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IV.
Der Abschied.

Als Morton am nächsten Morgen aufwachte, umschwirrten ihn die Ereignisse der letzten zwei Tage wie Traumbilder, die das Erscheinen eines alten Negers, der mit seinen Kleidern in das Gemach trat, noch immer nicht verscheuchte. Der Alte breitete diese und frische Wäsche sorgfältig auf dem Toilettentische aus und verließ das Zimmer mit den Worten: »Massa wird in einer halben Stunde die Glocke zum Morgengebet hören.«

Der Jüngling erhob sich. Er war gestern buchstäblich dem Schlafe in die Arme gesunken, so schnell gesunken, daß auch kein Gedanke, weder ein heiterer noch ein trüber, den instinktartigen Zustand unterbrochen hatte, von dem er seit seinem verzweifelten Aufbruche aus der Bruderstadt befangen war. Aber mit solchen Zauberfäden hatte der alte Deutsche ihn wieder ans Leben zu ketten gewußt, so unvermerkt hatte der greise Seelenkenner den düsteren Wahnsinn weggescheucht, daß er jetzt umherging in seinem Kabinett, ungewiß, ob er wirklich derselbe Mensch sei, Hughes Morton of Mortonhall, und rasch vor den Spiegel trat, um sich seiner Identität recht deutlich zu vergewissern.

»Aber, Morton!« murmelte er sich zu, »wolltest du denn nicht?« –

Er schüttelte das Haupt und trat zum Fenster.

Dieses ging auf den Susquehannah, den man durch mehrere Baumgruppen erblickte, die am Abhange des Hügelrückens parkähnlich zerstreut waren und so rechts und links eine ungemein malerische Ansicht des Stromes darboten, dessen ungeheure Wassermassen gebrochen und seenartig erschienen. Weiter hinauf war die Anhöhe in Gärten, Wiesen und Felder eingeteilt, die, statt der gewöhnlichen hölzernen Einfriedungen, mit lebendigen Zäunen eingefaßt waren. Der ungewöhnlich harte Frost der letzten zwei Tage hatte die aus dem Flusse aufsteigenden Dünste auf die Zweige der Bäume und Gebüsche gefesselt, die nun, mit Myriaden von Kristallen geschmückt, von der östlich herübersteigenden Sonne erleuchtet, gleich ungeheuren Brillantenkronen erglänzten. Blau- und Grünmeisen und Robbins hingen auf den Zweigen und zwitscherten ihren schrillen Morgengesang herüber. Das ganze bot ein ungemein heiteres Bild ländlicher Winterruhe.

Der Jüngling wurde nachdenkend, als sein Blick auf die prachtvollen Wasser- und Landpartien und wieder auf die häusliche Behaglichkeit des reichen Landsitzes fiel. »So,« murmelte er sich zu, »ja, so könnte auch ich noch glücklich sein. Und wer hindert mich, es zu sein? Der – alte Stephy, der ist es!« rief er mit hohler Stimme. »Ah, Georgiana!« Er seufzte tief. – »Die Buchten des Mississippi sind schön,« fuhr er gedankenvoll fort, »schöner als die des Susquehannah. Und Georgiana! Ah, Stephy! – Ah! Wollen es versuchen, unserem Schicksal noch eine Weile zu trotzen. Ah, Georgiana! Adele!« murmelte er kaum hörbar.

»Massa wird erwartet,« sprach der grauköpfige Neger zur Türe herein.

Er folgte.

In einem mäßig großen Kabinett, das an das Tafelzimmer anstieß und in dem sich mehrere gepolsterte Fußschemel mit Sitzen befanden, harrte die Familie mit einigen männlichen und weiblichen Negern des Eintretenden, den sie mit freundlichem Kopfnicken bewillkommnete. Der Oberst stand vor einem Pulte, auf dem eine Bibel mit dem Gebetbuche der bischöflich englischen Kirche aufgeschlagen war. Er winkte seinem Gaste, auf einem der leeren Sitze Platz zu nehmen und begann dann das Morgengebet nach dem Ritus der Hochkirche. Alle stimmten mit ruhiger Andacht ein, und das Morgengebet wurde, zwar ohne auffallende Symptome von Devotion, aber mit jener würdevollen Gelassenheit vollendet, die da bezeugte, daß es ein wesentlicher Teil der täglichen Familienbeschäftigung war. Nachdem der Oberst seinen erhabenen Standpunkt verlassen hatte, nahm er den Arm Adeles und folgte Morton, der den seinigen der Dame des Hauses angeboten hatte, in das Tafelzimmer, wo bereits das Frühstück aufgetragen war. Immer derselbe anspruchslose, würdevolle Ton; nur schienen die Blicke der ehrwürdigen Matrone und Miß Adeles wehmutsvoll auf ihrem Gaste zu ruhen. Auch der Oberst war weniger heiter, und die Damen entfernten sich sowie das Mahl aufgehoben war.

»Oberst Isling, um Gottes willen!« rief der Jüngling, plötzlich auf diesen losgehend, »sagen Sie mir, wissen die Damen –?«

Seine Lippen waren konvulsivisch zusammengepreßt; er zitterte.

»Und wenn sie wissen, lieber Morton! Ist es nicht besser, sie hören es aus dem Munde eines Freundes Ihrer Familie, dem an Ihrer Ehre gelegen ist, als –«

Der Jüngling knirschte mit den Zähnen.

»Alles zu ungestüm, zu wild, zu zerrissen, lieber Morton! Wir sind nun mit Mistreß Isling einundfünfzig Jahre bereits vereinigt, in Freud' und Leid vereinigt. Keine Falte in dem Gemüte des einen ist dem andern verborgen. Meine Elisabeth hat Schmerzen und Wonnen mit mir geteilt. Können Sie sich es auch nur möglich denken, daß der alte Oberst Isling hier ein Geheimnis vor seinem Weibe haben, sie so das erstemal in seinem Leben seines Vertrauens unwürdig erklären sollte? Doch wäre dies auch möglich gewesen? Hier lesen Sie!«

Er nahm bei diesen Worten einen Pack Philadelphia Zeitungen vom verflossenen Tage.

»Mister Morton!« begann er wieder, und seine Brust hob sich beklommen. »Sie haben Ihren Freunden trübe Stunden verursacht.«

»Meinen Freunden?« lachte Morton mit Bitterkeit. »Der Arme hat keine Freunde, Oberst!«

»Nicht so ganz wie Sie glauben. Ihre Vorfahren haben ein Kapital niedergelegt, das für Sie hohe Interessen trägt, bereits getragen hat. Sie waren Midshipman in Ihrem einundzwanzigsten, Schiffsleutnant im dreiundzwanzigsten Jahre. Als solcher wissen Sie, daß verlorene Masten noch kein Schiff zugrunde richten. › Don't give up the ship‹, schrie Kommodore Percy In der berühmten Seeschlacht auf dem Erie-See, wo di« englische Flotille von der amerikanischen unter Kommodore Percy besiegt und gefangen genommen wurde., als ihm der Arm weggeschossen wurde. Ihrem Großvater wurde vom Feinde Haus und Hof weggebrannt – er geächtet – das Todesurteil war über ihn ausgesprochen, und er verzagte nicht und triumphierte.«

Der Jüngling schwieg.

»Ihre nächtliche Flucht hat alle Ihre Freunde mit Entsetzen erfüllt. Der Artikel hier in der Zeitung ist so schonend als möglich abgefaßt. Natürlich; man will Ihrer Familie nicht wehe tun. Es ist Nationalsache; denn Ihre Familie ist Nationalgut, möchte ich sagen, mit der Nationalehre verschwistert. Sie dürfen diese Ehre nicht beflecken, und die Weise, in der Sie dies taten, ist entsetzlich für einen Amerikaner. Ja, lieber Morton, entsetzlich, zweifeln Sie nicht daran; denn unter allen Dingen verabscheut der Amerikaner am meisten Feigheit; und Feigheit ist es, in einem Lande, das seinen Bürgern königliche Ressourcen darbietet, zu verzweifeln, wenn eine dieser Ressourcen versagt hat.

Sie müssen –«

Der Jüngling fuhr auf.

Der Oberst, ohne es zu bemerken, fuhr fort: »Ja, lieber Morton, Sie müssen sogleich handeln, um ein Gerücht zu widerlegen, das gewissermaßen als Attentat gegen die Nationalehre betrachtet werden wird.«

»Aber wie?« fragte dieser kaum hörbar.

»Ich selbst will schreiben, daß Sie bloß verschwunden sind, um mich zu besuchen, bei einem alten Freunde Ihres Großvaters Hilfe zu suchen.«

Der Oberst hielt inne.

»Also Ihr ganzes Vermögen haben Sie auf die Mary gesetzt?« fragte er nach einer Pause.

»Ja.«

»Und sie nicht assekuriert?«

»Sie war ein neues Schiff. Meine Partner selbst widerrieten es. Aber mein armer Großonkel –«

»Das ist schlimm, Ihr Großonkel Bürge, das ist sehr schlimm. Seine Besitzungen sind freilich zweimal hunderttausend Dollars unter Brüdern wert; aber fünfzigtausend Dollars Bürgschaft haben schon oft bedeutendere Realitäten verschlungen.«

Der Alte hielt wieder inne und ging, in tiefes Nachdenken versunken, auf und ab.

»Und wer ist Gläubiger?«

»Stephy«, sprach der Jüngling.

Der Oberst seufzte und schüttelte mißmutig das Haupt.

»Hart,« sprach er nach einer Weile, »für einen der Hauptgründer amerikanischer Freiheit – den Mann, der einer halben Welt Gesetze gab, sehr hart, in seinem Alter, seinem achtzigjährigen Alter, einem reich gewordenen, entlaufenen Franzosen zu Gnaden kommen zu müssen. Hart, sehr hart!«

»Vielleicht im Schuldenturme!« stieß der Jüngling heraus.

»Nein, das nicht; das würde die Nation nicht zugeben.«

»Die Nation,« lachte der Jüngling, »diese Nation, die den herrlichen M–e schon seit Jahren schmachten läßt, um seine gerechten Forderungen schmachten läßt – die Nation,« lachte er bitter, »die für die bankerott gewordene Familie Fultons gleich wie für Bettler blecherne Armenbüchsen an Bord der Dampfschiffe setzen läßt, auf daß jeder einen Cent beisteure! Wissen Sie, daß dieselbe Nation – ah!«

»Ah, und was?«

»In Philadelphia wiesen sie die Schriften seiner Korrespondenz aus ihrer öffentlichen Bibliothek weg.«

»Wirklich?« sprach der Oberst mit einem bittern Lächeln. »Dann scheint also ihren schwachen Rosinenmägen die Kost, an der sich ihre Väter satt und kräftig aßen, nicht mehr zu munden. Machen Sie sich jedoch nichts daraus, lieber Morton! Philadelphia ist nicht die Union, nicht einmal Pennsylvanien; aber erbärmliche Wichte sind und bleiben sie. Also wirklich, haben sie die Schriften –«

Der Oberst schwieg. Es war ein Kapitel, das gegenüber dem pompösen Empfang Lafayettes einen erbärmlichen Kontrast bildete, einen wahren Yankeekontrast. Er war einige Male im Saale ungeduldig auf- und abgegangen und wandte sich dann kurz an Morton:

»Bleiben Sie, teurer Freund; ich will sehen, was sich tun läßt.«

Und wieder drängten sich chaotisch neblige Bilder vor die Phantasie des Jünglings, der dem Alten nachstarrte und sein Auge dann halb schloß, wie um den schrecklichen Abgrund, der sich vor seinem Blicke öffnete, nicht zu sehen.

Der alte Deutsche war zurückgekommen und hielt einen offenen Brief in der einen Hand, in der andern einen versiegelten. Er setzte sich zu dem Jüngling und las diesem vor:

»Wenn mit dem Gentleman, bezeichnet auf der vierten Kolonne der N – G – vom 31. Dezember v. J., der achtungswerte junge Mann bezeichnet ist, der nachts elf Uhr Philadelphia verließ und die Straße über Germantown, Norristown, Reading, Bethlehem nach Harrisburgh einschlug, so mögen seine Freunde sich beruhigen; denn er befindet sich wohl in der Familie eines alten Freundes seines Großvaters.«

Der Jüngling drückte die Hand des herrlichen Alten.

»Ich sende«, fuhr dieser fort, »diesen Artikel sogleich mit meiner Unterschrift an die kleine Kreuzspinne – den Redakteur der N – Gazette, mit der Bitte, ihn unverzüglich einzurücken. Morgen wird er bereits erschienen sein.«

Und wieder verließ er den Speisesaal.

»Sie haben aber noch Land von Ihrer mütterlichen Seite?« fragte er in der Türe.

»Noch zehntausend Acker am untern Mississippi, oberhalb Point-coupé, die aber gleichfalls in der Bürgschaft eingeschlossen sind.«

»Das ist böse, sehr böse, und leicht hätten Sie bei dieser Gelegenheit um Ihr ganzes Vermögen wegen fünfzigtausend Dollars kommen können. Mein Gott, wie sich nur der weise I–n zu so etwas hergeben konnte!«

Und mißmutig warf er die Türe zu, so daß Emma lautschreiend in den Saal stürzte, zu sehen, was Großvater so außerordentlich in Bewegung gesetzt.

»Der alte Stephy«, mit diesen Worten trat er wieder in den Saal, »ist ein ganz eigentümlicher Mensch, ein Franzose, und zwar ein Original. Großmütig, großartig, wenn es ihm gerade in den Sinn kommt, ist er wiederum ein wahrer Teufel, ein Filz, der hartherzigste Wucherer, wenn ihm etwas quer durch den Weg läuft. Er ist imstande und zieht Sie und Ihren Großonkel rein aus und nimmt für seine fünfzigtausend Dollars den Wert von dreimalhunderttausend an Ländereien. Unsere Gesetze sind in diesem Punkte wie alle Gesetze, die gegeben wurden von denen, welche haben, und nicht von Leuten, die sollen. Am besten ist es immer, man braucht sie so wenig wie Advokaten, deren Apotheken sie sind. Wollen jedoch sehen –«

Und wieder entfernte sich der nun sehr unruhig gewordene Alte und kam erst nach Verlauf einer Viertelstunde zurück.

»Sie lassen«, sprach er, »Ihren Cyrus zurück; denn er kann vor vierzehn Tagen nicht aus dem Stalle, ohne für immer zugrunde gerichtet zu werden. Er ist zweitausend Dollars wert, die ich Ihnen entweder gebe oder Ihnen das Tier wieder sende. Schreiben Sie mir deshalb. Einen dritten Vorschlag werden Sie in dem Briefe an den alten Stephy finden. Ich hoffe, dieser wird alle Schwierigkeiten lösen. Stephy wird Ihnen das weitere sagen. An Ihren Großonkel will ich selbst schreiben.«

Der Oberst hielt eine Weile inne und fuhr in ernstem Tone fort:

»Von Ihren düstern Todesgedanken, junger Mann, sind Sie nun einstweilen geheilt – aber nicht für immer. Ein Antidotum will ich Ihnen jedoch dagegen raten: es ist Vertrauen auf Ihren Schöpfer und die Ihnen von ihm verliehenen Kräfte. Ich werde Sie bis Bethlehem begleiten.

Und jetzt zum Abschiede von meiner Familie.«

Dieser Abschied war still, aber ergreifend. Die alte Dame nahm die beiden Hände des Jünglings zwischen die ihrigen, schaute ihm mit ihren klaren, frommen Augen in das Gesicht und wandte dann den Blick himmelwärts. Sie betete leise und inbrünstig. Dann legte sie ihre Hände auf sein Haupt und segnete ihn, und Adele und Emma waren die Cherubim, die um Erfüllung des Segens zum Höchsten flehten. »Gott«, sprach die fromme Dame, »wird unser Gebet erhören und den Sprossen einer Familie, die den Grundstein zum Glücke von Millionen und Millionen legen half, nicht zuschanden werden lassen.«

Der Jüngling drückte mit Ehrfurcht die Hand der Dame an seine Lippen, und als er sein schönes Antlitz hob, standen Tränen in seinen Augen. Der alte Oberst ergriff seinen Arm und führte ihn der Tür zu.

Draußen stand die Reisekalesche, in welche beide stiegen. Ein Neger in Livree schwang sich auf den Kutschbock, und im schnellsten Trabe ging es der endlosen Sie ist bekanntlich eine Meile lang. Brücke über den Susquehannah zu.


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