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1.

Herr Martins hatte sich von den Geschäften zurückgezogen, obgleich er noch verhältnismäßig jung war. Er sah nicht ein, warum er sich noch länger quälen sollte, da er nach seiner Berechnung mehr als genug besaß, um das Wohlleben, an das er von Jugend auf gewöhnt, ohne Arbeit fortführen zu können. Die fieberhafte Begierde, die von keinem Gewinn gestillt wird, war ihm fremd und er hatte nur für sich selbst zu sorgen, denn er war ein Junggeselle. Nicht als ob er das weibliche Geschlecht gehaßt hätte, davon war er in seiner Jugend weit entfernt gewesen. Wie ihm aber die Verwaltung eines eigenen Hauses sehr verdrießlich dünkte und er deshalb zur Miete wohnte, während er sein Geld auf erste Hypotheken austat, so schienen die Unfreiheit, der Kinderlärm, Sorge und Kummer, die mit den Kindern heranwachsen, gegen das Glück der Ehe zu schwer in die Wagschale zu fallen, als daß er nicht den Spruch des Apostels hätte beherzigen sollen: »Heiraten ist gut, nichtheiraten ist besser!« Häusliches Behagen könnte man ja haben, ohne darin durch das Klirren der Ehefesseln unliebsam gestört zu werden, etwa wie er den Anblick und Duft des Blumengartens unter seinem Fenster genoß, ohne daß er sich um dessen Pflege zu bekümmern brauchte. Er besaß in dem Fräulein Käsebitter eine Perle von einer Haushälterin, die in der Tat bewunderungswürdig für sein leibliches Wohl sorgte. Keine Frau, die ihren Gatten auf Händen trägt, hätte es besser können. Freilich hätte eine solche es mit einem Blicke, einer Miene getan, die ihre innere Freudigkeit verraten und Wärme um sich verbreitet haben würde. Davon war bei Fräulein Käsebitter, welche die Schwelle des kanonischen Alters bereits überschritten hatte, nichts zu spüren. Nie schmolz die Strenge ihrer Mienen,, nie belebte sich die Gemessenheit ihrer Sprache. Mit ihrer engen Stirn, ihren grauen Augen, den schmalen, blutleeren Lippen, dabei stets schwarz gekleidet, erschien sie in ihrer steifen Würde als die verkörperte Pflicht. Die Pflicht war für sie das oberste Gesetz; was diese gebot, das tat sie ohne Rücksicht auf sich wie auf andere. Die Pflicht umschloß ihr Wesen und durchkältete ihre Umgebung wie ein nimmer schmelzender Eispanzer das Land am Nordpol.

Auch Herr Martins begann diesen Einfluß allmählich zu verspüren. Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen die Einsamkeit in seiner reich und bequem eingerichteten Wohnung ihm ein Frösteln verursachte und sein Junggesellenleben ihm leer und langweilig erschien. Dieses Gefühl regte sich besonders dann in ihm, wenn er einen Abend bei seinem verheirateten Bruder zugebracht hatte. Obgleich er es zu durchschauen glaubte, daß die Herzlichkeit, mit der er stets dort aufgenommen wurde, hauptsächlich dem reichen Erbonkel gelte, so tat es ihm doch wohl, van den munteren Neffen und hübschen Nichten umschmeichelt und von allen gehätschelt zu werden. Er wurde so nachdenklich, daß ihn mancher Abend mit einer längst erloschenen Zigarre im Munde sitzen sah, was ihm früher nie geschehen war. Das Versäumte nachzuholen, fiel ihm nicht ein; denn jetzt noch in den Stand der Ehe zu treten, dazu hielt er es für zu spät. Aber er erinnerte sich, daß irgendwo ein Kind von ihm leben müßte. Er hatte sich bei dessen Geburt mit der Mutter ein für alle Male abgefunden und seitdem an beide nicht mehr gedacht. Mit Mühe und Not gelang es ihm, den Namen der Mutter sich wieder ins Gedächtnis zu rufen; von dem Kinde erinnerte er sich nur noch, daß es ein Mädchen gewesen war. Reue darüber, daß er um das Wesen, dem er das Leben gegeben, sich nie bekümmert hatte, empfand er nicht. Er hatte ja seine durch das Gesetz vorgeschriebene Pflicht gegen dasselbe erfüllt, indem er die Mittel, um es bis zu einem bestimmten Alter notdürftig zu ernähren und zu kleiden, auf ein Brett gezahlt hatte. Für außereheliche Kinder gilt nicht das Vaterrecht, sondern bis zur Stunde noch das vorhistorische Mutterrecht. Und wir sind so stolz auf unsere Kultur!

Seltsame Blasen stiegen in dem Gehirn des Herrn Martins auf. Das Mädchen mußte jetzt erwachsen sein. Wie, wenn er sie zu sich nahm? Vor ihrer Jugend, ihrer Wärme mußte die kühle Einsamkeit entweichen, die ihn umfröstelte. Hatte er nicht als Vater das Recht, Liebe von ihr zu verlangen und würde sie ihn nicht lieben, wenn er sie mit seinem Reichtum umgab? Er begann, dem Kinde nachzuforschen und die Schwierigkeiten, die sich ihm dabei entgegenstellten, erhitzten seinen Eifer.

2.

Es war an dem Vormittage eines Sonntags im Spätsommer, als Herr Martins die schmalen und steilen Treppen eines Hauses in der nördlichen Vorstadt hinaufstieg. Das Haus war eine fünfstöckige Mietskaserne und von allen möglichen Geräuschen erfüllt. Als Herr Martins nach etlichen Ruhepausen die Höhe der vierten Treppe erklommen hatte, las er auf einer vergilbten Visitenkarte an der rechten Flurtür: »Paul Schlitzweg, Schneidermeister.« Er nahm den Hut ab und trocknete sich mit einem seinen weißen Tuche das glühende runde Gesicht. Das Herz pochte ihm stark und nicht von dem ungewohnten Treppensteigen allein. Er klingelte. Kindersüße galoppierten gegen die Tür, welche von einer Frau in einem verwaschenen Kattunkleide geöffnet wurde, der das Haar noch ungeordnet um das verdrießlich sorgenvolle Gesicht hing. Herr Martins fragte nach Fräulein Amanda Balk, indem er seinen Hut flüchtig berührte. Die Frau riß einen flachsköpfigen Buben, der sich vor sie gedrängt hatte, während zwei jüngere Mädchen hinter ihren Röcken hervorlugten, unsanft beiseite, anstatt jedoch zu antworten, musterte sie den Fragenden mit unverhohlenem Mißtrauen, so daß dieser hinzufügte: »Kartonnagen-Arbeiterin, wenn ich nicht irre. Sie wohnt doch hier?«

»Aber sie nimmt keine Herrenbesuche an,« rief Frau Schlitzweg und wollte die Tür zuwerfen. Herr Martins verhinderte es noch rechtzeitig. »Ich muß das Mädchen in einer wichtigen Sache sprechen,« erklärte er. Ihr Mißtrauen wurde dadurch nicht zerstreut, aber sie ließ ihn ein und er folgte ihr in ein Zimmer, das Schlaf-, Wohn- und Arbeitsstube zugleich war, und wo Meister Schlitzweg auf dem Werktische am Fenster mit fliegender Nadel an einem Herrenrocke nähte. »Meister« war für ihn nur noch ein leerer Titel; er arbeitete für ein Kleidergeschäft.

Die Blicke des Herrn Martins blieben auf einem Mädchen ruhen, das in der Nähe des zweiten Fensters auf ihren Knien einen hellen Handschuh mit Gummi abrieb. Es war ein etwa zwanzigjähriges, schmales, bläßliches Gesicht, das aus dunklen Augen unter Brauen, die über einer stumpfausgehenden Nase ineinanderflossen, zu ihm aufschaute. Ein Kleid von schwarzer Wolle und schwarzes, zierlich geordnetes Haar ließen es noch blässer erscheinen. »Der Herr fragt nach Ihnen,« sagte die Meisterin zu ihr. Verwundert erhob sie sich, eine Gestalt von mittlerer Größe, nur allzuschlank. Eine täglich zwölf- und mehrstündige Arbeit in der verdorbenen Luft engumbauter Werkstätten ist freilich wenig dazu geeignet, jugendliche Glieder zu runden und die Wangen zu röten. Die Art, wie Herr Martins sie noch immer anstarrte, schien der jungen Arbeiterin keineswegs zu gefallen, denn ihre Stirn zog sich an den Brauen in kleine Fältchen und ihr: »Sie wünschen?« klang recht ungeduldig. Er verbeugte sich und höflicher als vorhin gegen Frau Schlitzweg äußerte er: »Ich wünsche eine Unterredung mit Ihnen, aber –.« Sein Blick streifte den eifrig fortstichelnden Meister, die Frau, die wie herausfordernd die Arme verschränkt hatte, und die Kinder, die mit runden Augen zu ihm in die Höhe starrten. »Was mich hierhergeführt hat, ist nur für Sie bestimmt, Fräulein,« fuhr er fort. »Ich muß daher bitten, mir unter vier Augen Gehör zu schenken.«

Amanda überflog seine behäbige Gestalt von der Glatze bis zu den Spitzen seiner eleganten Stiefel und lud ihn dann mit kühler Ruhe in ihre nebenanliegende Stube. Es war eine längliche Kammer mit einem Fenster, in der zwei Betten, eine Kommode, ein Waschtisch und ein Kleiderschrank nur einen schmalen Gang frei ließen. Amanda teilte die Kammer mit einer Freundin, die bereits ihrem Sonntagsvergnügen nachgegangen war.

»Das nennen Sie Ihre Stube?« fragte Herr Martins, nachdem die Verbindungstür hinter ihm geschlossen war. »Warum sind Sie von Ihren Eltern fortgezogen? Es wäre dort auch für Sie Raum, wie mir Ihr Vater sagte.«

»Sie sind wohl von der Polizei?« fragte das Mädchen etwas spöttisch. »Sonst wüßte ich nicht, was das Sie angeht. Uebrigens ist der Mann meiner Mutter nicht mein Vater.«

»Ihr Stiefvater, ich weiß es,« sagte er. »Aber Sie erlauben, daß ich mich setze. Diese vier Treppen!« Er ließ sich auf einen alten Rohrstuhl zu Kopfende des nächsten Bettes nieder und begann darauf etwas unsicher: »Ihren eigenen Vater haben Sie wohl nicht gekannt?« Amanda, die sich ihm gegenüber an die Kommode gelehnt hatte, ließ ein hartes: »Nein!« hören. »Und ich will ihn auch nicht kennen. Ich bin nie für ihn vorhanden gewesen, nicht einmal seinen Namen hat er mir gegeben, was Sie ganz in der Ordnung finden werden, nicht wahr? Und so ist er auch für mich nicht vorhanden.« Ihre Augen blitzten. »Aber – aber,« stotterte Herr Martins betroffen und zog sein Taschentuch heraus und fächelte sich Kühlung. Amanda zuckte geringschätzig die Schultern und setzte sich auf den Stuhl vor dem anderen Bette. Sie machte ein finsteres Gesicht.

»Sie wissen also auch nicht, wer Ihr Vater war oder ist? Ob er noch lebt oder tot ist?« begann er nach einer Weile. »Was kümmert's mich?« fragte sie gleichgültig. »Aber er lebt und ich kenne ihn,« rief er erregt. »Gewiß, er hat unrecht an Ihnen gehandelt und ich muß ihn dafür tadeln, obgleich er mein Freund ist.« Sie wandte sich zu ihm, indem sie den linken Arm über die Stuhllehne warf, und einen Augenblick züngelte es wieder spöttisch um den sein geschnittenen Mund. Dann sagte sie ernst: »Wissen Sie, als ich nach ein dummes Ding war, da habe ich wohl manchmal nach dem Vater verlangt. Meine Mutter war nicht gut zu nur. – Aber reden mir nicht mehr von ihm. Was haben Sie mir eigentlich zu sagen?«

»Im Gegenteil, reden wir von ihm,« versetzte er eifrig. »Eben deshalb bin ich, hergekommen. Er ist ein wohlhabender Mann, unverheiratet, und möchte etwas für Sie tun.«

»So? Wie gütig er ist! Und was verlangt er dafür von mir?«

Ihre kühle Ruhe prickelte ihn fast unerträglich. »Was soll er dafür verlangen? Nichts! – Vielleicht, daß Sie ihn ein wenig lieb haben, wenn –«

Sie unterbrach ihn mit einem grellen Auflachen. »Ich ihn lieb haben?« rief sie aufspringend und, fuhr mit glühenden Augen fort: »Sagen Sie ihm, daß ich lieber sterbe, als daß ich von ihm was annehme!«

Herrn Martins runde Wangen wurden ganz blaß, zugleich stachelte ihn aber die feindselige Gesinnung des Mädchens und er versetzte, zuletzt in einen salbungsvollen Ton fallend: »Wenn ich sagte, daß er etwas für Sie tun wolle, so meinte ich, daß er für Ihre Zukunft sorgen will. Er hat die edelsten Absichten. Sie sollen im wahren Sinne seine Tochter sein. Ihr Vater will Sie zu sich nehmen.«

Amandas Augen wurden weit, das Blut schoß ihr in die Wangen und flutete ebenso jäh wieder zurück. Mit zitternden Lippen rief sie: »Wenn er wirklich edle Absichten hätte, würde er keinen anderen geschickt haben, sondern, selbst gekommen sein. Warum ist er nicht selbst gekommen? Meint er, ich müßte das, was er mir durch Sie anbieten läßt, wie ein Hund annehmen, dem man ein Stück Brot zuwirft? Ich kann selbst für mich sorgen und brauche ihn nicht. Warum ist er nicht selbst gekommen? Glaubt er, weil er reich ist, darum braucht er nur seine Schlechtigkeit nicht abzubitten?«

Herr Martins saß wie gelähmt da und blickte sie kläglich an. Da erriet sie, wer er war und es überrieselte sie. Sie wendete sich von ihm ab, ließ sich auf ihren Stuhl fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Eine Weile blieb es still. Dann trat Herr Martins zu seiner Tochter und sagte leise: »Dir gehst hart mit mir ins Gericht, mein Kind. Ich will mich nicht mit dem Gesetze entschuldigen, denn das Gesetz haben wir Männer zu unserem Vorteil gemacht. Ich will alles gut machen, und Du wirst mich lieben, wenn Du erst Deinen alten Vater besser kennst.« Da ließ sie die Hände sinken und klagte: »Daß Sie es doch so gelassen hätten, wie es bisher zwischen uns war! Ich war ja ganz zufrieden und verlangte nichts anderes.«

»Du wirst anders denken, wenn Du ruhiger geworden sein wirst,« sagte er ermutigend, setzte sich auf den Bettrand bei ihrem Stuhle und nahm ihre Hand. »Du wirst Dich an das neue Leben schnell genug gewöhnen. Du wirst schöne Kleider haben und was sonst Dein Herz begehrt. O, es ist sehr angenehm, reich zu sein, mein liebes Kind.«

Amanda hatte kaum ein mattes Lächeln für dieses und was, er sonst noch anführte, um sie die Zukunft im rosigen Lichte sehen zu, lassen. Am nächsten Vormittage wollte er wiederkommen; sie sollte ihren Fuß nicht mehr in die Werkstätte setzen. Zum Abschiede küßte er sie väterlich auf die Stirn und sie ließ es geschehen, ohne sich zu regen, ohne ein Wort zu sagen.

Als er sie verlassen hatte, barg sie das Gesicht wieder in den Händen und hob auch den Kopf nicht auf, als Frau Schlitzweg sie zum Mittagessen rufen kam, noch folgte sie dem Rufe. Erst der Klang einer frischen männlichen Stimme, der aus der Wohnstube vernehmbar wurde, entriß sie ihrem Brüten. Sie lauschte, ihr eben noch geisterbleiches Gesicht rötete sich und im nächsten Augenblick warf sie sich ungestüm in die Arme, die ihr ein junger, kräftiger Mann von der Schwelle aus entgegenbreitete. Er hatte intelligente Züge und blaue, strahlende Augen. Schnurr- und Knebelbart von rötlichem Blond, gaben dem Kopfe ein Künstlergepräge. Aber Heinrich Kraft war kein Künstler, sondern ein Arbeiter, ein Klavierbauer. Kaum hatte er seine bärtigen Lippen auf Amandas Mund gedrückt, so entschlüpfte sie ihm wieder, um sich zum Ausgange fertig zu machen, denn sie hatten eine Fahrt auf dem Dampfer nach Treptow verabredet. Amanda hatte es so eilig, daß sie sich nicht Zeit nahm, erst die Handschuhe zuzuknöpfen. Ein flüchtiges Abschiedswort ihren Wirtsleuten, und sie glitt die Treppen hinunter. Heinrich vermochte ihr kaum zu folgen.

»Du bist ja heute der reine Sturmwind,« neckte er sie auf der Straße, und sie erwiderte, indem sie sich an seinen Arm hing: »Es stürmt und wirbelt auch alles in mir, so daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht.«

»Wenn Du nur weißt, wo Dein Herz sitzt,« scherzte er, ihren Arm zärtlich an sich drückend.

Amanda drängte vorwärts. Sie hätte ihm so viel zu erzählen, aber auf der offenen Straße ginge das doch nicht. Hoffentlich würden sie bei dem schönen Wetter in der Kajüte des Dampfbootes allein sein.

In diese stiegen dann auch beide sogleich hinunter, nachdem sie an Bord' gekommen waren, und setzten sich in die fernste Ecke. Es schaute auch nur selten jemand flüchtig hinein, während auf dem Verdeck die Leute dicht gedrängt saßen und standen, und Amanda konnte fast ungestört das wichtige Ereignis des Vormittags berichten.

Heinrich warf seinen Hut neben sich auf die Bank und strich sich erregt das Haar aus der breiten weißen Stirn zurück. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen; denn es ward ihm blitzartig klar, daß die Veränderung in den Verhältnissen Amandas eine Kluft zwischen ihnen aufreißen mußte. Er liebte jedoch Amanda zu sehr, um sich nicht des ihr bevorstehenden Glückes zu freuen. »Das ist besser, als wenn Du das große Los gewonnen hättest,« rief er und sein Weh beherrschend, gewann er es über sich, nicht nur sie als künftige vornehme junge Dame zu necken, sondern auch ernstlich ihre Einwendungen zu bekämpfen. Denn sie sträubte sich, den Vorschlag ihres Vaters anzunehmen. Sie erinnerte den Geliebten an ihre traurige Kindheit und an das kümmerliche, entbehrungsvolle Dasein, das sie bis jetzt geführt hatte. Sollte das alles plötzlich vergessen sein, weil es demjenigen, der schuld daran war, plötzlich gefiel, seiner Vaterschaft sich zu erinnern? Darüber hatte sie gebrütet, seitdem Herr Martins am Vormittage sie verlassen. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie nichts erfahren als Lieblosigkeit und Mißhandlung, und zwar von der eigenen Mutter, die seit ihrer Verheiratung in Amanda nur einen Vorwurf ihres Fehltrittes sah und sie haßte, während sie ihre ehelichen Kinder auf jede Weise verzog. Hätte ihr Stiefvater ihrer nicht zuweilen gegen die Mutter und die Tyrannei der Stiefgeschwister sich angenommen, es wäre ihr noch schlimmer ergangen. Sie hatte Unmenschliches erduldet und Herr Martins hatte nach fragen können, warum sie nicht bei den Ihrigen wohnte? Sie war von Hause fortgelaufen, sobald sie imstande gewesen, sich durch ihrer Hände Arbeit ein Stück Brot zu verdienen, und mehr war es anfangs nicht gewesen.

»Das alles ist aber kein Grund, um das Anerbieten Deines Vaters zurückzuweisen,« stellte Heinrich ihr vor. »Im Gegenteil, je unglücklicher Du warst, ein um so größeres Anrecht hast Du darauf, daß Dein Vater Dich dafür entschädigt. Um so größer ist seine Pflicht, Dich schadlos zu halten. Wenn Du jetzt für ihn nichts fühlst – wie könnte es auch anders sein? – dankbar wirst Du ihm doch sein können, nicht wahr?«

»Als ob es nur das wäre!« erwiderte sie mit wogender Brust. »Ach, Heinrich, das schrecklichste ist, daß, wenn ich ihm folgen muß, wir nicht so frei mehr werden verkehren können, daß wir uns nicht mehr so oft werden sehen können. Du hast mich als ein blutarmes Mädel geliebt, Heinrich! Heinrich, wenn Du je aufhören könntest, mich zu lieben, es wäre mein Tod.«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und blickte ihm ängstlich forschend und flehend in die Augen. Ihm klopfte das Herz schwer, dennoch versuchte er zu lächeln: »Ich, Liebste? Aber Du, Du? Ich werde nie aufhören, Dich zu lieben, wie ich Dich heute liebe!« Und während auf dem Verdeck die Schiffsglocke das Zeichen gab, daß sich der Dampfer der Landungsstelle von Treptow näherte und das Wasser stärker erbrauste, preßte er Amanda kräftig an sich und küßte sie leidenschaftlich. Ihm war es wie ein Abschied und was in seinen Küssen glühte, war der Schmerz.

3.

»Sie werden Ihren Brief doch nicht selbst forttragen, Fräulein? Dazu sind die Dienstboten da. Bitte, geben Sie!«

Amanda, die eben vor dem Spiegel im vergoldeten Barockrahmen ihren Hut aufsetzen wollte, war es zufrieden. Sie fand es aber komisch, daß Fräulein Käsebitter deshalb die dienstbaren Geister in der übertragenen Arbeit stören wollte, während sie nichts zu tun hätte und die wenigen bis zum nächsten Briefkasten selbst gehen könnte.

Fräulein Käsebitter nahm den Brief mit einer mitleidig überlegen lächelnden Miene und schritt würdevoll aus dein Zimmer. Sie warf immer noch ihren kalten Schatten auf den Glanz, mit dem die Wohnung eingerichtet war. Herr Martins hatte sie nicht entlassen, wie er beabsichtigt, vielmehr sie ins Vertrauen gezogen, als er sich entschlossen, seine Tochter zu sich zu nehmen. Er hatte dabei weiblichen Rates und Beistandes nicht entbehren können und ein guter Geist ihn davor bewahrt, sich an seine Schwägerin zu wenden. Seine Enthüllungen hatten, wie nicht anders zu erwarten stand, das sittenstrenge Fräulein höchlich empört. Um so rücksichtsloser hatte sie es als seine heiligste Pflicht erklärt, sein Unrecht an seinem Kinde gut zu machen, mochte die Welt deshalb auch von ihm denken, was sie wollte, und ihm nicht nur geholfen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, sondern ihm auch versprochen, das arme junge Mädchen auf der neuen Lebensbahn zu leiten und zu behüten. Demgemäß hielt sie es auch für ihre Pflicht, erst Herrn Martins zu fragen, ob sie Amandas Brief zur Post geben dürfte? Denn dieser Brief war an einen Herrn gerichtet, dessen Namen sie nie gehört hatte. Auch Herrn Martins war er fremd, weshalb er den Brief »einstweilen«, wie er sagte, zurückbehielt, ihn aber unverzüglich erbrach, nachdem Fräulein Käsebitter sich entfernt hatte. Die ungelenk bergauf und bergab stolpernden Schriftzüge im Verein mit der völligen Gleichgültigkeit gegen die Gesetze der Rechtschreibung, machten es Herrn Martins nicht leicht, den Inhalt des Briefes zu enträtseln und der Lohn für seine Mühe war recht unerfreulich.

Amanda war unterdessen auf den Balkon getreten und beobachtete das lebhafte und geräuschvolle Treiben auf der breiten, von Bäumen eingefaßten Straße. Mancher Vorübergehende verzögerte den Schritt, um die junge elegante Dame im lichtgrauen Kleide mit rotem Besatz und roten Schleifen, die gleichsam über dem Blumengärtchen schwebte, genauer zu betrachten. In das Laub der Baumkronen mischte sich bereits manch welkes Blatt und in dem Vorgarten blühten nur noch spärlich die Georginen. Es war ein sonniger Tag, und die Sonne veranlagte Amanda bald, wieder in das Zimmer zurückzukehren, wo sie sich auf einem niedrigen Polsterstuhle mehr bequem als anmutig ausstreckte, die Hände unter dem Hinterkopfe ineinander faltete und träumerisch zu dem Kronleuchter aufschaute, dessen Kristallbehang rote, grüne und gelbe Blitze warf. Ihre Gedanken folgten ihrem Briefe zu seiner Bestimmung und malten sich die Freude Heinrichs aus, wenn er abends von der Arbeit kam und ihre Zeilen fand. Was er wohl zu dem Leben sagen würde, das sie nun schon länger als vierzehn Tage führte? Sie lächelte und seufzte.

Ihr Vater unterbrach ihr Träumen. Auch er lächelte. »Bleibe ruhig sitzen,« rief er, da sie Miene machte, aufzustehen und rückte sich einen Stuhl neben ihren Sessel. »Du ruhst wohl von Deiner Anstrengung aus, liebes Kind?« scherzte er. »Ich wette, Du hast noch Tinte an Deinen Fingern.«

»Tinte?« fragte sie überrascht. »Nein! Ich habe mir die Hände nachher gewaschen. Aber wie weißt Du denn davon, Papa?« So mußte sie ihn jetzt auf seinen Wunsch nennen.

»Ja, siehst Du,« lächelte er, »Fräulein Käsebitter hielt es für ihre Pflicht, mir Deinen Brief zu zeigen, bevor er abgeschickt wurde. Denn, liebes Herz, es ist in dem Kreise, dem Du jetzt angehörst, nicht Sitte, daß junge Damen an unbekannte Herren schreiben.«

»Aber Heinrich ist kein unbekannter Herr,« rief sie lebhaft. »Er ist mein bester Freund und auch Du wirst ihn gern haben, wenn Du ihn erst kennst, ein so lieber, prächtiger Mensch ist er, und so klug! Ich habe bisher nur noch keine Gelegenheit finden können, mit Dir von ihm zu reden.«

Er lächelte auch jetzt noch, obgleich es ihn Mühe kostete. Daß es seine Schuld war, wenn sie ihm noch nicht von ihrem »besten Freunde« hatte erzählen können, ahnte sie nicht. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, nicht mit ihr von ihrer Vergangenheit zu sprechen, in der Hoffnung, daß sie dieselbe um so schneller vergessen würde. »Also Dein bester Freund,« sagte er, auch jetzt diesem Grundsatze folgend. »Aber Du wirst begreifen, daß Deine früheren Freunde nicht in Deine gegenwärtigen Verhältnisse hineinpassen.« Nur darauf wollte ich Dich aufmerksam machen. Im übrigen vertraue ich ganz Deinem weiblichen Taktgefühl.«

»Aber Du mißverstehst mich,« entgegnete sie, die Gelegenheit fest, haltend, und setzte mit erglühenden Wangen hinzu: »Heinrich ist mein Verlobter.«

»Ah, Dein Verlobter!« wiederhalte er mit verstellter Ueberraschung.

»Ja, und ihm hast Du es zu verdanken, daß ich hier bin,« erwiderte sie. »Ich wäre nicht gekommen, Papa, wenn er nicht darauf bestanden hätte.«

»Das glaube ich wohl,« rief Herr Martins mit einer verächtlichen Bitterkeit, die nicht erheuchelt war.

Amanda sah ihn einige Sekunden lang durchdringend an, dann sagte sie leise: »Das war schlecht! – Wenn Heinrich auch nur ein Arbeiter ist, er würde sich geschämt haben, so etwas auch nur zu denken. Nur um mein Glück allein war es ihm zu tun.«

»Aber Du kannst doch in Deiner jetzigen Stellung nicht mehr daran denken, einen Arbeiter heiraten zu wollen,« rief er fassungslos, sprang aus und lief im Zimmer hin und her.

»Ja, warum denn nicht, da ich ihn liebe?« fragte sie.

Er blieb die Antwort schuldig, setzte sich aber wieder, nachdem er das Zimmer noch einige Male durchmessen hatte, und rieb sich die Stirn. »Hm! hm!« räusperte er sich nach einer Weile, »ich habe mich vorhin vielleicht etwas zu stark über den jungen Menschen ausgesprochen. Nun, wenn es ihm wirklich nur um Dein Glück zu tun ist, dann wird er auch den veränderten Umständen Rechnung tragen. Warten wir es ab, mein Kind! Oder eilt es Dir so sehr, unter die Haube zu kommen, noch bevor Du Dein Leben ein wenig genossen hast?« Er fühlte wieder den vorher verlorenen Boden unter den Füßen, und durch Amandas verneinendes Kopfschütteln auf seine Frage ermutigt, fuhr er fort: »Warten wir es also ab! Du hast an ihn geschrieben, gut – d. h. ich kann es nicht billigen, daß Du es tatest; aber da es einmal geschehen ist, so können wir ja einstweilen abwarten, was weiter wird. Er wird ja wissen, was er zu tun hat, wenn er wirklich einzig Dein Glück im Auge hat. Nur eines muß mir mein Töchterchen versprechen: nicht wieder ohne mein Vorwissen an ihn zu schreiben.«

Sie versprach es und er hielt die Hand fest, die sie ihm darauf gab, und streichelte sie, innerlich froh, die unangenehme Sache in der Zeiten Hintergrund geschoben zu haben. Ihre Hand fühlte sich noch rauh und hart an, aber wie Ruhe und Pflege dieselbe allmählich weich und weiß machen würden, so gab Herr Martins sich der Hoffnung hin, daß seine Tochter, wenn sie erst in die Annehmlichkeiten ihrer gegenwärtigen Lage sich mehr hineingelebt haben, die Ungeheuerlichkeit einsehen würde, die Frau eines Arbeiters werden zu wollen. »Und jetzt wollen wir bei den: schönen Wetter eine Fahrt durch den Tiergarten machen,« sagte er, indem er sich mit einer gewissen Elastizität erhob. »Willst Du?«

Warum hätte sie es nicht sollen? Es behagte ihr sehr, auf den Kissen eines bequemen Wagens rasch dahinzurollen. Sie hätte überhaupt nicht jung sein und die Entbehrungen und Demütigungen der Armut ertragen haben müssen, wenn ihr das neue Leben nicht gefallen hätte. Ihr Vater gab ihr ein reichliches Nadelgeld und überhäufte sie außerdem mit Geschenken, besuchte mit ihr die Theater, Ausstellungen, Konzerte, selbst die Läden und war glücklich über ihre Zufriedenheit. Glücklicher noch machte es ihn, daß sie unter den verschönernden Einflüsse des Wohlstandes zu erblühen begann, ihre schlanke Gestalt eine reizende Fülle annahm und ihre bräunlichen Wangen sich röteten. Selbst ihre schwarzen Augen schienen an Glanz zu gewinnen. Ihr Vater sagte ihr über ihr gutes Aussehen Schmeicheleien wie ein Liebhaber und war stolz darauf, sich mit ihr öffentlich zu zeigen.

Herr Martins hatte nicht Unrecht, wenn er meinte, daß in der hübschen, mit geschmackvoller Eleganz gekleideten jungen Dame kaum jemand das frühere Fabrikmädchen erraten würde. Der Geschmack in ihrer Toilette war ein Verdienst des Fräuleins Käsebitter, deren Rat in diesem Punkte sie anfangs gern befolgte. Sonst erfuhr das Fräulein nur zu bald, daß Amanda weder das Wachs in ihren Händen war, noch die Demut besaß, die sie vorausgesetzt hatte, und mußte, die Erfahrung machen, daß ihr Zögling, den sie leiten und behüten wollte, die gefährlichen Nachtseiten des Lebens viel besser kannte als sie. Indessen übte sie noch auf einem anderen Gebiete einen guten Einfluß aus, indem sie Herrn Martins begreiflich machte, daß seine Tochter auch geistig für ihre neue gesellschaftliche Stellung vorgebildet werden müßte. Sie selbst übernahm es, Amanda in den weiblichen Handarbeiten, von denen diese so gut wie nichts verstand, zu unterweisen. In den Fabriken kennt man dergleichen eben nicht, und daheim hatte Amanda von kleinauf ihre jüngeren Geschwister warten und wie eine Magd im Haushalt schaffen müssen.

Am liebsten hätte sie sich auch jetzt in der Wirtschaft betätigt; denn das Lernen gewährte ihr nur ein sehr mäßiges Vergnügen. Fräulein Käsebitter verteidigte aber mit Entschiedenheit die Grenzen ihres Reiches. Eine junge reiche Dame gehöre in den Salon, nicht in die Küche. Wenn es in dem Salon nur nicht zuweilen gar so langweilig gewesen wäre! Wenn sie nur jemand gehabt hätte, mit dem sie sich dann und wann so recht nach Herzenslust hätte ausschwatzen können! Noch hatte sie gar keinen Umgang, selbst nicht in der Familie ihres Onkels. Denn Herr Martins der jüngere vergab ihrem Vater nicht die Zerstörung der Anwartschaft auf sein Vermögen und der Erbonkel war für die Familie nicht mehr vorhanden, seitdem er Amanda als sein Kind anerkannt hatte. Nun, er konnte die Sippschaft entbehren, hatte er doch jetzt eine eigene Häuslichkeit; aber seine Tochter sehnte sich nach etwas mehr Verkehr als mit ihm und dem pflichtsteifen Fräulein Käsebitter. Es wollte sie bedünken, als ob ihr früheres Leben trotz allem lustiger gewesen wäre. Sie erinnerte sich an das muntere und vertrauliche Geplauder mit ihren Kameradinnen während der Frühstücks und Mittagspause und auf dem Heimwege am Feierabend. Und dann an den Sonntagen die Spaziergänge und Ausflüge mit Heinrich! Manches Theaterstück, dem sie jetzt in der Loge oder dem Sperrsitz beiwohnte, hatte sie neben Heinrich vom Olymp herab angeschaut und es kam ihr vor, als ob es sie damals viel mehr ergriffen oder zum herzlichen Lachen gereizt hätte als jetzt. Und die Konzerte in den Biergärten! Ihr pochte das Herz und ihre Wangen erglühten, indem sie sich die glückseligen Stunden an seiner Seite zurückrief. Warum antwortete er ihr noch immer nicht? Denn sie zweifelte nicht, daß ihr Brief an ihn abgeschickt worden war. Schon war es Winter und Regen und Schnee zischten gegen die Spiegelscheiben, hinter denen sie wie eine Prinzessin lebte. Daß Heinrich sie vergessen haben könnte, war unmöglich, denn er hatte ihr geschworen, daß er sie ewig lieben würde, damals auf der Fahrt nach Treptow und zuletzt, wie er vor ihrer Haustür von ihr Abschied genommen hatte. Jeden Tag erhoffte sie Nachricht von ihm und da keine kam, erfaßten Schmerz und Zorn sie. Wohlan, auch sie wollte nichts mehr von ihm wissen; allein der Trotz, in dem sie sich zu ausgelassener Lustigkeit stachelte und den Vater zu mancher Extravaganz veranlaßte, brach bald wieder in sich zusammen. Nein, untreu konnte Heinrich nicht sein. Warum schwieg er also? Warum blieb er ihr fern? Innere Unruhe verzehrte sie und sie schmiedete die abenteuerlichsten Pläne, um sich Gewißheit zu verschaffen.

4.

Das Ende des Winters brachte den Geburtstag des Herrn Martins. Amanda beschenkte ihn mit dem ersten Kunsterzeugnis ihrer Nadel: einem Paar gestickte Morgenschuhe. Die Stickerei ließ noch manches zu wünschen, aber gerade daran erkannte der Vater, daß Amanda sie nicht in einem Tapisserieladen gekauft hatte, und war deshalb von diesem Beweis ihrer Liebe um so erfreuter und gerührter. In früheren Jahren pflegte er an diesem Tage ein kleines Herrendiner zu geben; diesmal hatte er seine Einladung auch auf die Frauen, Töchter und Söhne seiner genauesten Bekannten ausgedehnt. Amanda sollte bei dieser Gelegenheit in die Gesellschaft eingeführt werden, und wahrscheinlich klopfte dem Vater das Herz, dabei stärker als seiner Tochter. Einige Absagungen, die er erhalten, ließen ihn wohl nicht ganz ohne Grund besorgen, daß man dem Mädchen die Unregelmäßigkeit ihrer Geburt, als ob sie schuld daran wäre, zur Last legen könnte. Seltsam, daß er vorher nie an die offenen und versteckten Feindseligkeiten gedacht hatte, mit denen die sogenannten höheren Gesellschaftsklassen diejenigen zu behandeln pflegen, welche ihr Dasein einem Diebstahl der Natur verdanken. Nun, er hatte keine Ursache, sich in diesem Punkte über seine Gäste zu beklagen und auch seine zweite geheime Befürchtung, daß seine Tochter sich nicht sicher zu benehmen wissen würde, erwies sich als eitel. Amanda war ganz unbefangen, und ihre hübsche Erscheinung tat das Uebrige. Sie trug ein Kleid von gelber Seide mit einem klaren Ueberwurf, der mit dunkelroten Rosen gerefft war und eine ebensolche Rose schmückte ihr schwarzes, glänzendes Haar. Herr Martins warf von seinem Ehrenplätze an der Spitze der Tafel manchen zufriedenen Blick zu ihr hinüber und wunderte sich, wie ruhig sie sich mit den beiden jungen Herren zu ihrer Linken und Rechten unterhielt. Ihre beiden Nachbaren wunderten sich weniger über ihre Ruhe, als dieselbe sie verdroß. Amanda schien unter ihren Bemühungen, ihr den Hof zu machen, immer kühler zu werden, während sie vor Tische, besonders mit den jungen Mädchen, sehr lebhaft, fast zu lebhaft geplaudert hatte. Und trotz der Kühle strömten ihre dunklen Augen Feuer aus, ein Feuer, das unter dem Geräusch des Festes und unter der Flut von Trinksprüchen, welche die Gläser kaum aus dem Klingen kommen ließ, sich allmählich träumerisch verschleierte.

Und so saß sie, nachdem das Fest verrauscht und die Gäste sich entfernt hatten, träumerisch an ihrem Halsschmuck spielend da, während ihr Vater mit hochgerötetem Gesichte ob der reichlichen Weinpflege, die er seiner eigenen Gesundheit und der seiner Gäste hatte angedeihen lassen müssen, hin und her ging, wobei er stark atmete. Zuletzt blieb er vor Amanda stehen, betrachtete sie mit dem Wohlgefallen väterlicher Eitelkeit und sagte: »Nun, mein liebes Kind, ich denke, Du kannst mit Deinem Debut zufrieden sein?«

Amanda blickte unter ihren zusammenfließenden Brauen zu ihm auf und sagte nach kurzem Zögern anstatt zu antworten: »Ich wollte Dich etwas fragen, Papa!« Und wiederum ein wenig zögernd, fügte sie hinzu: »Hast Du damals meinen Brief abgeschickt?«

»Welchen Brief?« fragte er; denn er verstand im ersten Augenblick wirklich nicht, was sie meinte. Dann aber wurde ihm recht unbehaglich zu Mute und die Unschuldsmiene, die er machen wollte, mißlang. »Ja so! Ich glaube, ich sagte Dir, daß ich es nicht ganz schicklich fand, ihn abzusenden. Was hätte der Mann von Dir denken sollen?«

»Aber das fiel Dir nicht ein, was Heinrich von mir denken müßte und gewiß denkt, wenn er gar nichts von mir hörte?« rief die Tochter mit zürnenden Augen, »Wenn ich das hätte ahnen können!« Sie erhob sich unruhig.

»Was Du für ein törichtes Kind bist!« sagte der Vater und suchte ihre Hand zu fassen, die sie ihm verweigerte, »Du mußt doch begreifen, daß es unmöglich für Dich ist, Deine alte Schwärmerei jetzt noch realisieren zu wollen, jetzt mit Deiner Verwöhnung und Deinen Ansprüchen an das Leben! Wirf doch nur einen Blick in den Spiegel dort und stelle einen Arbeiter, nicht in seinen Werktagskleidern, sondern meinetwegen in seinem Sonntagsanzuge, an die Seite dieser eleganten jungen Dame. Du siehst beiläufig in dieser Toilette reizend aus, mein Kind.«

»Aber Deine Vorstellung von ihm ist falsch! Du kennst ihn ja gar nicht,« erwiderte Amanda ungerührt von seiner Schmeichelei. »Heinrich sieht sehr gut aus, besser als die beiden geschniegelten Herrchen, die mich bei Tische langweilten. Auch ist er sehr geschickt in seinem Fache, und wenn er heute noch ein Arbeiter ist, so braucht er es morgen nicht mehr zu sein, wenn Du es willst. Er kann ein eigenes Geschäft anfangen, wie so viele, die vordem auch nur Arbeiter waren. Du bist ja reich!«

Welch ein Starrkopf, dachte Herr Martins bei sich und fuhr sich mit dem Tuche über die glühende Stirn. Er sah ein, daß er sein väterliches Ansehen aufbieten müßte und entschloß sich dazu, während Amanda ihre Hand auf seinen Arm legte und schmeichelte: »Bitte, Papa, lerne ihn doch nur kennen. Und wozu hast Du denn Dein Geld, wenn Du mich nicht glücklich machen willst?«

»Eben weil ich Dich glücklich machen will, darum trage ich Bedenken, Dein Vermögen, denn über lang oder kurz wird es Dir gehören, zum Fenster hinauszuwerfen,« erwiderte Herr Martins. »Das Geld ist ein kitzlich Ding, liebes Kind. Aber nehmen wir an, daß dieser – er heißt ja wohl Kraft? – daß dieser Kraft sein Geschäft wirklich so gut versteht, wie Deine Voreingenommenheit glaubt, wird er darum ein anderer? Du hast Dich in der kurzen Zeit schon sehr gut in die Formen der höheren Gesellschaftsklasse gefunden. Ihr Mädchen habt überhaupt dazu ein natürliches Geschick. – Mit den Männern ist das anders. Beantworte Du es Dir selbst, ob Kraft je in einen Kreis passen wird, wie er heute Abend hier versammelt war. Du kennst ja aus eigener Erfahrung manche von jenen, Leuten, die aus Arbeitern zu Unternehmern geworden sind. Man merkt ihnen noch immer in der Gesellschaft das grobe Holz an, aus dem sie geschnitzt sind. Alle Achtung vor der Energie, mit der sie sich emporgearbeitet haben, aber ich danke für die Ehre eines gesellschaftlichen Verkehrs mit ihnen.«

»Aber was liegt daran?« fragte Amanda mit Ungeduld. »Ich liebe Heinrich und man heiratet doch nicht für andere Leute.«

»Und ich sage Dir, daß ich einen Schwiegersohn nicht mag, dessen ich mich schämen müßte,« rief er erregt. »Schlag' ihn Dir aus dem Sinn! Für mein Geld kann ich andere Leute haben. Du wirst nur zu wählen haben.«

»Ich mag aber keinen anderen,« versetzte Amanda, deren Stirn sich in Fältchen zu legen begann. »Du weißt, daß Heinrich mein Wort hat.«

»Meines hat er aber nicht und wird es nie haben,« rief er hitzig. »Potztausend, ich bin der Vater und Du hast zu gehorchen. Du kennst jetzt meine Ansicht, sprechen wir also nicht mehr davon!«

Amanda sah ihn mit glühenden Augen an, indem sie immer blässer wurde. »Du willst nichts weiter davon hören und doch hängt mein ganzes Herz daran?« fragte sie mit leise zuckenden Lippen. »So wenig gilt Dir mein Glück? Aber dann hast Du mich auch nie geliebt. Dann war Deine Liebe zu mir nie etwas anderes als Selbstsucht, alles, alles nur Egoismus von Dir.«

Sie wandte sich und verließ rasch das Zimmer. Er rief sie betroffen zurück, aber sie achtete nicht darauf. Sie ging in ihr Zimmer, das reizend eingerichtet und mit unzähligen hübschen Nichtigkeiten geschmückt war. Das Mädchen, das ihr beim Auskleiden behülflich sein wollte, schickte sie fort, warf sich in einen Sessel und sann und sann und sann, indem sie sich das Gesicht mit den Händen bedeckte, wie damals, nachdem ihr Vater sich ihr zu erkennen gegeben hatte.

5.

Ein körniger Schnee stöberte durch die Straßen, als ob es nochmals Winter werden wollte. Es war Sonntag. Heinrich Kraft legte den »Vorwärts«, in dem er gelesen, aus der Hand und trat an das Fenster. Seine sonst so hellen, freundlichen Augen schauten trübe und die Stirnfalte an der Nasenwurzel hatte sich vertieft. Seit jenem letzten Ausflug mit Amanda hatte er schwere Kämpfe in sich durchgerungen. Die Arbeiterin hatte sich ihm verlobt und sein Stolz litt nicht, von Amanda unter den veränderten Verhältnissen die Erfüllung ihres damaligen Versprechens zu verlangen. Daß sie es nicht würde erfüllen können, ohne auf die Glücksgüter zu verzichten, die ihr plötzlich zugefallen waren, darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Denn er kannte ja die Anschauungen der Welt, der sie jetzt angehörte, nur zu gut, und es brauchte andere Mittel, als seinen Fleiß allein, um selbst in jene Welt hinüber zu gelangen. Aber wie hart ihm auch die Entsagung fiel, am meisten schmerzte ihn, daß Amanda ihn so schnell hatte vergessen können. Es war ja gut für sie, und er hatte vorausgesehen, daß er aus ihrem Gedächtnis entschwinden würde, dennoch tat es ihm weh. Er arbeitete angestrengt, um seinerseits sie zu vergessen; in der Muße aber drängte sich ihr Bild immer wieder vor seine Seele. So auch jetzt, wie er in die Wirbel der Eisnadeln hinausschaute. Als er sich darauf ertappte, strich er mit der Hand fest über die Stirn und nahm von dein Kleiderschrank eines der Bücher, die dort oben standen. Es war »Das Kapital« von Karl Marx. Kaum war es ihm jedoch gelungen, in den schwierigen Gegenstand sich zu vertiefen, als es klopfte. Ob er es gehört und: »Herein« gesagt hatte, wußte er nicht. Er fuhr jäh von seinem Stuhle auf und starrte keines Wortes mächtig.

Amanda stand vor ihm und streckte ihm beide Hände entgegen. Auch sie war sprachlos, ihr Busen wogte unter dem enganschließenden Mantel von Seidenplüsch, ihr Gesicht hinter dem Halbschleier war brennendrot. So standen beide etwa eine Sekunde lang einander gegenüber.

»Heinrich!«

Da machte er eine Bewegung gegen sie, jedoch wurzelte sein Fuß sogleich wieder fest. Sie aber ergriff seine Hände, und dann hielt er sie an sein stürmisch pochendes Herz gepreßt. Ihr Kopf sank auf seine Schulter und sie weinte. Wachte er? Träumte er? Hielt er sie wirklich in seinen Armen? Er war noch immer keines Gedankens mächtig. »Du vergibst mir?« flüsterte sie und hob das Antlitz. »Es war ja nicht meine Schuld!« Seine glühenden Küsse verschlossen ihr den Mund.

»O, nun ist alles gut!« sagte sie endlich mit den glückseligsten Augen.

»Hättest Du mich nicht mehr geliebt, ich hätte nicht weiter leben können!«

Jetzt kam er zur Besinnung, die Arme sanken ihm schlaff herab und er sagte mit einer finsteren Miene: »Warum versuchst Du mich? Es kann ja doch nicht sein.« Sie wich betroffen zurück. Dann rief sie mit fliegendem Atem: »Ich mußte Gewißheit haben, ob Du mich noch liebst oder nicht. Ich hatte Dir geschrieben, aber Du antwortetest nicht. Erst seit vorgestern weiß ich, daß mein Vater den Brief nicht abgeschickt hat.«

»Er weiß also um Deine Liebe zu mir und billigt sie nicht?« rief Heinrich und strich sich das Haar aus der Stirn. »Natürlich nicht, und dennoch bist Du hier? O, verzeih' mir, verzeih', daß ich glaubte, Du hättest mich vergessen! Aber nun?«

Sie erzählte ihm die Unterredung mit ihrem Vater und den Ausgang der letzteren. »Du siehst,« schloß sie, »daß er bei allem, was er für mich getan hat, nur an sich dachte. Ich bin ihm daher nichts schuldig. Sie glauben, daß ich jetzt in der Kirche bin, aber dieser Gottesdienst wird ewig dauern.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und küßte ihn. Er aber war nicht wenig betroffen und fragte: »Du wolltest nicht wieder nach Hause gehen?«

»Ich habe einen Zettel in meiner Stube zurückgelassen, daß ich nicht wieder komme«, bestätigte sie. »Liebtest Du mich nicht mehr, was lag mir an allem, was ich hinter mir ließ? Was liegt mir daran, da Du mich liebst? Nein, ich will von all dem Plunder nichts mehr wissen!« Sie zog sich die Handschuhe aus, nahm die mit Wildfedern geschmückte Sammettoque von den Locken und warf sie auf das Bett. Auch den Ueberzieher öffnete sie, unter dem ein dunkles Seidenkleid mit vielen Rüschen ihre Gestalt umfloß. Heinrich folgte ihrem Beginnen mit nachdenklichen Augen. »Was aber nun weiter?« fragte er. »Wir können doch nicht von hier geraden Weges auf's Standesamt gehen, und hier bleiben kannst Du doch auch nicht.«

»Ich werde wieder wie vorher arbeiten und finde wohl bei Schlitzwegs vorläufig eine Unterkunft,« äußerte sie ruhig und ließ sich auf den Stuhl nieder, auf dem er vorher gesessen. »Wahrlich, Du hast Mut!« rief er bewundernd und kniete vor ihr nieder. Sie strich ihm lächelnd über das Haar. Er haschte und küßte ihre Hände. »Wie gut sie riechen, und wie weich sie geworden sind!« rief er. »Und mit diesen Händen willst Du wieder arbeiten wie früher? Ach, das wird ihnen schwer ankommen, Geliebte! Dein Los wird Dir doppelt, nein, dreifach hart erscheinen, nachdem Du den Luxus kennen gelernt hast. Ich vermag Dir nichts der Art zu bieten und Du wirst Dich vergeblich nach dem früheren Wohlleben zurücksehnen und die Reue das erhoffte Glück zerstören, Deines und meines. Nein, Geliebte, so sehr ich Dich liebe, so glücklich mich dieser Beweis Deiner Liebe macht, ich kann das Opfer nicht zulassen, ich darf es nicht annehmen.« Und er beschwor sie mit der Beredtsamkeit, welche die Liebe ihm verlieh, daß sie zu ihrem Vater zurückkehren mochte. Sie aber wollte davon nichts hören und hatte auf alle seine Vorstellungen nur die eine Entgegnung, auf die sie ernst, heiter und Zärtlich immer wieder zurückkam: ihre Liebe, ohne welche jedes Leben für sie wertlos war.

Eben um dieselbe Zeit klopfte Herr Martins an die Tür seiner Tochter. Er stand im Begriff, zu seinem sonntäglichen Frühschoppen ins Weinhaus zu gehen, und da er Amanda in ihrem Zimmer glaubte, so rief er ihr, wie er es gewöhnlich tat, ein: »Adieu, Kind!« zu. Als die Antwort ausblieb, öffnete er die Tür und sein umschauender Blick fiel auf das Billett, das Amanda für ihn auf der Platte ihres zierlichen Schreibtisches zurückgelassen hatte. Verwundert erbrach er es. Eine Wolke legte sich über seine Augen und er mußte sich niedersetzen. Als die Betäubung von ihm wich, hob er das Blatt, das ihm entfallen war, wieder auf und überlas die wenigen Zeilen nochmals. Jetzt knüllte er es zusammen und schleuderte es fort,. Um eines solchen Menschen willen hatte sie ihn, ihren Vater, verlassen können! Der Zorn gewann die Oberhand, er sprang so heftig auf, daß der Stuhl zu Boden fiel und rannte hin und her. Plötzlich blieb er stehen uno schlug eine höhnische Lache auf. Sie hat das Blut der Mutter; Art läßt nicht von Art, hohnlachte er. Seine Augen blitzten in dem Zimmerchen umher. Diese zierlichen Roccocomöbel, die Gemälde an den Wänden, diese hübschen, kostspieligen Spielereien, die überall umherstanden und lagen, alles zeugte von seiner Liebe zu ihr und sie hatte von ihm gehen können, di? Undankbare! Krachend warf er die Tür hinter sich zu und suchte sein eigenes Zimmer auf. Und sie hatte nicht einmal für nötig erachtet, ihm zu sagen, wohin sie gegangen war. Nun, er konnte es sich ja denken. Gut! Gut! Aber die Reue konnte nicht ausbleiben und dann sollte sie sich vergebens zu seinen Füßen winden. Er hatte das weichste Herz von der Welt, aber eine so unerhörte Undankbarkeit mußte es versteinern. Eine Rührung über sich selbst überkam ihn. Aber dann kehrte sich sein Groll gegen Fräulein Käsebitter. Wenn sie Amanda überwacht hätte, wie es ihre Pflicht forderte, dann wäre ihm dieser Schimpf nicht angetan worden. Sie mußte sein Saus verlassen; das stand bei ihm fest. Und in demselben Augenblicke trat diejenige, die er seine eigene Schuld entgelten lassen wollte, mit ihrer gewohnten Würde in das Zimmer und meldete ihm mit kühler Stimme, daß ihn ein Herr dringend zu sprechen verlange; seinen Namen habe er nicht nennen wollen. Ein unbestimmtes Etwas trieb Herrn Martins, den Besuch sogleich zu empfangen, und herein trat Heinrich Kraft, verbeugte sich höflich und nannte seinen Namen.

»Das also ist er?« sagte Herr Martins wie enttäuscht zu sich selbst, denn er hatte sich von dem »Arbeiter« Kraft ein Zerrbild entworfen, den: die Wirklichkeit vor seinen Augen in keinem Stücke entsprach. Um so mehr regte sich wieder sein, Zorn und er schrie den jungen Mann an: »Sie wagen es, hierher zu kommen? Was wollen Sie?«

»Was ich will, ist bald erledigt, Herr Martins,« versetzte Heinrich. »Amanda hat sich zu mir geflüchtet; sobald Sie Ihre Einwilligung zu unserer Verbindung geben, führe ich sie Ihnen wieder zu. Um diese Einwilligung Sie zu bitten, bin ich hergekommen.«

Das runde Gesicht des Herrn Martins wurde bläulich. »Meine Einwilligung? Herr!« Er drohte zu ersticken und zerrte an seinem Halstuch, »Sagen Sie ihr, daß sie augenblicklich nach Hause kommt. Ich befehle es ihr, ich, ihr Vater. Ich werde ihren Ungehorsam brechen, und wenn es sein muß, mit Gewalt, Sie muß gehorchen.« Er sank auf seinen Stuhl zurück.

»Ich fürchte, Sie verrechnen sich, Herr Martins,« entgegnete Heinrich unerschüttert in seiner höflichen Ruhe. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich alles getan habe, was in meinen Kräften stand, um Amanda zur Rückkehr zu Ihnen zu bewegen. Es war vergebens. Daß Sie Gewalt anwenden können, bezweifle ich nicht. Aber was gewännen Sie dadurch? Glauben Sie, daß die Polizei stark genug ist, die Liebe zu mir aus dem Herzen Ihrer Tochter zu reißen, die um meinetwillen alles aufzugeben entschlossen ist? Wissen Sie, was sie tat, als sie etwa zwölf Jahre alt war? Die schlechte Behandlung von ihrer leiblichen Mutter war ihr unerträglich geworden, und sie wollte sich, ins Wasser stürzen. Derjenige, der sie im letzten Augenblick davor bewahrte, war ihr Stiefvater, Herr Martins, der ihr nachgeeilt war.«

Herr Martins zupfte mit erregten Fingern an seiner Uhrkette. Er sah scheu zur Seite und sprach kein Wort. Heinrich trat ihm näher und sagte bewegt: »Mit Gewalt erreichen Sie von Amanda nichts, mit wahrhaft väterlicher Liebe alles. Unser Herzensrecht ist älter als das Ihrige und geht dem des Vaters vor. Oder würden Sie Amanda etwa nicht als Ihr Kind anerkannt haben, wenn Sie vorher von unserer Liebe gewußt hätten? Ich begreife sehr wohl, daß Sie mich von Ihrem gesellschaftlichen Standpunkte nicht mit freundlichen Augen betrachten können. Aber Sie kennen mich nicht. Lernen Sie mich erst kennen und dann beurteilen Sie, ob Amanda mit mir glücklich werden kann.«

Dieser blickte ihn ungewiß an, seufzte und bewegte sich auf seinem Sitze hin und her. Wie der Mensch zu sprechen wußte! Und er sah in seinen Sonntagskleidern so übel nicht aus. Aber was derselbe verlangte, war unmöglich. Er wollte sich auf nichts eher einlassen, als bis Amanda bedingungslos zu ihm zurückgekommen wäre.

»So begleiten Sie mich,« rief Heinrich lebhaft. »Lassen Sie Ihr Herz sprechen und ich bin überzeugt, daß Amanda Ihnen folgt.«

»Wie, ich, der Vater, soll mich vor dem Trotzkopf demütigen, ihn wohl gar um Verzeihung bitten?« wehrte sich Herr Martins. »Niemals!«

Heinrich schwieg etwa eine Minute, dann sagte er leise und nachdrücklich: »Bedenken Sie noch dieses Eine, Herr Martins: Vielleicht liegt Ihnen nichts an dem guten Namen Ihrer Tochter; aber auf Ihren eigenen Ruf werden Sie doch halten. Noch weiß niemand, was geschehen ist, morgen wird es bekannt sein. Man wird Ihre Tochter steinigen, und Sie nicht schonen.«

Herr Martins sank gegen die Lehne seines Stuhles zurück, als ob er ein Gespenst sähe. An den Skandal, den die Flucht Amandas verursachen mußte, hatte er noch nicht gedacht, und er sah die spöttischen Mienen seiner Bekannten, vernahm ihr schadenfrohes Bedauern, hörte den Hohn seines Bruders. Seine Stirn bedeckte sich mit Angstschweiß.

»Sie verlangen, geliebt zu werden, Herr Martins, und zertreten rücksichtslos das Glück Ihres Kindes,« fuhr Heinrich fort. »Als ob Liebe sich mit Geld und Gut erkaufen ließe. Achten Sie das Herz Amandas, und Sie werden an ihr die zärtlichste Tochter haben. Sie verlangt ja nichts sehnlicher, als Sie lieben zu können.«

Jener atmete schwer. Heinrich wartete auf seine Antwort, die ausblieb. Er bürstete seinen Hut mit dem Rockärmel, richtete dann noch einen langen Blick auf den alten Herrn, verbeugte sich und machte Miene, zu gehen. Ein gurgelnder Laut aus der Kehle des Herrn Martins hielt ihn zurück. Stöhnend erhob sich der Alte! Er begleitete Heinrich. Auf dem nächsten Halteplatz nahmen sie eine Droschke. –

Amanda kehrte mit ihrem Vater zurück und Heinrich durfte sie fortan besuchen. Sie behielt recht gegen den Vater, in dessen Achtung Heinrich sowohl wegen seines Charakters wie seines Kopfes mehr und mehr gewann, je besser er ihn kennen lernte. Der Gegensatz ihrer sozialen Anschauungen führte freilich zu manchen scharfen Erörterungen zwischen ihnen. Dennoch gab Herr Martins im Vertrauen auf Heinrichs Tüchtigkeit seinem künftigen Schwiegersohn die Mittel, um selbständig zu werden. Als Heinrich in seiner Klavierfabrik kurze Arbeitszeit einführte und hohen Lohn bezahlte, prophezeite er dessen Ruin. Als das Gegenteil eintrat, war er höchlichst erstaunt, aber nicht bekehrt. Er gehörte eben jener Generation an, die in Aegypten alt geworden ist und in der Wüste aussterben wird. Fräulein Käsebitter aber sagte eines Tages zu ihm: »Sie sehen, Herr Martins, daß man nicht unglücklich wird, wenn man seine Pflicht tut, nicht nur gegen sich selbst, sondern vor allen Dingen gegen das Herz der anderen.« Das sagte sie an Amandas Hochzeitsmorgen und es schimmerte etwas wie eine Träne in ihren kalten grauen Augen, als Amanda im Myrthenkranz und Schleier mit bräutlich glühenden Wangen und glücklich leuchtenden Augen die väterliche Wohnung verließ, um dem Gatten in sein Haus zu folgen. Fräulein Käsebitter fügte noch hinzu: »Sie können wegen ihrer Zukunft ganz ruhig sein, Herr Martins, das sind zwei tüchtige Menschen.«

Die Folge gab ihr recht und Herr Martins, der später zu dem jungen Paare übersiedelte, sonnte sich noch lange mit vollem Behagen in der Achtung, Dankbarkeit und Liebe seiner Kinder und Kindeskinder.


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