushalten! Dann geht sie rastlos ins Eßzimmer, wo Hänschen bei seinem Teller Hafergrütze sitzt. Vor ihm auf dem Tischtuch liegen farbige Bleistifte.
»Mutter, Mutter, nun hör einmal« – er knipst mit seinen dünnen Fingerchen – »wenn ich jetzt mit der Grütze fertig bin, male ich mit den bunten Bleistiften, die mir Onkel Hermann geschenkt hat. Und Mutter, er hat mir eine Menge Hummer auf das Papier dort gezeichnet, die male ich rot an, feuerrot! Das wird königlich! Ach, die schreckliche Grütze! Mutter, darf ich sie jetzt nicht vollends stehen lassen?«
»Nein, mein Hansemann, iß sie nur auf.«
»Mutter, willst du dann mit mir die Hummer anmalen? Das wird fein!«
»Heute nicht, Hansemann! Mutter kann heute an nichts anderes denken, als an die liebe Tante. Jetzt wird sie operiert. Ich habe gar keine Lust, vergnügt zu sein.«
Das Gesicht des Kindes wird lang und ernst, und es sagt:
»Mutter, meinst du, ich solle mich auch nicht mit den Hummern vergnügen?«
»Doch, doch, du kannst sie ruhig anmalen. Aber Mutter muß immerfort an die Tante und die kleinen Vettern und Bäschen denken, die alle so betrübt sind. Die Tante hat an jedes von ihnen ein Briefchen geschrieben, das sie jetzt lesen.«
Hänschen springt auf und läuft zu seiner Mutter hin.
»Was steht in den Briefchen?« fragt er gespannt.
Elsa, die das Briefchen an Dodo fast auswendig kann, teilt ihrem Kinde den Inhalt mit, und dieses verschlingt ihre Worte mit weitaufgerissenen Augen; es schluckt und schluckt, wie wenn ihm die Worte den Hals hinunter sollten.
Elsa sieht in das süße Kindergesicht. Hänschens Augen verraten das Geheimnis, daß die seiner Mutter blau sind. Denn er hat ihre Augen, aber sie sind viel klarer in der Farbe, so daß sich niemand darin täuschen kann.
Wie kann eine Mutter ein solches Wagnis auf sich nehmen, ihre Kinder verlassen zu müssen! Das ist übermenschlich.
»Mutter, wenn sie für sie beten sollen, wie die Tante sagt, meint sie da das Vaterunser?«
Hänschens Vorrat an Gebeten ist nicht groß. Das Kindermädchen hat ihm sein Abendgebet eingelernt, und da er auch eins für den Morgen haben wollte, hat Elsa ihn das Vaterunser gelehrt. Sie will dem Kinde ihre Lebensanschauung nicht aufzwingen; es soll seinen Standpunkt selbst wählen dürfen, und wird dieser ein anderer als der ihrige, so hat sie kein Recht, es zu verhindern.
»Ja, vielleicht,« antwortet sie auf die Frage des Kindes. »Und vielleicht finden sie auch selbst heraus, was sie sagen wollen.«
Einem Gebet aus dem Herzen gegenüber steht Hansemanns Verstand still. Diese Worte müssen ja höchst feierlich zusammengesetzt werden, das geht nicht so im Handumdrehen.
»Mutter, ich möchte auch für Tante Inger Marie beten.«
»Ja, tu das! Du kannst ja das Vaterunser.«
Der Junge zögert, als ob ihm das Vaterunser für diese Gelegenheit doch nicht so ganz passend vorkomme. Dann ruft er:
»Nein, Mutter, jetzt weiß ich, was ich tue! Ich nehme: ›Zur Ruhe will ich mich legen‹, denn das paßt sehr gut.«
»Meinst du, mein Herzchen? Es ist ja ein Abendgebet.«
»Aber doch, Mutter!« – Hänschen ist höchst unzufrieden mit seiner Mutter Auffassungsvermögen. – »Du hast ja selbst gesagt, sie werde betäubt – dann liegt sie mit geschlossenen Augen ruhig da und ist ganz weg. Und jetzt ist gerade die Zeit. Kannst du da nicht verstehen, wie gut es paßt, wie ganz ausgezeichnet? Hör jetzt nur!«
Und Hansemann faltet die Händchen in Elsa's Schoß. Dann spricht er mit seiner zarten Kinderstimme halb singend:
»Zur Ruh will ich mich legen,
Gib, Vater, deinen Segen
Und halte bei mir Wacht!
Vor Sünden und Gefahren
Mög' deine Huld mich wahren
Und treulich halten bei mir Wacht!«
*
Kurz vor zwölf Uhr ist Elsa im Krankenhaus. Als sie die Treppe hinaufeilt, kommt ihr eine Krankenwärterin entgegen.
»Es geht gut!« ruft sie. »Es ist überstanden!«
Elsa bleibt stehen und sagt atemlos: »Mein Schwager – weiß er – –?«
»Nein, der Herr Pastor ist noch nicht gekommen.«
Elsa will ihn suchen gehen. Nach dem Park, ringsum in der Nähe, sie kann fliegen! Doch in diesem Augenblick sieht sie ihn hinter sich; sie eilt auf ihn zu und packt ihn bei den Schultern.
»Gut, gut!« ruft sie und schüttelt ihn. »Hermann, es ist gut gegangen!«
»Gott sei Dank!« sagt er ruhig.
Sie gehen miteinander hinauf. Inger Marie ist gerade in ihre Stube zurückgebracht worden. Die Bahre steht noch da. Elsa gibt ihr einen kleinen Fußtritt.
Ejnar tritt ein. Elsa hält auch ihn fest, aber er ist von dem Schwager und der Operation ganz hingenommen. Er drückt dem Schwager beide Hände. »Glänzend,« sagt er, »großartig! Der Gigant ist ein Meister. Es ist eine wahre Augenweide, ihn in Tätigkeit zu sehen. Und wie fein er arbeitet! Neben ihm sind wir andern die reinen Schlächter.«
Elsas Herz flammt auf für ihren Vater.
Dann steht er da – noch mit der Gummischürze und bloßen Armen.
Elsa ist so außer sich vor Freude, daß sie zu ihm hineilt und ihm die Arme um den Hals schlingt. »Ach, Vater …«
Er schiebt sie recht unsanft zur Seite und mahnt:
»Nun, nun, nur nicht so aufgeregt! – Es ist ganz manierlich gegangen,« sagt er dann zu Hermann, »Aber es ist noch kein Grund zum Fanfarenblasen da. Wir Ärzte wissen am besten, was alles noch nachkommen kann. Aber sie ist ein Prachtexemplar, sie wird es schon durchmachen.«
Hermann darf dableiben, bis Inger Marie erwacht. Elsa geht, um nach Norwegen zu telegraphieren.
Diese ungeheuere Erleichterung ist kaum zu fassen. Aber welch ein sonderbares Gefühl ist es doch, einen Dank bereit zu haben, den man nicht anbringen kann! Niemand ist da, der ihn in Empfang nehmen will. Um ihn los zu werden, muß sie wahrhaftig in die Luft hinein »Ich danke dir! Ich danke dir!« rufen.
Vom Telegraphenamt aus fliegt sie fast nach Hause. Jetzt muß sie ihren Piephans fest, fest an ihr Herz drücken – ihm erzählen, wie sein liebes Abendgebet geholfen hat.
Und dann Hummer mit ihm zeichnen und anmalen! Rot – feuerrot! Eine ganze Seite voll!
*
Nach den ersten drei schweren Tagen darf Elsa ihrer Schwägerin zunicken – früher nicht; der Professor ist sehr streng.
Inger Maries Gesicht ist vom Leiden ermattet, aber wie Verklärung liegt es darauf, gerade als liege sie im Wochenbett mit neuem Leben an ihrer Brust.
Elsa stellt leise ihre Rosen neben das Bett und streichelt Inger Marie die Hände. Diese nickt und erwidert die Liebkosung.
Doch mit jedem Tag dürfen sie sich etwas mehr unterhalten. »Aber nur nicht zu viel Gerede über die Operation!« sagt Elsas Vater. »Lieber etwas Neues von der Guineaküste.« Übrigens ist er recht umgänglich, weil alles so gut geht. Doch bekommen die Vettern und Basen vorerst keine Erlaubnis, »die kleine Frau totzuschwatzen«.
Trotz ihres Vaters Verbot fragt Elsa an einem der ersten Tage: »Nun, wie war's, als sie mit der Bahre kamen?«
»Ach, denk dir, ich hab' es gar nicht gehört! Ich hörte Hermann kommen – sein Schritt ist so fest und bestimmt – da wurde ich froh. Und als er die Tür öffnete, war eben die Bahre auf einmal da. Nein, in der Nacht vorher war's viel schlimmer. Ich erwachte, und da hatte mich die Angst gepackt.«
»Das war nur natürlich!«
»Ich war so zuversichtlich gewesen, nachdem Hermann am Abend mit mir gebetet hatte. Aber nun war die ganze Zuversicht verschwunden und nur noch Angst über mir. Ich war wie im Fieber – wollte mich nicht betäuben, mich nicht operieren lassen … sondern einfach davonlaufen.«
»Das hättest du tun sollen und zu uns kommen!«
»Na, das wäre ja was Schönes gewesen!« versetzt Inger Marie lächelnd. »Es war mir ganz heiß vor Angst, und ich fühlte, wie der Schweiß an mir herunterlief. Ich wollte nach der Krankenpflegerin klingeln, Fräulein Herdahl hatte die Wache, und sie ist sehr redselig. Das kam mir in dem Augenblick herrlich vor – es erschien mir wie eine Art Davonlaufen vor dem, was ich nicht aushalten konnte.«
»Ja, und dann?«
»Dann fiel mir ein, daß Fräulein Herdahl keine gläubige Christin ist.«
»Ach, das hätte doch nicht so viel zu sagen gehabt!«
»Nein, nicht für mich. Denn in dem Augenblick wollte ich überhaupt nur jemand um mich haben. Aber es wäre mir unrecht vorgekommen, wenn ich sie hätte sehen lassen, wie jämmerlich Angst ich hatte. Ich meine, es hätte sie vielleicht noch weiter abbringen können. Da sagte ich ganz laut, nur um mich selbst zu zwingen: ›Wenn du jetzt auch vor Angst stirbst – du rührst keine Glocke an!‹ Und denk dir, in demselben Augenblick war mir, wie wenn eine Hand meine Angst wegstriche. Ich dachte: wie kann ich nur Angst haben? Der beste Freund ist ja bei mir. – Dann legte ich mich ganz ruhig zurück und mußte vor mich hin singen: ›Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, er ist bei mir!‹ – Kurz nachher trat Fräulein Herdahl ein. ›Was, singen Sie, Frau Pastor?‹ rief sie. ›In der Nacht vor der Operation! Das gefällt mir. Aber schlafen Sie jetzt lieber.‹ Und das tat ich bis an den Morgen.«
»Hast du nachher keine Angst mehr gehabt?«
»Nein, gar keine. Als sie mich in den sonderbaren Apparat hineinspannten –«
»Ja, gräßlich!«
– »Und dein Vater seine Nägel bürstete – ach, wie er bürstete! – fragte er: ›Liegen Sie nun auch gut, kleine Frau?‹ Da konnte ich ihm zulächeln, indem ich antwortete: ›Nicht ganz, aber das soll ich wohl auch nicht, und dann ist mir's einerlei.‹ – Und da wußte ich ganz sicher, daß die Hand, die mich von der Angst befreit hatte, mich die ganze Zeit festhalten würde.«
»Du bist sehr tapfer gewesen, liebe Inger.« Elsa küßt sie auf die Stirne.
»Das ist doch nicht mein Verdienst – –«
Mehrere Male nimmt Elsa Hansemann mit. Die Tante will ihn abküssen für sein Abendgebet – das sei gerade das gewesen, was sie brauchte – und sie hat ihm immer so viel zu erzählen, daß der Junge ganz begeistert ist. Von den kleinen Vettern und Basen – von Ivar, der Dodo genannt wird, von Margit und Dagny, von Knut und dem Kleinchen, das nach Hansemanns Vater Ejnar heiße und den Onkel Hermann als ganz klein den ›Stabstrompeter‹ nannte, weil er so brüllte, daß die Fenster zitterten – von den Einfällen und Spielen der Kinder und von ihren herzigen Briefen, die sie ihr jetzt schrieben. Auch weiß die Tante viele Geschichten und Verse und ist sehr gewandt im Beantworten von all den tiefsinnigen Fragen des kleinen Jungen. Und sie kann den Pfarrhof mit den grünen Bergen ringsum beschreiben – in dem so schöne Blumen und so viele Erdbeeren wachsen, und vor dem ein blaues Wasser sich ausbreitet – daß der Junge bei dem Gedanken, einmal mit Vater und Mutter dahin zu kommen, ganz rote Wangen und glänzende Augen bekommt.
Elsa fühlt sich dabei etwas verstimmt. Sie hat doch wohl ebenso viel Inhalt wie Inger Marie und ihrem Jungen tausendmal mehr zu geben, als die beste Tante der Welt. Es ist gar kein Grund vorhanden, warum sie gleichsam arm zur Seite stehen soll. Sie wird ja wohl auch einige Geschichten erzählen können und ihn ein paar Liederverse lehren und für ihn in der Bibel nachschlagen, wenn seine Fragen in dieser Richtung gehen. Und ihre Villa am Sund wird doch wohl mit einem gewöhnlichen norwegischen Pfarrhaus in die Schranken treten können.
Dann läßt sie den Jungen meistens zu Haus und nimmt nur Negro mit, der nicht mit ins Zimmer hinein kommt und nicht verzaubert wird, sondern draußen liegt wie eine schwarze getreue Schildwache, – ausgenommen natürlich, wenn Ejnar aus dem Krankenhaus fortgeht, während seine Frau bei der Schwägerin ist. Dann ist der Hund verschwunden, wenn Elsa herauskommt.
Inger Marie hofft ganz bestimmt, Ejnar, Elsa und der Junge werden, so Gott will, im nächsten Sommer zu ihnen nach Norwegen kommen. »Ihr habt ja noch nicht einmal unser neues Pfarrhaus gesehen,« sagt sie. »Und es war auch recht schade, daß ihr uns am vorigen Ort nur das eine Mal besucht habt. Es war so schön dort. Und wir hätten schon dafür gesorgt, daß du nicht mehr allein hättest herunterreisen müssen.«
»Ach was – es ist ja gut ausgefallen.«
»Weißt du, Hermann war recht besorgt um dich, als wir an jenem Abend nach Hause zurückkehrten. Aber ich war ganz zuversichtlich. – – Denk dir übrigens, ganz kurz nachher, ich glaube sogar am nächsten Tag schon, kam Hermanns dänischer Bekannter von der Pfarrkonferenz. Und er blieb nur drei Tage – du hättest also auf ihn warten können.«
»Ach so, er ist also doch noch gekommen?«
»Ja, zu Fuß. Ich glaube fast auf demselben Weg, den du talabwärts gegangen bist, und ihr hättet euch eigentlich unterwegs treffen müssen. Aber er legte wohl den größeren Teil bei Nacht zurück und ruhte erst richtig auf der Alm aus. Da ist er wohl an dem Hofe vorübergegangen, während du schliefst.«
»Ja, während ich schlief – und träumte.«
Denn es war ja ein Traum – der damit begann, daß sie die Schritte auf dem Wege hörte, als sie ihr müdes Haupt auf das Kissen niedergelegt hatte.
Das wußte sie ja auch gleich, als sie am nächsten Morgen erwachte und Randi mit einer Entschuldigung, daß sie nicht anklopfen könne, weil die Tür offen stehe, auf der Schwelle stand. – Die Tür war wie gewöhnlich von selbst aufgesprungen.
Durch die offene Tür hatte Elsa rasch einen Blick in den Saal geworfen und gesehen, daß da drinnen alles auf seinem Platz war, genau so wie bei ihrer Ankunft. Die Stühle und Bänke, die silbernen Becher, alles stand, wie es sollte, die Decken und Felle lagen wieder hier innen auf den Betten.
Alles war nur ein Traum gewesen, der nicht in den Gang des Lebens eingriff – ein Traum, den man ganz außerhalb haben konnte.
»Er war übrigens recht sonderbar,« fuhr Inger Marie fort.
»So?«
»Ja, seine Art war durchaus nicht die eines Geistlichen. Zuerst gefiel er mir gar nicht. Aber nachdem wir ein paar ernste Unterhaltungen miteinander geführt hatten, konnte ich ihn gut leiden. Hermann sagt, er habe eine große Rednergabe. Es ist verkehrt, daß er nur auf die Parias angewiesen ist – ich meine, bei denen genügte auch ein ganz einfacher Seelsorger. Jetzt wirkt er übrigens, wenn ich mich recht erinnere, unter den Hindu-Studenten in Madras. Hermann und er schreiben sich ab und zu einmal. Er ist sehr aufopfernd; seit er damals fortzog, ist er nicht ein einziges Mal in Urlaub hier gewesen. Und verheiratet ist er auch noch nicht. Hermann legt ihm das jetzt recht nahe.«
»Das muß er doch selbst bestimmen! Warum sollen denn alle heiraten?«
Inger Marie wird praktisch und erwidert: »Es ist doch das einzig Natürliche.«
»Ihr Christen scheint mir den Ehestand recht materiell zu nehmen,« sagt Elsa.
»Was sagst du! Bei uns wird der Ehestand doch erst recht geheiligt. Wir nehmen ihn nur, wie er ist. Der Ausspruch, man solle nur heiraten, wenn man den einen einzigen trifft, hält nicht stand, dazu sind die Männer durchaus nicht veranlagt. Es ist ein falscher idealer Standpunkt, den nicht unser Herrgott, sondern die Menschen aufgestellt haben – und den die Männer wenigstens recht leicht über den Haufen werfen. – Und bedenke doch, was allem man da drüben, zwischen Halbnackten und Halbwilden ausgesetzt ist! Nein, mit der Natur, die die Männer nun einmal haben, ist das nicht gut bestellt.«
»Ja, wollte Gott, sie hätten sie nicht!«
»Ich meine,« sagt Inger Marie ein wenig nachdrücklich, »es gäbe nützlichere und bessere Dinge, um die man den lieben Gott bitten sollte.«
»Aber erscheint es dir denn nicht auch empörend, unter einem äußeren Zwang zu stehen, wenn man vielleicht nicht den geringsten inneren Drang fühlt?«
»Na – aber glaubst du nicht auch, daß jedermann den Drang fühlt, sein inneres Leben mit einem andern zu teilen?«
»Das kann man ja nicht. Oder man tut es nicht.«
»Was sagst du?« – Inger Marie faßt Elsa unter dem Kinn. – »Das ist mir eine nette verheiratete Frau, die also redet.«
»Die verheiratete Frau hat heute Kopfweh, daher kommt es,« sagt Elsa, indem sie aufsteht.
Sie hat Negro bei sich, und vom Krankenhaus macht sie einen langen Spaziergang mit dem Hunde.
Es ist merkwürdig – sieben Jahre hindurch ist es ihr sehr gut gegangen. Ja, lauter gute Tage sind es gewesen! Im Sommer war sie auf Reisen oder auf dem Lande, und im Winter hat sie an all den Vergnügungen teilgenommen, die eine Hauptstadt bieten kann. Ejnar hat viele Verwandte und auch viel Verkehr mit Kollegen, die fast alle vermögend sind, wie er selbst. Sie haben einen großen geselligen Kreis, und in Theater und Konzerte konnte sie gehen, so oft sie wollte. Ihr Vater gibt ihr dasselbe sehr reichliche Nadelgeld, das sie als Tochter zu Hause hatte; sie hat sich also ganz ihrem Geschmack und ihrer Erscheinung entsprechend kleiden können, ohne leidige Rücksichten auf den Kostenpunkt nehmen zu müssen.
Sie hat das Dasein auch genossen – selbst wenn sie etwas müde und übersättigt ausgesehen hat. Das ist nur so eine Gewohnheit, die sie an sich hat. Und eigentlich war es ja auch gerade recht schön gewesen, so viele Vergnügungen vor sich zu haben, daß man ihrer bisweilen ein bißchen überdrüssig sein konnte.
Bei Nacht hat sie immer tadellos geschlafen. Selbst als der kleine Hans zur Welt kam, lachte die Pflegerin, weil Elsa ihr unter den Händen einschlafen konnte, während sie noch für den Abend alles zurecht machte. Und wenn nachts Ejnar zu einem Kranken verlangt wurde, ist sie immer gleich wieder eingeschlafen; ja manchmal hat sie Ejnar gar nicht zurückkommen hören, obgleich er sich wahrlich keine besondere Mühe gibt, lautlos zu sein, und ein besonderes Talent hat, seine Schlüssel auf den Boden fallen zu lassen.
Aber jetzt ist es anders. Jetzt fällt ihr das Einschlafen wieder ebenso schwer, wie in ihrer Mädchenzeit zu Hause, wo der Gedanke an den Tod ihrer Mutter sie noch nach Jahren oft Stunden lang wach erhielt.
Und sie ist in ihre alte Gewohnheit zurückverfallen, auf Schritte in der Nacht zu lauschen.
Diese Schritte haben sie in all den Jahren nicht verfolgt. Das heißt, sie waren wohl nicht verstummt gewesen, denn sie sind unablässig unterwegs, aber sie hat sie glücklicherweise nicht gehört.
Jetzt aber sind sie wieder da. Genau von dem Tage im Spätsommer an, wo der Brief von Inger Marie eintraf und der kleine Hans die Schritte aus dem dunklen Wald heraus hörte, ist Elsa sie nicht mehr los geworden.
Es hilft nichts, daß das, was sich damals düster und drohend näherte, jetzt in Freude aufgelöst ist. Inger Marie sagt wohl, es sei Segen damit eingezogen und den frohen Ausgang möchte sie um alles in der Welt nicht missen. Aber darum liegt auf Elsa doch derselbe Druck.
Und die Schritte kommen draußen in der Nacht daher, ganz wie früher.
Wenn sie nur lesen könnte, nachdem sie zu Bett gekommen ist – von schwarzen Diamanten, von gelben Tigeraugen, von rotgoldenem Frauenhaar – wo alles gut und glücklich endet! Aber das geht wegen Ejnar nicht. Sein Schlaf ist ihr auch lästig. Wohl macht sein Schnarchen nicht denselben gewaltigen Spektakel wie das ihres Vaters, das man durch drei Stuben hören kann und vor dem sich Mutter schließlich flüchten mußte; aber ohne Geräusch schläft kein Mann.
Und in diesem befriedigten, unschönen Laut liegt etwas so Gleichgültiges ihr gegenüber. Ach, sie ist so allein, um sich gegen ihr altes Gefühl des Unbehagens zu wehren!
Aber gleichzeitig mit diesem Gefühl, das nun zurückgekehrt ist, steht auch jene Reise in Norwegen ganz lebendig wieder vor ihr. Wie merkwürdig, daß Inger von jener Reise wieder gesprochen hat und von –
Ach nein, es ist ja nicht sicher, daß es derselbe Mensch war, selbst wenn ein gut Teil übereinstimmt. Hermann kann viele dänische Bekannte bei Pfarrkonferenzen getroffen haben, die ihn später besuchen wollten. Inger Marie nennt selbstverständlich nur den, der Elsa begleiten sollte; es kann gut ein anderer, gleichzeitig gekommener sein, ein ganz anderer.
Aber mit der Erinnerung kehrt auch das Versprechen zurück, das sie damals gegeben hat: zu denken, es seien seine Schritte, die draußen zu hören sind, falls sie wieder in die Gewohnheit verfalle, auf solche bei Nacht zu lauschen.
Das will sie tun; ja, sie hat es übrigens schon getan. Bisweilen ist ihr auch, als spreche sie mit jemand in weiter Ferne. Wahrheit liege in dieser Annahme, hat er gesagt. Ja, natürlich können Gedankenverbindungen der Entfernung Trotz bieten. Und doch – – – Ach, wäre doch er es tatsächlich, der da draußen geht! Niemals ist sie mit einem Menschen zusammengetroffen, der so beruhigend wirkte. Und jetzt fühlt sie sich von Angst gepackt.
In jener Nacht da droben hatte er den Schritt, der sie bedroht hatte, gleichsam niedergetreten, er hatte ihn überwunden.
Aber kann er aus so weiter, weiter Ferne verhindern, daß andere böse Schritte auf sie zukommen?
*
Die gefährlichen Tage für Blutpfropf und andere schlimme Folgen einer Operation sind glücklich überstanden; ehe Hermann abreist, ist Inger Marie außer Bett. Die Pflicht ruft ihn zurück. Inger Marie aber muß noch sechs Wochen in ein Erholungsheim am Wald und Strand, ehe Elsas Vater sie nach Hause reisen läßt. Sie selbst sagt freilich, sie könnte gut jetzt gleich mitreisen.
Ein wenig später als einen Monat nach Inger Maries Ankunft im Krankenhaus reist diese nach dem Sanatorium, und da Hermann abgereist ist, begleitet Elsa die Schwägerin dahin.
Das war ein Abschiednehmen ohnegleichen. Alle, die mit der Pfarrfrau zu tun gehabt haben, die Pflegerinnen und die Assistenzärzte, sind von ihr eingenommen gewesen und sagen, sie habe ihnen allen sehr viel Freude gebracht. Inger Maries Herz ist voller Dank gegen alle, den Geringsten wie den Höchsten. Sie teilt Photographien, Blumenkarten mit Bibelsprüchen darauf und andere Kleinigkeiten aus, selbst an die überlegensten der Ärzte, und bringt alle so weit, sich darüber zu freuen.
Elsas Vater schlingt sie die Arme um den Hals und wird nicht weggeschoben. Er streichelt ihr übers Haar und schneuzt sich die Nase. Angenehm muß es ja auch sein, eine Kranke zu haben, bei der vom ersten Tag an genau alles so gegangen ist, wie es sollte. Der Professor sagt, Inger Marie müßte eine Prämie bekommen.
Im Wagen hat Inger Marie Tränen in den Augen.
»Ich hätte für alle ein Segen sein sollen, und das bin ich gewiß nicht gewesen,« sagt sie.
Aber alle sagen, Inger Marie habe eine Leere hinter sich zurückgelassen, und Elsa fehlen die Besuche in dem hellen, blumengeschmückten Krankenzimmer sehr, wo Inger Marie die hellste und trotz ihrer bleichen Wangen die blühendste Blume selbst gewesen war …
Anfang Dezember trifft Hermann ein, um seine Frau abzuholen. Sie bleiben vor der Abreise ein paar Tage in Kopenhagen, und Elsa hat es durchgesetzt, daß sie an einem Tage mit ein paar von den anderen Verwandten bei ihr zu Mittag essen. Elsas Vater sagt zwar, es sei ein wahres Verbrechen; aber im Sanatorium sind sie ja jeden Tag zu sechzehn bei Tisch gewesen, und die Schwägerin ist ganz frisch und kräftig.
Elsa gibt sich Mühe, alles recht schön und festlich zu gestalten. Mit Austern soll begonnen und mit selbstverfertigtem Eis geschlossen werden, und auf Inger Maries Platz soll ein Strauß köstlicher Rosen stehen. Ejnar unterstützt seine Frau in ihren Bestrebungen, und Hansemanns Freude feuert sie an. Hänschen ist ein sehr gesellig angelegtes Kind, er ist nicht nur hocherfreut über seine kleinen Kindergesellschaften, sondern überhaupt über alles, was Fest daheim heißt.
Glänzendes Silber und Kristall, Blumen, Lichter, Menschen in schönen Kleidern, alles entzückt ihn. Und selbst fein angezogen zu sein, ist nicht das wenigst Feierlichste dabei, er findet sich selbst großartig.
Elsa muß oft an ein kleines Ereignis denken, wo er einmal zu einem von Ejnars Vettern gehen durfte; er war vorher ein wenig, wenn auch nicht besonders unartig gewesen, und Elsa erklärte, zur Strafe dürfe er nun nicht seinen besten neuen Anzug anziehen. »Der paßt nur für einen ganz artigen Jungen,« hatte sie gesagt.
»Aber Mutter, begreifst du denn nicht, daß ich in dem neuen Anzug am allerartigsten sein würde? Deshalb sollte ich ihn ja gerade anziehen,« hatte das Kind erwidert. Und dieses Gefühl, daß man in dem neuen Anzug ein neuer Junge werde, hat sich bei ihm fest eingewurzelt.
Elsa wagt den Kreis ihrer Gäste nicht weiter als auf vierzehn bis fünfzehn auszudehnen. Ihr Vater hat zugesagt, wie immer bei ihr. Sonst geht er fast nur zu Herrengesellschaften. Er will sich nicht »irgend eine Klatschbase zum unerläßlichen Tischgespräch beim Essen aufhalsen lassen«. Selbst bei seiner Tochter verlangt er als Tischdame immer seine ältere Halbschwester, die »wirkliche Geheimrätin«, welchen wichtigen Titel ihre ausgeprägte Persönlichkeit gleichsam unterstreicht.
Der Professor will natürlich auch diesmal Tante Nanna, als »das einzige Frauenzimmer, das seit Erschaffung der Welt nie Schwierigkeiten gemacht hat«, zu Tisch führen. Außer dieser kommen Ejnars und Inger Maries Onkel und Tante und mehrere Vettern und Basen. Elsa trägt ein Kleid aus hellgrauem Florstoff und den Granatschmuck ihrer Großmutter; Inger Marie ist in Weiß und sieht etwas zart und durchsichtig zwischen den andern aus. Sie trägt eine blaue, mit einem Brillanten geschmückte Emailbrosche, die Elsa sofort bemerkt.
»Wie kommt eine Pfarrfrau dazu?« fragt sie und zupft dabei Inger Marie am Ohrläppchen.
»Ach, weißt du das nicht? Ich habe sie von deinem Vater bekommen. Es sei ein Orden für ›Nicht-Nervosität und einzig dastehende Aufführung‹. Das ist allerdings eine große Überschätzung – aber welch eine gütige Gesinnung dein Vater doch hat!«
Elsa wendet sich ab mit einer zornigen Träne hinter den Augen. Ach, Mutter …
Ejnar hat seine Schwester zu Tisch, Elsa den Schwager Hermann. Sie bedeutet ihm eindringlich, ihr Vater wolle hier bei ihr keine Tischrede auf sich hören. Er sage immer: »Ich weiß selbst, was ich kann – und wünsche es nicht in gänzlich verkehrter Weise von einem andern zu hören.«
Ejnar spricht ein paar freundliche Worte auf seine Schwester, und kurz nachher steht Hermann auf. Elsa hebt noch einmal mit einem Lächeln mahnend den Finger, aber als er nun beginnt: »In diesem frohen Festsaal« – wird sie sofort ernst und geistesabwesend. Ihre Augen sind wie in weite Ferne gerichtet.
Der Pastor dankt allen, die ihm und seiner Gattin in dieser ernsten, aber wunderbar gesegneten Zeit Freundlichkeit erwiesen, insbesondere dem Schwager und der Schwägerin, die auch heute diesen Kreis versammelt haben. »Da aber, wo unser Dank nach menschlichen Begriffen am tiefsten ist, da bringe ich ihn nicht dar, aber wir haben ihn an anderer Stelle niedergelegt.«
Tante Nanna, in Samt und Seide, mit ihren Familiendiamanten geschmückt, sieht schön und vornehm aus trotz ihrer neunundsiebzig Jahre; sie nickt Hermann zu und sagt, er sei gewiß ein ausgezeichneter Pfarrer. »Sie sind nur ein wenig zu schön dazu,« fügt sie hinzu.
Hermann macht eine abwehrende Bewegung, aber die Geheimrätin fährt fort: »Doch, das sind Sie! Und für einen Pfarrer ist das so eine Sache. Die Frauenzimmer tun ja, als seien sie verrückt.« – Wenn Tante Nanna vor andern Frauen redet, ist es, als habe sie ein Geschlecht für sich. – »Erinnerst du dich noch, Hans Gerhard,« richtet sie das Wort an den Professor, dem sie immer seinen vollen Namen gibt, wie wenn er ihr nicht lang genug sein könnte, – »erinnerst du dich noch an Propst Maur, der hierher zurückkam? Er war ein prachtvoller Mann!«
»Er sah aus wie ein Schafskopf,« sagt der Professor zwischen zwei Pastetenbissen.
»Nein, er war schön. Und ein reizender Mensch. Aber er hatte eine Frau. Häßlich –«
»Wie die Sünde« – ja, daran erinnert sich der Professor.
»Und die schrecklichste Xantippe. Sie ließ ihn in seinem eigenen Hause nicht in Frieden. Wenn er eine ruhige Stunde haben wollte, war er gezwungen, einen Morgenspaziergang zu machen. Aber zu diesen Spaziergängen mußte er immer wieder andere Wege einschlagen, weil die Frauenzimmer ihn sonst gleich aufgespürt hätten. Und eines Tages kam sogar eine Dame zu ihm – eine schöne, verheiratete Frau –«
»Pfui!« wirft Ejnars Tante ein, allerdings vorerst etwas unbegründet.
»Die sagte, sie sei so allein und unverstanden –«
»Das war vielleicht wahr,« sagt Elsa rasch.
»Und sie habe ihn auf seinen einsamen Spaziergängen gesehen. Da habe sie gedacht, wenn sie zusammen gingen, so könnten sie einander vielleicht ein wenig Gesellschaft leisten. Aber da antwortete er:« – Tante Nannas Augen funkeln vor innerem Wohlbehagen – »›Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, gnädige Frau! Aber wenn ich auf meinen Spaziergängen eine Gesellschaft brauche, dann ist meine Frau eine bessere Fußgängerin als alle anderen Damen, die ich kenne.‹«
»Doch, er ist ein Schafskopf gewesen,« meint einer von Ejnars jungen Vettern.
»Wer hat eigentlich diese Geschichte erzählt?« fragt Elsa.
»Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß er ihr diese Antwort gab. Und ich hoffe, auch Sie, lieber Pastor, der Sie ein wenig zu schön sind, werden die Damen abzufertigen wissen.«
»Laß mich dich einmal recht ansehen, ob du das nötig hast!« ruft Elsa lachend, indem sie sich an ihren Schwager wendet, der sich sofort beide Hände vors Gesicht hält. Und kurz nachher sagt Elsa wie beiläufig: »Inger Marie hat mir erzählt, jener Pfarrer, der mich damals von eurem früheren Pfarrhaus hätte hinunterbegleiten sollen, sei doch noch gekommen.«
»O ja, er kam doch noch. Ein prächtiger Mensch!«
»Und er ist jetzt Missionar in Indien?«
»Ja – leider. Er müßte hier in Kopenhagen sein.« Und Hermann erzählt, er habe mit einem der theologischen Professoren, zu dessen Zuhörern der ferne Kollege einst gehört hat, gesprochen, und der arbeite auch daran, ihn wieder in die Heimat zu bekommen, denn er passe am besten in gebildete Kreise. Er habe auch einige Artikel in kirchlichen Blättern veröffentlicht – sehr gewagte zwar, aber wohlbegründet in den Behauptungen – die Aufsehen erregt hätten.
»Wenn du sie hast, möchte ich sie wohl gern lesen,« sagt Elsa. »Wie sieht er denn aus?«
»Nicht schön – nein. Aber vielleicht doch wie einer von denen, die Frauen ›abfertigen‹ müssen.«
»Ist er blond?« will Elsa fragen, aber da schlägt Inger Marie an ihr Glas.
»Was fällt ihr denn ein?« flüstert Elsa Hermann zu, der ihr antwortet: »Ich weiß es nicht.«
Die Pfarrfrau sagt: »Die Rede, die ich gern halten würde, ist mir nicht erlaubt. Aber Sie erinnern sich wohl alle an den, der die Binsen dazu brachte, zu flüstern: ›König Midas hat Eselsohren!‹ – weil er es nicht bei sich behalten konnte. Und wenn Sie nun im Frühjahr in den Wald oder an den Strand gehen – da, wo ich jetzt sechs Wochen lang gewesen bin – dann sollte es mich nicht verwundern, wenn Sie alle grünen Blätter sausen und alle kleinen Wellen plätschern hörten: ›Wie unsern Professor, so gibt es keinen wieder.‹ –«
»Er hat Eselsohren,« wirft Elsas Vater ein.
»›Keinen wie unsern Professor‹« fährt Inger Marie unangefochten fort. »›Er ist ebenso ausgezeichnet als Arzt wie als Mensch‹. Ich weiß gar nicht, wer es der Natur zugeflüstert haben kann – denn nun ist es diese, die es sagt, nicht ich. Aber wenn die andern hier am Tisch mit der Natur einverstanden sind, dann könnten wir gern unser Glas darauf leeren und der Natur recht geben.«
Nun wird auf alle beide, die Pfarrfrau und den Professor, fröhlich angestoßen.
Der Professor sagt zwar: »Nun laßt es genug sein!« aber er ist nicht böse. Tante Nanna läßt ihr Glas noch besonders an Inger Maries klingen – in geflissentlicher Bewunderung für Hans Gerhard und für die »kleine Pfarrfrau«. –
Nach dem Essen, als die Herren und die jungen Damen beim Rauchen im Herrnzimmer sitzen und die Geheimrätin mit Ejnars Tante über die heutige gräßliche Zeit loszieht, vermißt Elsa ihren Piephans. Der Junge hat bei Tisch neben ihr gesessen und ein wenig »goldenen Wein« bekommen, um bei den Tischreden mitanzustoßen. Sie geht nach dem Damenzimmer, und da hört sie seine Stimme. Aha, er hat die Tante mit sich hineingezogen!
»Ja, dann spielte er auf einer goldenen Harfe und dichtete herrliche Psalmen,« sagt Inger Marie. »Aber vorher war er ein Hirtenknabe und hat mit Löwen und Bären gekämpft.«
»Ich möchte auch gern ein mutiger Junge werden,« sagt Hansemanns Stimmchen; »aber hier sind doch keine wilden Tiere, mit denen man kämpfen kann.«
»Nein. Aber bei uns droben haben wir den großen Bären, der tüchtig brummt.«
»Kann man ihn sehen?« Die Stimme klingt nicht ganz mutig.
»Ja, aber der liebe Gott hält ihn zurück, wenn kleine Kinder im Freien spielen.«
»Ich möchte auch gerne Liederverse dichten« – und mit einem Sprung ist Hänschen wieder bei König David. »Und ich hab auch schon an einem angefangen, bin aber noch nicht ganz fertig damit. Er heißt: der liebe Gott, der wohnt im Himmel.«
»Das kann ein recht schöner Vers werden,« sagt die Tante erfahren. »Mein kleiner Knut hat auch einen gemacht, während Mutter krank lag.«
Der Junge will den Vers durchaus hören; aber da tritt Elsa ein und sagt, nun müsse Hansemann zu Bett gehen.
»Ja, aber dann mußt du noch kommen, Mutter, und die Tante auch, und mein Abendgebet hören.« –
Als die beiden Frauen aus des Kindes kleinem Schlafzimmer, das neben dem der Eltern liegt, zurückkommen, sagt Inger Marie:
»Bleib noch etwas bei mir sitzen, Elsa. Ich kann es doch noch nicht ertragen, allzu lange mit vielen zusammen zu sein, und ich möchte noch ein Weilchen mit dir allein reden.«
Sie setzen sich auf das kleine Sofa, und Inger Marie fährt fort:
»Ich meine, du müßtest von dem Leben, das du führst, recht müde werden –«
»O nein, es macht mir Freude, viel auszugehen und selbst auch Gäste bei mir zu sehen!«
»Wirklich?« entgegnet die Pfarrfrau und nimmt Elsas Hand in die ihrige. »Du siehst manchmal so ruhelos aus! Dies alles ist ja auch sehr zerstreuend. Wie kann man sich in einen solchen Umtrieb finden wollen?«
Als Elsa keine Antwort gibt, fährt sie fort: »Ich wünschte, ich hätte euch alle da droben auf meinem stillen Pfarrhof, dich und Ejnar und deinen Vater! Es ist mir gerade, als könnten wir euch alle miteinander dort droben gläubig machen. Es tut so weh, wenn man die, die man innig lieb hat, allen Zufällen des Lebens preisgegeben weiß! – Könntest du dich nicht entschließen, mir den Jungen auf einige Zeit mitzugeben?«
»Den Jungen?« Elsas Gedanken stehen still.
»Ja. Es dauert ja noch Jahr und Tag, bis er in die Schule kommt; unsere kräftige Bergluft würde ihm sicher gut tun und ebenso das Zusammensein mit Gleichalterigen.«
Ja – und der Einfluß seiner Mutter ist natürlich nicht halb so gut, wie der seiner Tante sein könnte, denkt wohl Inger Marie … Elsa ist im Begriff aufzufahren, sie beherrscht sich aber und sagt etwas kurz: »Es sind genug Kinder in der Familie, mit denen er spielen kann, und er ist auch keine Spur schwächlich.«
»Er sieht aber doch mager und zart aus – wie wenn er nicht viel Widerstandskraft hätte, falls einmal etwas an ihn käme.«
»Im Gegenteil, er ist sehr kräftig. Aber ich gebe ihm hauptsächlich Obst und Gemüse, und das macht nicht dick. Ich danke dir für deine Freundlichkeit, Inger Marie, aber für ein Kind ist es immer am besten, es bleibt bei seiner Mutter.«
»Immer – das ist doch recht viel gesagt,« versetzt Inger Marie lächelnd. »Ein wenig wird es doch wohl darauf ankommen, wie diese Mutter ist.«
»Nein – eigentlich nicht.«
Damit steht Elsa auf; sie hat die Herren kommen hören und muß für ihren Vater, Tante Nanna, Ejnar und dessen Onkel den Spieltisch herrichten.
Die jüngeren Gäste musizieren; einer von den Vettern ist ein guter Wagnerspieler. Wenn er am Klavier sitzt, wird der Professor bei den Karten zerstreut; er ist selber ein großer Wagnerverehrer, und dem verdankt auch seine Tochter ihren Namen.
Hermann und seine Frau gehen schon vor dem Tee weg und fast gleichzeitig auch der Professor und Tante Nanna. Die andern bleiben bis Mitternacht.
»Na, das war ja ein wohlgelungener Abend,« sagt der Doktor, indem er sich in einem niederen Lehnstuhl ausstreckt, nachdem er die überflüssigen elektrischen Lampen ausgedreht hat und Elsa noch umhergeht und in den Zimmern einiges aufräumt.
»Hör, sind nicht noch eine oder zwei Austern übrig? Ich könnte gut noch ein paar verschlingen. Es gehört Bildung dazu, Austern gern zu essen, deshalb werden wohl draußen kaum alle verzehrt worden sein.« –
Ganze vier Stück können noch aufgetragen werden – noch ganz frische, trotzdem sie schon seit mehreren Stunden nicht mehr lebend sind. Ejnar bekommt Brot, Butter, Zitrone und den Rest von dem Rheinwein dazu. Er schnalzt mit der Zunge.
»Willst du nicht auch eine davon haben? Komm, setz dich zu mir, du häßliches Mädchen! Du siehst entzückend aus in diesem grauen, mondscheinartigen Spinnwebschleiergewand mit dem roten Schmuck um den Hals.« Er ergreift ihre Hand und will sie zu sich ziehen, sie aber wendet sich weg. »Sieh einer den neidischen Kobold! Komm nur – du sollst von den unbequemen Liebkosungen haben!«
»Nein, ich will zu Bett,« sagt sie.
»So geh, ich komme übrigens auch gleich – – Du, Inger Marie kann deinen Vater wirklich um den Finger wickeln. Er brummt nicht einmal, wenn sie eine Rede auf ihn hält. Das war übrigens ganz fein ausgedacht, nicht wahr? Und Hansemann ist auch ganz bezaubert von ihr.«
»Ja, und sie wollte ihn gerne mit nach Norwegen nehmen.«
»Wen?«
»Unser Hänschen. Sie meint, er brauche eine Kräftigung.«
»Das ist gar kein so übler Einfall! Was hast du geantwortet?«
»Ich schlug es ihr ab.«
»Ja, man würde ja den kleinen Schelm vermissen – und zu einem Kopfhänger will ich ihn auch nicht machen lassen. Aber sonst – Eine prächtige Frau und Mutter ist sie – alles bringt sie zu stand – und die Luft ist auch gut dort oben. Na, Liebchen, gehst du? Ja, ich komme auch gleich.« – –
Elsa liegt noch lange wach, nachdem Ejnar eingeschlafen ist. »Ruhelos« … Ach ja, in den Nächten ist sie es schon diese ganze Zeit her. Und dann dringen unzählige Gedanken auf sie ein.
Wie ärgerlich ist es doch, daß es manchen Leuten Freude machen kann, zu behaupten, die Kinder anderer sähen nicht kräftig aus! Und hier ist es geradezu Unsinn. Ein Junge, der in sein sechstes Jahr geht, ohne eine einzige Kinderkrankheit gehabt zu haben, das ist doch mehr, als man erwarten kann. Elsa ist selbst ängstlich; wie oft ist sie aus ihrem Bett aufgefahren, weil sie den Jungen hinter der halboffenen Tür husten zu hören vermeinte, wie oft hat sie ihm, wenn er beim Spiel allzu eifrig wurde, verstohlen die Hand auf die Stirn gelegt, um sich zu vergewissern, daß er kein Fieber habe. Aber immer war ihre Sorge überflüssig gewesen. Nein, sie will sich über das Gerede, mit dem die Leute daherkommen, keine Gedanken machen und sich nicht darüber ängstigen. Auch nicht über den Bericht von dem kleinen Jungen, den ihr Vater operiert hat. Ejnar hat es Elsa natürlich mitteilen müssen; ihr Vater dagegen ist herzlich wortkarg über seine »Fälle«. Eine Geschwulst im Unterleib und verschiedene Zentimeter Darm sind zugleich herausgenommen worden. Wie empörend ist es doch, daß sie nun auch die Kleinen nicht mit dem Messer verschonen! Sie ließe es nicht geschehen – nein, sicher nicht! Wenn ihr Vater seit langem auf die Frau wartet, die in ihrer Verzweiflung alles wagen würde – dann sollte er diese wahrlich in seiner eigenen Tochter finden, falls er das Messer nach ihrem Hansemann zücken wollte.
Aber das Schlimmste ist doch, wenn andere anzudeuten wagen, das eigene Kind könnte in besseren Händen sein, als bei seiner Mutter! Allerdings hat sie sich nicht immer so furchtbar viel mit ihrem Jungen abgeben können, das ist wahr. Sie hat durch ihre Pflichten als Dame des Hauses, sowohl bei sich als bei ihrem Vater, und durch den großen geselligen Verkehr sehr viel zu besorgen gehabt. Und mit Kindern spielen und ihnen Geschichten erzählen, das liegt ihr eigentlich auch nicht. – Märchen vergißt sie sehr leicht wieder, und noch weniger kann sie selbst welche erfinden, wie Inger Marie, die das stehenden Fußes zustande bringt; und die unaufhörlichen Fragen des Kindes hat sie auch nicht immer so eingehend behandelt, wie die Schwägerin es tut – ja vielleicht, weil es ihr bisweilen schlechterdings unmöglich war, eine Antwort zu finden.
Aber in erster Linie gibt ja auch nicht die Art und Weise, die man einem Kinde gegenüber hat, den Ausschlag, sondern das, was dahinter steht: die unerschöpfliche, immer neue Zärtlichkeit mit ihrem unfehlbaren Instinkt, ihrem wachen Auge, ihrem unvergleichlichen Verständnis, ihrer nie ruhenden Fürsorge. Glaubt Inger Marie wirklich, ein wenig gewöhnliche Freundlichkeit, ein wenig Frömmigkeit, ein erfinderischer Sinn, um die Kleinen zu beschäftigen, könne all das ersetzen?
»Ja, aber ich denke an die Seele des Jungen,« würde Inger Marie sagen. O, sie mag ruhig sein! Elsa will zwar dem Kinde keine Vorstellungen und althergebrachte Formeln, an die sie selbst nicht glaubt, aufzwingen, aber was in geistlicher Beziehung aus ihm selbst hervorquillt, das soll nicht gehemmt und unterdrückt werden, es soll volle Freiheit haben, sich zu entwickeln. Sein Kindermädchen Kamilla, die noch als Zimmermädchen im Hause Dienst tut, ist gerade das, was man fromm nennt, und sie darf den Jungen alles lehren und ihm erzählen, was er in dieser Richtung nur wünschen kann.
Niemand, gar niemand auf der Welt, weiß, was Hänschen für seine Mutter ist. Sie selbst könnte es nicht einmal sagen. Es hängt mit etwas zusammen, was kein Mensch ahnt.
Seine Augen sind von einem klareren Blau als die ihrigen, sein Haar ist viel blonder als das von Mutter und Vater, das süße Gesicht hat seine eigene hübsche Form, und der Ausdruck ist strahlender und lebhafter als bei beiden Eltern. Und doch weiß Elsa, daß Hansemann ihr gleicht – aber nicht so, wie sie in den Augen anderer ist. Er ist aus etwas herausgeboren, das sie in sich trägt, aber so gut versteckt, daß niemand, ja kaum sie selbst, es kennt. Nur in einer einzigen Nacht ist es zutage getreten.
Wenn sie auf ihr Leben zurückschaut, bleibt sie auch immer bei jener Nacht stehen und fragt sich: Die Bestätigung ihres eigenen Daseins holt sie sich bei ihm.
Dies ist wie ein Geheimnis, das die beiden mit einander haben, von dem das Kind zwar nichts weiß, das es aber doch mit ihr teilt. Und seit er geboren wurde, ist es, als ob sich in ihrem Verhältnis zu dem Kinde etwas von jener einen Wundernacht fortsetzte. Aber wie sollte das jemand verstehen und begreifen!
Ejnar schnarcht so nachdrücklich, wie wenn er hinter all ihre Betrachtungen einen Punkt setzen wollte. Ach, wenn sie doch nur schlafen könnte! Aber ihre Gedanken sind vollkommen klar, es wird ihr wohl nicht gelingen – – Und dann verwirren sich die Gedanken doch unmerklich, und ehe sie sich's versieht, ist sie fest eingeschlafen.
Zwei Tage danach reisen Hermann und Inger Marie ab. Mit ihnen ziehen auch die verschiedenen Gemütsbewegungen, die ihr Aufenthalt im Gefolge gehabt hat, fort, und die gewohnte Ruhe legt sich wieder über die Verhältnisse.
Nur der Schritt vom ersten Abend, wo die Ankündigung ihres Besuchs einlief – dieser Schritt bleibt da.
Bin ich das gewesen? – Nein, nein, lautet die Antwort, so bin ich gar nicht. Es ist ja nur ein Traum.
Aber wenn sie ihr Hänschen ansieht, dann sagt sie sich: Und ich bin doch so. Nur die Elsa von jener Nacht kann es sein, die ihn in die Welt geboren hat – und wenn er da ist, dann ist es seine Mutter auch.
*
Nach der Abreise von Schwager und Schwägerin wirft sich Elsa Hals über Kopf in die Weihnachtsvorbereitungen.
Hänschen soll die schönste, froheste Weihnachtszeit haben, die man sich denken kann. Die hat er übrigens bis jetzt immer gehabt. Elsa meint, man könne solche Merktage für ein Kind nicht festlich genug gestalten; deshalb werden auch die Geburtstage, sein eigener und die der Eltern, ja selbst Kamillas bescheidenerer, mit ungewöhnlichem Glanz gefeiert. Aber Weihnachten ist und bleibt doch der strahlende Mittelpunkt aller Feste des Jahres.
Am Weihnachtsabend ist stets ein großer Kreis im Doktorhause versammelt. Außer Elsas Vater und Tante Nanna kommen mehrere von Ejnars Verwandten mit ihren Kindern, und der Christbaum muß riesengroß sein. Immer erst so kurz vor Weihnachten wie nur möglich erscheint auch der Professor bei Elsa mit einer erklecklichen Summe, die er ihr mit der gewohnten Anweisung übergibt: »Kauf nun den Plunder, der von mir dazu gehört – für euch selbst und für die andern.« Das bedeutet vermehrtes Kopfzerbrechen für Elsa, und in diesem Jahr fühlt sie sich überdies von ihres Vaters Art und Weise etwas gekränkt. Sie kann die Brosche für Inger Marie nicht vergessen.
Hänschen nimmt diesmal mit stürmischem Eifer am Ausschneiden des Christbaumschmucks teil. Elsa hat im Laufe des Jahres auch eine Anzahl kleine Handarbeiten, wie sie in den Kindergärten gelehrt werden, für ihn gekauft, und obgleich der kleine Mann für solche sitzende Beschäftigung durchaus keine Vorliebe zeigt, hat er doch gelernt, bunte Papierstreifen zu etwas Hübschem ineinander zu flechten und nach einem Muster durch abgepaßte Löcher seidene Fäden zu ziehen.
Außer Herzen und Netzchen für den Baum zu liefern, denkt Hänschen deshalb auch daran, Geschenke herzustellen, nicht nur für die daheim, sondern auch für das norwegische Pfarrhaus, wohin die übliche Kiste abgeschickt werden soll.
Der Großvater ist ausersehen, mit einem Buchzeichen bereichert zu werden – die geheimnisvolle Verbindung dieses Buchzeichens mit Büchern macht es in Hansemanns Augen zu einem bedeutungsvollen Gegenstand. »Es ist ja doch sehr nützlich, nicht wahr, Mutter?«
Die Mutter denkt, in dieser unsicheren Welt könne man immerhin ziemlich sicher sein, daß ein Buchzeichen nie benützt werde – weil man für die Seite, die man sich merken will, lieber ein Stück von der nächsten besten Zeitung abreißt – und so antwortet sie aufmunternd: »Ja, der Großvater wird sich auch sehr freuen, selbst wenn er sich's nicht anmerken läßt« – was sie mit gutem Grund annehmen kann. Er hat sich natürlich alles, was nach Geschenk aussieht, energisch verbeten.
Eines Tages lauscht Elsa plötzlich auf: in Kamillas Stube, wo für beide Eltern Überraschungen vorbereitet werden – wahrscheinlich etwas Gleichartiges, da keines wissen darf, worin das Geschenk des andern besteht – wird in hohen Tönen gesungen:
»Ein Kind ist geboren zu Bethlehem,
Drob freue dich, Jerusalem!«
Kamilla hat eine hübsche Stimme, aber Hansemanns Beitrag zum Gesang ist vorläufig mehr treuherzig als eigentlich wohlgelungen. Trotzdem ertappt sich Elsa darauf, sein Singen fast rührend zu finden.
Merkwürdig, wie leicht die langen fremden Ortsnamen dem Kinde fallen! Sie erinnert sich übrigens aus ihrer eigenen Kindheit, daß sie sie gleichsam zum voraus verstand, und jetzt klingt es, wie wenn sich auch Hansemann da auf bekannten Stätten bewegte. Ob wohl Äbletoft und Lögstör, die doch sehr viel näher liegen, ebenso wirken könnten?
»Von einer Jungfrau rein und zart
Der Himmelsfürst geboren ward –«
Von einer Jungfrau – nein, das macht ihm noch keine Schwierigkeiten! Erst wenn man dummerweise erwachsen und klug geworden ist, dann stolpert man hier. Sie lächelt; das sollte nur jemand wissen, daß sie, die nichts glaubt, sie, die sonst gar nichts Kindliches hat, in diesem Punkt wirklich nicht recht erwachsen ist.
Denn darauf einzugehen, würde ihr nicht schwer fallen. Es kommt ihr eigentlich wunderlicher vor, daß sich nicht etwas Ähnliches, wenn auch natürlich nicht dasselbe, wiederholen können soll – daß zum Beispiel aus einem geistigen Zusammentreffen zwischen zweien nicht Leben hervorgehen sollte. Darin liegt ja Lebenskraft. Und eine Vorstellung, ein Gedanke kann in etwas Handgreifliches umgesetzt werden. Mehr als eine Mutter kann berichten, wie ihr Kind auf seinem Körper oder in seinem Gesicht deutlich den Stempel von etwas trägt, was sie beschäftigt oder erfreut oder erschreckt hat, während sie das Kind trug. Aber wenn so etwas nur durch einen einfachen Eindruck auf das Kind übertragen werden kann, warum sollte es nicht auch auf diesem Wege zum Leben erweckt werden können?
Tiefer, edler würde sein Ursprung sein, weil das geistige Zusammentreffen nur zwischen zwei zusammengestimmten Naturen stattfinden kann, während die leibliche Vereinigung ganz unpersönlich ist und mit dem nächsten besten eingegangen werden kann.
Aber diesen Gedanken würde sie natürlich keinem einzigen Menschen gegenüber auch nur andeuten. Die Einwände dagegen kann sie selbst vorbringen, sie braucht sie nicht erst bei anderen zu holen. Und sie wird ihren Gedanken festhalten, trotz allen Gegenbeweisen und Vernunftgründen der Welt!
»Er lag auf einer Krippe Stroh,
Und Gottes Engel sangen froh.«
Es ist ja doch, als ob alle Märchen der Welt da wie aus einer klaren Quelle ihren Ursprung gehabt hätten. Ob auch vorher schon Märchen erzählt worden sind, so ist und bleibt dieses doch das Märchen selbst – das, wonach man beständig dürstet.
In diesem Jahr will sie ihrem Hänschen davon erzählen. Das ist ganz leicht; bei Ostern und Pfingsten ist es viel schwerer. Aber ein Stern, der wie eine goldene Sonne strahlt, Könige aus fernen Landen, Engel und Hirten – das alles geht geradeswegs in ein Kinderherz hinein.
Und dann der Mittelpunkt des Ganzen: ein Kindergesicht. Weihnachten ist das Fest eines Kindergesichts – deshalb kann es von der ganzen Welt gefeiert werden. Alle, die etwas von einem lieben Kindergesicht wissen, das ihnen das Licht in ihrem Hause, die Wärme in ihrem Herzen bedeutet – und alle, die ein solches entbehren müssen, können miteinander das Fest für dieses Antlitz feiern, das das Leben in der Welt ist – ohne das dieses ertötend erwachsen und alt wäre.
Am Tag vor dem heiligen Abend trifft der Christbaum ein. Er bringt den frischen, würzigen Duft des Waldes mit, kann aber fast nicht durch die Tür hereingeschafft werden, so groß ist er. Ejnar hilft beim Aufstellen, was ihm Elsa hat überlassen müssen, seit der Weihnachtsbaum im ersten Jahr ihrer Ehe umgestürzt ist, gerade als man ihn anzünden wollte. Aber als er fest dasteht, beginnt ihre Arbeit.
Diesmal darf Hänschen beim Schmücken des Baumes helfen. Dadurch hat er zwei Weihnachtsabende – so sagt er selbst – und Elsa kann ja das, was er gemacht hat, wenn er zu Bett ist, noch richtig ordnen.
Ejnar war gegen diese Erlaubnis. »Das gibt sicher ein Unglück!« sagt er, ehe er weggeht. »Der Junge ist zu aufgeregt dabei; gib ja acht, daß er sich mit diesem Kram da nicht in die Finger schneidet!« Damit deutet Ejnar auf ein Paket »Engelhaar«.
Aber gerade diese glitzernden Fäden sind das Ziel von Hansemanns Ehrgeiz. Der Name schon macht sie ihm verlockend. – Wie golden und fein sie sind! Es ist, als habe man Sonnenstrahlen zwischen den Händen. Es dauert auch nicht lange, bis ihm die Mutter das Päckchen überläßt, natürlich mit Ermahnungen zur Vorsicht.
Hänschen nimmt das glänzende Engelhaar auseinander und zieht es unter jubelnder Bewunderung und frohen Sprüngen über die Tannenzweige.
Plötzlich fällt es Elsa auf, wie still das Kind geworden ist, und sie entdeckt, daß es nur noch mit der linken Hand arbeitet, während es die andere krampfhaft geschlossen auf dem Rücken hält.
»Nun, wie geht's, Hansemann?« fragt sie.
»Ausgezeichnet! Ist es nicht hübsch?« Die Lebhaftigkeit ist ein wenig gezwungen.
»Warum greifst du denn nicht mit der rechten Hand zu?«
»Weil ich es gut mit der linken fertig bringe, Mutter. Sieh nur!«
»Ich will lieber dein rechtes Händchen sehen.« Elsa faßt danach und öffnet es, und da macht Hansemanns Selbstbeherrschung lautem Weinen Platz. Das Händchen ist voller Blut, das aus einem tiefen Schnitt in zwei von den dünnen Fingerchen heraussickert.
»Ich konnte nichts dafür – ich habe nur ein Engelhaar durch die Hand gezogen – ich will es nie wieder tun – ach, ich möchte so gern den Baum weiter schmücken!« schluchzt er so herzbeweglich bei dem Gedanken, dieses liebe Amt könnte ihm entzogen werden, daß Elsa am liebsten mitgeweint hätte.
Hurtig und behend verbindet sie die zwei verwundeten Fingerchen. Hänschen ist selbst ein kleiner Hasenfuß beim Anblick von Blut, es war also recht mutig von ihm gewesen, daß er die Wunden hatte verbergen wollen. Das sagt die Mutter auch zu ihm, während sie ihn tröstet und ihn natürlich mit den verbundenen Fingern weiter arbeiten läßt. Und ehe Hänschen zu Bett gehen muß, sind sie schon recht weit gekommen, den grünen Baum so bunt und golden wie möglich erblühen zu lassen.
*
Am nächsten Abend sitzt Elsa drinnen bei ihrem Hansemann, während er, von Geschenken, Leckereien und Freuden müde und gesättigt, zu Bett gebracht wird. Er hatte aufbleiben dürfen, solange die kleinen Vettern und Bäschen aushalten konnten – bis nach neun Uhr. Jetzt sind die Gäste fortgegangen, und Elsa ist eben im Begriff, ihrem Jungen Gutenacht zu sagen.
Die Stille in der kleinen, kühlen Schlafstube wirkt wohltätig nach all dem Stimmengewirr, den vielen Lichtern, den heißen Zimmern … Wie laut ist dieser Abend gewesen! Ejnars einer Vetter und dessen Kinder können nicht ohne ohrenbetäubenden Lärm vergnügt sein! Diese Kinder fallen Elsa auf die Nerven – ihre Freude ist plump. Und was sie an Leckereien verschlungen haben! Das müßten die Eltern verhindern. Hansemanns rote Wangen und strahlende Augen wiegen indes alle kleinen Widerwärtigkeiten auf. Na, fröhlich und dankbar waren die andern allerdings auch – und die ganze Anordnung des Abends war außerordentlich wohlgelungen. Und Ejnar hatte sich sogar daran erinnert, daß sie sich den antiken Kamm mit den Granaten so sehr wünschte! Es ist immerhin gut, wenn man Gelegenheit bekommt, so recht gerührt übereinander zu sein! Ejnar war eigentlich furchtbar lieb gewesen, als er ihr den Kamm ins Haar steckte. Aber tüchtig müde ist sie jetzt.
Morgen sind sie bei ihrem Vater – und im übrigen jeden Tag bei einem von den Verwandten der Reihe nach. Es ist nur gut, daß Weihnachten nur einmal im Jahr ist!
»Mutter, wann ist es heute Mitternacht?«
»Um zwölf Uhr, wie immer, mein Junge.«
»Ja, aber ich glaubte, es werde nur an Weihnachten Mitternacht.«
»Nein, Mitternacht ist das Entgegengesetzte von Mittag, und sie kommt an jedem Tag.«
Ach, ist es wirklich so? All das Feierliche und Geheimnisvolle, das in dem Wort liegt – trifft es wirklich alle vierundzwanzig Stunden ein? Mitternacht – ist es nicht die geheimnisvolle, dunkelste Tiefe des Daseins selbst, in der sich die verborgenen Kräfte regen, die guten und die bösen? Wenn diese Tiefe sich auftut, kann man sich zu allem hintasten, was »im Verborgenen« ist. Hat sie eigentlich mehr als ein einziges Mal eine Mitternachtsstunde erlebt – in der Tod und Leben beschlossen waren?
»Von einer Jungfrau rein und zart – Um Mitternacht geboren ward« – Ja, um die Mitternacht, da wird nicht nur der kommende Tag, sondern auch Leben oder Tod geboren.
»Nein, die Mitternachtsstunde des heiligen Abends ist doch etwas ganz anderes,« sagt Elsa kurz nachher zu ihrem Hänschen; aber da sind seine Gedanken schon weit weg.
»Mutter, war es nicht lieb von Aage, daß er das wegen der Trommel zu seinem Vater gesagt hatte? Ich weiß gar nicht, was mich am allermeisten freut. Ach, Mutter, wenn es doch schon morgen wäre, damit ich wieder mit allem spielen könnte! Es ist doch recht langweilig, daß man zu Bett gehen und schlafen muß. Mutter, meinst du, ich hätte Platz in einer Krippe? Sag, hab ich schon einmal eine Krippe gesehen?«
»Ja, du bist doch bei Onkel Oluf im Pferdestall gewesen! Weißt du, das, woraus die Pferde den Hafer fressen, das ist die Krippe.«
»Mutter, kann man es hören, wenn das Christkind aufs Haus zukommt?«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, Mutter, Tante Inger Marie sagt, das Christkind steige an jedem heiligen Abend wieder auf die Erde nieder. Und ich möchte es so gerne hören, – viel lieber, als hier in meinem Bett schlafen.«
Kurz nachher verstummen die Fragen, und von dem Bettchen her lassen sich nur noch tiefe, pustende Atemzüge vernehmen.
Draußen gehen Schritte hin und her. Die Leute kehren von der Weihnachtsfeier bei anderen nach Hause zurück. Sie haben es eilig – und kommen doch nie weiter, als in eine und dieselbe Dunkelheit hinein.
Dazwischen werden auch Kinderschritte vernehmlich, mehr als sonst zu dieser späten Stunde.
Elsa öffnet das Fenster. Über ihr dehnt sich endlose, schwarze Nacht. Ja, unergründliche Nacht.
Unten gehen wieder Leute vorüber – eilig, als müßten sie die Straßenbahn an der Ecke erreichen. Sie wissen nicht, wer, wissen nicht, was vielleicht ihrer wartet!
Zuletzt kommen Kinderschritte … leicht und hastig laufen sie ein Stückchen hinter den andern her.
Ist das ein Kind, das aus weiter Ferne kommt? Ein Kind, das in die unergründliche Dunkelheit hinein läuft, wo sich Schuld und Schicksal und Tod in ihren unzähligen schlimmen Verzweigungen ausbreiten? Gerade hinein in des Löwen Rachen – damit Menschen, die gleichgültigen, die nicht guten Menschen, frei ausgehen können?
Ist denn niemand da, der dieses Kind in seinem Lauf aufhalten will? … Ihm sagen, daß keiner, keiner von allen den Menschen – auch sie selbst nicht – dieses Opfers wert sei!
Ejnar steckt den Kopf zur Tür herein und sagt: »Wo bleibst du denn, Elsa?«
Sie wendet sich nach ihm um und antwortet: »Jetzt komm ich!«
»Wir wollen noch ein wenig bei mir sitzen und es gemütlich haben. Dort stehen kandierte Aprikosen, die auf dich warten, und durch die Tür schimmert der Christbaum gar so schön herein. – Schläft der kleine Mann? Es ist für ihn tüchtig spät geworden – aber es ist ja nur einmal im Jahr Weihnachten.«
»Es war sehr lieb von dir, daß du an den Kamm gedacht hast,« sagt Elsa und steckt ihren Arm in den ihres Mannes, während sie mit ihm das Zimmer verläßt.
*
Bis hierher und nicht weiter … Hier stocken immer Elsas Gedanken, wenn sie später zurückblickt. Bis hierher und nicht weiter. Hier hätte der Kreislauf der ganzen Welt stille stehen müssen. Nie hätten nach diesem Christtag neue Tage kommen dürfen. Dieses hätte das Bleibende sein müssen.
Denn die Tage, die danach kamen, die erkennt sie nicht an, gegen diese kämpft sie auf Tod und Leben – auch noch in der Erinnerung.
Gegen diese Tage erhebt sich ihre ganze Willenskraft – sie will sie nicht haben. Aber sie fragen nicht um Erlaubnis, sie drängen sich gewaltsam auf.
Als sie da waren, hat sie es gewußt; sie hatten auf der Lauer nach ihr gelegen, sie hatte sie kommen hören. Und doch brachten sie das Unmögliche, das, was sie nie, nie für möglich gehalten hätte!
Denn all das Böse, das sich in der uns rings umgebenden großen Dunkelheit regt, – wie kann es auf ein kleines Kind losgehen wollen? Wie kann es auf ein Kind zielen, das ganz unschuldig ist? Es hat ja der Wiedervergeltung nie Waffen gegen sich in die Hand gegeben! Ist es dann der Schuld anderer verfallen? Oder ist es schuldig, bloß weil es in die Welt geboren worden ist?
Hänschen …
Ist es möglich, daß dieser Name mit dem frohen, weichen Klang nicht mehr genannt werden wird, daß er nicht mehr unzählige Male am Tage wie ein fröhlicher Ruf durch die Zimmer tönen und überall Leben wecken wird? Ach, es ist doch einleuchtend: das kann nicht sein! Diese Gewißheit kann Elsa festhalten – jedenfalls in der bitteren Verwirrung der ersten Tage.
Eines Morgens hat es begonnen; als Kamilla Hansemann wäscht, sagt er: »Es tut mir weh,« und faßt nach seinem Unterleib.
Kamilla macht nicht viel daraus und zieht ihn an; aber die Schmerzen vergehen nicht, und das Kind wird allmählich erschreckend blaß. Kamilla bringt ihn wieder zu Bett und macht seiner Mutter Mitteilung. Der Vater ist schon ins Krankenhaus gegangen.
Elsa liegt noch zu Bett, ist aber sofort bei dem Kinde drin, das jammert und mit den Fäusten auf die Bettkante schlägt. Sie sagt, nun werde Mutter bald die bösen Schmerzen vertreiben, und macht ihm einen warmen Umschlag. Aber etwas später muß sie doch nach Ejnar telephonieren.
Wie lange es dauert, bis er kommt! Als er das Kind untersucht hat, sagt er: »Ich möchte deinen Vater auch nach dem Jungen sehen lassen. So ein kleiner Kerl kann sich nur schwer Rechenschaft von seinen Empfindungen geben.«
»Meinen Vater!« sagt sie. »Aber wozu denn? Es ist ja nicht der Blinddarm.«
Das wollte sie sich wirklich verbeten haben, daß man die Sache für eine Blinddarmentzündung ausgeben sollte. Wenn die Ärzte nichts anderes finden können, stempeln sie es immer dazu. Und dann weiß sie wohl, was sie im Sinne haben. Nein, es ist eine ganz gewöhnliche Kolik infolge von Erkältung – vielleicht eine etwas schlimmere als im vorigen Jahr.
Kurz darauf ist Elsas Vater aber doch da. Elsa hat Piephans versprochen, daß sie seinen Leib nicht mehr untersuchen würden – aber was helfen ihre Versprechungen! Sie drücken und klopfen so schonend wie möglich, aber das Kind windet sich doch darunter.
Der Professor fragt, ob die Temperatur gemessen worden sei. Jawohl, das hat Elsa gleich besorgt. »Neununddreißig,« sagt sie, »vielleicht ein wenig darüber.«
»Wieviel?« fragt der Professor ungeduldig.
»Ganz wenig!« Soll sie Rechenschaft über die drei bis vier ärmlichen Striche geben, die nach so viel aussehen und doch so wenig bedeuten! Wie leicht steigt die Temperatur eines Kindes!
»Sieh das nächstemal ordentlich nach,« ermahnt ihr Vater ganz zahm. Warum wird er denn nicht böse?
Sie stellt sich zwischen ihn und das Bettchen des Kindes.
»Es ist nicht der Blinddarm,« sagt sie fast herausfordernd, als wollte sie ihre Kräfte mit denen ihres Vaters messen.
»Nein,« erwidert er etwas zögernd. »Nein, das glaub ich auch nicht. Eigentlich sollte er es sein. Dann könnte man richtig eingreifen.«
Sie hat sich so auf Gegenwehr vorbereitet, daß sie auf dieses Zugeständnis gar nicht gefaßt ist. Es ist ihr fast eine Enttäuschung. Was ist es denn dann? Versuchen sie am Ende etwas noch Schlimmeres herauszufinden? Es ist so widerlich, wenn sie so beieinander stehen und murmelnd beraten! – –
Als am Abend die Temperatur gemessen wird, steht Elsa neben der Krankenpflegerin; denn eine solche ist eingetroffen. Das ist zwar ein ganz unvernünftiger Einfall von Ejnar gewesen, aber Elsa findet sich darein. Nur ihren Platz am Bettchen des Kindes tritt sie niemand ab, solange sie sich aufrecht erhalten kann.
»Vierzig eins,« sagt die Krankenschwester ganz leise.
Elsa sieht mit ihr auf das Thermometer.
»Vierzig,« sagt sie. »Knapp – oder nur gut vierzig. Jetzt messen wir nicht mehr.«
Die Krankenschwester sieht Elsa mit verwundertem Blick an.
»Wir messen jetzt nicht mehr,« wiederholt Elsa. »Die abscheulichen Zahlen machen einem nur Angst. Ich kann mit meinen eigenen Augen sehen, wie es meinem Kinde geht.«
Die Pflegerin macht keine Einwendungen, sondern sieht Elsa nur teilnehmend an, und Elsa versteht, daß sie nun messen will, wenn sie mit dem Jungen allein ist. Dann muß sie sich selbst mit der Frage herumquälen, wie viel Grade es sind – und schließlich doch danach fragen. Ach, sie ist doch gezwungen, selbst zu messen.
Bauchfellentzündung – ob dies wahr sein kann? Das ist ein langes Wort für einen kleinen Jungen in einem ganz kurzen Bettchen. Und wie häßlich es klingt! Auch wenn ihr Vater und Ejnar » peritonitis« sagen.
Tag und Nacht immer dasselbe … Ach, es gibt weder Tag noch Nacht mehr, nur eine ganz unbestimmbare Zeit! Meistens mit Dunkelheit draußen – und wenn man diese auch dazwischen nicht sieht, ist sie doch da.
Die gewohnte Einteilung des Tages ist auch unterbrochen. Elsa ruht zu den allerverschiedensten Zeiten, erst wenn sie todmüde ist, – verbringt aber dagegen viele von den Stunden, die sie sonst zu verschlafen pflegt, am Bett ihres Kindes. Hauptsächlich will sie bei Nacht da sein, denn das sind die schlimmsten Stunden.
Ist der Neujahrsabend der erste oder zweite Tag, seitdem sich das Kind gelegt hat? Hansemanns Gesicht ist vor Schmerzen ganz altklug geworden, und die armen vertrockneten Lippen haben einen fast strengen Ausdruck bekommen. Sind denn die Leute verrückt? Sie rasen, lärmen und knallen drauf los! Daß darauf keine Gefängnisstrafe steht! Der Junge fährt zusammen, so oft ein etwas lauterer Knall ertönt, und dann beginnt er wieder zu stöhnen.
Wie merkwürdig, früher hat sie selbst am Neujahrsabend bei Oluf und Harriet lustig sein und Champagner trinken können – während andere Mütter bei ihren kleinen kranken Kindern saßen und wachten!
Sie weiß übrigens gut, warum sie draußen so lärmen und sich so aufspielen. Weil etwas da ist, das sie übertäuben wollen. Sie wollen nicht hören, wer in der Dunkelheit der Mitternacht daherkommt: die sogenannte neue Zeit – die nur aus ihren eigenen alten Schulden gewebt ist und Schicksal und Tod über sie bringt.
Endlich, in später Nacht, verstummt der häßliche Lärm und das Getriebe. Es wird still ringsum. Der Junge döst vor sich hin.
Dann jammert er wieder und möchte etwas Milch haben. Es ist ihm sehr heiß, und er weiß wohl, daß er Fieber hat.
»Ist es Nacht?« fragt er und sieht sich um.
»Ja, hörst du nicht, wie still es ist?«
Er horcht ein wenig, dann fragt er:
»Mutter, warum geht draußen jemand? Wer ist es nur, der in der Nacht unterwegs ist?«
Draußen gehen Schritte vorüber.
»Es ist der Schutzmann, mein Hänschen,« sagt Elsa rasch. »Er macht seine Runde und gibt wohl acht, damit keine bösen Menschen hereinkommen können.«
»Warum kann er dann nicht auch acht geben, daß das Fieber nicht hereinkommt?«
»Ja, das ist auch eine Schande! Und ich werde es ihm gewiß morgen sagen.«
Das Kind döst wieder ein. Und Elsa überkommt eine große, lähmende Hoffnungslosigkeit. Fängt Hansemann nun auch an, Schritte zu hören? Was kann man dagegen tun? Ach, mein Hansemann, der Schritt ist's, der in dem dunkeln Walde hinter dir herkam, er schreitet nun auf die Tür zu und läßt sich nicht aufhalten.
Unsinn – ein verspäteter Trunkenbold ist's – das ist auch etwas, sich davor zu ängstigen!
*
Es steht noch immer gleich bei dem kleinen Hans. Es ist nicht besser – nein, das kann man wohl nicht sagen. Das Fieber ist sogar noch etwas gestiegen, und die Schmerzen sind eher noch heftiger geworden. Mit den Kräften sieht es auch nicht glänzend aus; aber deshalb braucht man sich doch nicht einzubilden, es stehe schlimmer, wie – das fühlt Elsa wohl – Ejnar und die Krankenpflegerin es tun.
Und doch – auf die Dauer darf es so nicht weiter gehen. Und als sie eines Abends ihren Vater den Jungen mit einem Ausdruck betrachten sieht, mit dem sie ihren Jungen nicht betrachtet sehen will, winkt sie ihn zu sich ins nächste Zimmer herein.
»Es ist doch wohl der Blinddarm, Vater,« sagt sie hastig und leise. »Ich habe es dir am Gesicht angesehen. Du meinst, du müßtest ihn operieren, scheust dich aber, es mir zu sagen – ich werde dir jedoch keine Spur von Schwierigkeiten machen. Laß es nur so bald als möglich geschehen. Du darfst es tun, je eher je lieber.«
Der Professor schüttelt den Kopf und sagt:
»Es ist nicht der Blinddarm, das weißt du ja.«
»Ja, aber wenn es auch etwas anderes ist, so mach doch einen Versuch mit einer Operation. Ihr Ärzte könnt ja das Unglaublichste. Ihr könnt aufschneiden und wegschneiden, wo immer die Entzündung sitzen mag. – Ach, du denkst wohl, es sei jetzt so spät am Abend, aber was tut das? Wir können ja gleich einen Wagen bekommen – ich hülle ihn gut in Decken ein und nehme ihn auf den Schoß. Ich will ihn auch selbst ins Operationszimmer hineintragen und ihn halten. Eine Mutter ist ›steril‹ genug, sie infiziert ihr Kind nicht. Laß uns nur rasch aufbrechen, Vater.«
Er bleibt unbeweglich vor ihr stehen.
Sie packt ihn am Arm und sagt fast schreiend:
»Ich kann nicht. Die Entzündung, die er hat, kann nicht operiert werden, das weißt du auch.«
»Kannst du nicht – kannst du nicht? Wessen rühmt ihr euch denn dann? Was kannst du denn dann?«
»Recht wenig, Elsa!« Er sagt es ruhig und sieht sie so traurig an, daß sie in Tränen ausbricht.
»Ach, Vater, armer, armer Vater!« Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter. »Wird dir nichts anderes zuteil für alle deine Mühe und die Anstrengungen so vieler Jahre, als die Erkenntnis, wie wenig du kannst?«
»Diese hab ich schon lange, mein Kind,« versetzt der Vater und streicht ihr mit einer ungeübten Hand etwas unbeholfen übers Haar. »Was hab ich seinerzeit für meine beiden eigenen Kinder tun können?«
Ach, das ist wahr, das hatte sie ja ganz vergessen! Das Brüderchen, das an Diphtheritis starb, ehe Elsa geboren war, und das andere, das mit fünf Jahren an der Zuckerkrankheit dahinsiechte, während sie noch auf dem Boden umherkrabbelte und nichts davon wußte – warum hat sie doch nicht öfters daran gedacht? Warum hat sie sich nicht überlegt, ob nicht gerade nach deren Tod der Vater so kurz angebunden und eigen geworden sein könnte? Ach, sie hat sich darüber geärgert, wenn sie ihn Hummer essen sah! Hat er denn so viel Freude auf der Welt gehabt, daß sie ihm nicht einmal diesen einen Genuß gönnen mochte?
Sie weint ein Weilchen, den Kopf an seiner Schulter. Über ihn kann sie weinen, nicht aber über ihr Hänschen; alles schnürt sich in ihr zusammen, wenn sie das Kind ansieht.
Ihr Vater bleibt ganz geduldig stehen, bis sie sich selbst wieder aufrichtet. Ihr gegenüber ist er erstaunlich nachsichtig, gegen die Pflegerin aber hochfahrend und gegen Ejnar ungerecht. »So nimm dich doch zusammen, zum Kuckuck!« hört Elsa ihn beim Weggehen sagen. »Du hast wahrhaftig nicht mehr Rückgrat als ein altes Weib!«
Und Ejnar ist doch umsichtig und einigermaßen gefaßt.
Wieder sitzt Elsa an dem Krankenbett, während die Stunden traurig dahinschleichen.
Ja, Hänschen sieht kränker aus; und niemand ist da, der helfen kann.
Sie begreift wohl, woher es kommt, aber es ist ja nicht zu erklären. Der kleine Hans ist ja in jener längst vergangenen Nacht empfangen worden – in jener seltsam hellen und geheimnisvollen Nacht zwischen den düstern Bergen – wo ihr Herz sich so aufgetan hatte, daß sie das Leben aufnehmen konnte.
Er stammt von damals her – ob er auch das Licht der Welt erst nach Jahr und Tag erblickte.
Aber seine Mutter von jener Nacht hat er nie so recht gekannt. Das in ihr, was ihn zur Welt geboren hat, ist seither nie wieder zutage getreten – ist vielleicht auf dem Punkt hinzusiechen und zu verdorren.
Und angenommen, er könne nicht gedeihen, weil ihm der Erdboden fehlt, in dem er sich ganz daheim fühlen, in dem er wachsen könnte? Ja, dann hat sie die Verantwortung, daß er nun hier so schwer krank liegt.
Wie unruhig und gequält ist er heute nacht! Ach, das Fieber!
»Mutter, kannst du nicht einen Vers machen – ich kann ihn nicht zusammenbringen.«
»Was für einen Vers, Liebling?«
»Den vom lieben Gott. Wie, wenn er nun böse wäre, weil der Vers noch nicht fertig ist?«
»Das ist der liebe Gott nicht.«
»Ja, aber kannst du ihn nicht richtig machen? Von dem lieben Gott, der im Himmel wohnt – und da ist ein großes Tor, ein größeres als Großvaters –«
»Ja, ein viel größeres.«
»Und eine Glocke, an der man läuten kann. Und es ist auch eine Nachtglocke da, damit man anläutet, wenn man nicht schlafen kann und viele Schmerzen hat – denn es tut mir so weh in meinem Leib, Mutter! Ach, kannst du denn nicht an der Nachtglocke ziehen?«
»Doch, Hansemann, ich werde es tun.«
Er jammert unaufhörlich.
»Ist denn Feuer in meinem Bett, Mutter?« klagt er.
»Nein, mein Herzchen, es ist dir nur so heiß. Jetzt dreht Mutter das Kissen um, dann ist es herrlich kühl.«
Kurz nachher schlummert er. Dann steht Ejnar am Bett, fühlt dem Kinde den Puls und betrachtet es aufmerksam.
»Elsa,« sagt er und lehnt seine Stirne gegen ihr Haar. »Elsa, wenn wir nun den kleinen Mann verlieren würden? Wenn wir ihn hergeben müßten? Ich kann es nicht.«
Sie schiebt ihn weg. »Warum sagst du es dann? Ich will es nicht hören. Ich will nicht darüber reden.«
»Wird es dadurch besser, wenn wir schweigen?« fragt er traurig.
»Ich weiß es nicht – aber schlimmer wird es jedenfalls, wenn wir darüber reden. Geh zu Bett, Ejnar! Du mußt so früh heraus – und er ist ja jetzt ruhig.«
»Ich will zuerst Fräulein Jakobsen rufen.«
»Nein, nein, sie muß sechs Stunden Schlaf haben.«
– Elsa schläft nie ein, während sie bei ihrem Kinde wacht; aber während sie da neben dem Bettchen sitzt und vor sich hinstarrt, sieht sie beständig ein und dasselbe.
Die Schlucht mit den dunkeln Tannen und dem endlosen einsamen Pfad, der sich lang an der Bergwand hinschlängelt – ja lang und immer länger.
Auf dem Pfad sich und den Führer – jedes ebenso einsam wie der Pfad.
Sie ist von jener Reise nie zurückgekehrt, ist alle diese Jahre her immer noch unterwegs gewesen. – –
Den Strom rechts … die Felswand links …
Und sie und Ejnar auf dem Pfad. Jedes allein für sich.
Sie gehen auf den Hof zu – den können sie nicht umgehen. Was nützt es, wenn sie eine Villa am Sund haben und eine große Wohnung in der Stadt, wenn sie von diesem Hof mit seiner Nacht und seinen Schritten doch nicht loskommen können!
Auch die »Schaukel«, das heißt die kleine Wiege »ohne Pfühl und ohne Kufen« hängt da. Als ob sie auf Hansemann wartete.
Elsa steht auf und wechselt den Platz, um das Bild los zu werden.
Draußen gehen Schritte vorüber. Heute nacht ist kein Getrippel von Kinderfüßchen dazwischen.
Sind Hansemanns leichte, hüpfende Schritte – immer auf dem Punkt, in flinkes Laufen überzugehen – sind sie schon von großen, harten Füßen da draußen zertreten worden?
Nein, sie ruhen nur – werden sich bald wieder hören lassen – –
Dann ertönt sein Stöhnen plötzlich wieder ganz bewußt. Elsa beugt sich über das Bettchen. Die armen vom Fieber aufgesprungenen Lippen! Elsa sucht zu lindern, so gut sie kann, aber sie bleiben doch trocken und spröd.
»Soll dir Mutter ein wenig zu trinken geben, Piephans?«
Ein undeutliches Murmeln: »Ja, wenn du Zeit hast, Mutter!«
Wenn du Zeit hast … Wie kommt das Kind darauf? Hat er sie denn sagen hören, sie habe keine Zeit? Ja, das hat er wohl.
Hat sie denn keine Zeit für ihr Hänschen gehabt?
Keine Zeit, wenn er mit seinem Bilderalbum ankam und wollte, sie solle ihm helfen, neue Bilder einzukleben; wenn er gern eine Geschichte erzählt haben oder ein Kunststück vorweisen wollte, das er Negro eingelernt hatte und das – wenn es gezeigt werden sollte – erst nach vielen Versuchen oder auch gar nicht gelang.
Nein – nicht immer vielleicht.
Keine Zeit gehabt für ihren süßen Hans! Wie viel Zeit hat er jetzt noch übrig?
Alle, alle ihre Zeit will sie ihm geben! Für nichts will sie mehr Zeit haben als für ihn! Kann denn das nicht sein Leben verlängern?
Ach nicht, weil das Leben an und für sich so etwas besonders Gutes wäre – nicht, weil sie ihm eigentlich die Last und Mühsal wünscht, ein Mann zu werden; ihr ist eher, als täte er ihr leid, wenn er einer werden müßte.
Aber er selbst freut sich seines Lebens von Herzen, er ist diesem Leben gegenüber voll guten Vertrauens! Ihm kann man doch nicht Schlaf anbieten – traumlosen Schlaf!
Er, dem es immer ein wenig ein Kummer war, wenn er zu Bett gehen mußte, er, für den der Schlaf ein unumgängliches Übel bedeutete, das ihn von den Freuden des Tages trennte – er würde es sich wohl verbitten, wenn man ihm den Schlaf ins Unendliche verlängern wollte! Nein, es wäre das blutigste Unrecht gegen ihren Hansemann, wenn er in das große Nichts hinein sollte!
Und sie kann ihn auch nicht entbehren. Sie will nicht. Dazu soll niemand sie bringen! Nicht nur, weil er ihre ganze Freude ist, sondern – ach, all die kümmerliche Güte, die ihr eigen ist, das bißchen, was ihr Herz geben kann, ist nur in ihrem Verhältnis zu ihm lebendig; wenn dieses Verhältnis abgebrochen wird, ist nichts mehr von ihr übrig. Von dem ersten Mal an, wo sich seine zarten, geballten Händchen auf ihre Brust stemmten, damals, als sie ihn nährte, hat sie gewußt, daß diese Händchen es sind, die am tiefsten in ihr Inneres greifen und da drinnen etwas lebendig erhalten, was sonst schon längst tot wäre. Aber wenn er es ist, der sie am Leben erhält, dann kann er nicht sterben; er darf nicht sterben. Sie neigt ihre Lippen auf eines der heißen, unruhigen Kinderhändchen – nicht ganz darauf, um ihn nicht zu erschrecken – und da fällt ihr plötzlich ein, wie einmal Lars Peter, des Fischers Junge, auf diese kleine, wehrlose Hand heimlich Schnecken mit ihren Häusern legte, nachdem er Hansemann weisgemacht hatte, sie seien giftig. Als Elsa es entdeckte, bekam Lars Peter eine so tüchtige Ohrfeige, wie sie nur austeilen kann, – aber wie sehr würde sie ihm jetzt noch eine viel tüchtigere gönnen!
Und dann war Lars Peter trotzdem für den kleinen Hans während des Sommeraufenthaltes immer der große Anziehungspunkt gewesen!
Die Krankenpflegerin kommt, Elsa abzulösen.
»Er schläft,« sagt Elsa. »Dies ist wirklicher Schlaf, nicht nur ein Hindämmern. Und Schlaf ist das Wichtigste, nicht wahr?«
»Ja. Das heißt – –« Ach, natürlich Einwendungen! Die Pflegerin denkt an die Entzündung und die Fiebergrade usw. Aber Schlaf ist der Anfang zur Besserung, so viel müßte sie doch verstehen. »Das kann sie jedoch nicht,« denkt Elsa.
Und was ist das? Obgleich, weiß Gott, ihr Vater und die Pflegerin gar nicht übereinstimmen, hat diese wahrhaftig jetzt angefangen, das Kind mit seinen Augen zu betrachten.
Dem soll er nicht ausgesetzt sein! Sie, Elsa, wird bei ihm aufbleiben. Aber dann kommt Ejnar wieder und will nicht zu Bett gehen, bis sie mitgeht.
Da geht sie denn mit ihm. Aber sich ruhig im Bett halten, ist noch schlimmer, wenn sie doch nicht schlafen kann. – –
Trotzdem liegt etwas Beruhigendes darin, sich ungestört in den Gedanken vertiefen zu können, bis zu welchem Grad Hansemann für sie des Armen einziges Lamm ist; denn das darf ihm nicht genommen werden, das weiß sie.
Ja – aber da steht auch etwas von einem eifrigen Gott, der seinen Teil so unbeschnitten will, daß er ihn eher mit Zins und Zinseszinsen eintreibt, als sich willig auch nur ein Scherflein davon vorenthalten zu lassen.
Dreht sich der Kampf um den kleinen Hans zwischen ihr und diesem Einen?
Es ist merkwürdig, sie, die nicht an eine persönliche Liebe glauben kann, die hinter oder über dem irdischen Dasein stehen soll, sie entdeckt jetzt, daß es ihr nicht schwer fällt, sich Vorstellungen von einer feindlichen Macht, von einem persönlichen Widersacher da droben hinzugeben.
»Dein Widersacher« … Sie ist nicht bibelfest, hat ihr Neues Testament von der Konfirmation seit langer Zeit nicht mehr aufgeschlagen; aber steht darin nicht auch etwas von dem Widersacher, der mit einem auf dem Wege sei und mit dem man sich versöhnen soll?
Das können ja nicht die Menschen sein, denen man Unrecht getan hat – so wie man es gelernt hat, als man noch sein rundes, kindliches Konfirmandengesicht hatte. Welcher Mensch hat eine Abrechnung mit einem, die eigentlich der Rede wert wäre? Und wer von den andern kennt einen so genau, daß er im Ernst gegen einen auftreten könnte?
Nein, der Widersacher – das muß der sein, der genau Bescheid weiß, der einen bis auf den tiefsten Grund kennt, der deshalb auch gerade in dem Punkt gegen einen auftritt, wo man sein selbst ist und wo man sein Eigenes für sich behalten will.
Das ist nicht der liebe Gott im Himmel – jene gutartige und beruhigende Möglichkeit, die man sich irgendwo in den Wolken thronend vorstellen kann … Der Widersacher ist der, der mit einem auf dem Wege ist, der menschlich fest auf diese Erde tritt – und doch auf ungebahnten Wegen da hindringen kann, wo man in seinem einsamsten Versteck sitzt.
– Ejnar ist eingeschlafen, er schnarcht wie gewöhnlich. Sonst ist es still ringsum.
Dann geht ein Schritt am Hause vorüber.
Und plötzlich wird es Elsa klar, wie richtig das ist, was ihr vor langer Zeit einmal gesagt wurde: es gibt nur einen Einzigen, der in der Nacht umgeht. Jetzt erst versteht sie es: der Widersacher, der ist unterwegs.
Ach ja, gewiß sind alle Menschen da draußen obdachlos wie sie selbst! Aus Dunkelheit heraus – in Dunkelheit hinein – Aber ihre Schritte dringen nicht durch, sie erwecken keinen dauernden Widerhall.
Ja, gewiß schreiten Schuld und Schicksal, schreitet der Tod dahin – schwer und drohend; aber dennoch können sie übertäubt werden.
Ein Schritt ist da, der hat die ihren übertäubt, einer ist da, der die Fußtapfen aller andern wie aufgeschluckt hat, der eine Einzige, dessen Füße sich nicht aufhalten lassen.
Er ist es, der alle Wege zu Ende gegangen ist, dort in dem schmalen Lande, das in der Geschichte der Menschheit so groß geworden ist und im Begriff ist, sich über die ganze Welt auszubreiten. Er ist es, den keine Feinde, ja selbst der Tod nicht in seinem Laufe hemmen können – der aus dem Grabe herausging und durch geschlossene Türen hinein, er, der sagte: »Ich werde wiederkommen,« als er von der Erde fortging … der noch immer alle Wege zu Ende geht, der durch Jahrhunderte, durch Jahrtausende hindurch kommt … kommt in verborgener Nacht, bis sein Kommen im Licht des Tages enthüllt werden wird.
Schuld und Schicksal und Tod hat er unter seine Füße getreten – er kommt gerüstet mit ihren Waffen. Alle Forderungen hat er in seine Hand gesammelt, indem er sie erfüllt hat, alle Schuldposten der Welt hat er aufgekauft, mit seinem Blut erkauft, bis jede einzelne Menschenseele sein Schuldner geworden ist. Er kommt als Zeuge und Richter zugleich – um die große Abrechnung zu halten, der jedermann verfallen ist.
Die, so ihm vorher schon zu Füßen fallen, nennen ihn den großen Retter. Aber für die, so auf ihren eigenen Füßen stehen, die nicht nachgeben wollen, ist er der große Widersacher.
Bisweilen bildet man sich ein, man könne ihn umgehen, man versucht wenigstens, es sich einzubilden. Das eigentliche Komödienspiel auf der Welt läuft ja eigentlich darauf hinaus, zu tun, als könne man ein Leben ohne ihn führen, – oder als bekomme man das Leben von ihm.
Es gibt solche, die ihn mit blinder Wut angreifen – solche, die ihm durch ruhiges Wissen den Boden unter den Füßen wegziehen wollen – solche, die ihn totschweigen wollen – solche, die ihn mit überlegener Anerkennung zu einem andern machen wollen, als er ist – solche, die ihn durch Gleichgültigkeit fern und unwirklich halten wollen. Wie vergeblich ist doch das alles! Sie sollen aufhorchen, wenn die Dunkelheit tief und still ist, ob nicht sein Schritt draußen ertönt?
»Die Schritte in der Nacht, es ist der meine, meiner und kein anderer.« Ja – er ist der, der da kommt.
Dies schlägt Elsas letzte Hoffnung nieder.
Man sagt ja wohl, der Tod sei unerbittlich – immerhin kann man sich doch denken, man könne ihn fern halten – für einige Zeit wenigstens.
Der Tod ist blind, leidenschaftslos und unpersönlich. Deshalb haben lebendige Herzen in allen Landen davon geträumt, sie könnten stärker sein als er.
Wie lautet es doch, was in jener schönen indischen Sage von einer Frau erzählt wird, die den Gott des Todes überwindet, als er ihr den Gatten davontragen will? –
Es ist in einem Walde …
Sie sind gegen Abend zusammen in den Wald hinausgegangen. Die Heide glüht purpurn im Abendrot.
Sie hört Schritte hinter mächtigen rauschenden Tannen und dem in grünlichblauen Dunst gehüllten großen, breiten Baumfarn …
Sie weiß gleich, wer es ist – – Aber als er fragt: »Wer kommt denn hinter uns her?« lacht sie und sagt: »Niemand, es ist der Wind – es ist der Kuhhirte.«
Aber der Gott des Todes kommt heran und nimmt ihr ihr Kind … Ja, denn das Kind allein will er ja haben.
Sie läuft, läuft … über schwankendes, weiches Moos … durch das Dorngebüsch, das ihr die Haut blutig reißt … Sie kommt nicht weiter … und doch hält sie Schritt mit dem Tod …
Und ihr Mutterherz redet die ganze Zeit … Der Tod weiß nichts zu erwidern – ratlos starren seine schwarzen Augenhöhlen … Er weiß, auf ihrer Seite ist das Recht – er muß das Kind loslassen.
Aber dann – –
Das ist ja gar nicht mehr der Tod. Ein anderer steht hinter ihm.
Ihre Hände sinken schlaff herab. Nicht ein Wort mehr kann sie sagen – – –
Elsa ist wieder hell wach.
Es ist der Widersacher, weil er das Recht hat – und ihm gegenüber alle nur Unrecht haben.
Er weiß, wo er sie treffen muß, um sie zu vernichten. Und er weiß, sie ist nichts Besseres wert – weil sie ihn hat vernichten wollen.
Und wenn er nach dem Kinde unterwegs ist – dann kann man nichts dagegen tun.
Von solchen verwirrten Vorstellungen und abgerissenen Traumbildern hinweg gleitet Elsa hinein in einen schweren, hoffnungslosen Schlummer.
*
Am nächsten Abend geht das Fieber plötzlich auffallend herunter. Aber das ist nicht zum Guten. Nichts ist mehr zum Guten.
In der Nacht wachen Ejnar, Elsa und die Krankenpflegerin. Sie warten – auf das Unabwendbare.
In die Atemzüge des Kindes hat sich jener fremde, unheimliche Ton eingestellt, über den man sich nicht täuschen kann. Das Kind ist nur noch in einzelnen kurzen Augenblicken beim Bewußtsein. Sonst liegt es ruhig und gleichgültig für alles da, mit einem etwas strengen, gequälten und gealterten Zug um den kleinen halbgeöffneten Mund.
Einmal hat er mit der dumpfen, murmelnden Stimme, die Elsa noch am besten versteht, gefragt: »Ist es immer Nacht?«
»Ja, mein Hänschen, immer. Es ist nur noch Nacht.« – –
In dieser Nacht geht es noch nicht zu Ende. Merkwürdig, wie viel Lebenskraft in dem zarten Körperchen ist!
In der nächsten Nacht sitzen die drei wieder mit starren Augen an dem Krankenbett. Es wird allmählich so unwirklich, so stumpfsinnig.
Nur Röcheln und Schnaufen von dem kleinen Bett her – und ab und zu ein Stöhnen!
Dann versucht er, die Augen noch aufzumachen. Das eine Lid hebt sich halb – und fast unvernehmlich fragt er: »Wer geht denn draußen?«
»Was sagt er?« flüstert Ejnar. »Wer draußen geht?« Er will sich über das Bett neigen, um zu antworten. »Niemand, mein kleiner Mann.«
Aber Elsa kommt ihm zuvor. Sie legt ihre Lippen an des Jungen Ohr und sagt laut und klar: »Der liebe Heiland ist's, mein Hänschen.«
»Ah – der liebe Heiland!« …
Er lächelt nicht – das kann er nicht mehr zustande bringen. Aber den Seufzer, der die Worte begleitet – diesen Seufzer tiefster Erleichterung, unbegrenzten Vertrauens wird Elsa nie vergessen.
Und zugleich sieht sie, wie das Antlitz des Kindes sich glättet. Der scharfe, gequälte und erwachsene Ausdruck macht kindlicher Ruhe und einem erwartungsvollen Vertrauen Platz.
Ein paar Stunden später, als das stoßweise Röcheln aufhört, während das Kinn sich etwas vorschiebt, und dann nur noch ein paar Seufzer kommen, hört Elsa in diesen wieder das grenzenlose Vertrauen und die tiefe Erleichterung heraus, als wiederhole es nun viel deutlicher als mit Worten: »Ah – der liebe Heiland!«
Dann ist nur noch leblose Stille in dem kleinen Bett.
Der Schritt in der Nacht hat ihn mitgenommen.
*
Niemand ist mehr da, der mit Bausteinen spielt oder in einer Ecke des Eßzimmers mit der Eisenbahn fährt, so daß man über allerlei stolpert, wenn man sich dahin wagt. Niemand, der farbige Bleistifte und Bilderbogen auf dem Tisch herumliegen läßt. Das große Zimmer ist so schön aufgeräumt wie noch nie.
Zu den Mahlzeiten wird nicht mehr für drei gedeckt. Kein Stuhl wird lange, ehe die andern aufstehen, zurückgeschoben, kein Kinderlätzchen liegt mehr an einem Platz, den kleine, unruhige Füße verlassen haben, lange ehe Ejnar mit seinem geliebten Obst und seinem Glas Madeira zum Nachtisch fertig wird – wobei die Krankenhausanekdoten zum besten gegeben werden.
Niemand ist mehr da, für den man einen Kuchen, eine Stange Schokolade, ein hübsches Bildchen kaufen kann, wenn man in der Stadt ist. Kein rasches, leichtes Hüpfen mischt sich, wenn man geklingelt hat, im Flur in Kamillas bedächtige Schritte. Kein blondlockiges Köpfchen beugt sich vor, um zu erspähen, ob die Mutter draußen steht. Nicht mehr schlingen sich eiligst zwei dünne Ärmchen um der Mutter Hals – die aber nur bis in die Mitte des Bärenfellkragens reichen, in dem sie ganz verschwinden – und keine eifrigen Fingerchen suchen mehr zwischen Mutters Paketen, bis sie das Richtige entdeckt haben.
Keine kleine Gestalt kommt mehr in Strümpfen und im langen Nachthemd in Ejnars Stube hereingestapft, wo die Eltern noch beim Kaffee sitzen, um zum Gutenachtkuß auf Ejnars Knie zu klettern und dann die Mutter mit in seine Schlafkammer zu ziehen, damit sie ihr Hänschen hineinschnuckelt und ihn sein Abendgebet sagen läßt. Es wird kein Abendgebet mehr gesprochen. Nichts von Engelwacht und Gotteshuld mehr – dieser kleine Vers ist zum letztenmal über einem weißen Sarg gesungen worden – als Abendgebet für den, der sich zur Ruhe gelegt hat, weg von »Sünden und Gefahren«.
Kein Spalt steht mehr offen an der Tür in das große Schlafzimmer – der Tür, durch die leichte, schlafende Atemzüge zu hören waren, die ab und zu in ein komisches Pfeifen durch die Nase übergingen. Abgeschlossen ist die Tür nach dieser Kammer, aus der jetzt nur Schweigen und Kälte herausströmt.
Es wird nicht mehr gespielt; es schwirrt nicht mehr mit Fragen durch die Zimmer nach allem, was zwischen Himmel und Erde ist, Fragen, die dann plötzlich von unwillkürlichem Lachen unterbrochen werden; nur noch erwachsene, verständige Gespräche werden geführt.
Und es zeigt sich, daß das, was vorbei und dahin ist, das Leben war. All das andere war nur Vorder- und Hintergrund dafür.
Negro versteht es nicht. Niemand ist mehr da, der den Hund neue Kunststücke lehrt, niemand, der Lust hätte, auch nur die alten zu sehen, niemand, der ihm im Galopp um den Eßtisch herum nachläuft. Was soll das bedeuten? Und warum versteckt sich denn einer gar so lange?
Einmal ums andere hat Negro an der Tür der verschlossenen Kammer gewittert, einmal ums andere hat er seine Pfoten nachdrücklich in Elsas Schoß gelegt und sie mit seinen klugen und doch so hilflos unwissenden Augen eindringlich angesehen, wie wenn er sagen wollte: »Jetzt muß ich Auskunft erhalten. Wo ist er denn hingegangen?«
Und Elsa hat den schwarzlockigen Kopf des Hundes zwischen ihre beiden Hände genommen und gesagt: »Fort, Negro! Fortgetragen. Niemand weiß wohin.«
Die treuen Hundeaugen sind darauf glänzender und noch eindringlicher geworden, wie wenn er sagen wollte: »Und das hast du zugegeben?«
»Ja, Negro, das hab ich zugegeben. Was kann man gegen die Übermacht ausrichten?«
Immerhin hat sie ja bei ihrem Kinde länger ausgehalten, als es die Menschen sonst zu tun pflegen. Sie hat beinahe unaufhörlich bei ihm gewacht, bis er fortgetragen wurde, hat ihn selbst auf sein letztes schmales Lager gebettet und ist jeden Tag in die Kapelle gegangen, wo der kleine Sarg unverschlossen stand, um das Gesicht ihres Lieblings noch zu sehen, – zu sehen, wie jede Spur von Leben allmählich daraus entschwand, ehe sie ihn der schwarzen Erde übergab.
Oft, wenn sie zwischen den andern einsamen Särgen da draußen stand, hat sie an ihres Vaters Wort denken müssen, daß es nicht schwer sei, sich seine »Nächsten« in einer gewissen Entfernung zu halten. Wie schnell finden sie sich doch darein, das herzugeben, was sie so innig geliebt hatten, das Antlitz zu entbehren, das das Leben für sie gewesen war!
Aber schließlich hat auch sie unwiderruflich loslassen müssen. –
Zweierlei drängt sich Elsa auf, als sie wieder anfängt, anderes als ihren eigenen Schmerz zu empfinden. Erstens stellt Ejnar es so dar, – oder er ist wirklich davon überzeugt – daß zwischen ihm und Hansemann das innigste Zusammenleben bestanden habe, daß diese beiden etwas verlassenen Mannspersonen sich ganz besonders aneinander angeschlossen gehabt hätten.
Wie unermüdlich erzählt er doch von dem Augenblick am Tage, wo er nach beendeter Sprechstunde – wenn er zufällig nicht Krankenbesuche machen mußte – den Kopf durch seine Zimmertür gesteckt und den einsamen kleinen Mann hereingerufen habe, wo sie es dann bis zum Essen »furchtbar gemütlich« gehabt hätten.
Und wie oft kann das stattgefunden haben? Elsa macht sich wahrlich genug Vorwürfe darüber, daß sie zu oft von ihrem Hause weg gewesen sei – bei den endlosen Besorgungen in den Läden, beim Nachmittagstee mit Tanten und Basen, bei der Damenschneiderin – aber sehr oft hat sie doch den Jungen bei sich gehabt und ist auch allein mit ihm spazieren gegangen, wenn ihm Kamillas Gesellschaft langweilig geworden war. Oft, oft hat sie bei ihren kunstfertigen Handarbeiten gesessen und Hänschen fröhlich plaudernd neben ihr, wenn Ejnar zu seinem Zimmer herausguckte und sagte: »So, jetzt bin ich fertig – aber ich muß gleich wieder gestiefelt und gespornt auf und davon!« Nicht ein Mal in der Woche, kaum ein Mal im Monat kann es sich getroffen haben, daß er »furchtbar gemütlich« mit seinem einsamen Jungen zusammengesessen hat; aber er beschreibt es, als sei es alltäglich der Fall gewesen.
Elsa widerspricht ihm nicht; diese armselige Freude will sie ihm nicht nehmen – wenn er ein klein wenig Trost dabei finden kann. – –
Das andere, was ihr auffällt, ist, wie die Fragen, die Ejnar sonst gern beiseite liegen ließ, als gingen sie ihn gar nichts an, sich ihm nun aufdrängen. Jetzt grübelt er sehr häufig darüber nach.
Der Pastor, der beim Begräbnis des Kindes amtierte – ein recht ansprechender junger Mann – ist seither mehrere Male bei ihnen gewesen, weil Ejnar mit ihm zu sprechen wünschte. Er hat eine Braut in Kolding, woher er stammt, und da er deshalb oft allein ist, kommt er bisweilen auch am Abend, und sie sitzen dann in Ejnars Zimmer. Er ist ernst und natürlich, ohne salbungsvolle oder geistreiche Worte zu machen – erinnert ein wenig an Hermann, ist aber von einer etwas weniger »gewichtigen« Art als jener. Hermann wirkt ja manchmal etwas ermüdend, weil alles, was er sagt, so bedeutungsvoll sein soll. Darauf legt es Pastor Hammer gar nicht an. Das Zusammensein mit ihm wirkt wohltuend – und doch machen seine Worte keinen eigentlichen Eindruck auf Elsa.
Die langen häufigen Briefe von dem Schwager und der Schwester machen auch sichtlich Eindruck auf Ejnar. In der Regel wünscht er, Elsa soll die Briefe auch lesen. Inger Maries Briefe kommen ihr jedoch recht sonntagschulmäßig vor. Solche kleinen Geschichten, wie die von einem Hirten im Morgenlande, der ein eigensinniges Schaf nicht in die Hürde hineinbringen konnte und deshalb das Lamm hineintrug, um die Mutter herbeizulocken, die dann auch ganz richtig dahergelaufen kam, können außerordentlich schön sein; aber zu dem Vergleich, der dahinter liegt, kommt man auf billige Weise, wenn man seine eigenen fünf Kinder wohlbehalten um sich hat.
Und Elsa kann sich auch von dem Gefühl nicht ganz frei machen, die Schwägerin meine, sie begreife recht wohl, daß das Kind von ihnen gehen mußte – und im Grunde denkt, es sei für dieses selbst so am besten gewesen. Dieser letzte Gedanke macht Elsa für Inger Maries Teilnahme unempfänglich.
Die Frage, mit der sich Ejnar unaufhörlich beschäftigt, ist die Möglichkeit eines geistigen Lebens, das unabhängig von der Natur bestehen könne – über das organische mit dem Tode des irdischen Leibes aufhörende Leben hinaus.
Jetzt erst scheint er sich klar zu machen, daß sich Persönlichkeit nicht aus Organen heraus entwickeln kann. Gibt es also ein persönliches Leben, das nur eine Zeitlang mit den Organen verbunden war – und wenn das Leben diese Organe wieder verläßt, wo geht es da hin auf seiner Flucht?
Genauer gesagt, wo ist Hansemann hingegangen?
Sein eigener Junge war doch etwas für sich, mit dieser kleinen Persönlichkeit hatte er sich ganz fest verbunden, deshalb kann er den Gedanken an ihre Vernichtung nicht annehmen.
Aber diese Frage zieht so viele andere nach sich.
Nicht nur, wenn Pastor Hammer da ist – auch wenn Elsas Vater bei ihnen ißt, spricht Ejnar beständig davon.
Beim erstenmal zuckt der Professor nur die Achseln.
»Ich verstehe dich nicht recht,« versetzt da der Doktor gereizt. »Mir kommt es armselig vor, wenn man über die großen Rätsel, die uns doch alle angehen, nur die Achseln zuckt.«
»Die Achseln zucke ich nur über dich, Ejnar – nicht über die Rätsel,« erwidert der Professor. »Ich bin immer der Meinung gewesen, das wenigste, was man von sich selbst verlangen könne, sei, diesen ziemlich wesentlichen Fragen redlich und ehrlich suchend gegenüberzustehen, und ohne mich selbst zu loben, darf ich wohl sagen, ich habe es getan. Und wenn ich über dieses Dasein hinaus einen einzigen tatsächlichen Fingerzeig hätte aufspüren können – so wäre ich nicht zu steifnackig gewesen, ihm zu folgen. Ich bin in die ganze Spießgesellschaft hier unten nicht so vergafft gewesen, daß ich je gedacht hätte, es lohne sich um sie auch nur die Mühe, sich jeden Morgen anzukleiden. Aber ein Zeichen, ein anerkennenswertes, einleuchtendes Zeichen von etwas anderem, etwas besserem, das nachkäme, habe ich eben nie entdecken können.«
»Du hast vielleicht deine Augen davor verschlossen.«
»Ja, das sagte jene englische Miß damals auch, die einen Geist in Mamas Nähtisch fahren ließ, daß dieser auf einem Bein stand und alles darin zum ersten und letzten Mal holterdipolter durcheinanderlag. Das konnte ich freilich sehen – aber den Geist selbst hab ich weder riechen noch fühlen können. Nein, von Träumen und Phantastereien kann man nicht leben. Laß uns lieber mit dem Stoff, den wir nun einmal haben, hantieren – schlecht genug natürlich, aber doch immer nach unserem geringen Vermögen. Dann werden wir vielleicht einmal über mehr gesetzt – ich glaube, davon steht etwas geschrieben – ich meine, wir werden dann den Rätseln gegenüber die geistige Einsicht bekommen, die wir hier nicht haben – und wir sollen uns nicht einbilden, wir könnten sie uns selbst verschaffen.«
Ejnar macht eine Bewegung, aber sein Schwiegervater fährt fort:
»Trotzdem hab ich nie an einem Totenbett gestanden, ohne mit dem Kopf gegen dieses Fragezeichen zu rennen. Du dagegen, mein guter Ejnar, hast dem Dutzend nach Kranke umkommen sehen, hast Todesschein um Todesschein ausgestellt, ohne je an etwas anderes zu denken, als Schnipp, Schnapp, Schmauß, und die Geschicht ist aus! Und du hast dich ausgezeichnet gut mit diesem ›Punktum finale‹ abgefunden – notabene so lange es nur die anderen anging. Aber sobald es sich um eins von den Deinen handelt, setzt du Himmel und Erde in Bewegung, um ein ewiges Leben und den lieben Gott und Engel und die ganze Klerisei aufzutreiben. Ist das alles nicht da – dann soll es geschaffen werden, und alle andern sollen gütigst darauf eingehen! Siehst du, das nenne ich armselig. Das schlechteste Fabrikmädchen, das mit einem verseuchten Kinde dasitzt, das sie nicht am Leben erhalten kann, aber eben lieb hat, wie es noch bisweilen vorkommt – hat ganz dasselbe Recht, mit ihrem armen Wurm ›ein Wiedersehen dort oben‹ zu verlangen, wie du mit deinem Jungen oder ich mit den meinen. Und es muß uns ebenso unfaßlich sein, daß für sie alle Hoffnung aus sein soll. Aber das ist dir bei Gott nie eingefallen.«
Elsa hat bei den Herrn gesessen, sich aber nicht an dem Gespräch beteiligt. Als der Professor gegangen ist, fragt Ejnar sie: »Kommt es dir nicht auch merkwürdig vor, daß dein Vater nicht begreifen kann, wie viel näher mir diese Fragen rücken, wenn es sich um meinen eigenen Jungen handelt und nicht um ein x-beliebiges Kind in der Entbindungsanstalt?«
»O ja,« sagt sie und sieht von ihrer Arbeit auf. »Ich glaube, Vater hat unrecht – wenn auch sein Standpunkt ganz schön sein kann. Seine Kranken bedeuten ihm ebensoviel wie seine Nächsten, darin liegt es. Ich finde es sehr natürlich, daß du dich jetzt mehr als früher mit der Frage abgibst, ob es ein Leben nach diesem gibt – einen Ort, wo man sein kann – –«
»Ist es denn bei dir nicht auch so? Denkst du nicht auch Tag und Nacht daran?«
»Nein,« antwortete sie.
»Wie ist das möglich?« erwidert er, während er im Zimmer hin und her wandert. »Kannst du es lassen, dich zu fragen, wohin der kleine Mann gegangen ist?«
Ach nein – das braucht sie sich nicht erst zu fragen. Sie weiß ja, wer gekommen ist und ihn fortgenommen hat. Vor ihr selbst und allen andern gähnt nur die schwarze Nacht mit ihrem kalten Vergessen und so, wie das menschliche Leben und die Menschen selbst eingerichtet sind, ist es das Beste, was ihnen widerfahren kann.
Aber bei dem kleinen Hans ist es anders. Er, dessen Schritt durch die Nacht geht, hat ihn mitgenommen, neuen und frohen Tagen entgegen. Ihr Hänschen war so treuherzig gewiß, daß jedes kleinste bischen, was er vom Himmel hörte, wahr und wahrhaftig war, und daß dieser jetzt wirklich und handgreiflich für ihn da sein muß – darüber ist Elsa eigentlich nicht im Zweifel.
Dieser ihr Standpunkt ist ganz ungereimt, voll von eigenen Widersprüchen – das weiß sie wohl, und deshalb würde es ihr auch gar nicht einfallen, mit andern darüber zu sprechen.
»Meine Vernunft macht gegen das, was das Christentum uns lehren will, Einwendungen, das wirst du dir wohl denken können,« beginnt Ejnar kurz nachher. »Aber was helfen mir die Einwendungen? Sie schaffen nur verneinende Ergebnisse. Mit denen hab ich mich früher begnügen können, weil ich alles, was ich brauchte, hier auf dieser Welt hatte. Jetzt kann ich mich mit dem Gedanken, es sei mit dem Tode alles aus, nicht mehr beruhigen – wenn ich auch nichts anderes sehen kann. Ich kann die Hoffnung auf ein Leben nach diesem nicht mehr entbehren – aber diese Hoffnung erlange ich nur durch den Glauben.«
»Ja – wenn er keine Einbildung ist.«
»Glaubst du, Einbildungen könnten einem tatsächlich Werte schaffen – Herzensfrieden, neuen Lebensmut?«
»Das weiß ich nicht – und ich gebe mir auch keine Mühe, es zu wissen.«
»Sehnst du dich denn gar nicht nach Trost, nach Hoffnung?«
»Könnte es mich trösten, an den zu glauben, der mir mein Hänschen genommen hat? Gewissermaßen kann ich vielleicht darauf eingehen, daß er existiert, aber wenn ich in ein Verhältnis zu ihm treten sollte, würde es ein widerstrebendes.«
»Armes, liebes Kind!« sagt Ejnar und legt den Arm um ihren Hals. »Du bist müde und matt von Kummer und Leid und weißt kaum, was du sagst. Es ist ein bitteres Vergnügen, Widerstreben zu pflegen. Du gewinnst nichts dabei.«
Als der Professor das nächstemal bei ihnen ist, hat Ejnar Pastor Hammer als verbündete Macht dem Schwiegervater gegenüber eingeladen.
Im Anfang wird von gleichgültigen Dingen gesprochen; aber bei Tisch sagt der Professor plötzlich:
»Sie scheinen mir gegenüber etwas zurückhaltend zu sein, Herr Pastor. Du hast mich hoffentlich nicht als einen ganzen ›Christenfresser‹ hingestellt, Ejnar?«
»Nein,« erwidert der Pastor rasch, »mein Vorbehalt ist gewiß auch nichts anderes als die ganz natürliche Ergriffenheit, die einen unwillkürlich überkommt, wenn man mit einer so hervorragenden und so anerkannten Persönlichkeit zusammenkommt.«
»Ach schnick schnack!« sagt der Professor. »Ich bin ein ganz gewöhnlicher Bullenbeißer. Und im übrigen laufe ich den Geistlichen nicht nach, das kann ich Ihnen ebenso gut gleich sagen. Ich habe immer gefunden, daß die Pfarrer streitsüchtiger und weniger nachsichtig gegen einander sind, als wir Kollegen von anderen Fächern. Und was sonst die Christen betrifft, – ja, sie tun vielleicht etwas mehr in Beziehung auf wohltätige Anstalten und Vereine als wir andern, aber sie kommen mir deshalb doch kein bißchen anders vor.«
»Auch Inger Marie nicht?« fragt Ejnar.
»Nein,« sagt der Schwiegervater trocken. »Sie würde ganz dasselbe Prachtexemplar sein, wenn sie unter den Mormonen oder Kannibalen wäre. Das allgemein Menschliche scheint mir durch die Tatsache, daß man ein Christ ist, nicht viel zu gewinnen.«
»Oberflächlich gesehen können Sie recht haben, Herr Professor,« sagt der Pastor. »Denn, was gewonnen wird, liegt eben nicht an der Oberfläche. Zwischen einem chirurgischen Kranken, den die Operation gerettet hat, und einem andern, der das Übel noch in sich trägt, ist oft auch kein großer Unterschied zu sehen. Eher kann vielleicht der letztere anscheinend der Gesündere sein.«
»Allerdings, aber es ist nicht von Dauer. Wenn durch eine Operation wirklich etwas gewonnen wird – und das ist ja bei weitem nicht immer der Fall – dann muß es sich auch äußerlich zeigen.«
»Ganz richtig, aber das zeigt sich bei einer geistlichen Heilung auch allmählich, es braucht nur längere Zeit. Und wie gesagt, da liegt auch nicht der Schwerpunkt. Natürlich tragen wir die Verantwortung, wenn unsere Mängel der Stein des Anstoßes für andere werden können, ich bin indes doch der Ansicht, daß die, so sich durch sie aufhalten lassen, nicht im Ernst weiter kommen wollen.«
»Ja, das ist ganz richtig,« sagt Ejnar. »Früher konnte ich mich an den kleinsten Fehlern von Hermann und Inger Marie aufhalten und sie als eine passende Entschuldigung für meine Gleichgültigkeit dem Ernst des Lebens gegenüber gelten lassen. Ist man aber erst in die Brandung hineingeraten und fängt an, einen festen Punkt zu sehen, an den man sich anklammern kann, dann ist man nicht so dumm, ihn wieder loszulassen, nur weil die Christen etwas mehr oder weniger menschliche Schwächen haben. Das erscheint einem dann ganz untergeordnet. Es ist wie bei den Zweifeln. Man hat sie noch, aber man läßt sich den Weg nicht mehr von ihnen versperren. Man setzt darüber hinweg.«
»Ja, prost Mahlzeit! – aber ich kann einen solchen Kunstreitersprung über meine eigene gesunde Vernunft hinweg nicht mitmachen,« wirft der Professor ein.
»Warum denn nicht?« sagt der Pfarrer. »Die gesunde Vernunft, die einem den Weg zum Himmel versperrt, ist doch weder gesund noch vernünftig. Da ist es doch gewiß besser, man setzt darüber weg, als man bricht sich den Hals daran – was sonst das Ende zu sein pflegt.«
»Ich kann Sie wirklich recht gut leiden,« sagt der Professor, indem er dem Pastor zutrinkt. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund – selbst nicht vor der anerkannten Größe, die Ihnen doch so große Achtung einflößte.«
Elsa ist schweigsam und denkt an eine kleine Hand, die sich unter dem Tischtuch in die ihrige hineinzuschmiegen pflegte, und an zwei glänzende Augen, in die sie hineinlächeln konnte, sobald sie sich ein wenig umdrehte, und die so ungeduldig und überredend werden konnten, wenn die Erwachsenen allzu lange bei Tisch weitersprachen, daß sie oft flüsterte: »Ja, du darfst aufstehen – aber ganz leise.«
Der Gedanke daran tut ihr geradezu körperlich weh; bodenlos trocken und leer und langweilig ist es jetzt.
Nach dem Essen sitzt sie allein in ihrem blauen Zimmer, wo Bilder von Hansemann in allen Abschnitten seines Lebens und in allen seinen Anzügen, von dem langen weißen Taufkleid an, stehen. In einem besonderen Album, das auf ihrem Schreibtisch liegt, hat sie die Photographien vereinigt, die sie selbst von ihm aufgenommen hat. »Ein Bilderbuch von dem kleinen Hans« steht auf dem Umschlag.
Dieses Album will sie nicht mehr ansehen. Hinter allen diesen Bildern starrt ihr jetzt ein scharfes, wachsgelbes Gesichtchen mit einem halb offenen Mund entgegen …
Wie verängstigt war er doch gewesen, als er sie bat, an der Nachtglocke des lieben Gottes zu ziehen! Sie hatte es versprochen, es aber nicht getan. Der Gedanke daran ist ihr ein Vorwurf. Aber wie hätte sie beten können, wenn sie an niemand glaubt, zu dem sie beten könnte?
Ach was, ach was! Sie hätten es können müssen, wenn er sie darum gebeten hatte.
Sie hat fast keine Träne um ihn vergossen. Nur ein einzelnes Mal – zum Beispiel als sie das Spielzeug einpackten, wobei Kamilla den Negerjungen zerbrach und Elsa die Worte entschlüpften: »Ach, darüber wird er aber betrübt sein!« – da hat sie ein wenig weinen können.
Aber sie geht beständig mit Tränen im Herzen, mit Tränen in den Gedanken umher … Es ist, als brennten sie sich da ein und trockneten sie allmählich aus.
*
Bei Ejnar vollzieht sich wirklich ein ganzer Umschwung. Elsa weiß nicht recht, wie das zugeht. Sie versteht nicht, wie man sich dazu hergeben kann, seine Ansichten zu ändern. Die Ansichten sind doch das Ergebnis der eigenen Persönlichkeit, ein kleiner Teil von einem selbst. Kann man sich denn selbst auswechseln?
Aber wenn es Ejnar Trost und Freude gewährt, gönnt sie es ihm gerne.
Er geht in die Kirche und hört Pastor Hammer, obgleich dieser, wie Ejnar sagt, eigentlich kein guter Redner sei und er von den Gesprächen auf seinem Zimmer mit ihm mehr Gewinn habe. Ejnar hat auch oft die Bibel vor sich liegen und kommt dann dazwischen zu Elsa herein, um ihr eine Stelle daraus vorzulesen. Er fragt sie dann, ob ihr diese Stelle nicht auch tief und treffend oder gut vorkomme, und sie bejaht es – denn es ist so.
Ejnar betet auch, und das weiß Elsa.
Ejnar sagt, das Leben, das sie geführt hätten, sei nur geeignet gewesen, sie oberflächlich zu machen – es sei schon viel, daß überhaupt noch etwas von ihnen übrig sei, da sie nie gewußt hätten, was es heiße, sich zu sammeln. Und darin kann er ja recht haben.
Obgleich Pastor Hammer gesagt hat, das eigentliche, was erreicht werde, wenn man ein Christ geworden sei, liege nicht an der Oberfläche, spürt Elsa doch bald, wie viel nachgiebiger Ejnar im Verkehr mit andern geworden ist. Er war auffahrend, rechthaberisch, überlegen und sehr spottlustig – dies war fast das Ärgerlichste. Aber das hat er nun abgelegt, größtenteils wenigstens.
Etwas Wunderbares ist ja nicht gerade dabei. Es ist nicht eine sprudelnde Erneuerung, die unwiderstehlich, fast der Natur zum Trotz, alles Alte wegfegt. Es ist eine bewußte Arbeit an sich selbst auf Grund einer neuen Überzeugung. Aber das zeigt ja, wie aufrichtig diese ist.
Auch in dem persönlichen Verhältnis zu ihr ist er verändert. Früher war er, wie gewiß noch viele andere Männer, zu Zeiten erstaunlich gleichgültig, zu andern leidenschaftlich hingerissen von ihr. Jetzt ist er immer voller Rücksicht und Fürsorge – nur fast lästig zärtlich. Das plagt sie ein wenig und scheint ihr eine langweilige Form von Christenliebe.
Aber alles in allem genommen hat er gewonnen – Und sie, sie verliert, verliert …
Sogar nur ganz äußerlich betrachtet, verliert sie. Ejnar ist immer hübsch gewesen; aber sein Gesicht war vielleicht nicht sehr ausdrucksvoll. Jetzt sind seine Augen von dem Ernst dunkler und tiefer geworden, und um seinen Mund ist ein freundlicher Zug, der ihm gut dazu steht.
Ihr Gesicht dagegen – – Jeden Morgen fühlt sie sich versucht, den Spiegel umzudrehen. Ihre Züge sind starr geworden, aus Mangel an Ausdruck. Ihre Hautfarbe hat eine fahle Blässe – es ist, als ströme Kälte davon aus. Ihr Gesicht sieht aus wie ein Totengesicht, ja wie ein häßliches Totengesicht.
Gerade so hat sie früher schon einmal ausgesehen – sie weiß es wohl noch. Und ebenso stumpfsinnig, ebenso leer wie damals fühlt sie sich auch jetzt. Nie wieder kann sie lachen, auch nicht richtig weinen – am allerwenigsten sich gut fühlen.
Sie fühlt, wie das Leben in ihr verebbt … der letzte dünne Faden, durch den sie noch Fühlung mit dem Leben hatte, ist ja abgerissen.
Obgleich es ihrem Mann ein Schmerz sein muß, daß sie seinen Standpunkt nicht mit ihm teilt, versucht er nicht, auf sie einzuwirken. Aber sein ganzes Benehmen ist darauf angelegt, sie mitzuziehen – das fühlt sie wohl, und er ist überzeugt, es werde ihm auch gelingen.
»Du kommst gewiß einmal,« sagt er. »Wir müssen auch in diesem eins werden.«
Auch in diesem. Sind sie es denn in anderem?
Ja gewiß, sie stimmen in vielem überein, und das gibt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, aber sie sind zwei – trotz der Gemeinsamkeit.
Selbstverständlich ist ja noch das spezielle Verhältnis da, darin soll die Einheit begründet sein. Kann das ihre Persönlichkeit umformen? Und wenn sie hundert Jahre zusammenleben – sie ist doch ein Mensch für sich und er ebenso.
Sie ist Ejnar sehr, sehr gut – soweit sie überhaupt für jemand fühlen kann – insbesondere wenn sie ihn in gemessener Entfernung hat. Es ist, als werde sein Verhältnis zu ihr gestört, als gehe es aus den rechten Fugen, wenn er ihr zu nahe kommt. Das ist nicht seine Schuld, eher die ihrige. Kann man denn mit jemand eins werden, wenn man doch von allen Menschen weit weg ist? Aber überwiegend liegt es doch in Einem: wenn die Hitze der Verliebtheit zwischen zwei vorübergeht, bleibt entweder unendlich mehr oder unendlich weniger zurück. Und man kann zum Voraus nicht wissen, welcher von diesen beiden Fällen eintreffen wird. Oder man ist jedenfalls der Ansicht, man könne es nicht wissen.
Ejnar tut ihr leid, weil er auf sie angewiesen ist. Sie versucht, weniger kalt und karg gegen ihn zu sein, es ihm daheim so behaglich zu machen wie früher, ihm sogar mit einem einzelnen Scherzwort zu begegnen. Es ist zwar ohne allen Wert, denn es ist erzwungen und künstlich und nicht aus dem Herzen herausgewachsen, aber er freut sich darüber; er ist genügsam ihr gegenüber – leider! Das rührt sie gewissermaßen, aber es entfernt sie unweigerlich von ihm.
Eines Abends, als sie in Ejnars Stube sitzen, wo die Dämmerung alle Gegenstände verwischt, bis das Zimmer nur noch ein unkenntlicher Raum ist – und alle Zimmer und Stätten der Welt sind sich ja gleich, wenn sie in Dunkelheit gehüllt sind – spricht Ejnar von allem, was er durch seinen »geistlichen Durchbruch«, wie er es nennt, gewonnen habe.
»Dann wird man sich auch erst über sich selbst klar«, sagt er. »Früher habe ich an der Oberfläche gelebt – jetzt bin ich in die Tiefe gegangen und habe festen Grund gefunden. Zuerst ist es bitter und beschämend; aber eine notwendige Bedingung zum Vorwärtskommen ist, daß man weiß, wer man ist.«
Aus der Dämmerung heraus hört Elsa ihre Stimme erwidern:
»Dann solltest du mir nicht wünschen, daß ich mich auch bekehre.«
»Warum denn nicht?«
Weil, wenn sie bis auf den Grund von sich selbst käme und sich ganz klar darüber würde, wer und was sie ist, dann könnte sie ja nicht bei ihm bleiben – dann müßte sie fortgehen … Das drängt sich ihr plötzlich auf.
Er ergreift ihre Hand und wiederholt:
»Warum nicht? Was willst du damit sagen?«
Sie richtet sich auf. »Ich weiß es nicht, Ejnar,« sagt sie.
»Ja, das glaube ich auch,« versetzt er, indem er den Arm um sie legt und sie an sich zieht. »Wenn du nur in dem Besten mit mir einig würdest, dann würde das Leben mit meinem Lieb so innig sein wie noch nie.« – –
*
Gegen das Frühjahr werden die beiden Ärzte, Elsas Mann und ihr Vater, allmählich um Elsas Gesundheit besorgt. Ihr Herz ist nicht gesund. Beide untersuchen sie, und beide kommen zu dem Ergebnis, das Übel sei überwiegend nervöser Natur, meinen aber, es müßte baldigst etwas Ernstliches dagegen getan werden. Um so mehr, als sich fast gleichzeitig Anzeichen von einer beginnenden Schwangerschaft einstellen.
Ejnar ist so zärtlich gegen seine Frau, wie noch nie, und freudig erregt über die Aussicht, einen Ersatz für den lieben Jungen zu erhalten; Elsa selbst ist vorerst ganz gleichgültig dabei.
»Eine andere Umgebung – frische Luft!« sagt der Professor. »Aber nicht in das kleine Lusthaus am Sund draußen. Da ist zu viel, was an den Nerven zerrt.«
Das will Elsa selbst nicht. Wo Hansemann kleine Gärtchen und Kirchhöfe im Sand angelegt, den Turm zu Babel gebaut und seinen Drachen hinter sich hergeschleift hat und in hellen Jubel ausbrach, wenn er das Ungetüm dazu brachte, ein paar Ellen über den Boden hinzuwackeln – da will sie nicht mehr hin!
Ejnar meint, er könne die Villa an einen Vetter vermieten, und schlägt Norwegen vor.
»Ausgezeichnet!« stimmt der Professor bei. »Schick sie hinauf zu der prächtigen Pfarrfrau! Die wird ihr schon zeigen können, wie man seine Nerven los wird! Und da droben hat es Elsa auch weniger einsam, als in ihrem eigenen Heim. Du selbst mußt ja so viel weg sein, und sie will nicht mehr unter andere Menschen gehen. Aber die Einsamkeit zehrt sie auf.«
Der Plan wird festgelegt. Ejnar soll seine Frau in das Pfarrhaus begleiten, wo Inger Marie »die Arme nach ihr ausbreitet«, wie sie schreibt. Und wenn sich Elsa dann ein paar Monate da aufgehalten hat, wird Ejnar sie abholen, um in irgend einem schönen, ruhigen Kurhaus im Gebirge seinen Urlaub mit ihr zu verbringen.
Elsa sagt: »Ja, ich gehe ebenso gern dahin, wie an irgend einen andern Ort.«
Und Ende Mai reist sie in Begleitung ihres Mannes nach Norwegen.