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Zweiter Theil.


I.

Fünf Jahre sind verflossen.

Aengsberga stand umgeben von aller Pracht des Sommers. Die Vögel sangen und die Fluren grünten.

Auf der Veranda saßen zwei junge Männer, der Doktor der Medizin, David Waldner, und sein Bruder Georg, jetzt Bergingenieur, im Gespräch mit einander begriffen.

»Wie Alles verändert ist, und wir nicht zum Mindesten,« äußerte David und betrachtete die Thurmspitzen von Haraldshof, welche man über die Gipfel der Bäume herüberschimmern sah.

»Man hat ja das alte Schloß dort reparirt,« setzte er nach einer Weile hinzu.

»Ja, seitdem der Eigenthümer nicht mehr dort wohnt,« antwortete Georg, »ist das Gebäude dem Aeußern nach geputzt worden, so daß, wenn der Oberst einmal stirbt, Broolind, als dessen gesetzlicher Erbe, Alles in dem ausgezeichnetstem Zustande erhält.«

»Gesetzlicher Erbe,« wiederholte David mit einem bittern Lächeln. »Ihr Beide, du und Mama, habt mir davon geschrieben; aber ich habe gleichwohl nur eine undeutliche Vorstellung davon, wie man Dagmar das Recht auf das Fideikommiß streitig machen kann. Es würde mich deßhalb sehr interessiren, ein klares Bild von den Verhältnissen zu bekommen. Du, der du Disponent auf dem Hüttenwerk bist, und während der Zeit, da ich im Auslande lebte, täglich und stündlich mit den Björnstams in Berührung kamst, mußt auch von Allem Kunde haben, was sich zugetragen hat.«

»Ich will dir mittheilen, was ich weiß,« sagte Georg, »aber ich fürchte dennoch, daß dir die Sache dadurch nicht viel klarer werden dürfte. Ein Geheimniß liegt unter diesem allem verborgen, und der Oberst hat allein Kunde davon, obwohl er gegen Niemand sich darüber aussprechen will. Ich habe zuweilen, wenn er sich allein glaubt, ihn für sich hinmurmeln gehört: »Ein einziges kleines Papierstück, und Dagmars Recht wäre an den Tag gebracht.«

»Was kann das für ein Papier sein?« fragte David.

»Das habe ich nicht ausfindig machen können.«

»Dann wollen wir uns auch nicht damit beschäftigen, sondern zu dem, was geschehen ist, übergehen.«

»Wie du weißt,« begann Georg wieder, »hat Broolind immer sich mit diesem oder jenem viel Arbeit und Mühe gemacht. Man brauchte nicht sehr scharfsinnig zu sein, um zu bemerken, wie er förmlich auf der Jagd nach Geheimnissen war; endlich sollte es ihm gelingen, etwas aufzuschnappen, was ihm selbst oder einem andern Vortheil bringen konnte. Anfänglich waren es Onkel Wilhelms Frau und Kind, welche ihm so viel Kopfzerbrechens machten. Aber dießmal gelang es ihm doch nicht, durch die bloße Kraft seines Willens Personen hervorzuzaubern, von welchen Niemand außer ihm eine Ahnung gehabt hatte. Aber »anhaltender Fleiß überwindet Alles«. Während seiner Nachforschungen, wobei er nicht einmal die Kirchenbücher in Ruhe und Frieden ließ, bekam er zu wissen, daß Dagmar nicht in Schweden getauft war. Diese Umstände, sammt verschiedenen kleinen Besonderheiten während ihrer spätern Jahre, da sie wie eingeschlossen gehalten und vor Dienern nicht sichtbar wurde, mit Ausnahme von Frau Thorén und der englischen Amme, welche später in ihre Heimat zurückgeschickt wurde, brachte wohl den schlauen Broolind auf den Gedanken, daß das Mädchen früher, als man angegeben, zur Welt gekommen wäre. Nun befand er sich so recht in seinem Elemente. Er hatte auch eines schönen Tages die erfreuliche Entdeckung gemacht – ich denke gegen eine schöne baare Erkenntlichkeit an Sjöqvist, welcher bestimmt die Hand dabei im Spiele hatte – daß Dagmar sechs Wochen vor des Oberst Ehe mit ihrer Mutter geboren war, und somit nach dem strengen Buchstaben des Fideikommißbriefes ihres Rechtes auf das Besitzthum verlustig ging, welches nach des Obersts Tod, sofern derselbe aus seiner gegenwärtigen Ehe keine Kinder bekommt, an Broolind fallen muß.

»Derselbe scheint gerade kein Geheimniß daraus gemacht zu haben, daß er bei Onkel Björnstams Tod mit Ansprüchen auf Haraldshof aufzutreten beabsichtigte. Genug, es gelangte schnell zu des Obersts Ohren, und eines schönen Tages vernahmen wir, daß der Oheim nach Eriksdal, einem kleinen Gute, welches er zum künftigen Wittwensitz für Majken gekauft hatte, übergesiedelt sei. Dort führt er das einfache Leben eines Landwirths. Disponent über das Hüttenwerk von Haraldshof bin ich, wie du weißt, und die Ländereien sind verpachtet an – Broolind, welcher einen Flügel bewohnt. Ueber die andern Theile des Gebäudes hat er kein Verfügungsrecht.«

»Aber warum verpachtete der Oheim das Gut an Broolind?« fragte David.

»Diese Frage vermag Niemand außer ihm selbst zu beantworten. Er bot Broolind den Pacht an, und da derselbe sehr vortheilhaft sein mußte, zögerte jener natürlich keinen Augenblick. Als der Kontrakt unterschrieben wurde, äußerte der Oberst gegen seinen Schwestersohn, du erhältst nun selbst die Bewirthschaftung der Ländereien, in deren Besitz du nach mir zu gelangen hoffst; sie können nicht wohl bessern Händen, als denen des künftigen Eigenthümers anvertraut werden.«

Es trat eine Pause ein. David versank in Gedanken und Georg sah ganz ernst aus.

»Kommt ihr, du und Broolind, oft zusammen?« fragte David.

»Nein, ich weiche ihm aus und bin, seitdem er seinen Wohnsitz in Haraldshof hat, noch nicht über seine Schwelle gekommen.«

»Und warum?«

»Broolind hat sich nicht sehr ehrenhaft benommen.«

»Er hat ja nur sein Recht gewahrt.«

»So scheint es wirklich, und dennoch bin ich vollkommen überzeugt, daß dem nicht so ist. Würdest du handeln können, wie Broolind gethan hat?«

»Ich bin ein schlechter Oekonom; reden wir nicht von mir,« antwortete David. »Aber wie hat Dagmar ihr Schicksal, daß sie nicht mehr die künftige Eigenthümerin von Haraldshof sein soll, aufgenommen?«

»Sie bleibt sich vollkommen gleich. Sie scheint vergessen zu haben, daß Eriksdal nicht Haraldshof ist; aber wenn man Broolinds Namen erwähnt, wird sie glühend roth. Sie spricht sich jedoch niemals über ihn aus.«

»Nun, und Majken?«

»Mit ihr ist eine große Veränderung vorgegangen. Sie war im Anfang ihrer Ehe ein wahres Kind der Eitelkeit, welches seine Freude und Lust nur an schönen Kleidern und Vergnügungen hatte. Jetzt ist sie die arbeitsame und frohmüthige Frau eines arbeitsamen Landwirths. Sie schwärmt nicht mehr für prächtige Zimmer und Equipagen oder großartige Feste, sondern setzt ihre Freude in ein geordnetes Hauswesen und eine nutzbringende Beschäftigung. Der Oberst wollte bei der Übersiedlung nach Eriksdal nichts davon wissen, daß Majken sich mit Haushaltungsgeschäften und dergleichen befassen sollte. Seine Einkünfte blieben ja unverändert und eine Einschränkung war gar nicht nöthig. Majken erklärte, sie allein habe in der Sache zu entscheiden. Sie hatte vollkommen richtig ihres Mannes heimliches Streben aufgefaßt, nun da Dagmar keine Aussicht mehr hatte, Haraldshof zu bekommen, das ganze Einkommen von diesem Gute zu sammeln, so daß das Mädchen nach seinem Tode dennoch ein ganz schönes Vermögen bekommen sollte. Darum führt er zu Eriksdal ein ganz eingezogenes und arbeitsames Leben, und Majken unterstützt ihn bei diesem Bestreben auf eine würdige Weise. Immerdar heiter und thätig, sucht sie in Allem ihm die Heimat angenehm zu machen. Dagmar, für welche ihre Stiefmutter ein Gegenstand der Bewunderung ist, thut Alles, ihr gleichzukommen.«

»Wann bist du das letzte Mal zu Eriksdal gewesen?« fragte David.

»Vor ein paar Wochen.«

»Hast du Dagmar noch immer gleich lieb?«

»Ja, nicht mehr und nicht minder,« lautete die Antwort.

Ein Wagen fuhr durch die Allee herauf.

»Das ist der Pächter von Haraldshof,« äußerte Georg.

David sprang auf und rief:

»Empfängt ihn die Mutter?«

»Gewiß thut sie das. Arvid ist ja mit ihrer Schwestertochter verheiratet. Ihm die Thüre verschließen, hieße demnach eben so viel, als Mathilde abzuweisen.«

David verließ die Veranda und begab sich in sein Zimmer.

Eine halbe Stunde darauf fuhr der Lieutenant Broolind wieder fort.

Im Salon saßen Frau Waldner und Mathilde, als David eintrat.

Fünf Jahre lagen zwischen dieser und Davids letzter Begegnung mit der Cousine. Als er sie damals sah, war sie eine schöne, neugierige und vergnügungssüchtige junge Dame, mit scharfer Zunge und unfreundlichem Urtheil. Sie hatte sich damals verschiedene von ihres Mannes minder vortheilhaften Eigenschaften angeeignet, und David erwartete nun, sie noch mehr in dieser Richtung entwickelt zu finden. Aber er täuschte sich und war nahe daran, einen Ruf der Bestürzung auszustoßen, als Mathilde ihr Angesicht ihm zuwandte. Die in tiefen Höhlen liegenden Augen, die pergamentfarbigen Wangen und der matte Ausdruck in dem Blicke hatten nichts, was ihn an die frühere Mathilde erinnerte. David starrte sie an, als ob es ihm schwer fiele, an die Verwandlung zu glauben. Ueber Mathilde's Antlitz flog ein trauriges Lächeln.

»Du erschrickst über mein verändertes Aussehen,« sagte sie. »Ich bin sehr krank gewesen, aber nun geht es besser, und ich hoffe recht bald wieder zu werden, was ich gewesen bin.«

»Das dürfte lang anstehen,« war die Antwort, welche David ihr im Stillen gab.

»Ich kann bestimmt die Luft von Haraldshof nicht ertragen,« fuhr Mathilde fort, »und darum habe ich die Tante gebeten, einige Tage hier bleiben zu dürfen, während Arvid in Brovik verweilt.«

 

II.

Mathilde blieb eine ganze Woche in Aengsberga.

Am Abend des Tages, wo Arvid sie heimzuholen versprochen hatte, saßen sie und David im Hofe unter demselben Baume, wo wir sie zum ersten Mal gefunden haben. Ein Zeitraum von mehr als zehn Jahren lag zwischen jenem Abend und dem gegenwärtigen.

»Du behauptest somit,« sagte Mathilde, »daß das Uebel, wovon ich heimgesucht wurde, eine Folge von Seelenleiden ist. Du hast wirklich die Wahrheit geredet. Ich habe einen nagenden Kummer, und er ist um so bitterer, da ich nicht wagte, ihn irgend Jemand anzuvertrauen.«

»Nicht einmal deinem Mann?« fragte David.

»Ihm am allerwenigsten.«

Mathilde faßte Davids Arm, stützte sich auf ihn und setzte mit leiser Stimme hinzu:

»Er ist es, der mir diesen Kummer geschaffen hat. O! daß Arvid niemals darauf ausgegangen wäre, Dagmars Geburtsjahr nachzuforschen. Ich habe seitdem keine Ruhe mehr gehabt.«

»Und warum? Was Arvid gethan, würden die meisten an seiner Stelle gleichfalls gethan haben, um der Möglichkeit willen, einmal in den Genuß der Vortheile des Reichthums zu gelangen.«

»Möglich, aber wie ist Arvid dazu gekommen, Nachforschungen in Bezug auf Dagmars Geburtstag anzustellen?« fragte Mathilde. »Es steckt etwas dahinter, was nicht sein sollte. Ach, es kommt mir vor, als ob irgend ein großes Unrecht begangen worden, und daß ich dessen theilhaftig wäre.«

Mathilde brach in Thränen aus.

»Du bist krank, Mathilde, und darum hast du der Einbildung den Zügel schießen lassen,« sagte David.

»Nein, ich war vollkommen gesund, als ich zu grübeln anfing. Meine Unruhe hat mir die Krankheit geschaffen. Von dem Augenblick an, da wir nach Haraldshof zogen, ging mein Friede dahin und in Kurzem auch meine Gesundheit. Meine Kraft ist gebrochen und mein Selbstvertrauen zerstört. An Körper und Seele ist eine solche Veränderung mit mir vorgegangen, daß ich mich selbst nicht mehr kenne. Die Fehler, welche früher am schärfsten in mir ausgeprägt waren, sind verschwunden. Ich, einst neidisch und bösartig, bemüht meine eigenen Fehler dadurch zu beschönigen, daß ich an andern Fehler aufsuchte, fühle mich jetzt von einer schweren Bürde niedergedrückt, als ob eine große Schuld auf mir lastete. Ich möchte Fluten von Thränen über meinen armen Arvid weinen, welcher sich irre leiten ließ, und über mich selbst, die nichts Gutes gewirkt hat. O! es ist recht traurig, des Glücks und Friedens beraubt zu sein!«

Abermals begann Mathilde aufs heftigste zu weinen.

David bot alle seine Kraft auf, sie zu beruhigen, und es gelang ihm auch theilweise. Dann stellte er noch einige Fragen über die eigentliche Ursache von ihrer Vermuthung, daß irgend ein Unrecht an Dagmar begangen worden.

Mathilde erzählte sofort, daß sie wisse, ihr Gatte habe sich in Berührung mit einem Manne gesetzt, welcher einst im Dienste von Wilhelm Björnstam gewesen. Wie diese Person hieß, war Mathilde unbekannt; aber darüber glaubte sie Gewißheit zu haben, daß er es war, welcher Arvid alle die Aufklärungen, deren er sich bediente, gegeben hatte.

David hörte ihr mit gespanntem Interesse zu. Der Mann, von welchem sie redete, war Sjöqvist, daran konnte er nicht zweifeln.

»Mathilde,« äußerte David endlich, »angenommen, ich hätte alle diese Fragen an dich gerichtet, um das, was ich zu wissen bekam, gegen deinen Mann zu benützen, was würdest du dazu sagen?«

»Ich würde dich segnen, im Fall du Dagmar das zurückgeben könntest, dessen Arvid sie berauben wird,« antwortete Mathilde. »Weder Arvid und ich, noch unsere Kinder werden irgend ein Glück zu genießen haben, so lang wir in Haraldshof sind. Arvid war, so lang wir zu Brovik wohnten, der beste und freundlichste aller Männer; nun aber ist er argwöhnisch, heftig und so übermüthig, daß ich ihn nicht mehr kenne. Ach, könnten wir doch nach Brovik zurückkehren!«

»Das ist vielleicht möglicher, als du glaubst.«

Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß eine Equipage im Hofe vorfuhr. Broolind sprang heraus und kam sogleich auf seine Frau zu. Mit ungeheuchelter Zärtlichkeit erkundigte er sich nach Mathilde's Gesundheit, und als sie erklärte, daß sie sich besser fühle, äußerte er in scherzhaftem Tone:

»Ich sollte eifersüchtig werden, da ich hier meine Frau mit ihrem ehemaligen Bräutigam überrasche.«

Mathilde's gelbe Wangen färbten sich mit einer leichten Röthe. Es war so Vieles, was sie an einen andern Abend, da sie und David die Ringe austauschten, erinnerte.

David, welcher keine Parallele zwischen Ehemals und Jetzt zog, antwortete, die Vergangenheit sei etwas, das ihm ganz in Vergessenheit gerathen, da die Zukunft seine Gedanken allzu sehr in Anspruch nehme.

»Ueber das Künftige nachzugrübeln, ist eine Thorheit,« meinte Broolind. »Wir wissen ja nichts davon und können mit all unserem Sinnen und Dichten nicht einmal Kenntniß davon erhalten, wie der morgende Tag sich gestalten wird.«

»Bisweilen hält man sich doch verpflichtet, vor dem zu warnen, was derselbe in seinem Schoße mit sich bringen kann.«

»Du willst damit doch wohl nicht sagen, du habest Mathilde vor dem Tage, welcher noch nicht zu grauen anfängt, gewarnt?« fiel Arvid ein. »In solchem Fall geschähe es wohl kraft deiner Eigenschaft als Arzt?«

»Ein Arzt räth, aber warnt selten.«

»Nun, was könnte dann Mathilde von der Zukunft zu fürchten haben?«

»Ah, sie und ihr Mann warten auf einen großen Reichthum; ich bat sie diesen Reichthum für eine Luftspiegelung anzusehen, welche plötzlich verschwinden könnte.«

Arvid wurde glühend roth.

»Durch welche Zauberkunst könntest du so etwas zu Stande bringen?«

»Durch dieselbe, durch welche Dagmar ihr Erbrecht verlieren sollte. Ich brauche nur auf eines der Kinder hinzuweisen, welche du selbst der seligen Tante Björnstam so eifrig zu schaffen bemüht warest. Wenn ich mich anders recht besinnen kann, so warst du es ja, welcher der Oberlandrichterin gewisse Briefe lieferte, worin von Wilhelm Björnstams Familie die Rede war. Die Briefe verschwanden, aber das hindert nicht, daß Wilhelm Kinder hinterlassen haben mag, welche auf Haraldshof Anspruch machen können. Es ist auch möglich, daß ein gewisser Sjöqvist, welcher zuerst die Briefe an die Oberlandrichterin verkaufte, und hernach dieselben sich wieder zueignete, geneigt ist, mit den Geheimnissen Wucher zu treiben, und daß derjenige, welcher sie ihm abkaufen würde, in seinen Nachforschungen glücklicher ist als Tante Björnstam. In diesem Fall, Arvid, wirst du für dein Alter dich damit zufrieden geben müssen, Pächter von Brovik zu sein.«

Arvid biß die Zähne übereinander und drehte David den Rücken.

»Meine arme Mathilde,« sagte er, »laß uns sogleich abreisen. Du siehst ja, daß David sich ein Vergnügen daraus macht, seiner Mutter Gäste zu beleidigen.«

»Ist es eine Beleidigung, vorauszusetzen, daß du von demselben Schicksal betroffen werden kannst, welches du Dagmar bereitet hast? Mein lieber Arvid, deine Worte lauten höchst sonderbar; aber ich will mich mit einer Analyse derselben nicht aufhalten.«

David ging in den Park hinunter. Etwas später am Abend reiste Broolind mit seiner Frau von Aengsberga ab.

 

III.

Es ist etwas frühe am Morgen, da wir Eriksdal besuchen, welches eine halbe Meile von **köping gelegen ist.

Auf der Veranda stand eine junge und schöne Frau. Sie schaute mit einem träumerischen Blick um sich, während sie auf den Gesang der Vögel horchte. Ein leiser, halb winselnder Laut bestimmte sie jedoch, daß sie mit einem lächelnden Blick auf die Seite schaute.

»Ah, du bist es, alter Hektor,« sagte sie und fuhr streichelnd dem alten treuen Diener über den Kopf. Der Hund blickte auf, als ob er sich von dem Befinden seiner Herrin hätte unterrichten wollen.

»Bist du im Stande, heute eine Promenade zu machen?« fragte die junge Frau, indem sie mit seinen langen Ohren spielte. Hektor wedelte mit dem Schwanze, ließ aber zugleich ein Knurren vernehmen; er hatte ein mißliebiges Geräusch aufgefangen.

»Wie, Hektor, bist du schon so früh am Morgen bei schlechter Laune?« ließ sich die junge Frau vernehmen. In demselben Augenblick öffnete sich eine Glasthüre hinter ihr; der Hund stürzte bellend auf den Heraustretenden zu und bewog dadurch seine Gebieterin, umzuschauen.

»Georg!« rief sie und streckte mit einem warmen Lächeln ihm ihre beiden Hände entgegen. »Recht schön, daß du wieder kommst, obschon du im Zorn von mir fortgereist bist.«

»Gute, gute Dagmar!« stammelte Georg und schloß die kleinen Hände in die seinigen.

Dagmar war sogleich in vollem Zuge eine Menge Fragen an ihn zu richten. Sie wollte wissen, ob Georg einige Tage in Eriksdal bleiben würde, wie sich die Tante befände, ob sie Nachrichten von David hätten u. a. m. Sie ließ dem jungen Mann kaum Zeit auf ihre Erkundigungen zu antworten: er würde einige Tage in Eriksdal bleiben, David wäre in Aengsberga und die Mutter befände sich bei guter Gesundheit.

»Du weißt doch, daß David im Begriff ist, einige Zeit zu **köping seinen ärztlichen Beruf zu treiben?« forschte Georg, als er zum Worte gekommen war.

»Wie sollte ich das wissen, da du nichts davon geschrieben hast, und Niemand sonst ein Wort davon erwähnte?«

»Du hast mir ja zu schreiben verboten.«

»Verzeih', ich habe es vergessen.«

Dagmar erröthete.

»Wann geht David nach **köping?«

»Er ist bereits dort.«

Dagmar sah gedankenvoll aus.

»Wird es dir eine Freude machen, ihn bald wieder zu sehen?«

»Ich weiß es kaum; es ist Alles so anders als damals, wo wir, er und ich, uns zum letzten Mal trafen.«

»Aber er ist doch derselbe und hofft in Eriksdal eben so gut empfangen zu werden, wie …«

»Dort,« fiel Dagmar ein; »ja, das wird er auch.«

»Er kommt heute Nachmittag hieher. Und du glaubst, der Onkel und Majken werden ihn gerne sehen?«

»Welche Frage! Sie sind gewiß sehr erfreut darüber.«

»Aber er ist nicht der einzige, welcher deren Gastfreiheit in Anspruch nimmt,« bemerkte Georg. »Unsere Mutter ist schon in Eriksdal.«

»O wie schön! Und du hast mir das nicht gleich gesagt. Wann kam die Tante, und wo ist sie?«

»Mama ist bei Frau Thorén, um ein wenig der Ruhe zu pflegen. Wir sind die ganze Nacht gereist und heute Morgen um vier Uhr hier angelangt.«

Es entstand eine Pause. Dagmar unterbrach sie.

»Du bist doch nicht böse auf mich, Georg?«

»Nein, Dagmar, du bist mir immer gleich theuer. Es ist unmöglich, auf Jemand böse zu werden, den man so herzlich lieb hat.«

»Und wirst du das immer thun?«

»Immer.«

»Ich danke dir; es macht mich so ruhig zu wissen, daß du mein bester und treuster Freund verbleibst.«

Georg gab keine Antwort darauf.

Eine Weile hernach war Dagmar in voller Thätigkeit mit Zurüstung des Kaffeetisches, bei welchem Geschäft Georg ihr hilfreiche Hand leistete.

Als dieß gethan war, ging Dagmar zu Majken hinein.

»Weißt du, daß wir Gäste haben?« fragte sie.

»Ja, Georg und Tante Waldner.«

»Am Nachmittag kommt noch ein weiterer.«

»Wer denn?«

Majken befestigte eine Nadel an ihrem Halskragen.

»Jemand, der früher noch nie hier gewesen, und den wir schon lange nicht mehr gesehen haben.«

»Dann ist es David,« äußerte Majken in so ruhigem Tone, daß Dagmar dadurch überrascht wurde. Nicht ein Zug in Majkens Antlitz deutete einige Bewegung an.

»Freut es dich, ihn wieder zu sehen?«

»Sehr.«

Majken küßte Dagmar auf die Stirne und ging zu dem Oberst hinein. Ein paar Minuten später kamen die beiden Gatten auf die Veranda heraus, wo Frau Waldner und Georg sie erwarteten.

 

IV.

Das Mittagsmahl war vorüber. Die Frauen saßen im Garten in der großen Laube, und Frau Waldner unterhielt sie damit, daß sie mancherlei Neuigkeiten aus der Gegend von Aengsberga erzählte. Eine Person aus ihrer Bekanntschaft war verlobt, eine andere gestorben, eine dritte hatte geheiratet u. s. w.

Georg spazierte auf einem der Gartenwege auf und ab und berieth sich mit dem Oberst über einige Veränderungen in dem Betrieb des Eisenhüttenwerks zu Haraldshof. Dagmar war oben in dem Wohnzimmer, um dafür Sorge zu tragen, daß Erfrischungen in den Garten hinuntergebracht würden.

Sie war eben damit fertig geworden, dieselben auf einer großen Platte aufzustellen, als ein Wagen in dem Hofe vorfuhr. Ein schneller Blick durch das Fenster sagte ihr, wer der neue Ankömmling war. Verborgen hinter einer Epheuwand betrachtete sie den Gast, und ging dann schnell durch das Zimmer nach der Glasthüre, wo sie mit dem Rücken gegen den im nächsten Augenblicke Eintretenden sich aufstellte.

Die Thüre vom Vorzimmer ging auf und David erschien. Er stand einen Augenblick still. Nach so langer Trennung sollte er die einzige Frau wiedersehen, welche er wirklich geliebt hatte. Er schaute die an, welche ihm den Rücken zukehrte; sie war es; es war Majkens Wuchs, Haltung und Haarfülle.

Er bedurfte mehrerer Minuten, um seiner Bewegung Herr zu werden. Als es ihm endlich gelungen war, trat er einige Schritte gegen die Gestalt vor. Sie verharrte in derselben Stellung; erst als er ihr ganz nahe war, drehte sie den Kopf um. Es war nicht Majken; es war Dagmar. Etwas wie Verdruß darüber, daß er sich hatte täuschen können, stieg in Davids Seele auf; aber Dagmar lächelte so liebreich, daß jedes unfreundliche Gefühl verschwinden mußte. David bemerkte zugleich mit einer gewissen Freude, daß Dagmar im Laufe der Jahre sich sehr zu ihrem Vortheil verändert hatte.

»Wie David so männlich geworden ist!« dachte Dagmar, während sie ihn willkommen hieß.

»Majken und die Tanten sind im Garten, und dahin will ich dich nun geleiten,« sagte Dagmar, nachdem die Begrüßungen ausgetauscht waren.

David seufzte. Das Wort »Tanten« mißfiel ihm. Er hatte so innig gewünscht, Majken wieder zu sehen, ohne daß die Augen anderer auf ihn gerichtet wären.

Dagmar nahm inzwischen ohne weitere Umstände seinen Arm und führte ihn zu dem Vater.

Peinlich wurde David durch das veränderte Aeußere des Obersts überrascht. Es war nur die gerade militärische Haltung, welche an den frühern Moriz Björnstam erinnerte. Das Haar war weiß, die Augenbrauen grau, die Stirne gefurcht, das Auge scharf.

»Es freut mich von Herzen, dich wieder zu sehen,« sagte der Oberst. »Du bist der liebste Gast, den ich zu Eriksdal willkommen heißen könnte.«

»Ja, herzlich willkommen im Vaterlande,« äußerte eine Stimme hinter ihm. Er fuhr zusammen; die Stimme war ihm aus früheren Tagen wohlbekannt. Majken stand da; ihre ruhige und freundliche Miene schien ihm zu sagen: was gewesen, ist nicht mehr, und was jetzt da, ist nicht, was es sonst gewesen.

David hatte noch nicht begreifen gelernt, daß die Gefühle Veränderungen unterworfen sind. Majkens Angesicht sollte ihn nun davon überzeugen.

Es that David wehe, daß er keinen andern Ausdruck, als den einer ruhigen Freundschaft darin erblicken konnte. Sie war noch ebenso schön, wie damals, als er sie zum letzten Mal gesehen, und wie sollte es wohl möglich sein, daß die Gefühle des Herzens erkalteten? Aber es war nicht blos möglich, es war eine Wirklichkeit.

Verheiratet mit einem Mann, für welchen sie große Achtung und Ergebenheit hegte, begabt mit einer freundlichen Gemüthsart, gehörte Majken nicht zu den Frauen, welche ihr Leben unter einen ewigen Kummer oder eine hoffnungslose Liebe gefangen geben. Sie hatte gegen beide gekämpft und den Sieg davon getragen. Jetzt konnte sie ohne Schmerz den Mann wiedersehen, den sie einmal geliebt hatte. Er war ihr theurer als der edelste und beste der Männer; er war ihr theuer, denn an ihn knüpfte sich die Erinnerung der schönsten Zeit in ihrem Leben; aber sie liebte ihn nicht mehr. Die Liebe hatte der Freundschaft Platz gemacht.

Mit David war es anders. Er hatte gearbeitet und studirt, mit ihrem Bilde beständig vor den Augen seines Geistes. Von dem Guten, das er zu Stande gebracht, hatte ein nicht geringer Theil seinen Grund in dem Wunsche, sich ihres Beifalls würdig zu machen. Das zu werden, was sie während ihres kurzen Liebestraumes geweissagt hatte, darauf war seine Anstrengung gerichtet gewesen. Jetzt war er ein kenntnißreicher Arzt, ein braver Mann, und im Genuß der Hochachtung seiner Nebenmenschen. Er hatte gearbeitet und geduldet, immer mit dem Gedanken an sie. Er hatte sich jede selbstsüchtige Freude versagt und sich über sein Leiden zu erheben gesucht. Dieß Alles war ihm nur möglich geworden durch die Liebe zu ihr, und nun, da sie sich wieder begegneten, sah es aus, als ob sie selbst die Erinnerung an das, was gewesen, vergessen hätte.

Wünschte David, daß es anders sein sollte? Nein, wir glauben es nicht; aber das schwache Herz murrte dagegen, trotz allem, was sein besseres Gefühl einwenden mochte.

Als David am Abend nach **köping zurückkehrte, war er niedergeschlagen und düster. Aber als der Tag wieder graute, hatte er vollkommen über diese Niedergeschlagenheit wieder gesiegt.

Ehe er seinen Besuch in Eriksdal erneuerte, war es David gelungen, sich mit dem Gedanken, daß er nicht mehr geliebt wurde, völlig vertraut zu machen.

Die Praxis eines Provinzialarztes ließ ihm nicht sonderlich viel Zeit zum Vergnügen oder zur Träumerei übrig, sondern nahm beinahe jede seiner Stunden in Anspruch, besonders wenn er derselben mit Eifer obliegen wollte. Er wurde auch bald durch seine glücklichen Kuren bekannt, und seines wohlwollenden Wesens halber gepriesen. Gleich gegen Reiche und Arme, behandelte er alle Leidenden mit derselben Sorgfalt, und interessirte sich lebhaft für seinen Beruf.

 

V.

Auf dem Gebiete von Eriksdal lag ein kleines Frohngütchen, wo die Frau schwer erkrankt war. Dagmar sah täglich nach der Armen, und Doktor Waldner stellte sich gleichfalls von Zeit zu Zeit ein, um derselben seinen Beistand angedeihen zu lassen.

Eines Tags begab sich Dagmar mit einem Korb voll Speisen dorthin. Nachdem sie den Inhalt unter die Kranke und deren Kinder vertheilt hatte, setzte sie sich vor die Hütte und unterrichtete das älteste Mädchen, wie sie die Mutter und die Geschwister zu verpflegen hätte. Die kleine Greta, erst neun Jahre zählend, war ein gelehriges Kind und hörte ihr aufmerksam zu. Greta hatte keinen höhern Wunsch, als die Zufriedenheit von Fräulein Dagmar sich zu erwerben; es gab dann immer irgend eine Extraspende von Zwieback, Brezeln oder andern Leckerbissen.

»Sieh' nur zu, daß die Mutter frisches Wasser hat, daß die Stube gekehrt, und daß die Geschwister sauber gewaschen werden,« sagte Dagmar, und tätschelte die kleine Greta auf den Kopf. »Erinnere dich zugleich, daß die Suppe, welche ich mitgebracht habe, nur für die Mutter ist, und laß die Geschwister nicht davon essen; jetzt lebe wohl für heute, mein Kind.«

Das Mädchen machte einen Knix, und Dagmar stand auf, um zu gehen, nahm aber wiederum Platz, als sie einen Reiter gewahr wurde, welcher auf dem steinigen, ungebahnten Wege herankam.

»Der Doktor!« rief Greta.

David grüßte zuerst in aller Eile Dagmar, und begab sich dann zu der Kranken hinein.

Eine Weile darauf gingen er und Dagmar hinweg, beide zu Fuß, David sein Pferd nachführend.

»Ich möchte doch gern wissen, warum du seit deinem ersten Besuch dich in Eriksdal nicht mehr sehen ließest?« begann Dagmar. »Bist du so schlecht daselbst aufgenommen worden, daß dir die Lust vergangen, den Besuch zu erneuern?«

»Gewiß nicht,« antwortete David lächelnd. »Die zahlreichen Krankheitsfälle sind die Ursache meines Ausbleibens.«

»Aber du begleitest mich doch nach Eriksdal und bleibst ein wenig daselbst. Papa und Mama sind im Pfarrhause, und es wäre recht schön von dir, mir in meiner Einsamkeit Gesellschaft zu leisten.«

»Gern, aber unter einer Bedingung.«

»Bedingung? Nun, du bist recht artig.«

»Ich kann nicht helfen, es ist eben so.«

»Nun wohl, einmal will ich mich schon deinen Launen unterwerfen. Wie lautet die Bedingung?«

»Daß du mich von einem Gegenstande reden lässest, welcher nichts weniger als angenehm ist.«

»Meinst du denn, ich sei allzu munter, da du mir etwas Langweiliges vortragen willst?«

»Ich glaube, du bist nicht so munter, als du scheinen willst, und darum wünschte ich mit dir davon zu reden, was der Gegenstand einer geheimen Sorge bei dir oder bei allen ist.«

»Ich verstehe, du meinst Haraldshof.«

Dagmar wandte den Kopf ab.

»Ist es dir sehr peinlich, darüber dich auszusprechen?« fragte David.

»Dir gegenüber nicht. Ich habe oft seit deiner Rückkehr gewünscht, du möchtest uns besuchen, so daß ich mit dir dieses Thema berühren könnte; aber du erschienst nicht, und so wurde nichts aus der Sache. Es kommt mir vor, als hättest du früher eine Ahnung von dem gehabt, was nun eintreffen sollte, und die Erinnerung an das Billet, welches ich am Tage nach Papa's Hochzeit erhielt, hat mich in dieser meiner Vermuthung bestärkt. Ich habe oft daran gedacht, daß es auf Haraldshof Bezug hätte.«

»Du hast wirklich Recht; schon damals waren große Intriguen in Bezug auf die Erbschaftsverhältnisse angezettelt,« sagte David, »aber nicht in der Richtung, welche sie später nahmen.«

»Dann sind sie mir gleichgültig; ich bekümmere mich wenig um das Erbe; es ist mir nur der Schatten, welcher an meines Vaters Ehre haftet, was mich quält. Alle die elenden Gerüchte, wozu die Großmutter durch ihre Unbesonnenheit Anlaß gegeben hat, werden einmal wirkliche Wahrscheinlichkeit erlangen. Sein Haar ist ergraut, seine Stirne gefurcht, und sein Geist unter der Bürde einer unverdienten Schmach, welche über sein Haupt gekommen, niedergedrückt. Ehe diese beseitigt ist, wird die Freude nicht wieder in unsere Familie zurückkehren.«

»Aber, Dagmar, es ist nicht einmal denkbar, ihn davon befreien zu können. Es ist erwiesen worden, daß du älter bist, als er angegeben hat.«

»Wahr, und doch hat er sich keiner Betrügerei, zum Mindesten nicht in eigennütziger Absicht schuldig gemacht.«

»Dann liegt also irgend ein Geheimniß darunter verborgen?« fragte David.

»Ja.«

»Vertraue mir dasselbe an,« bat David; »ich kann vielleicht etwas zur Aufklärung der Verhältnisse thun.«

»Gäbe Gott, daß ich wüßte. Was ich argwöhne, will ich dir indessen sagen.«

Dagmar blieb stehen, schaute rings herum, legte ihre Hand auf Davids Schulter und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.

»Ist es möglich!« rief David und starrte das junge Mädchen an. Sie lächelte traurig.

»Die Bestätigung dafür sollst du erhalten, wenn wir heimkommen. Ich werde dir ein Papier zeigen, welches meine Worte bekräftigt. Du fragst vielleicht, wie ich in den Besitz davon gekommen sei? Es hat mir gehört, seitdem ich neun Jahre zählte. Mein Vater war damals verreist; ich bemächtigte mich der Schlüssel in seine Wohnung und begab mich dorthin, was mir sonst während seiner Anwesenheit nicht gestattet war. Ich wanderte durch alle Zimmer und durchstöberte Alles. In seinem Arbeitskabinet angekommen, fand ich eine besondere Freude daran, jeden Gegenstand auf seinem Schreibtisch genau zu untersuchen, und entdeckte dabei, daß der Schlüssel zu einer Schublade stecken geblieben war. Ich zog sie heraus. Da lagen größere und kleinere Haufen Silbermünzen von ungleichem Werthe, und weiter hinein ein Etui von rothem Maroquin. Ich öffnete es. Darin befand sich die Einfassung vermuthlich zu einem Porträt, welches jedoch fort war, und zugleich ein zusammengelegtes Blättchen Papier mit meines Vaters Handschrift. Ich hatte eben lesen gelernt; ich schlug es also auseinander, um mir von dessen Inhalt Kunde zu verschaffen; aber in demselben Augenblick hörte ich Schritte im äußern Zimmer. Das Papier wurde in meine Tasche gesteckt, und als Tante Thorén eintrat, stand ich mitten im Zimmer. Am Abend nahm ich das beschriebene Stück Papier heraus und buchstabirte es durch. Der Inhalt war von der Art, daß ich seitdem das Schreiben nicht nur im Gedächtniß behielt, sondern es auch wohl versteckt aufbewahrte. Von dem Tage an fürchtete ich mich vor Fremden, und lange war es mir, als ob irgend ein Unheil mich verfolgte. In einem Alter von neun Jahren ist es nicht leicht, ein Geheimniß zu verschweigen. Ich bewahrte jedoch das meinige getreulich, und du bist der erste, welchem ich es mitgetheilt habe.«

Sie langten inzwischen in Eriksdal an. Nachdem Dagmar sich überzeugt hatte, daß Majken und der Oberst noch nicht heimgekehrt waren, holte sie ein Papier und übergab es in Davids Hände.

David las es und stellte es dann Dagmar mit den Worten zurück:

»Moriz Björnstam muß von dem unverdienten Schatten, welcher nach dessen Tod auf seine Ehre fallen wird, befreit werden.«

»Aber wie soll das geschehen?«

»Die Art und Weise kenne ich noch nicht; ich weiß bloß, daß es geschehen soll und muß.«

David stützte seinen Kopf auf die Hand und versank in Gedanken. Plötzlich sprang er auf und rief:

»Er besitzt dieses Papier, er, der die Briefe gestohlen und das Geheimniß an Arvid verkauft hat! Aber vielleicht hat er auch dieses Beweisstück veräußert, welches Arvid die Aussicht, Haraldshof zu bekommen, auf immer rauben würde. Ha, das wäre in Wahrheit so niederträchtig, daß …«

Eine längere Berathung erfolgte nun zwischen Dagmar und David. Erst spät am Abend ritt er von Eriksdal hinweg, von Plänen in Anspruch genommen, wie er in den Besitz des Dokumentes, worauf so viel ankam, gelangen könnte. Welche Genugthuung mußte es nicht für David sein, wenn er Klarheit in diese Sache zu bringen vermochte; wie sehr mußte sich dann Majken darüber freuen!

Als David nach Hause kam, wartete ein Bote, der ihn zu einem Kranken auf einen Herrschaftssitz in der Nähe von **köping berief. Er begab sich sogleich dorthin. Das Gut hieß Marnäs und gehörte einem ehrlichen Landwirth, welcher neben allem andern Reichthum zwei Söhne und eine Tochter besaß. Die Tochter hatte sich kürzlich mit einem jungen Beamten verlobt; der glückliche Bräutigam war eben auf Besuch anwesend und schwer erkrankt. David wurde sogleich zu dem Kranken geführt. Der Patient lag in vollem Fieber mit heftigem Kopfweh und hatte eine Binde um das Haupt. David ließ sie abnehmen und erblickte nun das volle Gesicht des Kranken vor sich. Er erkannte seinen frühern Schützling Christoph Alm.

David widmete seinem neuen Patienten alle mögliche Sorgfalt und hatte die Genugthuung nach Verfluß von ein paar Wochen ihn auf den Weg der Besserung zu bringen. Die Braut und die künftigen Schwiegereltern waren außer sich vor Freude.

Die häufigen Besuche zu Marnäs hatten inzwischen David abgehalten, wieder nach Eriksdal zu gehen. Wohl hatte er in aller Eile die kranke Köthnersfrau besucht, aber ohne mit Dagmar zusammenzutreffen. Er war entschlossen, am Sonntag hinzufahren, aber bekam auch jetzt eine Abhaltung, und am Montag begab er sich wieder nach Marnäs, um nach Christoph zu sehen und wo möglich einige Worte unter vier Augen mit ihm zu reden.

Es gelang ihm auch. Als David anlangte, war Christoph allein.

»Wo ist dein Vater gegenwärtig?« fragte David.

»In Stockholm,« lautete die Antwort.

»Wie? Er ist nicht mehr in Nordland?«

»Nein, er ist vor ein paar Jahren von dort weggezogen?«

»Nun, wie geht es ihm jetzt?«

»Gut; er hat mehrere glückliche und gewinnbringende Geschäfte gemacht.«

»So, so? Ist es lang her, daß ihr euch trafet?«

»Etwa ein Jahr, und auch da nur auf kurze Zeit.«

»Weißt du etwas Näheres über die Beschaffenheit der glücklichen Geschäfte, die er gemacht hat?« fragte David, indem er Christoph fixirte. Das Angesicht des jungen Mannes gab Zeugniß für dessen vollständige Unkunde und David stellte keine weitere Frage.

Christoph lenkte das Gespräch von seinem Vater ab und auf seine Schuld der Dankbarkeit gegenüber von David, welche nun wieder sich beträchtlich vergrößert hatte. David fiel ihm plötzlich in die Rede:

»Du mußt mir einen Dienst leisten,« sagte er.

»Was begehrst du von mir? Ich bin immer dazu verpflichtet, und es soll mir eine wahre Freude machen.«

»Du willst ja einige Zeit in **köping dich aufhalten? Du kannst an deinen Vater schreiben und ihn bitten, dich daselbst zu besuchen; aber ohne dessen zu erwähnen, daß ich dich in deiner Krankheit behandelt habe; er braucht nicht zu wissen, daß wir uns getroffen haben. Ich wünsche mit ihm zu reden, aber ohne daß er auf die Begegnung mit mir vorbereitet ist.«

Christoph versprach pünktlich Davids Begehren zu erfüllen und so trennten sie sich.

 

VI.

Tags darauf machte David in Eriksdal einen Besuch. Er fand Dagmar im Garten. Der Oberst war draußen auf den Gütern, und Majken hatte Verschiedenes im Treibhause zu besorgen.

»Endlich sieht man dich hier,« rief Dagmar. »Du bist der launenhafteste aller launenhaften Menschen. Als du das letztemal in Eriksdal warest, versprachst du oft wieder zu kommen, und doch sind vier Wochen vergangen, ohne daß du hier gewesen. Nennst du das Wort halten? Wie willst du eine solche Aufführung entschuldigen? Wo bist du gewesen und was hast du getrieben?«

»Ich bin bei Kranken gewesen, habe Kranke behandelt und Kranken Gesellschaft geleistet.«

»Und die Gesunden hast du ganz vergessen?«

»Ich vergaß sie nicht, aber ich mußte sie versäumen. – Nun, wie ist es euch in diesen vier Wochen ergangen?«

»Wir befinden uns immer wohl. Du findest kaum eine Gelegenheit, deine Praxis hier auszuüben. Ich möchte zuweilen fast wünschen, daß wir unwohl würden.«

Dabei flog ein leichter Schatten von Wehmuth über Dagmars Angesicht.

»Ein recht unverständiger Wunsch, meine gute Dagmar,« fiel David ein.

»Nun ja; ich habe mich auch nicht dafür bekannt gemacht, daß ich besonders verständig wäre. Aber lassen wir das. Hast du Briefe von Georg? Es wäre mir recht lieb, etwas von ihm zu vernehmen.«

»Korrespondirt ihr denn nicht mit einander?«

»Nein.«

Dagmar spielte mit einigen Blumen und sah verlegen aus. David merkte dieß und wollte keine weitere Frage machen. Zudem kam Majken aus dem Treibhause heran. Die blassen Wangen des jungen Arztes bekamen eine lebhaftere Farbe, als er die Hand, welche sie ihm bot, ergriff und drückte. In diesem Augenblick kam Botschaft von Frau Thorén mit dem Ersuchen, Dagmar möchte hinauf kommen und so blieben Majken und David allein.

David fühlte sich äußerst verlegen, Majken schien jedoch nicht darauf zu achten. Ihre Stimme klang ganz wie gewöhnlich, als sie äußerte:

»Scheint es dir nicht, David, als ob mit Dagmar, seitdem du fortgewesen, eine Veränderung vorgegangen?«

»Sie hat sich auf eine wunderbare Weise vervollkommt und besitzt in Haltung und Benehmen eine in die Augen fallende Aehnlichkeit mit ihrer Stiefmutter.«

»Sehr schmeichelhaft für mich,« versetzte Majken lächelnd. »Dagmar hat eine gute Haltung und gute Manieren. Aber das war es nicht, worüber ich dein Urtheil vernehmen wollte. Ich wünschte zu wissen, ob du sie ebenso munter und sorglos fändest wie früher.«

»Dagmar scheint dasselbe hurtige und lebensfrische Mädchen zu sein, das sie immer gewesen; man sieht keine Wolke des Kummers auf ihrer Stirne.«

»Nicht? Mir kommt es indessen vor, als ob ein Schatten von Kummer über ihrem ganzen Wesen liege.«

»Der Gedanke an den Vater ist es, der denselben hervorgerufen,« antwortete David.

»Ich glaube nicht, daß dieses die Hauptsache ist. Dagmar ist so, seitdem wir von unserer Reise in's Ausland zurückkehrten, somit ehe die Erbschaftsfrage zur Sprache kam. Sie muß irgend etwas zum Nachgrübeln haben. Ich möchte erfahren, was es ist. Zuweilen beunruhigt mich meine Unkunde, aber ich fürchte gleichwohl, mir ein Vertrauen möglicher Weise zu erzwingen, das sie mir zu gewähren Bedenken trägt. Um ihre Umgebung irre zu leiten, zeigt sie sich beständig froh, aber es gelingt ihr nicht immer, hinter der lächelnden Maske ihre Schwermuth zu verbergen.«

»Sollte dieß alles nicht eine Ausgeburt deiner lebhaften Einbildung sein, Majken?« fragte David, »und daher kommen, daß Dagmar eine ungleichartige Gemüthsart hat?«

»Gäbe Gott, es wäre so!«

Majken und David wechselten einen schnellen Blick mit einander.

Jetzt fiel ihm ein, daß Dagmars Mutter gemüthskrank gewesen war. David empfand eine peinliche Bewegung bei dem Gedanken daran. Er verjagte jedoch sogleich die Möglichkeit einer solchen Voraussetzung und nahm wieder das Wort.

»Dagmar hat einen starken Körper, und von Seiten ihres Geistes haben wir, glaube ich, keine Kränklichkeit zu besorgen. Grübelt sie über etwas nach, so gilt es nur ihrem Vater. Sie liebt ihn mehr, als man nur zu ahnen vermag.«

David dachte an den Inhalt jenes Papiers, das er gelesen hatte, und glaubte darin eine Erklärung für Dagmars geheimen Kummer zu haben, im Fall sie wirklich mit einem solchen behaftet wäre.

»Ich erwartete bei meiner Heimkehr Dagmar mit Georg verlobt zu finden; aber zu meinem großen Erstaunen erkenne ich, daß Alles so ist, wie damals als ich abreiste.«

»Wir haben auch dasselbe gehofft,« antwortete Majken, »und Georg glaubte sich der Liebe von Dagmar so sicher, daß er die Möglichkeit eines Korbes gar nicht voraussetzte. Es fiel uns allen auch sehr schmerzlich, als Dagmar mit Bestimmtheit das Anerbieten seiner Hand ausschlug.«

»Hat Georg um sie angehalten?«

»Ja, und Dagmar hat mit Nein geantwortet.«

»Was war der Grund, daß sie ihm einen Korb gegeben?«

»Sie hat nichts weiter darüber geäußert, als daß sie eben nicht heiraten wolle.«

»Wie lang ist das her?«

»Es geschah erst einige Wochen vor deiner Ankunft in der Gegend. Dagmar war selbst fast in Kummer aufgelöst, als sie Georg diesen Schmerz verursachte, und es dauerte lang, ehe sie sich mit dem Gedanken daran versöhnen konnte.«

»Und Georg, wie erträgt er sein Schicksal?«

»So wie nur ein Waldner dergleichen Mißgeschick erträgt,« entgegnete Majken mit mildem Tone.

Es lag in diesen Worten der größte Lohn, den David wünschen konnte. Es wurde ihm auch warm um's Herz.

»Aber,« nahm Majken wieder das Wort, »es wundert mich, daß Georg dir nichts davon gesagt hat.«

»Ehe man mit der Entsagung sich vertraut gemacht hat, weicht man dem Reden davon aus.«

Dagmar kam jetzt zurück, und bald hatte sie durch ihre muntern Scherze alle die Schatten verjagt, welche diese Unterredung hervorgerufen hatte. Sie schwatzte, lachte und hatte tausend Kindereien zu erzählen. Wenn man sie sah und hörte, hätte man geglaubt, zu Majkens Worten über den heimlichen Kummer lächeln zu können.

David, welcher bisher für Niemand anders, als für Majken Sinn gehabt hatte, wurde genöthigt, Dagmar seine Aufmerksamkeit zu widmen. Majken war unruhig über Dagmar; folglich mußte David herauszubringen suchen, ob Majken Grund zu dieser ihrer Unruhe hatte. Dadurch wurden seine Gedanken bis zu einem gewissen Grade von Majken abgezogen und Dagmar zugewendet.

Auf dem Heimwege von Eriksdal war er ausschließlich durch sie in Anspruch genommen, und obwohl er der Meinung war, die Ursache von Dagmars Grübeleien zu kennen, so tauchte doch die Vorstellung von der Geisteskrankheit ihrer Mutter wieder vor ihm auf und erinnerte ihn daran, was für ein trauriges Erbe sie zu fürchten hatte.

David beschloß öfters nach Eriksdal zu fahren, um Dagmar genauer zu studiren und sich mit Sicherheit zu überzeugen, wie weit sie wirklich von einer unerklärlichen Schwermuth, welche in Geisteskrankheit übergehen könnte, gequält würde, oder ob ihr Kummer von minder gefährlicher Natur wäre.

 

VII.

Einige Tage vergingen und David war wieder in Eriksdal.

Dagmar saß auf der Veranda und arbeitete, und als David sie dort aufsuchte, sah sie schwermüthig und traurig aus; aber das Lächeln hatte seinen Weg zu ihren Augen und Lippen gefunden, als sie ihn begrüßte. Dagmar vermochte jedoch den gewöhnlichen heitern Ton nicht anzunehmen: ein Umstand, der zur Folge hatte, daß sie nach dem Austausche der ersten Begrüßungen eine Weile schwiegen.

David betrachtete Dagmar mit einem forschenden Blick, als wünschte er in ihrer Seele zu lesen.

»Sage mir, Dagmar,« begann er hierauf, seine Gedanken unterbrechend, »warum hast du es abgelehnt, Georgs Frau zu werden?«

Dagmars Wangen färbten sich purpurroth.

»Steht dieß etwa im Zusammenhang mit dem Geheimniß, welches du mir anvertraut hast?« fragte David weiter.

Jetzt trat alle Farbe von Dagmars Wangen zurück, als sie ihr Nein flüsterte.

»Hast du aufgehört, Georg lieb zu haben?«

»Wie wäre das möglich? Mit Ausnahme von meinem Vater und Majken gibt es Niemand, auf den ich so viel halte, wie auf Georg. Ich begreife nicht, wie meine Gefühle für ihn sich verändern könnten.«

»Und doch beraubst du ihn des Glücks, in dessen Genuß er eines Tags zu gelangen so sicher war?«

»Ich konnte nicht anders handeln. Gott allein weiß, ob der Schmerz, welchen ich Georg verursachte, bitterer sein könnte, als derjenige, welchen ich damals selbst empfand.«

»Du hast ihn empfunden,« fiel David ein, »aber Georgs Leiden dauert noch fort.«

»Kummer und Schmerz erbleichen mit der Zeit. Georg wird vergessen, daß er mich zur Frau zu erhalten gewünscht hat, und bald wird er in mir nur seine Schwester sehen.«

»Das geht nicht so leicht.«

»Aber es geht doch. Allein warum hievon reden? Georg hat dich wohl nicht mit dem Versuch beauftragt, meinen Entschluß umzustoßen?«

»Er hat ja nicht einmal mit einem einzigen Wort seiner Bewerbung erwähnt.«

»Wer hat es dir dann erzählt?«

»Weißt du, Dagmar, daß ich mir dein Benehmen nicht erklären kann? Du liebst Georg, aber weigerst dich, seine Frau zu werden. Du hast dich bestimmt von irgend einer phantastischen Laune bestimmen lassen.«

Jetzt lächelte Dagmar.

»Meiner Launen sind es gewiß viele und große, aber ich will nicht, daß du glauben sollst, ich wolle zu deren Befriedigung mir selbst ein Leiden schaffen. Ich habe einen gültigen Grund, Georgs Anerbieten auszuschlagen.«

»Willst du mir diesen nicht sagen?«

»Nein! – Hast du unsere Unterredung vergessen von damals, als du mich aus der Köthnerhütte heim begleitetest?« begann Dagmar nach einer Pause wieder.

»Wie wäre das denkbar?«

»Sage mir, glaubst du, es lasse sich eine Möglichkeit finden, den Beweis zu liefern, daß mein Vater nicht aus Eigennutz gehandelt hat?«

»Noch kann ich die Frage nicht beantworten, aber ich hoffe, hiezu in Kurzem im Stande zu sein.«

Das Gespräch ging nun auf einen gleichgültigen Gegenstand über.

 

VIII.

Alles Geheimnißvolle übt einen großen Einfluß auf uns Menschen aus. Man darf nur argwöhnen, daß einer unserer Nächsten etwas hat, das er verbergen will; und wäre derselbe uns vorher noch so alltäglich vorgekommen, er erhält dadurch schnell ein gewisses Interesse für uns.

David hätte ein Jahrzehnt mit Dagmar zusammenleben können, ohne derselben irgend eine Aufmerksamkeit zu widmen, oder sich durch sie bestimmen zu lassen, seine Gedanken von Majken abzulenken. Aber so sprach nun Majken ihre Vermuthung aus, daß Dagmar einen heimlichen Kummer habe, und deutete auf ihre Furcht vor den Folgen davon hin. Jetzt konnte er unmöglich von Dagmar mit seinen Gedanken ablassen.

Er kam auch sehr oft nach Eriksdal, verbrachte ganze Stunden daselbst in Gesellschaft von Dagmar, ohne doch die Ursache, warum Georg einen Korb bekommen, oder den Gegenstand, worüber sie im Stillen nachgrübelte, ausfindig zu machen. Er nahm auch für ausgemacht an, er habe recht gerathen, wenn er voraussetzte, Dagmar leide nicht an einer krankhaften Melancholie, sondern werde nur von der Entdeckung geplagt, welche sie in dem Alter von neun Jahren gemacht hätte. David vertiefte sich inzwischen so sehr in das Studium von Dagmars Ansichten, Gemüthsart und Charakter, daß dieses Studium zuletzt alle seine Gedanken beschäftigte, so oft sein ärztlicher Beruf dieselben nicht in Anspruch nahm.

Er pflegte die Feiertage in Eriksdal zuzubringen. Eines Sonntags, als man ihn dort am Morgen erwartete, und Dagmar mit Bestellung des Frühstücktisches zu thun hatte, fuhr ein Wagen in dem Hofe vor.

»Kann David schon hier sein?« rief sie und sprang an das Fenster. Sie erkannte allerdings Davids Droschke; aber es war nicht David, welcher ausstieg, es war Georg.

Dagmar erröthete. Sie eilte dem willkommenen Gaste entgegen.

»Ach, Georg, das ist schön!« rief sie; »aber was hast du aus deinem Bruder David gemacht?«

»Ja, Dagmar, du siehst, ich komme anstatt Davids. Er ist verhindert.«

Georg faßte sie mit beiden Händen um den Leib und setzte zärtlich hinzu:

»Es ist doch recht erfreulich, dich zu sehen, in deinem Blicke zu lesen, daß du meine liebe, liebe, gute Schwester bleibst.«

Ein feuchter Glanz erschien in Dagmars Augen; sie lehnte sich an ihn und flüsterte:

»Ich danke dir, du guter, unvergleichlicher Georg!«

Empfindlichkeit gehörte nicht zu Dagmars Schwächen; somit erhob sie sich rasch und fragte in verändertem Ton:

»Du hast mir aber noch nicht gesagt, was es mit David wieder gegeben, daß er abgehalten ist, hieher zu kommen.«

»Das mag er dir selbst sagen. Ich kam gestern in Geschäftsangelegenheiten nach **köping und als ich heute zu demselben Zwecke hieher fahren wollte, bat er mich, ihn zu entschuldigen.«

Dagmar redete nicht weiter von David.

Georg hatte Verschiedenes, was das Hüttenwerk betraf, mit dem Oberst zu verhandeln und verbrachte hierauf einige Stunden bei Dagmar, welche ihm heute sehr nachdenklich vorkam.

 

IX.

David hatte frühe am Sonntagmorgen ein Billet folgenden Inhalts von Christoph erhalten:

 

»Bester Waldner!

»Mein Vater ist vor einigen Minuten hier angekommen und bleibt nur einen oder vielleicht zwei Tage hier.

In Eile
Ch. Alm

 

Dieß war die Ursache, warum die Reise nach Eriksdal eingestellt wurde.

David begab sich unverzüglich nach Alms Wohnung, wo er wirklich Sjöqvist traf. Dieser war sehr erstaunt, um nicht zu sagen bestürzt, als er so unvermuthet Auge in Auge David gegenüber stand, welcher sogleich Christoph bat, sie allein zu lassen.

David schloß selbst die Thüre hinter ihm, wandte sich dann plötzlich zu Sjöqvist und sagte ohne Umschweife:

»Wo haben Sie Wilhelm Björnstams Trauschein?«

» Trauschein?« wiederholte Sjöqvist mit Erstaunen; »wenn ein solches Papier vorhanden ist, was unwahrscheinlich sein dürfte, so befindet es sich nicht in meinem Besitze.«

»Hüten Sie sich zu leugnen!« fiel David ein. »Ich weiß gewiß, daß Sie dieses Dokument hatten, und ich rathe Ihnen jetzt, wenn auch zum ersten Mal in Ihrem Leben, ehrlich zu antworten. Sie haben bereits allzu oft meine Geduld auf die Probe gestellt, indem Sie Ihren Versprechungen untreu wurden, als daß ich geneigt sein sollte, mich länger gegen Sie edelmüthig zu zeigen.«

»Ich habe kein Versprechen gebrochen. Nein, Herr Doktor,« fiel Sjöqvist ein und nahm dabei eine ganz zuversichtliche Miene an. Es schien, als ob er wenigstens in dieser Beziehung sich nichts vorzuwerfen hatte.

David war auch wohl versichert, daß er Unrecht hatte, als er gleich darauf äußerte:

»Nun wohl, so ist es vielleicht ein Irrthum. Ich will mich darum bei diesem Gegenstande nicht länger aufhalten. Lassen Sie uns statt dessen von dem reden, was Ihnen angenehmer sein mag. Sie haben einen Sohn.«

Sjöqvist runzelte die Stirne.

»Er steht im Begriff, eine gute Partie zu machen und hat eine sehr schöne Zukunft vor sich. Er wird nicht nur ein geborgener, sondern man kann sagen, ein vermöglicher Mann werden, im Fall Alles so bleibt, wie es jetzt ist. Merken Sie sich, ich sagte: im Fall

Sjöqvist heftete einen finstern Blick auf David, welcher, ohne darauf zu achten, fortfuhr:

»Wie ganz anders hätte nicht sein Schicksal aussehen können, wenn …«

»Herr Doktor,« rief Sjöqvist erschrocken, »reden Sie nicht von den Fehlern und Irrthümern, welche sich aus meines Sohnes früherer Jugend datiren; sie sind ja durch seinen spätern Wandel verwischt, und zudem ist die Verschreibung schon längst eingelöst.«

»Wie Sie wollen; wir können uns an die Gegenwart halten. Fürs Erste müssen Sie wissen, daß die Schuldverschreibung noch in meiner Gewalt ist.«

David nahm ein Papier aus einem Taschenbuche und zeigte dasselbe Sjöqvist.

»Wie Sie sehen, ist der Betrag quittirt; aber Christoph verlangte von mir, ich sollte dieses Papier behalten, um dadurch, im Fall er seiner Vorsätze und Versprechungen vergäße, meinerseits in den Stand gesetzt zu sein, ihn zu seiner Pflicht zurückzurufen. Sollte ich und mein Vater, sagte er, unserer Verpflichtung gegen dich vergessen, so wird der Anblick dieses Papiers genügen, uns zum Bewußtsein unserer Schuldigkeit zurückzurufen. – Somit ist der Beweis für den begangenen Fehler noch vorhanden,« setzte David hinzu, indem er das Papier wieder in sein Taschenbuch legte; »ich kann davon jeden mir beliebigen Gebrauch machen.«

»Aber mein Sohn hat nie vergessen, was er Ihnen schuldig ist!« rief Sjöqvist.

»Nein, er hat wie ein Mann sein Versprechen gehalten, ein ehrlicher und rechtschaffener Bursche zu werden; sein Vater,« rief David mit steigender Hitze, »er hat auch gehalten, was man von seinem vorangehenden Leben erwarten konnte; er ist, was er war – ein Schurke. Sie haben sich an Broolind verkauft, um einem mir Angehörigen Schaden zu thun. Und Sie haben mir gleichwohl versprochen, sie wollen sich nicht mehr überreden lassen, dem Oberst fernerhin irgend ein Leid zuzufügen.«

»Wer will beweisen, daß ich mich verkauft habe?« fragte Sjöqvist.

»Wer?« wiederholte David. »Nun ich

»Herr Doktor, ich wage Ihnen Trotz zu bieten.«

David erwiderte nicht ein Wort, sondern legte nur ein zerknittertes Stück Papier auf den Tisch vor Sjöqvist und sagte:

»Kennen Sie diese Handschrift, diese Unterschrift und errathen Sie möglicher Weise den Inhalt? Aber ich will Ihrem Ahnungsvermögen zu Hülfe kommen. Es ist ein gewisser Sjöqvist, welcher in diesem unbedeutenden Schreiben den Lieutenant Broolind davon unterrichtete, daß Fräulein Björnstam um ein Jahr älter ist, als man angegeben hat.«

Sjöqvist schwieg.

»Ihre Treulosigkeit gegen mich ist dadurch so ziemlich sonnenklar bewiesen, möchte ich glauben. Die Reihe, dafür Rache zu nehmen, dürfte nun an mir sein. Ich beklage tief, daß ich genöthigt bin, damit einen Unschuldigen – Christoph zu treffen; aber ich kann nicht anders handeln, wofern Sie mir nicht Wilhelm Björnstams Trauschein versprechen. Ich lasse Ihnen acht Tage, mir diese Urkunde zuzustellen. Sie liefern dieselbe innerhalb dieser Zeit in meine Hände, oder ich gehe zu Christophs künftigen Schwiegereltern und sage:

»Der Mann, welchem Sie Ihre Tochter zu geben beabsichtigen, war als Student ein überwiesener Dieb. Um zu erklären, wie er es werden konnte, will ich Ihnen seines Vaters Geschichte erzählen. Der Vater, welcher noch lebt, war Kammerdiener bei einem reichen Mann. Unter andern artigen Thaten eignete er sich auch bei dem Hingang seines Herrn dessen Papiere und Briefe zu. Sie waren für ihn so gut wie baares Geld. Er treibt nun mit ihnen Wucher, und ich glaube, daß sie ihm schon recht schöne Summen eingebracht haben. Ich warne Sie, mit dem Mann in keine verwandtschaftlichen Verhältnisse zu treten, denn ich habe beschlossen, nicht eher zu ruhen, als bis ich ihn ins Zuchthaus gebracht habe! Nun, Herr Sjöqvist, wissen Sie, was für Sie zu erwarten ist.«

David trat auf die Thüre zu.

»Aber, Herr Doktor, was Sie begehren, steht nicht in meinem Vermögen.«

»Desto schlimmer für Sie und Ihren Sohn.«

David drehte das Schloß und setzte seinen Fuß auf die Schwelle.

»Ich besitze dieses Papier nicht,« murmelte Sjöqvist.

»Verschaffen Sie sich dasselbe. Sie kennen den Ort, wo Wilhelm Björnstam sich trauen ließ; Sie wissen den Namen des Geistlichen und Sie haben acht Tage für sich.«

»Ich kenne nichts von allem diesem.«

»Dann beklage ich Sie. Nur Wilhelm Björnstams Trauschein kann mich abhalten, Sie nach Verdienst zu strafen.«

David ging.

Sjöqvist stand unbeweglich im Zimmer und schaute nach der Thüre, als ob er erwartete, den jungen Doktor wieder eintreten zu sehen; aber statt dessen wurde sie von dem Sohne geöffnet.

Christoph ging auf seinen Vater zu.

»Es ist Zeit, mein Vater,« sagte er, »daß Sie über Verschiedenes in Ihrem Leben, was mir unbekannt ist, Rechenschaft geben, und ich muß meinen Vater kennen lernen. Ich fürchte mich davor, aber es muß dennoch geschehen.«

Sjöqvist warf sich auf den Sopha und stützte den Kopf auf die Hand, ohne eine Antwort zu geben.

»Fürs Erste, was ist das für ein Papier, welches Waldner von Ihnen haben will?« fragte Christoph.

»Eines, das sich niemals vorfand.«

»Es hat sich vorgefunden und es findet sich vor,« fiel Christoph ein. »Waldner würde nichts Ungereimtes begehren.«

Sjöqvist schaute auf und rief heftig:

»Und wenn dem so wäre, soll es doch niemals in seine Hände gelangen!«

» Niemals,« wiederholte Christoph und faßte seines Vaters Arm.

»Du hast mein Wort gehört, und du kannst noch mehr zu hören bekommen. Ich besitze wirklich den Fetzen, aber Waldner erhält ihn nicht.«

Christoph wurde todesbleich.

»Nun wohl, so übergib ihn dem Eigentümer.«

»Er ist nicht mehr am Leben. Es gibt nur Einen, welcher eine Freude daran haben könnte, und das ist der Oberst; aber der Mann …«

»Wie sind Sie in den Besitz dieses Dokumentes gekommen?«

»Das geht dich nichts an.«

»Ja, wofern mein Vater nicht will, daß ich ihn im Verdacht haben soll, er habe dasselbe gestohlen

Vater und Sohn sahen einander an.

»Nun, mein Vater, geben Sie über den Erwerb desselben Rechenschaft! Befreien Sie mich von der Furcht, denjenigen geringachten zu müssen, den ich liebe und den ich hochschätzen möchte.«

»Undankbarer, als du mich mit Schande überhäuftest, hatte ich nur Liebe und Nachsicht für dich, und jetzt – jetzt stellst du dich an, als wolltest du mit deinem eigenen Vater ins Gericht gehen. Habe ich dir nicht das Geld angeschafft, um jede Spur deiner Verirrung auszutilgen, und gleichwohl wagst du mich anzuklagen, und, was noch schlimmer ist, du hast diesen Waldner die unglückliche Verschreibung behalten lassen, damit er ein Mittel besitze, mich zu dem, was er fordert, zu zwingen. Du hast einen Bund mit ihm eingegangen, mich hieher gelockt, und glaubst mich dahin zu bringen, daß ich nach deiner Pfeife tanzen werde. Nein, jetzt ist es aus; ich opfere mich nicht weiter für einen Sohn, welcher weder Erkenntlichkeit noch Liebe gegenüber von seinem Vater hat.«

Sjöqvist ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Vater, haben Sie vergessen, wem ich dafür zu danken habe, daß ich ein rechtschaffener Mann bin?« fragte Christoph. »Ohne Doktor Waldner wäre ich ganz gewiß jetzt ein Bösewicht, welcher Kummer und Schande auf Sie gehäuft hätte. Unsere Dankbarkeitsverpflichtung gegen ihn ist größer, als daß sie jemals ausgeglichen werden könnte. Sie haben eine Gelegenheit, ihm Ihre Erkenntlichkeit zu beweisen; lassen Sie dieselbe nicht aus den Händen.«

»Und damit soll ich Oberst Björnstam einen für ihn unschätzbaren Dienst leisten? Nein, das wäre allzu stark.«

»Sie wollen somit undankbar gegen Ihres Sohnes Wohlthäter bleiben?«

Der Vater wandte den Kopf weg.

»Sie werden dadurch,« fuhr Christoph fort, »mich zu einem äußersten Schritte treiben. Ja, ich werde selbst mein Glück zerstören und mein Vaterland verlassen. Ich kann das erstere nicht genießen, in dem letztern nicht bleiben, wenn ich mein Leben mit dem Bewußtsein von meines Vaters Unredlichkeit dahinschleppen muß, wenn ich genöthigt bin, denselben wegen der Handlungsweise gegen seinen verstorbenen Herrn zu verachten.«

Christoph wandte sich von seinem Vater ab, um zu gehen.

»Bleibe,« murmelte Sjöqvist, legte die Arme auf den Tisch, und stützte den Kopf darauf.

»Was wünschen Sie, Vater?« fragte Christoph.

»Du willst deinen Vater kennen lernen; es soll geschehen.«

»Ich bin das Kind von Eltern, welche nicht im besten Rufe standen. Mein Vater war Kutscher bei dem alten Björnstam, wurde aber wegen Diebstahls aus dem Dienste gejagt. Er bekam hernach keinen neuen mehr, sondern gerieth auf weitere Abwege und starb im Kerker. Meine Mutter nahm mich dann mit sich und wanderte in ihre Heimat in der Nachbarschaft von Haraldshof, welches damals Fräulein Ingeborg Brandstorm gehörte. Ich kam als Laufbursche in das Herrschaftshaus, und als Moriz Björnstam achtzehn Jahre alt war und Lieutenant wurde, nahm er mich als Bedienten an. Er war mein erster Herr, als er mich eines Tags dabei betraf, wie ich in meines Vaters Handwerk pfuschte. Wahnsinnig hierüber prügelte er mich durch und jagte mich aus dem Dienste, trotz aller Fürbitten von Fräulein Ingeborg. Dieß trug sich zu vor ihrem Tod. Alles Volk deutete auf den Sohn des Diebs, der nun selbst ein Dieb war.

»Ich wanderte in die Welt hinaus, fand aber keinen Platz, weil mein ehemaliger Herr in seinem Zorn mir kein Entlassungszeugniß geben wollte. In der Hauptstadt hielt ich mich eine Zeit lang auf. Die Noth folgte mir dahin, und ich begann bereits darüber nachzusinnen, wie ich durch irgend ein keckes Unternehmen der Gefahr des Hungertodes mich entziehen könnte.

»Wer wäre die Ursache gewesen, wenn der Hunger mich zu einer Handlung verleitet hätte, welche zum Kerker führen mußte; wer außer ihm, der wegen der unbedeutenden Mauserei eines Dieners mich der Möglichkeit berauben wollte, mir auf eine ehrliche Weise meinen Unterhalt zu erwerben.

»Da begegnete ich glücklicher Weise eines Tages Wilhelm Björnstam. Er erkannte mich wieder und redete mich an. Ich erzählte ihm meine unglückliche Lage, und die Art und Weise, wie ich in dieselbe gerathen. Er gab mir etwas Geld und befahl mir, am folgenden Morgen zu ihm zu kommen.

»Wilhelm Björnstam war nun Besitzer von Haraldshof. Ich fand mich bei ihm ein und traf daselbst meinen frühern Herrn.

»Nach der vorangegangenen Behandlung, welche mir von ihm widerfahren war, kannst du dir leicht denken, daß Moriz auch jetzt seinen Bruder abzuhalten suchte, mich, wie es dessen Absicht war, in seine Dienste zu nehmen. Es wäre ihm beinahe gelungen, mich abermals in's Elend zu stürzen; aber das Mitleid des Bruders mit meiner Lage rettete mich, und ich bekam einen neuen Herrn.

»Ich blieb in seinem Brode, bis er starb. Er war ein Herr, dem Alles recht zu machen schwer hielt, heftig und aufbrausend, aber freigebig. Er bedurfte meiner und meiner Verschlagenheit, und daher behielt er mich. Ein paar Mal suchte allerdings mein Feind ihm zu beweisen, daß ich das Vertrauen, welches er mir erzeigte, nicht verdiene, aber ohne Erfolg. Kurz vor Wilhelms Tod war es indessen nahe daran, daß er seine Absicht erreicht hätte; ich stand wirklich auf dem Punkte, meine Kammerdienerstelle zu verlieren. Auf Fürbitten deiner Mutter durfte ich bleiben.

»Ein paar Wochen hernach wurde Wilhelm Björnstam vom Tode hinweggerafft. Die erste Maßregel, welche sein Bruder nun ergriff, war, mich zu verabschieden. Aber ich ließ auch die Papiere meines verstorbenen Herrn nicht in des Bruders Gewalt; ich wußte, daß er, um dieselben zu erhalten, gern sein halbes Vermögen geopfert hätte; aber nach allem, was er mir zu Leide gethan hatte, durfte ich schon einige Rache an ihm nehmen. Hierüber blieb jedoch deine Mutter in Unkunde. Sie würde es niemals zugegeben haben. Alle seine späteren Versuche, mich zu bestechen und somit einige Aufklärung zu erhalten, blieben fruchtlos. Mein Stillschweigen zwang ihn zu Maßregeln, welche seinen Stolz ebenso viel kosteten, als sie störend in sein Glück eingriffen.

»Nun frage ich: ist es denkbar, daß ich durch Ueberlassung des verlangten Attestes an Waldner dem Oberst, meinem bittersten Feinde, den größten aller Dienste leisten sollte? Nein, meinetwegen kann der Doktor seine Drohung ausführen, und uns Beide, dich und mich zermalmen.«

»In diesem Fall, Vater, wollen wir keine weitern Worte darüber verlieren,« bemerkte Christoph. »Sie behaupten, Ihren Sohn zu lieben, und zwingen ihn dennoch, wegen der Befriedigung eines niedrigen Rachegefühls Alles aufzugeben, was ihm theuer ist. – Ich gehe zur See. Ich will mich nicht meines Vaters schämen vor meinem Wohlthäter. Leben Sie wohl! Mögen Sie niemals Grund haben, Ihr Thun zu bereuen!«

Christoph verließ eilig das Zimmer.

 

X.

Doktor Waldner saß am Abend desselben Tages in seinem Arbeitskabinet, als Alm bei ihm eintrat.

»Mein Vater ist abgereist,« sagte Christoph, und nahm David gegenüber Platz.

»Und du hast keinen Auftrag von ihm für mich?«

»Keinen.«

David stand hastig auf und begann das Zimmer mit schnellen Schritten zu messen.

»Du bist sehr aufgebracht,« bemerkte Christoph.

»Ich leugne es nicht,« antwortete David.

»Und bereuest vielleicht deine Handlungsweise gegen mich,« fuhr Christoph fort.

»Eine rechtschaffene Handlung zu bereuen, ist nicht meine Sache.«

»Mein Vater wird niemals hergeben, was du zu erhalten wünschest. Die Gewißheit davon hat mich beinahe vernichtet.«

»Und warum? Glaubst du, ich werde oder wolle etwas thun, was dir schaden könnte?« entgegnete David, indem er ein Papier aus seinem Taschenbuche nahm. »Nein, so lasse ich mich von dem auflodernden Zorn nicht beherrschen. Aber um jedem Mißbrauch von der Schrift hier vorzubeugen, so nimm du dieselbe, und opfere sie der Vernichtung.«

»Ich habe nie befürchtet, daß du irgend einen Gebrauch davon machen werdest,« sagte Christoph und schob das Papier von sich; aber ich habe eine schmerzliche Erkenntniß von meines Vaters Charakter erhalten, und darum glaube ich nicht die Hand der Frau annehmen zu können, welche ich liebe. Ich will ihr zum Schwiegervater keinen Mann geben, welchen sie nicht zu achten vermag. Sie dadurch zu täuschen, daß ich den Urheber meiner Tage vor ihr verleugne, ist mir gleich zuwider. Ich muß fort von hier, um nicht Zeuge davon zu werden, daß mein Vater eines Tages ins Unglück geräth. Dieser Vater hat doch nie etwas Anderes als Liebe für mich gehabt, und trotz aller seiner Fehler muß ich ihn lieben.«

David betrachtete Christoph.

»Nimm das Papier und weise es nicht ab,« sagte er, »du kannst es ja versiegeln und deinem Vater zuschicken. Ich werde durch andere Mittel den Zweck, wornach ich strebe, zu erreichen suchen. Aber, mein lieber Christoph, was redest du davon, dich wegzubegeben? Schlage dir diese Gedanken aus dem Sinn. Verfolge deine angetretene Laufbahn und verheirate dich ohne Furcht. Dein Vater wird niemals weder sich noch dich ins Unglück stürzen.«

Christoph schwieg und blieb unbeweglich. David redete ihm noch lange zu; endlich erhob sich Christoph mit den Worten:

»Ich will thun, was du begehrt, und die Verschreibung meinem Vater zuschicken; ich …«

»Das ist nicht nöthig,« sagte Sjöqvist unter der Thüre und trat ein. »Verzeihen Sie, Herr Doktor, daß ich so hier hereingeflogen komme; aber mir dünkte, es sei Schade um den armen Jungen, und ich kehrte um, nachdem ich ein Stück weit abgereist war.«

Sjöqvist näherte sich Christoph.

»Gib den Fetzen Papier her,« sagte er.

Christoph zog die Hand zurück und Sjöqvist wandte sich nun zu Waldner mit den Worten:

»Wollen Sie vielleicht, Herr Doktor, ihn mir überlassen?«

Ohne weitere Antwort nahm David die Verschreibung Christophs und übergab dem ehemaligen Kammerdiener den Beweis für den von seinem Sohne begangenen Fehler. Sjöqvist betrachtete die Schrift eine Weile, machte dann Feuer mit einem Zündhölzchen und hielt das Papier daran. Als die Flamme es verzehrt hatte, zertrat er die Asche mit dem Fuße und seufzte dann tief auf.

»Der Väter Missethaten werden an den Kindern gestraft,« äußerte er. »Von meinem Vater habe ich einen entehrten Namen und einen unredlichen Charakter geerbt. Ich meinerseits will nicht, daß mein Sohn durch ein solches Erbe leiden soll, und darum wandte ich alle mögliche Mühe an, ihm eine gute Erziehung zu geben und ihn seiner Mutter ähnlich zu machen; aber als die Versuchung kam, forderte die Natur ihre Rechte, und die Folgen seines Fehlers wurden schlimm.

»Ich hatte allerdings die Papiere meines verstorbenen Herrn mir zugeeignet, um dem Oberst dadurch Verdruß zu erregen; aber es war niemals meine Absicht, einen weitern Gebrauch davon zu machen. Erst als Christophs Eingriff in fremdes Eigenthum mir bekannt wurde, erwachte in mir der Gedanke, die Briefe an die Oberlandrichterin zu verkaufen und mir dadurch das Geld zur Bezahlung von Christophs Schuld und zur Deckung der Kosten für seine Studien anzuschaffen. Mein erster Versuch damit hatte keine so glücklichen Folgen, wie ich gehofft hatte, und die Ursache davon war der Herr Doktor. Ich hatte inzwischen einmal den Fuß auf einen Weg gesetzt, welcher Geld einbringen und einen nie ganz erloschenen Groll gegen den Oberst befriedigen konnte. Ich gelangte auch zu diesem doppelten Ziele dadurch, daß ich dem Lieutenant Broolind verschiedene Aufklärungen gab. Hätte Christoph sich nie an Ihrem Gelde vergriffen, so würde ich auch nie dazu gekommen sein, mich von Neuem in die Angelegenheiten der Björnstam'schen Familie zu mischen.«

Sjöqvist schwieg. Christoph saß mit gesenktem Kopfe da. David hatte jetzt eine sehr bequeme Gelegenheit, um wahrzunehmen, wie geneigt der Mensch immerdar ist, die Schuld von sich selbst auf andere zu wälzen.

Nachdem Sjöqvist seinen Sohn eine Weile betrachtet hatte, nahm er wieder das Wort:

»Das Zeugniß für deinen Fehler ist jetzt zerstört, und das Andenken daran schließt sich mit mir und dem Herrn Doktor ab. Du hast als ein braver Bursche deinen Fehler wiederum gut gemacht und gewährst schöne Hoffnungen für die Zukunft; du sollst nicht sagen können, daß dein Vater sie vernichtet habe. Herr Doktor, Sie werden gleichfalls finden, daß ich nicht so undankbar bin, wie ich Ihnen scheinen möchte.«

Sjöqvist ergriff Feder und Papier, setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte einige Zeilen hin und unterzeichnete sie mit seinem Namen. Darauf übergab er dieselben David mit den Worten:

»Jetzt, Herr Doktor, habe ich meiner Schuld mich entledigt. Indem ich mich hiedurch verpflichte, Ihnen das Dokument, welches Sie zu erhalten wünschen, zuzusenden, ist es gerade so viel, als befände sich dasselbe bereits in Ihren Händen.«

Sjöqvist nahm seinen Hut, forderte seinen Sohn auf, ihn zu begleiten, und ging.

 

XI.

»Die Obsternte dieses Jahr verspricht nicht so reichlich auszufallen, wie sonst,« sagte Dagmar zu dem alten Olle, welcher seit siebenundzwanzig Jahren als Gärtner in der Björnstam'schen Familie diente. Er war einer der wenigen, welche ihr von Haraldshof nach Eriksdal hatten folgen dürfen.

»Reichlich?« wiederholte der alte, treue Diener ärgerlich; »ich möchte nur wissen, ob sie jemals so elend gewesen, wie hier. Nein, es ist ein wahres Elend mit dem Krautland da.«

Olle war eben damit beschäftigt, Birnen an einem großen Baum zu pflücken; er kletterte mit einer Langsamkeit die Leiter hinauf, daß man wohl sah, er habe durchaus nicht im Sinne, sich allzu sehr anzustrengen.

»Nennst du den großen, schönen Garten hier ein Krautland?« rief Dagmar lachend.

»Ja, allerdings, und etwas Anderes ist er mit Ihrer Erlaubniß nicht. Hier wachsen ja Blumen und Gemüse wie anderswo. Gleicht dieß einem Herrschaftsgarten, so will ich ein Kohlkopf werden. Anders war es in …«

»Ei, kein so dummes Geschwätz, Olle,« unterbrach ihn Dagmar; »laß mich vielmehr einige schöne Birnen auswählen, um sie auf den Frühstücktisch zu setzen.«

Olle reichte ihr den Korb mit dem gepflückten Obst.

»Nichts als saures Zeug, taugt nur dazu, den Ferkeln vorgeworfen zu werden; nein, anders war es in …«

»Da kommt Jemand angefahren,« rief Dagmar. »Spring nach dem Gitterthor und sieh, wer es ist.«

Olle stellte den Korb beiseite. Dagmar legte die ausgewählten Birnen auf eine kleine silberne Schale, welche sie bei sich hatte.

Sie hatte allerdings Olle aufgefordert, sich zu beeilen; aber Eilfertigkeit war nicht seine Sache; er schlenderte vielmehr ganz sachte und behutsam nach dem Gitterthor und blieb dort stehen. Dagmar hörte ihn ausstoßen:

»Pfui Teufel! Der ist es!«

Das junge Mädchen drehte sich um, konnte aber nichts anderes als die groben Umrisse des alten Gärtners sehen.

»Olle!« rief sie.

Dießmal legte er seinem Eigensinn Zügel an und gehorchte dem Rufe.

»War es ein Fremder, der angekommen?«

»Ja; der Doktor und ein Anderer.«

»Kanntest du den Andern?«

»So gut als ich Sie kenne, Fräulein; aber ich bin nicht im Stande, seinen Namen auszusprechen.«

»Aber ich wünsche es zu wissen.«

»Ich glaube es nicht ganz; mir dünkt vielmehr, das Fräulein möchte lieber dem Herrn die Cousinschaft aufkünden.«

»Cousinschaft?«

Dagmar erbleichte. Sie hatte nur einen Cousin und an den konnte sie ohne eine Empfindung bittern Verdrusses nicht denken.

Der alte Olle sah sie an. Er hatte niemals auf andere Wesen außer Hektor und Dagmar viel gehalten. Wir räumen Hektor die erste Stelle ein, weil er wirklich im Besitz derselben war. Olle hatte ihn in dessen jungen Jahren gepflegt und ihm eine Erziehung gegeben. Dagmar nahm nur die zweite Stelle in seinem Herzen ein; aber diese war auch nicht zu verachten. Wäre Dagmar auch noch so arm geworden, Olle würde ihr gefolgt sein und ihr gedient haben. Sie hatte er ganz wie eine Pflanze aufwachsen sehen und sich an sie gehängt, wie er es bei den kleinen Blumen im Garten that; aber die Ergebenheit gegen die herangewachsene Frau hatte sich mittlerweile dermaßen entwickelt, daß sie mit der treuen Freundschaft Hektors gegenüber von seiner Herrin wetteifern konnte.

»War Lieutenant Broolind bei dem Doktor?« fragte Dagmar, als sie sich gesammelt hatte. »Das ist wohl nicht möglich.«

»Ja, doch; ich schaute ihm gerade ins Gesicht.«

»Was kann er wollen, und wie kann er in Davids Gesellschaft kommen?« äußerte Dagmar, mehr mit sich selbst als mit dem treuen Diener redend.

Olle schwieg. Dagmar reichte ihm die silberne Schale mit den Worten:

»Trage sie hinauf zu Frau Thorén und sage ihr, daß ich nicht zum Frühstück komme.«

Sie schritt den Gang hinunter und verließ den Garten.

 

XII.

Der Mittagstisch stand gedeckt, als Dagmar in den Salon trat, wo Majken eben damit beschäftigt war, Blumen in einer der Vasen zu ordnen.

»Sind unserer so viele beim Essen?« fragte Dagmar.

»Ja, dein Vater hat den ganzen Vormittag Gäste gehabt, und dieselben werden hier bleiben.«

»In diesem Fall bin ich unpäßlich. Ich habe Kopfweh bekommen.«

Dagmar äußerte dieß mit einem halben Lächeln.

»Geht nicht an, nachdem dein Vater den Wunsch ausgedrückt hat, daß du bei Tische gegenwärtig sein sollst.«

»Herr Gott, eine solche Tyrannei!« rief Dagmar und warf sich auf einen Stuhl. »Majken, ich kann nicht, ich will dießmal meines Vaters Wunsch nicht erfüllen.«

Majken sah sie an und lächelte.

»Du mußt dich ein wenig zum Mittagsmahl putzen,« sagte sie und küßte die Stieftochter auf die hohe Stirne. »Es wäre verdrießlich, wenn David dich mit so unfrisirtem Haare zu sehen bekäme. Er würde eine schlimme Vorstellung von deinem Ordnungssinn bekommen.«

»Hu, wie du so boshaft bist und verschmitzt dazu. Du bist eine rechte Mißgeburt von List und Verstellung!« rief Dagmar, indem sie ihre Arme um Majken schlang; dann setzte sie in traurigem Tone hinzu: »Du ahnst nicht, welche Plage es für mich ist, mit diesem Mann zusammenzutreffen!«

»Ich ahne es nicht, darum weil ich es weiß; aber lieber wollen wir uns der größten aller Unannehmlichkeiten unterwerfen, als im Widerspruch mit deines Vaters Willen handeln.«

Dagmar küßte sie und eilte auf ihr Zimmer, wo sie eiligst Toilette machte. Sie kleidete sich gleichwohl heute mit mehr Eleganz als sonst. Ihr Anzug war gewöhnlich geschmackvoll, aber äußerst einfach; jetzt wählte sie einen sehr zierlichen. Als sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, lächelte sie. Der schweigsame aber aufrichtige Freund sagte ihr, daß sie schön war. Es fand sich da ein Reichthum, den Niemand von ihr nehmen konnte.

Bei ihrem Eintritt in den Salon zog ein Lächeln über ihr Angesicht. Man hätte sagen können, sie sei erschienen, um einen sehr theuren Freund zu empfangen.

Es fand sich auch Niemand hier als David. Er eilte auf sie zu.

»Wie du heute so schön bist!« rief er.

»Du glaubst somit nicht, daß ich einer Preiselbeere gleiche?« bemerkte Dagmar lachend.

»Wie wäre das möglich? Wer kann wohl in demselben Augenblick an saure Beeren und dich denken?«

»Nun, ein gewisser David Waldner; hast du es vergessen?«

»Ja, ich wahrhaftig,« versicherte David, aber mit einer Miene, welche ein böses Gewissen verrieth.

»Das glaube ich nicht; aber es mag auch einerlei sein. Jetzt zu etwas Anderem. Was will Arvid?«

»Das kann ich unmöglich sagen. Er kam vor ein paar Tagen nach **köping, und da machten wir aus, hieher zu gehen.«

»Jetzt bist du nicht aufrichtig,« entgegnete Dagmar. »Etwas Besonderes muß es sein, was ihn hieher führte.«

»Höchst wahrscheinlich. Es betrifft wohl den Pacht. Was weiß ich?«

»Du weißt, was es betrifft.«

»Beweise das, wenn du kannst,« bat David. Er nahm eine von Dagmars Händen und legte sie in seine Linke, während er schmeichelnd mit seiner Rechten über dieselbe fuhr.

»Der Beweis steht in deinem Gesichte zu lesen.«

»Wie sieht das aus?«

»Es sieht aus, als wärest du gekommen, um von einer unerwarteten Freude, glücklichen Begebenheit oder Entdeckung Kunde zu bringen; mit einem Wort etwas, das für eine Weile den gewöhnlichen ernsten und wehmüthigen Ausdruck in deinen Augen verjagt hat. – Ist es etwas, das mich und meinen Vater angeht; ist es …?«

»Liebenswürdige Dagmar, hole doch Athem,« fiel David ein. »Du redest und fragst, daß mir ganz wirr im Kopfe wird. Fürs Erste, was meinst du mit der gewöhnlichen Ernsthaftigkeit oder Wehmuth?«

»Beantwortest du auf solche Art meine Erkundigungen?«

»Wie du hörst.«

Davids Miene war in diesem Augenblick so sorglos, daß sie an seine Jünglingsjahre erinnerte, da des Lebens Prüfungen ihm noch fremd waren.

»Das ist nicht artig von dir,« erklärte Dagmar.

»Du klagst mich somit an, unartig zu sein.«

Dagmar fand keine Zeit zur Antwort; der Oberst und Broolind traten ein.

Dagmar hatte ihren Vater den ganzen Tag nicht gesehen. Es kam ihr vor, als wäre er seit dem gestrigen Abend um zehn Jahre jünger geworden. Seine Stirne war wolkenfrei, das Auge lebhaft, und um den strengen Mund spielte ein heiteres Lächeln. Alle Sorgen, welche auf seine Seele gedrückt hatten, waren wie weggeblasen. Frei und ohne alle bittern Erinnerungen schien er um sich zu schauen. Er grüßte mit einigen scherzhaften Worten Dagmar und sagte darauf, auf Arvid zeigend:

»Heiße deinen Cousin willkommen, Dagmar; er bringt gute Kunde für dich und mich.«

»Wie lautet sie?« hätte Dagmar gern gefragt, aber sie that es nicht, sondern reichte Broolind, obwohl etwas widerstrebend die Hand und fragte stammelnd, wie Mathilde sich befinde.

Broolind sah verlegen aus.

Majkens Eintritt und die Meldung: »es ist aufgetragen,« befreite Dagmar von der Nothwendigkeit, das Gespräch mit dem verhaßten Cousin fortzusetzen.

Der Oberst und David waren ganz munter während des Mahles. Ihre Heiterkeit wirkte auch auf die allgemeine Stimmung. Sogar Broolind, welcher nicht sonderlich vergnügt schien, suchte ein lächelndes Aussehen anzunehmen, obwohl es Dagmar vorkam, als ob er sich höchlich anstrenge, um es dahin zu bringen.

Dagmar wurde die ganze Zeit von der lebhaftesten Neugierde gequält. Sie brannte vor Ungeduld, die Lösung des Räthsels zu erfahren.

Ein Räthsel war es, daß der Vater und David so froh und freundlich gegen Broolind waren.

Beim Dessert bestellte der Oberst Champagner, und als die Gläser gefüllt waren, erhob er sich und brachte die Gesundheit seines Schwestersohnes aus, während er ihm zugleich auf eine sehr anerkennende Weise dafür dankte, daß er ihm, dem Oberst, den Beweis dafür eingehändigt hätte, daß Dagmar seine gesetzliche Nachfolgerin in Haraldshof wäre.

Dagmar wurde zuerst schneeweiß, dann glühend roth; hernach füllten sich ihre Augen mit Thränen.

»Ist es möglich? Ist es wahr, Papa?« stammelte sie.

Arvid Broolind, welcher jetzt seiner Handlungsweise Herr geworden war und sich klar gemacht hatte, daß er nunmehr ohne Unterbrechung die Glorie strenger Rechtlichkeit, welche er auf so unverdiente Art sich angeeignet hatte, beibehalten müsse, wandte sich zu Dagmar mit den Worten:

»Ich bin wirklich in die glückliche Lage versetzt, dem Oheim ein wichtiges Dokument zu übergeben. Es ist …«

Arvid heftete zufällig hierbei sein Auge auf David; sein Blut kam in heftige Wallung, und schon mit den ersten Worten brach er in dem ab, was er hatte sagen wollen.

David stellte eben an Broolind im Stillen die Frage, ob er es nicht schicklich fände, auf Dagmar einen Toast auszubringen. Broolind war nicht sonderlich dankbar für diesen Vorschlag, fand es jedoch unmöglich, Nein zu sagen. Er erhob somit seine Stimme und sprach in gesuchten und schwülstigen Phrasen von dem Glück, das ihm bescheert worden, einigermaßen auch seinerseits dazu beitragen zu können, daß Dagmar wieder in ihre Rechte eingesetzt würde und schloß mit der Erläuterung, daß er beständig seiner liebenswürdigen Cousine ein getreuer Freund sein würde. Man stieß mit den Gläsern an und stand hernach von der Tafel auf.

Dagmar wußte nicht genau, ob das, was sich zugetragen hatte, Traum oder Wirklichkeit wäre.

Majkens Angesicht drückte womöglich einen noch höheren Grad des Erstaunens aus. Sie schien noch weniger als Dagmar zu begreifen, wie das Alles zusammenhinge.

Arvid verabschiedete sich bald, nachdem man den Kaffee getrunken hatte, und Majken hörte den Oberst gegen ihn äußern:

»Wenn der neue Kontrakt aufgesetzt worden ist, werde ich denselben dir zur Unterschrift zusenden. Bei den Bedingungen, unter welchen ich dir hinfort Haraldshof überlasse, kannst du mit Klugheit und Umsicht deinen Kindern schon ein kleines Vermögen sammeln, besonders wenn ich lang lebe und du inzwischen den Pacht behalten darfst.«

»Sie sind allzu gütig, Oheim,« stammelte Broolind. War es wohl Scham, was dießmal seine Wangen röthete?

Es gibt kaum etwas, das schwerer zu ertragen ist, als Edelmuth, der uns von denen erwiesen wird, denen wir selbst Unrecht zugefügt haben. Auch höchst selbstsüchtige und eigennützige Menschen fühlen die Demüthigung, welche darin liegt, und würden vielleicht, wenn man ihnen die Wahl ließe, lieber einen Schlag ins Gesicht dafür hinnehmen.

Wir können auch versichern, daß Broolinds Gemüthsstimmung, als er von Eriksdal abreiste, nichts weniger als angenehm war. Er fühlte sich gallsüchtig, und würde, wenn die Vorsicht es gestattet hätte, sich eine Kugel vor den Kopf geschossen haben, um sich die Gesellschaft seines eigenen Ichs und die Erinnerung an alle die mehr oder minder schönen Handlungen, wozu sein Eigennutz ihn verleitet hatte, vom Halse zu schaffen. Er suchte allerdings dieselben durch das Verschönerungsglas der Eigenliebe zu betrachten, aber heute wollte es nicht recht gelingen, aus schwarz weiß zu machen.

 

XIII.

Es war am Abend, nachdem Broolind von Eriksdal abgereist war.

In der großen Laube finden wir die Familie Björnstam, Frau Thorén und David.

Der Oberst nahm das Wort:

»Der Zeitpunkt für eine nähere Aufklärung über die Familienverhältnisse meines verstorbenen Bruders dürfte jetzt da sein. Ich kann nun, ohne dem Andenken an Jemand zu nahe zu treten, auch Mittheilung darüber machen.

»Wilhelm, seiner Mutter und seiner Geschwister Liebling, war von der Natur an Herz, Verstand und äußern Vorzügen reich ausgestattet. Nimmt man hiezu, daß er angenehme Manieren hatte, so erscheint es sehr natürlich, daß er Jedermanns Günstling werden mußte, besonders da seine Gemüthsart in den Jünglingsjahren lebensfrisch und gefällig war. Der letztere Umstand gab wahrscheinlich Veranlassung zu der Vorliebe unserer Mutter für ihn; sie hatte in ihren beiden andern Kindern ein paar stolze und schwer zu behandelnde Naturen. Wilhelm lohnte ihre Zärtlichkeit mit der hingebendsten Sohnesliebe. In seinen jüngern Jahren stieg nicht einmal der Gedanke in ihm auf, sich seiner Mutter Willen zu widersetzen. Er war für ihn Gesetz, und es machte sein Glück aus, denselben zu erfüllen. Er war der gehorsamste und liebenswürdigste Sohn, den eine Mutter sich nur wünschen konnte. Ein paar Jahre, ehe er Haraldshof antrat, hatte meine Mutter ihm eine Gattin ausersehen.

»Das Mädchen, noch nicht konfirmirt, war in entferntem Grade mit uns verwandt und des reichen Freiherrn von Dannekrona einzige Tochter.

»Der Baron war für Wilhelm eingenommen und ebenso eifrig für die Partie, wie unsere Mutter, und so wurde zwischen ihnen beschlossen, wenn Dannekrona's Tochter zwanzig Jahre alt wäre, sollte Wilhelm sie als seine Frau heimführen. Sie war erst vierzehn, als der Plan entworfen wurde.

»Hildur Dannekrona war ein schönes, einnehmendes Kind von feinem, zartem Körperbau, einem empfindlichen und gefühlvollen Herzen. Sie war lieblich, wie eine Frühlingsblume, aber empfindlich wie diese. Eine einzige scharfe Frostnacht, und mit dem Leben der Blume ist es aus.

»In ihr seine künftige Gattin zu sehen, mußte einem jungen Mann, welcher selbst erst aus dem Jünglingsalter getreten ist, sehr angenehm erscheinen, besonders da sie, gleich Wilhelm, noch nie eine auch nur flüchtige Neigung empfunden hatte.

»Nachdem man Hildur ihm zur Braut bestimmt hatte, wurde Wilhelm ein täglicher Gast im Hause des Freiherrn, und er meinte nun selbst, daß er sie liebe.

»Hildur, welche in ihm den Mann sah, den der Vater ihr bestimmt hatte, glaubte nicht nur, daß sie ihn innig liebe; Wilhelm war ihr theuer, wie das Schönste unter allen ihren Spielsachen, der beste unter allen ihren Spielkameraden und der zärtlichste von allen ihren Freunden. Hildur fesselte schon in den Kinderjahren ihr Herz an ihn, ihre Hoffnungen und ihre Begriffe von Glück für die Zukunft.

»Sie hatte das fünfzehnte Jahr zurückgelegt, als Wilhelm in den Besitz von Haraldshof gelangte.

»Ein halbes Jahr darauf machte er eine Tour ins Ausland, um sich in der Welt umzusehen.

»Er war fünf Monate fort und kam etwas verändert wieder.

»Die gleichmäßige Gemüthsart war verschwunden. Durch rauschende Vergnügungen oder übertriebene Fröhlichkeit suchte er augenscheinlich irgend eine Erinnerung, welche ihn quälte, zu verjagen.

»Allzu unbekannt in seinem eigenen Innern, vermochte er die Stärke seiner Leidenschaften oder die Kraft seines Willens nicht zu beurtheilen, sondern war überzeugt, daß er mit seinem Verstand und seinem Ehrgefühl über seine Empfindungen und Handlungen bestimmen könnte.

»Er drang auch jetzt darauf, daß Hildur und er die Ringe wechseln sollten. Der Baron sträubte sich anfangs dagegen, mußte aber nachgeben, und so wurden sie verlobt.

»Wilhelms Bitte, die Heirat bald nachfolgen zu lassen, traf dagegen auf eine bestimmte Weigerung. Die Aerzte hatten erklärt, daß Hildur nicht allzu frühe in den Ehestand treten dürfe, und der Baron glaubte hierin sich nach deren Willen richten zu müssen.

»Ein Jahr verging.

»Wilhelm wurde allmälig wieder sich selbst gleich und schien mit jedem Tage sich inniger an seine Auserkorene anzuschließen. Sie lebte gleichzeitig nur für ihn und ihre Liebe.

»Im Frühjahr, nachdem sie verlobt worden waren, unternahm der Baron mit seiner Tochter eine Reise nach Italien. Wilhelm begleitete sie. Ich machte dasselbe Jahr im Sommer meinen ersten Ausflug in die Fremde; das Ziel desselben war Paris, wo ich einige Zeit verweilte.

»Die Dannekrona's und Wilhelm waren in Neapel, wo sie zufolge eines Briefes von dem letztern zu überwintern gedachten. Wilhelm freute sich darauf, die kalte Jahreszeit unter einem milden Himmel und in Gesellschaft von ihr, welche er seiner Versicherung nach immer höher liebte, zuzubringen.

»Einige Zeit nach Empfang dieses Briefes – es war im Herbst – hatte der schwedische Gesandte zu Paris eine größere Gesellschaft bei sich. Ich war auch unter den Gästen.

»Die Schönste unter den Schönen war an jenem Abend ein Fräulein von Aveyron. Sie war so schön, daß ich niemals ein idealeres, engelmäßigeres Gesicht erblickt hatte, und zugleich excentrisch und phantastisch, wie nur eine Französin sein kann. Jede ihrer Launen war ein Gesetz für ihre Umgebung. Sie würde sich selbst überrascht gefühlt haben, wenn Jemand auch nur vorausgesetzt hätte, daß sie von einer einzigen derselben abstehen sollte. Fräulein d'Aveyron war von Bewunderern umgeben und benahm sich gegen sie wie eine Königin gegen ihre Vasallen.

»Es schien mir, wie ich sie betrachtete, als ob die launische Herrscherin heute besonders ungnädig gegen ihre Anbeter wäre. Sie zeigte sich zugleich unruhig, und dieß gab mir zu der Vermuthung Anlaß, daß sie einen Günstling hatte, den sie erwartete.

»Ich konnte unmöglich meine Augen von der schönen Frau losreißen. Plötzlich sah ich ihr einnehmendes Gesicht mit einer lebhaften Röthe sich übergießen; ein Ausdruck von Freude und Schüchternheit verbreitete sich darüber und die Unruhe verschwand.

»Der Erwartete war somit gekommen.

»Ich suchte unter allen diesen Männern zu entdecken, wer es sein könnte, und gewahrte so einen jungen Mann, welcher sich der Schönen näherte. Ich sah ihn nur von der Rückseite, aber dessen ungeachtet kam er mir wie ein alter Bekannter vor. Sein lockiges Haupt hatte ich, so lang ich zurückzudenken vermochte, gekannt.

»Er grüßte mit einem sanften Lächeln. Ich zog mich zur Seite, um sein Antlitz zu sehen. Ich hatte mich nicht getäuscht, es war – Wilhelm.

»Was ich empfand, ist zu schildern überflüssig. Eine traurige Ahnung sagte mir, daß mein armer Bruder verloren, daß Hildurs Glück vernichtet war.

»Bei der nun folgenden Zeit zu verweilen, ist unnöthig.

»Erklärungsweise will ich jedoch erwähnen, daß Wilhelm bei seinem ersten Besuch in Paris die Bekanntschaft von Fräulein Anaïs gemacht und daß letztere einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht hatte, daß er über Hals und Kopf von Paris abreiste, um nicht zur Untreue gegen seine Braut verleitet zu werden. Bei der Heimkehr beschleunigte er die Verlobung und hoffte, wenn das Band der Pflicht ihn an Hildur fesselte, würde der Eindruck von Anaïs gänzlich verschwinden.

»Ein unfreundliches Geschick wollte indessen, daß er sie zu Neapel wieder sehen sollte. Mit diesem Wiedersehen war ihr Sieg über sein Herz so vollständig, daß weder Vernunft noch Pflicht etwas über ihn vermochte. Unter irgend einem Vorwand, Gott allein weiß welchem, trennte sich Wilhelm von seiner Braut und reiste nach Paris.

»Alles, was ich sagte, um ihn zu bestimmen, zu Hildur zurückzukehren, blieb ohne Wirkung. Er konnte Paris nicht verlassen, und meine Worte hatten nur den Erfolg, daß er so allmälig mir auszuweichen anfing.

»Sjöqvist, welcher schon bei dessen erster Reise ins Ausland in seinem Dienste stand, wurde nicht bloß der heimliche Brief- und Blumenträger an Anaïs, sondern er steigerte auch meines Bruders Leidenschaft durch Erzählungen aus dem Munde von Anaïs' Kammerfrau, welche alle darauf hinausliefen, Wilhelm die Ueberzeugung beizubringen, daß er geliebt werde. Es lag in Sjöqvist's eigennützigem Interesse, auf alle mögliche Weise die Neigung seines Herrn zu der schönen Französin anzufachen. Jedes Wort, welches er von ihr mittheilte, trug ihm eine freigiebige Belohnung ein.

»Ich wollte unter solchen Verhältnissen nicht in Paris bleiben, sondern reiste ab, niedergeschlagenen Sinnes, weil ich voraussah, wie es kommen würde.

»Von Schweden aus schrieb ich an Wilhelm und stellte ihm vor, wenn er von Fräulein d'Aveyron nicht ablassen könne, erfordere es die Ehre, daß er wenigstens die Verlobung mit Hildur auflöse. Ich sprach von dem Kummer, in welchen er unsere Mutter versetzen würde, wenn er das Glück der Braut zerstöre, von Allem, was nur dazu beitragen konnte, ihn umzustimmen.

»Ich erhielt eine Antwort, die unter dem Einfluß einer erregten Gemüthsstimmung geschrieben war.

»Er hatte ein Duell mit dem Bruder von Anaïs gehabt, welcher in einer größeren Gesellschaft Wilhelm den Rath ertheilt hatte, sich von seiner Schwester in gehörigem Abstand zu halten, weil ein Marquis von Aveyron es nicht dulden könne, daß ein unbedeutender schwedischer Edelmann ihr seine Huldigung aufzudringen suche. Bei dieser Beleidigung gerieth Wilhelm in Zorn, und das Duell war eine Folge davon. Die Herren färbten bei dieser Veranlassung ihre Degen mit dem Blute von einander, und jeder bekam seine Ritze in die Haut, und die Affaire war damit zu Ende.

»Wilhelm schrieb, er würde unverzüglich Paris verlassen. Seine Absicht war, das Bild von Anaïs aus seinem Herzen zu tilgen und sein Leben Hildur zu widmen. Er wollte ihr Alles bekennen. Wenn sie ihm seine Verirrung verzieh, sollte nichts im Stande sein, ihn von ihr abwendig zu machen. Seine und Anaïs' Liebe hatte keine Zukunft; das wußte er jetzt. Niemals würde der Marquis von Aveyron, ein Edelman von altfranzösischem Geschlecht und Katholik bis zur Bigotterie, gestatten, daß seine Tochter sich mit einem ketzerischen Edelmann, um von den Ahnen nichts zu sagen, vermähle.

»Nach diesem Brief hörte ich ein halbes Jahr lang nichts weiter von Wilhelm. Unsere Mutter war in Verzweiflung. Sie erhielt von ihm ebenso wenig Nachricht. Sie schrieb einen Posttag nach dem andern an Wilhelm und die Dannekrona's, aber ohne eine Antwort zu erhalten. Endlich im Frühjahr kam der Baron mit seiner Tochter nach Schweden, jedoch ohne Wilhelm.

»Hildur hatte etwas über ein Jahr im Auslande zugebracht. Diese Zeit hatte sie in einen Schatten von sich selbst verwandelt. Der erste Blick genügte, mich darüber aufzuklären, daß der Tod der Bräutigam wäre, welcher sie in seine Arme schließen würde.

»Sie grüßte uns von Wilhelm. Er hatte sie nach Lübeck begleitet, aber auf ihr beharrliches Begehren unterlassen, ihnen nach Schweden zu folgen. Sie wünschte, er sollte noch so lang fortbleiben, bis die heimatliche Luft ihre Gesundheit wiederhergestellt hätte. Sie brachte einen Brief an meine Mutter von Wilhelm mit. Hildurs Krankheit war die Ursache von Wilhelms langem Stillschweigen gewesen.

»Hildur wünschte den Sommer in Haraldshof zuzubringen.

»Ich hatte von Wilhelm den Auftrag erhalten, das Gut während seiner Abwesenheit in Verwaltung zu nehmen, ein Umstand, welcher zur Folge hatte, daß wir, Hildur und ich, täglich beisammen waren.

»Sie vertraute mir während dieser Zeit an, daß das Band zwischen ihr und Wilhelm gelöst wäre, daß aber der Vater davon nichts wüßte, und ich ebenso wenig unsere Mutter davon unterrichten dürfte.

»Ich sterbe noch vor dem Herbst, sagte sie, und will als Wilhelms Braut sterben, mit seinem Ring an meiner Hand, und ohne Jemand ahnen zu lassen, daß er seine Treue mir gebrochen. Er ist unschuldig; den Gefühlen des Herzens läßt sich nicht befehlen. Ich habe ohne Groll ihm seine Freiheit zurückgegeben. Mein Vater und Wilhelms Mutter würden vielleicht strenger sein; sie würden ihn anklagen, daß er die Ursache meiner Krankheit sei, und das könnte ich nicht ertragen.

»Zu Ende Augusts erlosch Hildurs Leben. Ihr letzter Wunsch war, auf dem Gottesacker in der Nähe von Haraldshof begraben zu werden.

»Er wird dann zuweilen mein Grab besuchen, und freundlich an Hildur gedenken, hatte sie gesagt.

»Als Hildur starb, war Wilhelm in England; er hatte von dort mehrere Briefe an sie und auch an mich geschrieben.

»Unsere Mutter, welche fürchtete, ihr Sohn könnte den Verlust seiner Braut allzu tief nehmen, im Fall er ihm schriftlich mitgetheilt würde, forderte mich auf, nach London zu reisen und so schonend als möglich ihm die Trauerpost beizubringen.

»Ich reiste. Es regte sich in mir der lebhafte Wunsch, zu erfahren, warum Wilhelm sich in der großen Weltstadt aufhielt. War es eine neue Leidenschaft, welche ihn an dieselbe fesselte? Seine kurzen und lakonischen Briefe ließen mich etwas der Art vermuthen.

»Ohne Schwierigkeit fand ich seine Wohnung in London. Sie sah aus, als beabsichtige er auf längere Zeit sich daselbst anzusiedeln. Der Portier erklärte indessen, daß er nur ausnahmsweise daheim zu treffen wäre. Wo er dazwischen sich aufhielte, darüber war der Portier in Unkunde. Ich schrieb einige Zeilen, gab meine Adresse ab und gebot ihm das Billet, sobald er nach Hause käme, zu übergeben.

»Mehrere Tage vergingen dessen ungeachtet, ohne daß er etwas von sich hören ließ.

»Von einem seiner Freunde, Mr. Scott, erfuhr ich, daß er ein heimliches Liebesverhältniß habe, und daß der Gegenstand seiner Flamme irgendwo in der Nähe der Stadt wohne. Wo, war Mr. Scott nicht gelungen, ausfindig zu machen.

»Endlich besuchte er mich.

»Er trat mit freudestrahlendem Antlitz in mein Zimmer und war entzückt darüber, mich zu treffen. Er sagte, er habe mir so Vieles mitzutheilen, was er dem Papier nicht anzuvertrauen wage.

»Ich mußte indessen seine Freudenäußerungen unterbrechen und ihm die Trauerkunde eröffnen, mit welcher ich beauftragt worden war. Sie ging ihm tief zu Herzen. Den ganzen Tag widmete er Hildurs Andenken. Mehrmals mußte ich ihm deren letzten Gruß wiederholen, welcher eine vollständige Verzeihung und ein Gebet für sein Glück in sich schloß.

»Den Tag darauf redete Wilhelm nicht mehr von Hildur. Er wollte mir jetzt ein Geheimniß anvertrauen, das ich ihm auf Ehrenwort für mich zu behalten versprechen mußte. Ein Geheimniß zu bewahren, in welches mein Bruder mich einweihte, konnte mir nicht sonderlich schwer fallen, und ich verpflichtete mich unbedingt dazu.

»Er bestellte hierauf einen Wagen, und wir fuhren von der großen Stadt ab. Er wollte nicht reden, sagte er, ehe wir an Ort und Stelle waren.

»Ungefähr eine Stunde Wegs von London lag ein reizendes Landhaus; dahin führte er mich. Wir traten in einen Salon; dort saß eine Dame von acht- bis neunundzwanzig Jahren, hübsch, steif und stattlich. Sie wurde mir als Mrs. Dowson vorgestellt. Ich betrachtete sie mit forschenden Blicken, bevor ich mich überzeugen konnte, daß sie die Person wäre, von welcher Mr. Scott mir gesagt hatte.

»Wilhelm grüßte die Dame artig und führte mich hernach durch mehrere Zimmer in ein kleines Boudoir.

»Eine junge Frau lag hier auf einem Sopha halb ausgestreckt. Bei ihrem Anblick blieb ich stehen. Es war Anaïs von Aveyron.

»Hier siehst du meine angebetete Frau vor dir, sagte Wilhelm und umarmte sie. Seit zwei Monaten sind wir durch das heilige Band der Ehe mit einander vereint, obwohl dieß vor der Welt noch ein Geheimniß ist.

»Er erzählte hierauf, Anaïs habe kurz nach dem Duell zwischen ihrem Bruder und Wilhelm ihrem Vater bekannt, daß sie Wilhelm liebe. Der katholische Edelmann hatte die Tochter mit seinem Fluch bedroht, im Fall sie die Gattin eines unebenbürtigen Ketzers werde. Er erklärte ihr ferner, er wolle sie nicht sehen, ehe sie eine unwürdige Neigung überwunden hätte, und gab ihr den Rath, sich in irgend ein Kloster, so weit als möglich von Paris entfernt, zurückzuziehen. Dort könnte sie durch Wachen und Beten ihren Fehler sühnen. Sie dürfte diese Freistätte nicht eher verlassen, als bis sie bereit wäre, aus ihres Vaters Hand einen würdigen Gatten zu empfangen. Der Bruder fügte dem, was der Vater gesagt hatte, noch bei, wenn er das erleben müßte, daß seine Schwester mit dem Schweden sich verehelichte, sollte ihr Hochzeitstag des Bräutigams Todestag werden.

»Anaïs zog sich in ein Kloster zurück und schrieb von da an Wilhelm. Ein halbes Jahr darauf hatte sie den stillen Aufenthaltsort verlassen und die Reise nach England angetreten, wo sie sich mit Wilhelm trauen ließ. Ihr Vater und Bruder argwöhnten dergleichen nicht, sondern glaubten ruhig sein zu können, so lange sie in dem Kloster verbliebe.

»Freigebige Geschenke an die Oberin des Klosters hatten diese zu einer Verbündeten der Liebenden gemacht. Anaïs schrieb immerdar an ihren Vater, aber die Briefe gingen zuerst in das Kloster und gelangten erst von dort an ihren Vater. So lange dieser lebte, wünschte Anaïs, daß ihre Ehe nicht bekannt würde; sie wollte ihm keinen Kummer machen, wollte nicht, daß er den Fluch des Himmels auf ihr Haupt herniederrufen sollte, und darum war eine strenge Bewahrung des Geheimnisses nöthig.

»Mrs. Dowson, eine geborene Schwedin und eine Frau, welcher Wilhelm in Paris einige wichtige Dienste zu erweisen Gelegenheit gehabt hatte, war die einzige Person außer Sjöqvist, welche um das Geheimniß ihrer Ehe wußte. Auf diese Beiden glaubte Wilhelm sich verlassen zu können.

»Drei Jahre war Wilhelm verheiratet, ohne daß die Wahrheit dem alten Marquis bekannt wurde. Anaïs verbrachte ein paar Monate jedes Jahr im Kloster zu der Zeit, da der Vater sie dort zu besuchen pflegte. Während Anaïs dort weilte, machte Wilhelm einen Besuch im Vaterlande und hielt sich dann in Haraldshof auf.

»Nach einjähriger Ehe schenkte ihm seine Frau eine Tochter. Ich stellte ihm in meinen Briefen vor, es würde am besten sein, Alles dem Marquis zu bekennen, womöglich dessen Verzeihung auszuwirken und es nicht so fortgehen zu lassen, wie sie es jetzt thaten. Früher oder später mußte Alles entdeckt werden; der alte Zorn war dann schwerer zu besiegen, und die Folgen machten sich trauriger. Anaïs' Einfluß auf ihn bewirkte, daß er meinen Rath verwarf. Er fürchtete, sie ihres Vaters Fluch auszusetzen.

»Zum dritten Mal da Anaïs das Kloster und Wilhelm Haraldshof besuchte, war er ganz düster. Ihre erstgeborne Tochter war todt, und die Trauer über das Kind hatte Anaïs in wirkliche Schwermuth versenkt. Sie sah in dem Hingang des Kindes eine Strafe vom Himmel dafür, daß sie ihren Vater betrogen hatte. Wilhelm beunruhigte sich über ihr Zusammentreffen mit dem Marquis, besonders da der letztere in einem seiner Briefe an seine Tochter davon redete, daß es sein Wunsch sei, sie mit einem französischen Edelmann, den er ihr zum Gatten bestimmt hatte, vermählt zu sehen. Anaïs sollte zum dritten Male Mutter werden, und es quälte Wilhelm, unter solchen Umständen von ihr getrennt leben zu müssen. Auch war er besorgt darüber, daß ihr jetzt noch lebendes Mädchen seiner ältern Schwester bald ins Grab folgen sollte, denn Mrs. Dowson schrieb ja, daß das Kind schwächlich wäre und sichtlich abzehrte.

»Er hatte sich erst einen Monat in Haraldshof aufgehalten, als er plötzlich den Entschluß faßte, durch eine Reise nach Frankreich seiner Qual ein Ende zu machen. Er hatte sich vorgesetzt, meinen Ermahnungen Folge zu leisten und dem Marquis Alles zu gestehen.

»Den Tag vor seiner Abreise hatte Wilhelm Verwandte, Nachbarn und Freunde nach Haraldshof eingeladen. Kurz vor Mittag klagte er über Schwindel. Bei Tische trank er viel. Das Mahl zog sich lang hinaus. Nachher machte er mit mir einen Spaziergang im Park und sprach von der Möglichkeit, daß ihm etwas widerfahren könnte, ehe es ihm gelungen wäre, seinen Schwiegervater zu versöhnen. Er nahm mir das heiligste Versprechen ab, in einem solchen Fall Alles, was in meinen Kräften stände, für seine Frau und für sein Kind zu thun; aber ich sollte von seiner Ehe nicht eher in Schweden Kunde geben, als bis ich Anaïs unter meinen Schutz genommen hätte. Er schien vorauszusetzen, daß er bei der Ankunft in Frankreich von seines Schwagers Hand fallen würde.

»Ein paar Stunden nach dieser Unterredung zwischen ihm und mir wurde Wilhelm vermißt. Das Uebrige wißt ihr.«

Der Oberst schwieg.

Nach einer Pause nahm er wieder das Wort:

»In Folge von einem jener unbegreiflichen Vorfälle, welche uns beinahe an Ahnungen glauben lassen, hatte Wilhelm am Morgen desselben Tages an Mrs. Dowson geschrieben und seine kleine Tochter ihrer Pflege anvertraut. Er bat sie, im Fall er sterben sollte, sich ganz und gar auf mich zu verlassen. Diesen Brief fand ich unversiegelt auf seinem Tische. Es war derselbe, welchen ich dir lesen ließ, David, als Beweis dafür, daß er keinen Sohn hinterließ.

»Einige Tage vor seinem Tod hatte er mit mir davon gesprochen, daß der Trauschein von ihm in seiner Reisetasche läge. Er bemerkte damals, es würde nothwendig sein, eine gesetzlich beglaubigte Abschrift davon nehmen zu lassen und letztere meinen Händen anzuvertrauen. Das Erste, was ich that, nachdem der bitterste Schmerz über sein schreckliches Ende sich etwas gelegt hatte, war, die Schatulle zu öffnen. Es fanden sich keine andern Papiere darin, als sein Paß und einige Geschäftsbriefe. Ich nahm Sjöqvist ins Verhör, um zu erfahren, wo mein Bruder sich hatte trauen lassen, wie der Priester hieße u. s. w.; aber der Schurke stellte sich, als wüßte er nichts davon, und versicherte, Anaïs und Wilhelm seien nie verheiratet gewesen, und sein verstorbener Herr habe nur so gesagt, um das wahre Verhältniß zu bemänteln u. a. m.

»Der Beweis für meines Bruders Ehe mußte nun aufs schnellste herbeigeschafft werden.

»Sobald das Begräbniß vorüber war, begab ich mich auch nach England.

»Ein Brief, welcher den Tag nach Wilhelms Tod angekommen war, hatte mich davon in Kenntniß gesetzt, daß Anaïs verzweifelt und zerknirscht nach ihrer Villa zurückgekehrt war. Sie hatte dem Vater Alles entdeckt und dieser sie verstoßen. Sie rief Wilhelm zu sich, damit er ihr in dieser schweren Prüfung beistände und durch den Trauschein sie wenigstens von der Anklage befreie, welche der Vater gegen sie geschleudert hätte, als ob sie nicht einmal mit dem Mann verheiratet wäre, dem sie Verwandtschaft und Religion geopfert hatte.

»Bei meiner Ankunft in England fand ich Anaïs schwer krank. Ich wagte ihr nicht zu sagen, daß sie Wittwe wäre, sondern nur, daß Wilhelm sich durch Krankheit verhindert sähe, zu ihr zu eilen. Darauf durchsuchte ich alle seine Papiere, fand aber keinen Trauschein. Ich fragte alle, welche mir meiner Meinung nach einigen Aufschluß darüber geben konnten, jedoch vergeblich. Mrs. Dowson war erst, nachdem sie getraut worden, zu ihnen gekommen. Sie wußte somit nichts von jenem Akt. Anaïs vermochte weder die Kirche, wo sie getraut waren, noch den Namen des Geistlichen anzugeben. Sie wußte nur, daß die Trauung in England stattgefunden hatte. Ich würde meines Bruders Angabe bezweifelt haben, wenn mir Anaïs nicht so heilig die Wahrheit davon betheuert hätte. Sie versicherte bestimmt zu wissen, daß Wilhelm das Dokument in seiner Schatulle verwahrt hatte.

»Als Anaïs so weit wieder hergestellt war, daß ich ihr mittheilen konnte, der Tod habe denjenigen von ihrer Seite gerissen, welcher sie allein zu rechtfertigen vermochte, gerieth sie in einen Zustand der Verzweiflung. Mit Grund befürchteten wir schon damals eine Geistesstörung. Diese Verzweiflung milderte sich nicht dadurch, daß ihre ein Jahr alte Tochter starb.

»Wie konnte ich unter solchen Umständen Wilhelm mein Versprechen halten, sie und das Kind, welches sie gebären würde, zu schützen, die Zukunft des letztern zu sichern und es in seine legitimen Rechte einzusetzen? Hier fand sich nur ein Ausweg, nämlich der, daß ich mich mit Anaïs trauen ließ, das Kind für das meinige ausgab und so lang in England verweilte, bis ich das Kind heimbringen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß man dessen Alter argwöhnen könnte.

»Stumpf und mit passiver Ergebung ging Anaïs auf den Vorschlag ein. Ich glaube kaum, daß sie sich klar gemacht hatte, was sie that. Sechs Wochen, ehe sie mit mir getraut wurde, kam – Dagmar zur Welt. Auf diese Weise wurde meines Bruders Kind meine Tochter.

»Als Dagmar drei Monate alt war, wurde Anaïs von dem Unglück betroffen, das ich befürchtet hatte. Sie wurde das Opfer einer Geistesstörung, welche sich in einer stillen, verworrenen Religions-Grübelei äußerte. Als alle ausgezeichneten Irrenärzte sie für unheilbar erklärten, kehrte ich nach Schweden zurück. Ich nahm von England keine andere Dienerschaft mit, als Dagmars Amme und den alten John, welcher mir hieher folgte. In Ystad stieß ich auf Frau Thorén, die Wittwe des alten Verwalters von Haraldshof, und ihrer Pflege vertraute ich Anaïs an. Bei meiner Ankunft in Haraldshof ließ ich Dagmar in das Kirchenbuch einschreiben, als ob sie um zehn Monate später, als sie zur Welt gekommen, geboren worden wäre, und glaubte dadurch Anaïs' Ehre gerettet und der Tochter Erbrecht gesichert zu haben. Das Versprechen an meinen Bruder war, so dünkte mir, gleichfalls erfüllt worden.

»Sechs Monate nach unserer Ankunft in Schweden verabschiedete ich die Amme und schickte sie heim nach England, aus Furcht, sie möchte mein und Dagmars Geheimniß verrathen.

»Frau Thorén war nun die einzige Pflegerin des Kindes und der Mutter.

»Vier Jahre später, eines Nachts, da Frau Thorén in gesundem Schlafe lag, schlich sich die unglückliche Anaïs in des Mädchens Zimmer, nahm es in ihre Arme, in der Absicht, Dagmar mit sich sterben zu lassen.

»Sie war in den letzten Wochen von der Vorstellung gequält worden, daß das Kind und sie selbst verdammt wären.

»Wahrscheinlich geschah es in Folge dieser Einbildungen, daß sie sich und ihm das Leben zu nehmen wünschte. Daß es nicht gelang, hat Dagmar ganz und gar dem alten Ring zu verdanken.«

Der Oberst streckte die Hand aus und zog Dagmar zu sich.

»Er rettete mir die beste und holdeste aller Töchter, – und das werde ich ihm nie vergessen,« setzte er hinzu.

»Ach, Papa,« stammelte das junge Mädchen gerührt und schlang die Arme um seinen Hals; »wie viel hast du nicht für diese Tochter aufgeopfert, welche seit ihrem neunten Jahre wußte, daß sie nicht dein Kind war, und daß du alle diese Zärtlichkeit an ein Wesen verschwendetest, dem du nicht das Leben gegeben hattest.«

»Du … wußtest es?!« stammelte der Oberst.

Dagmar weinte heftig, den Kopf an seine Brust gelehnt. Als sie ihre Thränen getrocknet hatte, erzählte sie, wie sie einen Brief zu sehen bekommen, der auf seinem Schreibtisch gelegen war.

Derselbe fand sich noch in ihrem Besitz.

Das Schreiben war von Mrs. Dowson, welche darin von Dagmar als Wilhelms Tochter redete. Mrs. Dowson dankte dem Oberst dafür, daß er in seiner Freigebigkeit ihr einen Unterhalt auf Lebenszeit ausgesetzt hatte. Sie versicherte ihm, sie werde an seinem Edelmuth gegen seine Bruderstochter niemals zur Verrätherin werden.

Dagmar war jetzt wieder ruhig, und der Oberst erzählte weiter, wie Broolind die Erklärung gegeben, es sei ihm gelungen, Sjöqvist zu bestimmen, über Wilhelms Trauung, bei welcher der ehemalige Kammerdiener einer der Zeugen gewesen, Nachweis zu geben u. a. m.

»Ich für meinen Theil,« setzte der Oberst hinzu, »habe die Ueberzeugung, daß Broolind nur von demjenigen benutzt worden ist, welcher wirklich Sjöqvist dahin brachte, daß er den Attest aus der Hand gab.« – Des Obersts Augen richteten sich auf David. »Wie es sich damit verhält, werde ich seiner Zeit schon herausbringen. Indessen hat Broolind seine Rolle jetzt ausgespielt; sie schließt eine schwere Strafe für ihn in sich.«

Der Oberst nahm aus seiner Brusttasche den Trauschein und reichte ihn der Tochter.

Mit Augen voll Thränen betrachtete Dagmar den Beweis für ihrer Eltern Verehelichung. Die Erzählung von deren Liebe, Vereinigung und Ende hatte sie tief ergriffen.

David dachte, als er ihr thränenfeuchtes Antlitz betrachtete:

»Wird hinfort aller geheime Kummer aus Dagmars Seele verschwinden? Werden Friede und Freude unverdunkelt aus diesen Augen strahlen? Darf vielleicht Georg noch hoffen, den Lohn für seine treue Liebe zu gewinnen?«

 

XIV.

Einige Tage darauf saßen Dagmar und David allein in der Laube. Ueber dem Aeußern des jungen Mädchens ruhte ein milder Ernst.

»Ich danke dir, David,« sagte sie und reichte ihm die Hand. »Du hast als ein Mann von Ehre dein Wort gehalten.«

»Ich verstehe dich nicht, Dagmar; was meinst du?« fragte David mit der unschuldigsten Miene von der Welt.

»Ich meine, daß nicht Arvid, vielmehr du den Trauschein meiner Eltern Papa verschafft hast. Dir bin ich ewige Erkenntlichkeit schuldig. Ach, es ist ein so süßes Gefühl, meinen Vater von jeder ungerechten Anklage befreit zu wissen, ihn, der so viel für seines Bruders Frau und Kind geopfert hat. Wie lieb habe ich dich, du guter, guter David, daß du so viel für uns gethan hast!«

»Ist es Erkenntlichkeit, welche dich bestimmt, mich lieb zu haben, so muß ich auf diese Zuneigung verzichten; ich habe kein Recht dazu.«

»Was nützt es, zu leugnen, daß du allein es bist, dem wir zu danken haben. Wir wissen es ja doch. Du hast Arvid vorgeschoben, um dem Schein auszuweichen. Er gibt sich prächtig dazu her, und das ist viel.«

»Armer Arvid, für seine Rechtlichkeit so belohnt zu werden!« fiel David lächelnd ein. »Es ist indessen peinlich, daß du mit solcher Beharrlichkeit mir eine Handlung zuschreiben willst, woran ich durchaus keinen Theil habe.«

»Warum peinlich?«

»Darum, weil ich durchaus nicht der Gegenstand einer unverdienten Dankbarkeit sein will. Nein, lieber möchte ich, du schenktest mir nicht die geringste Aufmerksamkeit.«

»Dessen bin ich auch vollkommen versichert, und ich glaube beinahe gute Lust zu haben, mich deßhalb über dich zu ärgern.«

»Aber du thust es nicht.«

David schaute sie mit einem herzlichen Blick an, indem er hinzusetzte: »Lächle ein einziges Mal, das würde meinem Herzen so gut thun. Erinnerst du dich, wie du vor einiger Zeit gesagt hast, du würdest dich froh und glücklich an dem Tage fühlen, da dein Vater von dem Schatten, der sich an seine Ehre heftete, befreit wäre. Nun wohl, bist du jetzt glücklich?«

»David,« flüsterte Dagmar mit niedergeschlagenen Augen, »du kannst dich wohl nicht wundern, daß meiner Eltern Geschichte einen ergreifenden Eindruck auf deren Tochter gemacht hat.«

»Nein, das wundert mich nicht, und dennoch möchte ich wünschen, dein Angesicht, Dagmar, immer von Freude strahlen zu sehen.«

Dagmar sah ihn an und lächelte.

David küßte ihr die Hand.

In diesem Augenblick trat Majken in die Laube.

Davids Angesicht bedeckte sich mit einer dunkeln Röthe. Eine Empfindung des Verdrusses erfüllte seine Brust, als er Majken lächeln sah.

Es freute sie, daß er Dagmars Hand küßte, daß er seine Ergebenheit einer andern Frau widmete.

David, welcher eine Minute zuvor sich zufrieden und vergnügt gefühlt hatte, wurde jetzt übler Laune. Es ärgerte ihn, daß er Dagmars Hand geküßt, daß er so lebhaft sich für sie interessirt hatte, um Majken darüber zu vergessen, und so meinte er, müßte auch Majken ein gewisses Unbehagen empfinden, daß sie ihn so herzlich gegen Dagmar gesehen hatte.

Majken faßte Dagmars Kopf und drückte ihre Lippen auf deren Stirne; darauf reichte sie David mit den Worten die Hand:

»Ich danke dir dafür, daß du Arvid dieser Tage hieher begleitet hast.«

Die Schatten auf Davids Stirne waren verjagt. Er schaute Majken mit einem Ausdruck an, welcher bewies, welchen hohen Werth diese Danksagung für ihn hatte.

 

XV.

Das Dunkel der Nacht lag über **köping ausgebreitet, und noch war David nicht zur Ruhe gegangen. Er saß in nachdenklicher Haltung an seinem Schreibtisch. Ein unbeschriebenes Papier lag vor ihm und er hielt eine Feder in der Hand, aber ohne ein einziges Wort auf das Blatt zu zeichnen, über welches die Lampe ihren hellsten Schein warf.

Was war es, das die Gedanken des jungen Arztes in Anspruch nahm?

Eine genaue Prüfung seines eigenen Innern.

David war nicht mit sich selbst zufrieden und sah sich dadurch veranlaßt, die Gefühle zu untersuchen, welche sich in seiner eigenen Brust regten.

Er hatte einen Brief von Georg empfangen, welchen er beantworten sollte.

Er hatte bis jetzt ihm Wilhelm Böjrnstams Ehegeschichte noch nicht mitgetheilt, und nun war er von Georg an die Erfüllung seines Versprechens gemahnt worden. Als David die Feder ergriff, um diesem Begehren zu willfahren, wandelte ihn ein unbehagliches Gefühl an. Er hatte keine Lust, an den Bruder zu schreiben. Dieser Widerwille war es, welcher ihn zu einer genauen Selbstprüfung zwang.

Er legte sich, unbegreiflich genug, die Frage vor, ob er Majken noch immer gleich ausschließlich wie vormals liebe.

Etwas Anderes vorauszusetzen, kam David beinahe wie ein Verbrechen vor.

Also, seine Liebe war dieselbe.

Die nächste Frage lautete: Was war sein Gefühl gegen Dagmar?

Freundschaft. Wenn dem so war, warum quälte es ihn, an seinen Bruder zu schreiben und ihm zu sagen, daß seiner Ueberzeugung nach sich für Georg kein Hinderniß mehr finde, seine Bewerbungen zu erneuern? Wäre es möglich, daß die Freundschaft für Dagmar ihn eifersüchtig auf Georg machte und seine Liebe zu Majken verdrängte?

Bei dieser Voraussetzung sprang er mit dem Rufe auf:

»Wenn ich den Tag erlebte, wo ich Majken zu lieben aufhörte, würde ich mich selbst verachten. Ich will nicht, daß mein Herz sich an eine Andere heften soll.«

Ohne die Zeit länger mit zwecklosem Nachgrübeln über die Unbeständigkeit des Herzens zu verschwenden, ergriff er die Feder und begann den Brief an Georg. Als er fertig war, schien die Ruhe auf Davids Angesicht zurückgekehrt und er suchte, in Gedanken ausschließlich mit Majken beschäftigt, sein Lager auf.

»Sie ist das Ideal alles Schönen und Edeln,« sprach David bei sich selbst. »Mein Interesse für Dagmar geht von Majken aus.«

Mit dieser Ueberzeugung schlief er ein.

 

XVI.

Einige Tage nachher saß Majken an einer Arbeit in dem kleinen Kabinet, welches zwischen dem Salon und dem Schlafzimmer zu Eriksdal lag.

Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber gegen Abend wurden die Wolken allmälig von einem scharfen Nordweststurm verjagt.

Majken war allein zu Hause.

Der Oberst und Dagmar waren Tags zuvor zu dem Bezirksrichter A. gereist. Sie sollten erst spät am Abend zurückkehren. Frau Thorén war damit beschäftigt, Aufschriften an Gelée-Büchsen und Liqueur-Flaschen zu machen. Majken blieb es somit überlassen, sich so gut als möglich selbst zu unterhalten.

Wer nicht wußte, daß Majken das dreißigste Jahr überschritten hatte, konnte unmöglich voraussetzen, daß sie über fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt war.

Sie nähte eifrig, erhob aber schnell den Kopf und hielt die Nadel an, als sie das Geräusch eines Schrittes vernahm.

»Ah, du bist es, David!« sagte sie und reichte dem Eintretenden die Hand. »Es ist recht angenehm, daß ich heute einen Besuch von dir erhalte. Ich bin allein und sah mich den ganzen Tag auf das Zusammensein mit meiner eigenen Person beschränkt.«

»Da bist du in guter Gesellschaft gewesen, Majken,« fiel David ein und suchte denselben ungezwungenen Ton wie sie anzunehmen, aber ohne daß es ihm glücken wollte.

»Danke ergebenst für die Artigkeit,« antwortete Majken lächelnd; »aber ich habe es immer einförmig gefunden, mit meinem werthen Ich allein zu sein, besonders wenn es regnet und der Himmel bewölkt ist.«

»Um so klarer muß dann der innere Sonnenschein von Freude und Glückseligkeit hervortreten.«

David nahm gegenüber von Majken Platz.

»Vollkommen wahr. Ich danke auch Gott von ganzem Herzen für mein gegenwärtiges Glück.«

»Du bist also recht glücklich, Majken?«

Trotz aller Anstrengung konnte David die Frage nicht anders als mit etwas bebender Stimme herausbringen.

»Ja sehr.«

Die Wahrheit dieser Versicherung stand in Majkens Augen zu lesen. Ein stillschweigender Vorwurf leuchtete aus denen von David hervor.

»Wie sehr mich das freut, vermag ich nicht auszusprechen,« bemerkte David.

»Und dennoch,« fiel Majken ein, »hattest du nicht erwartet, diese Versicherung von mir zu hören.«

David schwieg.

Er konnte nicht recht begreifen, wie sie mit einem einzigen Wort den Gegenstand berühren mochte, auf welchen sie nun hindeutete.

Majken verstand sein Stillschweigen und fuhr fort:

»Es wundert dich, daß ich mit dir von längst vergangenen Zeiten rede; aber du wirst mich verstehen, im Fall du mich anhören willst.«

David ließ den Kopf sinken.

Er fühlte, daß die Wunde im Herzen noch immer gleich blutete, selbst wenn man sie nur berührte.

Majken hatte beschlossen, es wie der geschickte Chirurg zu machen, wenn er zuerst den Schaden sondirt, um hernach dem Uebel durch eine schnelle Operation abzuhelfen. Sie machte sich gefühllos für den Schmerz, welchen sie verursachen mußte, um des Nutzens willen, den sie damit erreichen zu können hoffte.

»Du weißt,« nahm Majken wieder das Wort, »daß ich dich von ganzem Herzen geliebt habe; aber was du nicht weißt, ist die Thatsache, daß die Liebe zu einem Mann, der um so viel jünger ist als ich bin, nicht fortleben kann. Sie trägt den Keim ihrer eigenen Verwandlung in sich. Mein Gefühl für dich war so poetisch als nur eines in meinem Herzen Raum hatte; aber es war eine Dichtung des Herzens, ohne einen entsprechenden Gegenstand in der Wirklichkeit, und es wurde deßhalb bald genug nur eine theure Erinnerung. Es konnte als etwas Anderes nicht fortleben. Ich verheiratete mich. Mein Gatte war ein Mann, welchen ich von dem ersten Augenblick unserer Bekanntschaft hochzuachten gelernt hatte. Ich würde die Wahrheit verleugnen, wenn ich nicht anerkennen wollte, daß es mir schwer fiel, meine Liebesdichtung aufzuopfern; aber meine neuen Pflichten und die erhöhte Zuneigung zu meinem Mann eröffneten ein neues Feld für die Thätigkeit der Seele. Die Liebe zu dir wurde durch die Zärtlichkeit gegen meinen Mann zurückgedrängt. Ich fühlte, daß an der Seite von demjenigen, dessen Charakter ich bewundert, der romantische Traum erbleichen und sich in eine innige Freundschaft verwandeln mußte. Die Liebe zu meinem Gatten wurde eine Wirklichkeit. Sie befriedigte mein Herz und setzte mich in Harmonie mit meiner Lebensstellung. Es wurde auch das stärkste Gefühl in meiner Brust.«

»Welcher Unterschied zwischen deiner und meiner Art zu lieben,« murmelte David. »Für mich gibt es nur diese einzige Liebe und diese einzige Frau. Für mich war, was ich fühlte, Wirklichkeit; für dich nur eine Schöpfung der Phantasie.«

»Möchtest du wünschen, daß es anders wäre?« fragte Majken. »Möchtest du wünschen, Majken wiedergesehen zu haben, verzehrt von einer Liebe, welche im Widerstreit mit ihren Pflichten stände, das Opfer einer weichlichen Empfindsamkeit, wodurch sie verhindert würde, ihre Stellung im Leben recht aufzufassen und mit Ruhe dir unter die Augen zu treten? Wäre es dir lieb gewesen, sie verwirrt durch deinen Anblick zu sehen, ängstlich dir ausweichend, wie die verkörperte Anklage eines krankhaften Gewissens; eine Erinnerung an den Meineid gegen den Gatten, welcher zu ihr ein unbegrenztes Vertrauen hegte? Nein, David, du würdest dich in deinen Vorstellungen von Majken grausam getäuscht gefunden haben.«

»Ich fürchte jedoch,« fiel David traurig ein, »daß, wenn das Schicksal mich zum Gatten einer andern gemacht hätte, ich dessen ungeachtet nicht im Stande gewesen wäre, meine Liebe zu dir zu überwinden.«

»Du hättest dieß eher als ich gethan. Wenn sie sich jetzt erhalten hat, so lag dieß daran, daß du sie dir zur Wegweiserin für all dein Streben erwählt hattest. Sie ist ein Phantasiebild gewesen, von welchem du dich nicht trennen wolltest; aber sie wird dessen ungeachtet von einem noch stärkern und mächtigern Gefühl verdrängt werden. Dann kommt dein wahres Glück in die Hände einer Frau zu liegen. Mich hast du geliebt, wie ein Katholik seine Heilige. Willst du dich von dieser Wahrheit überzeugen, so frage dein Herz in einer einsamen Stunde, ob du wünschen möchtest, ich wäre mehr für dich, als ich jetzt bin.«

David schwieg.

Majken reichte ihm die Hand, indem sie hinzusetzte:

»Und nun, David Waldner, reiche ich dir die Hand als eine redliche und getreue Freundin. Die Freundschaft zwischen uns ist natürlich; die Liebe war es nicht.«

David schloß ihre Hand in die seinige und sagte mit Innigkeit:

»Dein Freund, Majken, bin ich in Leben und Tod.«

Majken dankte ihm mit einem herzlichen Lächeln, deutete hernach auf die Allee hinaus und sagte:

»Da kommt mein Mann mit Dagmar.«

David folgte dem Wink mit den Augen.

Ein bedeckter Wagen rollte in den Hof.

 

XVII.

Es verfloß einige Zeit nach diesem Gespräch zwischen David und Majken, ehe jener wiederum nach Eriksdal kam.

Die Ursache wäre schwer anzugeben gewesen.

Allerdings hatte der junge Arzt viel zu thun gehabt, jedoch nicht so viel, daß dieß ihn gehindert hätte, seine Verwandten zu besuchen. Irgend ein anderer Grund lag gewiß vor; aber diesen behielt David für sich.

Der Herbstmonat war eingetreten.

David hatte nach dem Mittagessen sich auf den Sopha gelegt, um eine medicinische Abhandlung zu lesen, als die Thüre zu seinem Kabinet hastig aufgerissen wurde und Georg, froh und erregt, eintrat.

»Endlich bin ich also hier!« rief er. »Ich glaubte niemals, daß es mir gelingen würde, so viel freie Zeit zu erübrigen, um auf einige Tage Haraldshof verlassen zu können.« – Er reichte David die Hand. »Du begreifst wohl, daß ich vor Ungeduld brenne, den Oheim und Dagmar zu sehen, nach allem, was von dieser und von dir schriftlich mir mitgetheilt worden ist. Ich erhielt deinen Brief gleichzeitig mit dem von Dagmar.«

»Ach so, sie hat geschrieben,« sagte David. »Willkommen, lieber Bruder,« setzte er hinzu. »Du siehst aus, als ob du mit einem Herzen voll Hoffnungen hier wärest und dich nun aufmachen wolltest, dein Glück zu erobern.«

»Dieß ist etwas, das ich mir noch nicht klar gemacht habe,« fiel Georg ein; »aber ich fürchte wirklich, daß ich den Versuch wage. Dagmars Weigerung konnte ja, wie du schriebst, eine Folge der verwickelten Familienverhältnisse sein. – Nun, sie ist jetzt wohl glücklich und froh?«

»Es sind vierzehn Tage her, daß ich nicht mehr in Eriksdal war; aber damals schien sie in sehr froher Gemüthsstimmung zu sein.«

»Vierzehn Tage,« wiederholte Georg; »du warst ja sonst gewöhnlich zum Mindesten jeden Sonntag dort.«

»Ich hatte keine Zeit.«

Nach einer kurzen Pause nahm David wieder das Wort:

»Ich bitte dich indessen, mein lieber Georg, gib dich in Bezug auf Dagmar keinen allzu sichern Hoffnungen hin. Es ist wenigstens sehr wohl möglich, daß ich mich geirrt habe, und daß sie dieselben noch einmal täuscht.«

»Das habe ich mir selbst tausendmal gesagt,« antwortete Georg; »aber die Hoffnung gleicht der Sonne; wir sagen ihr jeden Abend Lebewohl, um sie mit dem nächsten Morgen wieder willkommen zu heißen. So geben wir der Hoffnung heute den Abschied und sprechen zu uns selbst: wir dürfen nicht darauf bauen; aber graut der Morgen wieder, so steht sie doch an unserer Seite, flüstert uns ihre verlockenden Verheißungen zu, und wir leihen ihr willig unser Ohr. So ist es auch mit mir ergangen. Ich habe zu mir selbst gesagt: denke nicht mehr an Dagmar, als ob sie eines Tags Freud und Leid mit dir theilen würde. Ich habe jedoch mich von diesem Gedanken nicht loszureißen vermocht. Die Hoffnung hat mir vorgespiegelt, ich sollte glauben und warten. Wenn Dagmar mir einen Grund für ihre Weigerung gegeben, wenn sie gesagt hätte: Ich liebe dich nicht, dann wäre Alles entschieden gewesen, aber jetzt …

»Jetzt hoffst du noch.«

»Ja, und warum sollte ich es nicht, da es sich hier um meines Lebens höchstes Glück handelt?«

»Von ganzem Herzen wünsche ich, daß deine Hoffnungen in Erfüllung gehen,« äußerte David.

»Davon bin ich überzeugt. Du begleitest mich doch morgen nach Eriksdal?« fragte Georg eine Weile darauf.

»Nein, ich bin verhindert.«

»Warum weigerte ich mich, Georg zu begleiten, und gab Abhaltungen vor?« fragte David sich selbst, als er allein geblieben war. »Bin ich unedel genug, sie nicht besuchen zu wollen, seitdem ich mich überzeugt habe, daß Majken glücklich ist? Oder beneide ich meinen Bruder um die Möglichkeit, in den Besitz eines Glücks zu gelangen, welches ich niemals schmecken werde? Bin ich auf dem Wege, ein niedriger Egoist zu werden, welcher sich nicht über die Interessen der Selbstsucht zu erheben vermag? Bin ich nicht länger ein Mann, welcher weiß, wohin er will und wie er seinen Pfad gehen muß? Fort mit jedem Schatten kleinlicher Gesinnung! Ich fahre mit nach Eriksdal.«

Ein Gerber in der Stadt legte indessen der Ausführung dieses Beschlusses Hindernisse in den Weg. Aldermann B. erkrankte plötzlich in der Nacht.

David wurde zu ihm gerufen.

Der Zustand des Mannes war bedenklich, und als Arzt wagte David nicht einen Patienten zu verlassen, welcher seine Anwesenheit mehrmals des Tags erwartete.

 

XVIII.

Der Brandwächter ging in **köping herum und rief aus rauhem Halse sein »Unsere Glock hat elf Uhr g'schlagen,« als David nach einem Besuch bei dem Gerber seine Wohnung betrat.

Die Lampe in seinem Arbeitszimmer brannte mit halber Flamme.

David bemerkte nicht eher, daß Jemand vor ihm sich darin befand, als bis er die Lampe hinaufgeschraubt hatte und gleichzeitig ein leichter Seufzer sein Ohr traf.

Er drehte sich um.

Georg lag auf dem Sopha.

»Ah, du bist schon wieder zurückgekehrt! Ich glaubte, du würdest zu Eriksdal über Nacht bleiben,« sagte David. »Nun, wie geht es dort?«

»Gut,« war die lakonische Antwort.

»Du scheinst nicht sehr froh gestimmt zu sein … Hat Dagmar …?!«

»Meine Hoffnungen getäuscht; ja das hat sie. Jetzt ist es mit Allem vorbei. Zum zweiten Mal habe ich ihr mein Herz angeboten, und zum zweiten Mal hat sie dieses Anerbieten abgelehnt. Sie hat mich gebeten, ihr den Schmerz zu verzeihen, den sie mir verursache; aber sie könne nicht anders handeln. Meine Gattin würde sie nicht werden. Ich glaube sogar an die Versicherung Dagmars, sie würde niemals als solche einem andern angehören.«

Georgs Kopf sank auf die Brust nieder.

David betrachtete ihn schweigend.

»Aber warum, warum konnte sie nicht?« fragte er endlich.

»Das hat sie nicht gesagt, und was kümmert mich auch ihr Grund? Die Hauptsache ist, daß Dagmars Liebe mir nicht zugehört. Sie liebt vielleicht einen andern, oder weiß sie auch nicht, was Liebe ist. Alles, was sie mir zu geben hat, ist ihre schwesterliche Liebe.«

Georg erhob sich kopfschüttelnd. Er wünschte aller der peinlichen Gedanken, welche sein Herz bewegten, los zu werden. – Er setzte mit kräftiger Stimme hinzu:

»Jetzt, David, kein Wort mehr in dieser Sache. Dagmar ist von diesem Augenblick an die theuerste Freundin meiner jüngern Jahre, und ich möchte nicht mehr wünschen, daß sie etwas anders würde. Jetzt gute Nacht. Ich reise morgen frühzeitig ab.«

Die beiden Brüder drückten einander die Hände und schieden.

 

XIX

»Sie liebt vielleicht einen Andern, oder weiß sie auch nicht, was Liebe ist,« hatte Georg gesagt, und so sehr sich David auch darüber ärgerte, die Worte erklangen immer in seinen Ohren.

Er konnte das Erstere nicht voraussetzen, wollte über das Letztere nicht nachgrübeln und vermochte Dagmars Benehmen durchaus nicht zu fassen. Sie hatte ja gesagt, Georg wäre ihr theuer; hatte sie einer Unwahrheit sich schuldig gemacht, als sie diese Versicherung gab, oder war sie mit der Allmacht der Liebe noch nicht bekannt geworden und hatte in Folge davon ihre Freiheit höher als das Glück des Freundes ihrer Kindheit angeschlagen?

David fühlte sich durch diese Vermuthungen etwas gereizt.

Dagmars Benehmen erweckte seinen Zorn; es war herzlos gegen den redlichen und treuen Georg. David wußte, wie schwer es hielt, sich mit dem Schiffbruch seines Glücks zu versöhnen, und es quälte ihn, daß er die Beweggründe zu Dagmars Handlungsweise nicht kannte, sondern an allen möglichen Voraussetzungen herumzutappen sich genöthigt sah.

Obwohl David am Morgen sehr frühe vom Lager sich erhoben hatte, war Georg doch schon fort.

Der Gerber war jetzt entschieden auf dem Wege der Besserung, und David entschloß sich also, einen Besuch in Eriksdal zu machen.

 

XX.

Der Oberst war auswärts, und Majken empfing ihn im Wohnzimmer. Sie hieß ihn herzlich willkommen, machte aber keine Bemerkung darüber, daß er so lang nicht mehr da gewesen wäre. Sie begann sogleich von Georg zu reden.

Es war recht verdrießlich, daß er so große Eile hatte und nicht im Stande gewesen, ein paar Tage zu bleiben u. s. w. Aus Majkens Aeußerungen schloß David, daß sie von dem, was zwischen Dagmar und seinem Bruder vorgefallen war, keine Kunde hatte.

»Dagmar ist nach einer Köthnerhütte gegangen,« sagte Majken, »aber sie wird bald wieder kommen.«

David vermißte Niemand, wenn er in Majkens Gesellschaft war; aber seine Zufriedenheit war heute nicht so groß, wie gewöhnlich. Er fühlte sich allerdings ungezwungener und ruhiger, als er seit seiner Heimkehr gewesen war, aber er wünschte dennoch, Dagmar bald zu sehen zu bekommen.

David spähte heute nicht nach einem Ausdruck in Majkens Angesicht, welcher bewiese, ob sie ihn noch liebe. Majkens Erklärung hatte aller Ungewißheit ein Ende gemacht. Sein Jugendroman war abgeschlossen, die Phantasiebilder waren zerstört, und jetzt blieb nur noch die einfache, ungeschminkte Wirklichkeit zurück.

Majken redete davon, daß sie und der Oberst, aus Anlaß eines Briefes von Frankreich, welcher die Erbschaftsangelegenheit nach dem kürzlich erfolgten Ableben von Dagmars Großvater betraf, genöthigt wären, schon im Oktober eine Reise nach Frankreich zu unternehmen.

Dagmar sollte in Eriksdal bleiben.

Ihrer eigenen Versicherung gemäß hatte sie einen entschiedenen Widerwillen gegen das Ausland und besonders gegen das Vaterland ihrer Mutter; und deßhalb wünschte sie, dieselben nicht begleiten zu müssen.

Während Majken noch redete, trat Dagmar ein. Sie war warm und schön.

Im Fall es sie wirklich geschmerzt hatte, Georg zum zweiten Mal einen Korb zu geben, schien es jetzt wenigstens vergessen zu sein. Ihr Aussehen verrieth nichts von Bekümmerniß.

»Ah, siehe da, David!« sagte sie mit ungnädiger Miene und ohne ihm die Hand zu reichen. »Du bist wohl von Kranken jetzt wieder sehr in Anspruch genommen gewesen, daß du dich bei uns nicht sehen ließest? Du mußt zugeben, daß es doch gut ist, die Schuld auf die Kranken schieben zu können, wenn man es an der Aufmerksamkeit gegen seine Angehörigen fehlen läßt.«

Ihr Ton reizte David.

»Ich schiebe die Schuld nicht auf die Kranken, und ich kann es nicht einmal; wir haben es ungewöhnlich gesund in der Stadt und Umgegend gehabt. Ich mußte studiren und machte deßhalb keinen Besuch.«

»Deine Bücher sind somit die Feinde deiner Artigkeit. Gut, daß man es weiß. Nun, bleibst du heute hier?«

Dagmar ordnete ihr Haar vor dem Spiegel.

Sie war sich heute nicht recht gleich, dachte David. Ihr Benehmen ermangelte der Herzlichkeit; es war gleichgültig, und dieß verdroß den jungen Doktor.

»Majken ist so gut gewesen und hat mich dazu aufgefordert,« antwortete er.

»In diesem Fall kann ich nicht begreifen, warum ihr hier sitzet, anstatt auf der Veranda an einem so schönen, sommerlichen Tage, wie dieser, sich niederzulassen. Kommt mit mir; ich will nicht zwischen vier Wänden bleiben, so lange man eine milde, warme Luft athmen kann.«

»Und was du willst, müssen auch alle andern wollen; ist es nicht so?« fragte David.

»Wahr. Ich bin nun einmal so. Natur, Erziehung und Gewohnheit haben mich selbstsüchtig gemacht. Sieh' nur Majken an; sie macht sich sogleich fertig, meinen Wunsch zu erfüllen.«

Dagmar warf der Stiefmutter eine Kußhand zu und eilte auf die Veranda.

Die andern folgten ihr.

Majken verweilte jedoch nicht lange. Sie hatte Frau Thorén etwas zu sagen, und David blieb unter vier Augen mit Dagmar.

Das junge Mädchen rechnete an einem Stickmuster nach und beugte sich auf dasselbe nieder. Sobald Majken fort war, schaute sie auf und fragte:

»Ist Georg nach Haraldshof zurückgekehrt?«

»Heute Nacht.«

Es entstand eine Pause.

Dagmar hörte zu rechnen auf.

»Glaubst du, Dagmar, jetzt recht gegen Georg gehandelt zu haben?« fragte David.

»Allerdings. Mit der Gewißheit, einen Mann unglücklich zu machen, darf keine Frau sich verheiraten. Besser, unter frühzeitig vereitelten Hoffnungen zu leiden, als sein Leben lang der Reue zu verfallen.«

»Die Gewißheit, einen Mann unglücklich zu machen, erscheint mir etwas phantastisch, sofern sie nicht bloß daher kommt, daß du den wirklichen Grund für deine Antwort verbergen willst.«

»Ich habe keinen andern.«

Dagmar beugte sich noch mehr auf das Muster nieder.

»Georg mußte jedoch so etwas glauben.«

Dagmar erbleichte.

»Du fürchtest, es möchte Jemand dieß ahnen, merke ich?«

Dagmar schwieg.

David wurde von einer unwiderstehlichen Begierde beherrscht, für einen Augenblick wenigstens sie zu quälen.

»Damit eine Frau ohne alle Barmherzigkeit das Glück eines Mannes zermalmen kann, welcher ihr seine treue Liebe widmet, muß sie – einen andern lieben,« sagte David. Er sah Dagmar fest an.

Das Blut kehrte in die bleichen Wangen zurück, und sie lächelte mild.

»Das wäre somit ein Grund? In diesem Fall scheint er sehr gültig,« ließ sich Dagmar vernehmen und griff wieder zu ihrer Arbeit.

David wurde beinahe aufgebracht über ihre Antwort. Um sie es jedoch nicht merken zu lassen, erhob er sich, aber Dagmar streckte die Hand aus und rief mit schmeichelnder Freundlichkeit:

»Gehe nicht; ich habe so viel mit dir zu reden. Du bist auf mich erzürnt.«

Sie neigte den Kopf auf die Seite und sah zu ihm auf.

»Beste Dagmar, wir thun am Besten, es jetzt zu unterlassen,« antwortete David und wandte sich ab.

»Warum?«

»Es ist mir unbehaglich. Ich vermag meine Gedanken nicht von Georg loszureißen.«

»Ist es dir unangenehm, an ihn zu denken?«

»Ich bitte, Scherzen ist hier durchaus nicht am Platze,« stieß David ungeduldig hervor.

»Du wirst heftig. Mein lieber Doktor, ein Arzt muß mit Ruhe jede Krankheit untersuchen; die Liebe ist, wie du weißt, ein Uebel, womit nicht zu spielen.«

»Eine betrogene Liebe ist wirklich etwas weit Schlimmeres, als ein Uebel; es ist ein moralisches Unglück, welchem nicht so leicht abzuhelfen. Gegen den Tod des Herzens vermag die Kunst ebenso wenig, wie gegen den des Körpers. Kein Arzt ist im Stande, es ins Leben zurückzurufen. Aber du bist allzu leichtsinnig, um mich zu verstehen. Ich wünsche darum, des Redens davon überhoben zu werden.«

»Aber ich nicht,« rief Dagmar und warf die Arbeit von sich. »Du scheinst deinen Bruder viel weniger als ich zu kennen. Georg ist keiner von jenen weichlichen Männern, welche die Liebe über ihres Lebens Wohl und Wehe entscheiden lassen. Er hat einen starken Charakter. Schon diesen Morgen hat er seine Gefühle unter das Gebot des Willens gestellt, und die kalte Hand der Vernunft darauf gelegt. Wüßte ich das nicht, so wäre ich schwer zu beklagen. Georg hätte mir glauben sollen, als ich zum ersten Mal Nein sagte. Daß du dich über das ärgerst, was wir, Georg und ich, mit einander haben, kann ich dagegen nicht verstehen. Die Sache geht ja nur ihn und mich an.«

»Erlaube, beste Dagmar, dich daran zu erinnern, daß er mein Bruder ist, und dann darf es dich nicht wundern, wenn ich nicht gleichgültig an seinen Kummer denken kann, besonders wenn derselbe durch eine seltsame Grille von dir hervorgerufen wird.«

»Seltsame Grille,« wiederholte Dagmar, »wie wagst du ein solches Urtheil zu fällen?«

»Ganz einfach darum, daß, wenn es eine Neigung zu einem andern wäre, welche dich bestimmte, du es Georg gesagt hättest.«

Dagmar lächelte traurig.

»Es thut mir wehe, dich so reden zu hören,« sagte sie.

»Du bist allzu gut, daß du ein solches Gewicht auf meine Worte legst,« fiel David kalt ein. Er war in schlechter Stimmung und ließ seine üble Laune rücksichtslos hervortreten.

»Ich kenne dich nicht mehr, David,« rief Dagmar; »ist es deine Absicht, mich zu verletzen?«

»Eine Absicht der Art habe ich nicht, und wenn du erlaubst, wollen wir den Gegenstand des Gesprächs wechseln.«

»Wie dir beliebt.«

Dagmar nahm ihre Arbeit wieder auf.

David griff nach einer Zeitung, welche auf dem Tische lag.

Eine lange Pause.

David, welcher von Dagmars Ankunft an in eine üble Stimmung versetzt worden war, fühlte diese durch ihr Stillschweigen noch mehr als durch ihre Worte verschlimmert.

»Habt ihr, Georg und du, von mir gesprochen?« fragte Dagmar plötzlich.

»Nur einige Worte. Warum von Neuem dieses Thema aufnehmen?«

»Deßhalb, weil ich wissen will, wie weit in Georgs Gemüthsstimmung ein Wechsel eintrat, seitdem wir uns getrennt haben. Eine Ursache muß sich wohl zu deiner Erbitterung finden.«

»Georg hat keinen Theil daran, und ich vermuthe, du traust mir genügendes Urtheil zu, um selbst entscheiden zu können, was ich billigen oder mißbilligen muß.«

»Vollkommen; aber ich darf wohl erfahren, worin ich mich verfehlt habe.«

»Nun wohl, da du mich zwingst, meine Gedanken auszusprechen, so muß ich bekennen, daß du mir herzlos erscheinst. Du hast von deiner frühesten Jugend Georg eine Zärtlichkeit bewiesen, welche ihn berechtigte, es für ausgemacht anzunehmen, daß du ihn liebest. Als Mann ließ er sich noch mehr in diese Gewißheit einwiegen. Dieß heiße ich wie eine gefühllose Kokette handeln.«

»David!« rief Dagmar aufspringend.

Er sah das junge Mädchen ruhig an.

Ihre Augen blitzten hinter den Thränen, welche hervorbrechen wollten; ihre Wangen flammten. Zorn, Kummer, Schmerz und Stolz waren in ihrem Angesicht ausgedrückt.

»Wie unglücklich bin ich!« murmelte Dagmar, legte die Hand über die Augen und wandte sich ab.

Sie unglücklich, ungeachtet jede Veranlassung zum Kummer hinweggeräumt war!

Sie, so schön, reich und liebenswürdig!

Was war es, das dieses Unglück hervorrief?

Seine Worte!

Hatten diese demnach eine so große Bedeutung für sie?

In einer Sekunde fuhren diese Gedanken David durch den Kopf; in der nächsten stand er an Dagmars Seite.

»Verzeihe, verzeihe,« bat er und faßte ihre Hand.

Dagmar weinte.

»Kannst du nicht verzeihen?«

»Das habe ich bereits gethan, aber das ändert nichts an meinem Schicksal,« flüsterte sie.

»Ist es dein Schicksal, welches diese Thränen und diesen Ausruf, der dir so eben entfiel, veranlaßt?«

»Ja,« flüsterte Dagmar.

Sie standen hart neben einander.

Dagmars Hand ruhte still in der von David.

Fortgeblasen waren alle bittern und unfreundlichen Gefühle aus seiner Brust.

»Du hast somit andere Sorgen, Dagmar?«

»Ja, eine, aber die gehört mir an.« Sie trocknete ihre Thränen ab. – »Laß uns nicht mehr davon reden,« setzte sie mit einem matten Versuch zu lächeln hinzu.

»Eine einzige Frage: Du liebst, aber du liebst nicht Georg?«

Dagmars Hand zitterte in der seinigen; ihre Wangen wechselten die Farbe; aber die Lippen lächelten, als sie antwortete:

»Wenn du eine freundliche Empfindung für mich hast, so frage nicht. Ich bin von Natur zugleich offen und verschlossen. Alles kann ich mit dir theilen: Freude, Glück, Unruhe und Bekümmerniß; aber die Sorgen, welche mich selbst berühren, die behalte ich für mich. Frage darum nicht, ich werde nicht antworten; forsche nicht, du wirst nichts herausbringen. Und nun fort mit allen traurigen Gedanken und allen Mißverständnissen zwischen uns. Glaube an Dagmar, daß sie nicht im Stande ist, aus freiem Willen irgend Jemand – am wenigsten denen, welche sie lieb hat – ein Leid zuzufügen.«

Sie reichte David auch ihre andere Hand und setzte in heiterem Tone hinzu:

»Wenn ich recht nachdenke, glaube ich bestimmt, daß ich es war, welche zu deiner gereizten Laune Anlaß gab. Ich war, als ich dich traf, in einer Gemüthsstimmung, welche einer gewissen Nachlässigkeit bei mir den Ursprung gab, und dann geschieht es, daß ich von den kitzeligsten Dingen so rede, als ob sie mir ganz gleichgültig wären. Vergib mir das und versprich, nicht böse zu sein.«

Es lag etwas ungemein Liebliches in Dagmars Wesen, als sie das sagte.

»Welcher bezaubernden Frau hat Georg nicht entsagen müssen,« dachte David bei sich. »Es ist ja natürlich, daß er sie innig lieben muß.«

Daß der junge Arzt zur Antwort auf das, was Dagmar sagte, ihre Hände küßte und versicherte, die Schuld liege auf seiner Seite, versteht sich von selbst. Die Freundschaft zwischen ihnen war nach der Versöhnung gewiß größer als zuvor.

Sie sprachen nicht mehr von Georg, und der Wahrheit getreu zu bleiben, müssen wir gestehen, daß David nicht mehr an seines Bruders Herzenskummer dachte.

Als er von Eriksdal heimfuhr, nahm Dagmar seine Gedanken lebhafter als je in Anspruch.

 

XXI.

Zu Eriksdal rüstete man sich eifrig auf die Reise ins Ausland, welche zu Anfang Oktobers vor sich gehen sollte.

Der Oberst hatte Dagmar vorgeschlagen, mit Frau Thorén den Aufenthalt in dem ihr lieben Haraldshofe zu nehmen, so lang er und Majken abwesend wären; aber sie hatte das Anerbieten abgelehnt. Er hatte ihr dann die Wahl gelassen, entweder nach Aengsberga zu Tante Waldner zu ziehen oder in Eriksdal zu bleiben. Dagmar entschied sich für Eriksdal. Sie behauptete, sie habe sich entschlossen, mit Glanz in der Gesellschaft zu **köping aufzutreten; zugleich gedachte sie, eine splendide Lebensweise in Eriksdal zu führen. Der Vater hatte ihr ja das Recht gegeben, über die Hälfte des Jahresertrags von Haraldshof zu verfügen, und da mußte es wohl für sie ausreichen, wie eine Prinzessin zu leben.

Ein paar Tage vor der Abreise von dem Oberst und Majken waren David und einige vertrautere Freunde zum Mittagsmahl nach Eriksdal eingeladen. Es ging dabei sehr lebhaft und angenehm her. Dagmar war jedoch die am wenigsten aufgeräumte.

Nach dem Essen saßen Majken und David in einer der Fenstervertiefungen und sprachen mit einander.

»Nicht ohne Besorgniß verlasse ich Dagmar,« sagte Majken und ihr Blick ruhte auf dem Gegenstand ihrer Unruhe, während das Mädchen neben dem alten Major Kroner stand und mit ihm scherzte.

»Dagmar ist zweiundzwanzig Jahre alt,« ließ sich David vernehmen. »Sie ist mit guter Gesundheit, guter Gemüthsart begabt und so erzogen, daß sie sich selbst zu berathen weiß. Dazu kommt, daß Frau Thorén und der alte Olle bei ihr sind; so kann ich nicht begreifen, Majken, warum du dich ängstigen solltest.«

»Und doch thue ich es. Seitdem ich Dagmars Stiefmutter wurde, sind sie und ich nicht getrennt gewesen. Jetzt wird sie sich ungehindert ihrer Vorliebe für die Einsamkeit und ihren Träumereien überlassen. Diese letztern bringen nichts Gutes.«

»Um was drehen sie sich?«

»Es ist mir noch nicht gelungen, es herauszubringen, und an deiner Frage merke ich, daß du auch noch nicht glücklicher gewesen.«

»Ich muß gestehen, daß ich annahm, ihre Grübelei rühre von dem Umstande her, daß sie wußte, sie sei nicht des Obersts Tochter.«

»Aber das nimmst du nicht länger an?«

»Nein.«

»Versprich mir Eins, und mein Gemüth wird ruhiger werden.«

»Ich verspreche Alles, wodurch ich dich beruhigen kann,« versicherte David.

»Besuche Dagmar oft; überrede sie, in Gesellschaft zu gehen, und halte sie, so viel du vermagst, davon ab, sich ihrem Wunsche nach einer abgeschiedenen Lebensweise hinzugeben. Wache über sie, wie ich gethan habe. Trachte darnach, daß dir gelingt, was mir nicht glückte, nämlich von ihrer Seele den geheimnißvollen Schatten hinwegzunehmen, welcher seit unserer Reise in's Ausland darüber gelagert ist.«

»Ich verspreche es,« antwortete David und drückte Majkens Hand.

In demselben Augenblick hörte man Dagmar laut lachen.

David sah sie an und würde sicherlich Majkens Behauptung, daß in Dagmars Seele etwas anderes als Sonnenschein weile, bezweifelt haben, wenn ihm nicht ihr Ausruf: »Wie bin ich so unglücklich!« in lebhafter Erinnerung geblieben wäre!

 

XXII.

»Hu, wie es stürmt und regnet,« äußerte Dagmar gegen Frau Thorén, als sie vor dem flammenden Feuer in ihrem Arbeitszimmer im Erdgeschoß zu Eriksdal saß. »Tante, wir werden uns wohl Thee machen dürfen, und dann soll »Herr Peter« den Kronleuchter und die Lampen anzünden, so daß wir es recht gemüthlich bekommen. Hu, wie die Straßen so beschwerlich sein müssen, und wie schauerlich trübe und rauh es für die sein mag, welche in einem solchen Wetter draußen sind! Gottlob, daß man in seinem ruhigen Heimwesen ist.«

Diese Worte wurden eben ausgesprochen, als Frau Thorén sich erhob, um Befehl zu Thee und Licht zu geben. Die gute Frau wollte selbst nachsehen, daß Dagmar das Backwerk bekam, das sie am gernsten aß.

»Herr Peter«, wie Dagmar den Diener zu nennen pflegte, trat ein und zündete alle Lichter und Lampen an, welche sich im Zimmer fanden.

Dagmar saß unterdessen in einen Fauteuil zurückgelehnt, schaute in das Feuer und spielte mit Hektors langen Ohren. Der alte vierbeinige Freund lag auf einem Bärenfell zu ihren Füßen.

Das Zimmer war plötzlich ganz erhellt.

Als Peter sich entfernt hatte, stand Dagmar auf und trat vor ein Oelgemälde, welches über dem Piano hing. Dasselbe zeigte einen italienischen Fischerknaben, welcher auf einem Stein an der Küste saß, mit dem herausgezogenen Netz voll Fische zu seinen Füßen; die Arme waren über der Brust gekreuzt und der Blick richtete sich nach der untergehenden Sonne. Das Gemälde war ein wirkliches Meisterwerk.

Dagmar hatte es vom Ausland mitgebracht. Ihre Augen weilten nun auf dem Fischerknaben mit einem Interesse, als ob er ein Porträt von irgend einem lieben Freunde gewesen wäre.

Man muß gestehen, daß des Knaben Angesicht eine genauere Betrachtung schon verdiente. Es war von seltener Schönheit; das Haar schwarz und lockig wogte von einer Stirne hoch und frei wie »der Himmel an einem wolkenlosen Tage« herab; unter derselben schauten ein Paar große, strahlende Augen hervor, deren lange Wimpern einen mildernden Schatten über ihren Glanz warfen. Die Nase war gerade, die frischen, von Lebenslust schwellenden Lippen waren halb geöffnet, als ob er im Begriff wäre, mit Worten auszudrücken, wie glücklich er sich fühlte. Alle Sorglosigkeit und Leidenschaft des Südländers spiegelten sich in diesem Angesicht ab, über welchem ein Schimmer von Poesie ruhte, welcher zur Folge hatte, daß man niemals es zu betrachten müde wurde.

Je länger Dagmar darauf hinschaute, desto mehr nahmen ihre Augen einen Ausdruck von Kummer und Schmerz an. Es sah aus, als ob Thränen der Wehmuth und des Grames über ihre Wangen sich ergießen wollten.

Dagmar war in die Betrachtung des Bildes so vertieft, daß sie nicht merkte, wie Jemand eintrat. Der Schritt war auch lautlos auf der weichen Matte.

»Wiederum!« äußerte der Eintretende und stand an Dagmars Seite.

Das Blut ergoß sich schnell in ihre Wangen, als sie den Kopf umdrehte und ausrief:

»David! Nun, das ist recht schön! Ich habe dich in diesem rauhen Wetter nicht erwartet.«

»Nicht? Ich meinerseits habe nicht erwartet, dich wiederum vor diesem Gemälde zu finden. Was ist es, das dich an dasselbe fesselt?«

»Dessen Schönheit,« antwortete Dagmar mit etwas unsicherer Stimme. »Ist er nicht schön, dieser Junge, der hier sitzt, in die Betrachtung der untergehenden Sonne versunken?«

Sie faßte David am Arm und setzte mit großer Lebhaftigkeit hinzu:

»Ich werde niemals müde, dieses Angesicht zu betrachten. Es ist ein ganzes Buch, aber ein Buch ganz andern Inhalts, als man Anfangs glauben sollte. Der Einband ist fein, aber der Inhalt traurig.«

»Schwärmst du für das Bild hier, Dagmar?« fragte David und sah sie an.

Dagmar lächelte matt, indem sie antwortete:

»Ich liebe ihn gleichzeitig als meine höchste Freude und meine größte Plage.«

»Wie läßt sich das erklären?«

»Betrachte diesen lockigten Kopf, diese strahlenden und doch beschatteten Augen, diesen halboffnen Mund mit seinem sorgenlosen Lächeln, diese frische Farbe und sage hernach: ist es möglich, jemals diese Züge zu vergessen, sie aus dem Gedächtniß zu verwischen? Muß man sich nicht darüber betrüben, daß sie sich nur auf dieser Leinwand erhalten haben und daß man nie mehr sie in der Wirklichkeit wiedersehen wird; muß man nicht beklagen, daß etwas so Schönes der Vergänglichkeit unterworfen ist?«

Dagmar fuhr mit der Hand schnell über die Stirne und nahm ihren Platz am Ofen wieder ein, indem sie auf einen Fauteuil deutete, welcher neben ihr stand.

»Komm' und setze dich hieher,« sagte sie. »Wir bekommen sogleich Thee und Punsch für dich. Wir werden einen recht angenehmen Abend haben.«

»Ist das Gemälde ein Porträt?« fragte David.

»Ja.«

Dagmar beugte sich nieder und streichelte Hektor.

»Von einem Fischerknaben?«

»Nein.«

Die kurzen Antworten gaben zu erkennen, daß Dagmar nicht geneigt war, in nähere Aufklärungen einzugehen.

David war scharfsinnig und legte Bedeutung genug in äußere Zeichen. Er erkannte sogleich, daß es unzart wäre, mit seinen Fragen fortzufahren, und wechselte das Thema des Gesprächs. Die abwesenden Familienmitglieder wurden Gegenstand desselben.

Frau Thorén kam mit Thee und Punsch; der junge Inspektor, ein Sohn von Major Kroner, fand sich gleichfalls ein, und der Abend verging recht angenehm.

Dagmar war heiter und lebhaft. Beinahe allzu lebhaft, schien es David; aber er hütete sich eine Anmerkung darüber zu machen. Die Zeit war längst vorbei, da David alles, was er dachte, aussprach. Eine genaue Beobachtung seiner selbst hatte ihn verträglich gegen andere gemacht und das Verlangen beseitigt, welches es möglich fand, an seinem Nebenmenschen Fehler und Mängel aufzusuchen.

Ein Arzt würde allzuviel treffen, was ihn von seinem Berufe abzöge, wenn er sich etwas der Art überließe. Er kommt allzu oft in Berührung mit den menschlichen Schwachheiten, um sie erst noch aufsuchen zu müssen.

David blieb in Eriksdal über Nacht. Als man das Abendessen eingenommen und der junge Inspektor sich entfernt hatte, saßen er und Dagmar noch eine Weile beisammen, ehe sie sich trennten.

Dagmar hatte ihren Platz vor dem Gemälde eingenommen und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf dasselbe, während David laut ein paar poetische Stücke von Runeberg las. David hielt mitten im Lesen an, schlug das Buch zu und sah Dagmar an. Sie beharrte in derselben Stellung, ohne darauf Acht zu geben, daß er schwieg.

»Wie gefällt dir Runeberg?« fragte er.

Dagmar erröthete.

»Ach, ich versank in Gedanken,« stammelte sie.

»Du bist in der letzten Zeit sehr nachdenklich geworden,« entgegnete David.

»In diesem Fall schelte mich. Ich will es nicht sein.«

»Gut, willst du dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit schenken?«

»Ganz gewiß. Ich höre immer mit Vergnügen zu, wenn du redest.«

»Aber nicht, wenn ich lese.«

»Verzeihe, ich werde es nicht mehr thun. Nun, was hast du mir zu sagen?«

Dagmar drehte den Stuhl, so daß sie das Gemälde nicht mehr vor sich hatte.

»Es ist über einen Monat, seitdem der Oheim verreist ist, und diese ganze Zeit bist du nicht ein einziges Mal in der Stadt oder auf Besuch bei einem der Nachbarn gewesen. Du hast hier gelebt in der ausschließlichen Gesellschaft von dem Gemälde hier, von Frau Thorén und dem jungen Kroner, welcher letztere jedoch niemals wagt in deiner Gegenwart ein Wort zu äußern. Du hast indessen deinem Vater und Majken etwas ganz Anderes versprochen.«

»That ich das, so war ich recht einfältig; ich sähe mich dann gezwungen, mein Wort zu halten, und das wäre peinlich.«

»Mag sein; aber ich werde nicht zugeben, daß du deines Versprechens vergissest.«

»Nicht? Nun, so werde ich wohl, sobald die Wege besser werden, rings herum streifen müssen. Du entgehst damit der Plage, so oft hieher reisen zu müssen.«

»Ich danke pflichtschuldigst für deine wohlwollende Rücksicht; aber es handelt sich nicht um mich, sondern um dich. Du darfst nicht auf das Besserwerden der Wege warten, du mußt mit dem heutigen Tag deine Lebensweise verändern. Begleite mich morgen nach **köping. Du bist ja so dringend zu Major Kroners eingeladen.«

»Dahin habe ich bereits schriftlich abgesagt.«

»Hilft nichts; du mußt hinfahren. Ich habe der Majorin mein Ehrenwort gegeben, daß du kommen werdest. Sie hat im Vertrauen darauf ein paar Zimmer für dich eingerichtet. Am Freitag ist Oskarball; du bist wohl noch nicht dazu gekommen, den ersten Walzer zu verschenken; ich beabsichtigte darum anzuhalten.«

»David, ich will nicht. Es quält mich; ich bin am glücklichsten hier in der Einsamkeit.«

»Du weigerst dich also?«

David sah streng aus.

»Ich vermag deinen Wunsch nicht zu erfüllen.«

»Auch ein Majken und deinem Vater gegebenes Versprechen nicht zu halten?«

»Der Winter ist lang; ich werde es schon noch halten, aber jetzt nicht.«

»Aber ich bitte dich, Dagmar, thue aus Wohlwollen für mich dir in diesem Fall ein wenig Gewalt an.«

»Nach Weihnachten werde ich dir zu Willen sein.«

David stand auf.

»Gute Nacht,« sagte er. »Nun hast du mir einen neuen Beweis davon gegeben, daß du stets dich bei deinem Handeln durch deine Launen bestimmen lässest.«

»Habe ich denn das Gegentheil behauptet?«

Dagmar reichte ihm die Hand.

»Du sagtest einmal, es schmerze dich, daß ich so etwas von dir denken könne.«

»Wahr; aber damals war die Frage von Georg.«

»Gute Nacht,« war Davids einzige Antwort und damit verließ er sie.

Dagmar streckte die Arme nach dem Fischerknaben aus und murmelte:

»Wie viel hast du mich schon gekostet! Mein armer Liebling, warum lächelst du, da Alles hier im Leben so traurig ist; da du weißt, daß sich das Glück weder für dich noch für mich findet?«

Sie ließ die Arme sinken.

Nach einer Weile sprang sie auf und rief:

»Nun werde ich nicht länger träumen; ich will vergessen und froh sein.«

 

XXIII.

Der Morgen war trübe und stürmisch. Alles hatte ein nasses und schmutziges Aussehen.

Des Doktors Droschke stand vor der Treppe mit zwei Pferden bespannt.

In der Wohnstube saß David am Frühstück mit dem Inspektor und Frau Thorén. Dagmar ließ sich nicht sehen, es war noch so frühe.

»Es ist am besten abzuziehen,« sagte David. »Grüße Dagmar, ich kann nicht warten, um ihr Lebewohl sagen zu können; ich muß um halb zehn Uhr daheim sein und Krankenbesuche annehmen.«

David hüllte sich in seinen Pelz und ging zugleich mit dem Inspektor ab, um sich in seine Droschke zu setzen. Er hielt einen Augenblick an, ganz erstaunt darüber, daß er auf dem Bock neben dem Kutscher eine ganze Menge Schachteln aufgestapelt fand.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Das hat zu bedeuten, daß du Reisegesellschaft bekommst,« antwortete Dagmar, welche bereits in der Droschke saß und unter ihrer Kaputze hervorschaute.

»Welche angenehme Ueberraschung!« rief David und nahm an ihrer Seite Platz. »Du bist doch die aller…«

»Launenhafteste von allen Launenhaften,« fiel ihm Dagmar ins Wort, reichte dem Inspektor die Hand zum Abschied, versprach Grüße von ihm an die Majors auszurichten, und so rollte der Wagen davon.

Frau Thorén stand am Fenster im Wohnzimmer und schaute der forteilenden Droschke nach. Sie murmelte für sich hin:

»Gut, daß er sie fortbrachte. Ich möchte wünschen, er hätte auch das Gemälde mit sich genommen. Seitdem sie es in ihrem Zimmer aufgehängt hat, ist Dagmar sich nicht mehr gleich. Ich kann nicht begreifen, warum der Vater ihr einen solchen Unglücksengel verschaffte. Fürchtete ich nicht, eine unrechte Handlung zu begehen, so könnte ich die ganze Herrlichkeit in Stücke schneiden; aber wir werden ja sehen, ob ich nicht eines Tages das Blatt vom Munde nehme und vor dem Doktor die Wahrheit rede.«

Frau Thorén behielt jedoch nicht lange Zeit, sich ihren Grübeleien zu überlassen; sie mußte ihre Aufmerksamkeit den häuslichen Geschäften widmen.

Der alte Olle, welcher am Gitterthor stand, als Dagmar abfuhr, hatte eine strenge Ermahnung erhalten, für Hektor eifrige Sorge zu tragen, die Blumen in Dagmars Zimmer zu begießen und nach den Vögeln im Saal zu sehen. Dieß alles waren Verpflichtungen, welche dem Alten beständig oblagen, aber jetzt erschienen sie um so wichtiger, da Dagmar abwesend war.

Olle wanderte auch geraden Wegs vom Gitterthore nach dem Zimmer des jungen Mädchens, wo sich Hektor ganz niedergeschlagenen Sinnes befand. Als er jedoch seinen Erzieher gewahrte, wurde er wiederum munter.

Olle hatte inzwischen Manches zu besorgen, ehe er wieder abging und seinen Pflegbefohlenen mitnahm.

Alle Blumen vor den Fenstern sollten besorgt werden, und hernach mußte Olle Dagmars Zimmer untersuchen und nachsehen, ob Alles in gehöriger Ordnung wäre.

Er lüftete die Decke, die über der Staffelei hing, blätterte in den Noten auf dem Piano, guckte in die Bücher im Schranke, und warf endlich einen forschenden Blick in Dagmars Schlafzimmer.

Seine Absicht war nicht hineinzugehen.

Olle wollte sich bloß überzeugen, wie es aussah, als seine junge Gebieterin abreiste, um darüber zu wachen, daß nichts in ihrer Abwesenheit wegkäme oder verrückt würde.

Er bemerkte indessen, daß die Schublade im Arbeitstischchen noch offen stand und die Schlüssel steckten. Diese Schlüssel gehörten zu allen geheimen Behältnissen, die Dagmar hatte. Olle machte einige rasche Schritte, schloß die Schublade und nahm die Schlüssel zu sich, indem er einige Worte von allzu großem Vertrauen murmelte, und warf noch einen prüfenden Blick rings im Zimmer herum.

Sein Auge fiel auf ein kleines Etui, welches auf dem Toilettentische lag. Er öffnete es und betrachtete den Inhalt, klappte es wieder zu und steckte das kleine Ding in seine Tasche.

»Nun habe ich doch endlich die Teufelei hier in meinen Händen,« äußerte er laut. »Es wird wohl lang anstehen, ehe sie es wieder zu sehen bekommt.«

Nach dieser seiner eigenen Person gegebenen Versicherung trotteten er und Hektor nach der kleinen hübschen Gärtnerwohnung hinunter.

 

XXIV.

Dagmar blieb über Weihnachten und Neujahr in der Stadt.

Frau Thorén und der junge Inspektor waren auch über die Feiertage in **köping gewesen. Den Tag nach dem Heiligdreikönigsfest fuhren sie heim; aber Dagmar sollte noch über den bevorstehenden Ball bleiben.

Das junge Mädchen hatte alle möglichen Lustbarkeiten mitgemacht; das Theater, wo eine bessere Truppe vom Lande Vorstellungen gab, besucht, einem Schauspiel, das eine Liebhabergesellschaft veranstaltete, beigewohnt, und war durch Major Kroners in die vornehmsten Kreise der Stadt eingeführt worden. Bei dem Landeshauptmann und dem Bischof waren ein paar glänzende Bälle gewesen, wo Dagmar umworben und gefeiert wurde und die Huldigungen als das schönste und reichste Mädchen der Gegend empfing.

Dagmar hatte somit sich von Herzensgrund vergnügt. Sie war heiter und freundlich gegen Jedermann, lebhaft ohne alle Gefallsucht und machte sich bei Männern und Frauen beliebt.

Man fand, daß der so viel besprochene Oberst Björnstam eine sehr liebenswürdige Tochter hatte. Die guten **köpinger konnten nicht begreifen, warum Oberst Björnstam ein so eingezogenes Leben führte, seitdem er nach Eriksdal übergesiedelt war. Dem Vater hätte doch daran gelegen sein sollen, seine Tochter in die große Welt einzuführen. Und die »große Welt« das war die Gesellschaft von **köping.

Die Offiziere der Stadt thaten Alles, um sich Dagmar bemerklich zu machen, und mehr als ein hoffnungsvoller Sohn des Mars hatte Plane zur Eroberung ihres Herzens fertig in seinem kriegerischen Haupte. Durch eine glückliche Ausführung derselben wäre er mit einem Male in den Besitz von Schönheit, Liebenswürdigkeit und Reichthum gelangt.

Die Artigkeiten der Herren unterhielten Dagmar zu nicht geringer Ueberraschung für David. Er war es auch, welcher trotz der Behauptung aller Andern, daß sie sich frei von jeder Koketterie hielte, das Gegentheil entdeckt zu haben glaubte.

Dieß ärgerte David; aber er behielt seinen Verdruß für sich und beklagte in seinem Herzen, daß Dagmar nicht besser als andere Frauen wäre.

Er fuhr indessen fort, Dagmars Charakter zu studiren, war aber nicht unparteiisch genug, um den Namen eines gerechten Richters zu verdienen.

Da ihre Heiterkeit und ihre scherzhafte Laune ihm mißfielen, so theilte er ihr Fehler zu, die sie gewiß nicht hatte, und ärgerte sich darüber, ohne nach der Ursache seines Mißvergnügens zu forschen.

Endlich beschloß er gar nicht mehr an ihren mangelhaften Charakter zu denken, sondern nur als Arzt sich damit zu beschäftigen, daß er die Ursache zu der Melancholie und Vorliebe zur Einsamkeit, welche Dagmar gehabt hatte, aber nun vergessen zu haben schien, herausbrächte.

Der Balltag erschien, aber ohne daß David nach Verfluß von diesen sechs Wochen und nach einem fast täglichen Beisammensein über Dagmar klüger geworden wäre, als er damals, da er von Eriksdal abfuhr, gewesen.

Am Sonnabend nach dem Knutstage kehrte Dagmar nach Hause zurück.

David begleitete sie.

Als der Wagen auf den Hof fuhr, kam Hektor Dagmar entgegengestürzt, und alle Leute im Hause zeigten große Freude, sie wieder zu sehen.

Die froheste von Allen war jedoch sie selbst.

Sie eilte auf ihr Zimmer, blieb eine Weile vor dem Gemälde stehen und rief:

»Nun bin ich wieder bei dir, mein armer Liebling!«

 

XXV.

Man hatte Thee getrunken. Frau Thorén trippelte ein wenig in der Küche umher, zu wachen, daß das Souper so ausfiele, um von ihrer Freude, Dagmar wieder daheim zu wissen, genügendes Zeugniß zu geben.

Am Ofen in dem großen Arbeitszimmer saßen David und Dagmar, der erstere so, daß er den Fischerknaben vor sich hatte.

Sie sprachen von **köping. Dagmar durchging die Liste ihrer neuen Bekanntschaften, über welche sie ihr Urtheil aussprach.

David war einsylbig.

Seine Augen weilten auf dem Gemälde.

Es sah aus, als ob es ihn in schlechte Laune versetzte.

Gerade, als Dagmar nachweisen wollte, wie ihr Kroners Mädchen gefielen, äußerte David:

»Wenn ich das Gemälde ansehe, komme ich unwillkürlich auf den Gedanken an ein altes Theaterstück, welches ich in meinen Jünglingsjahren gelesen habe.«

»Wie hieß es?«

»Das Porträt. Es handelte von einem armen Mann, welcher sich in ein Porträt verliebt hatte.«

»Nun, in welchen Zusammenhang willst du es mit meinem Fischerknaben setzen?« fragte Dagmar.

»Ich möchte sagen, daß der Junge die Rolle des Porträts spielt, und du solche des Verliebten.«

»Du vergissest, daß wenn ich verliebt bin, es wohl in das Original, und nicht in das Gemälde sein dürfte. Ich sah das Urbild lang ehe ich das Gemälde hatte.«

»Davon hast du mir nie etwas gesagt.«

»Es ist mir doch, als ob ich es gethan hätte.«

»Möglich, ich kann mich jedoch dessen nicht entsinnen. Wann und wo hast du das Original gesehen?«

»Zuerst in Paris, hernach in Neapel, und zum letzten Mal in der Schweiz. Aber warum sollten wir heute Abend davon reden. Der Gegenstand gehört zu denen, welche nicht zur Freude stimmen.«

»Beantworte mir bloß eine Frage; ich flehe dich darum an.«

Davids Stimme hatte etwas innig Bittendes. Dagmar sah ihn an, schlug aber dann die Augen wiederum nieder.

Es entstand eine Pause.

Dagmar ergriff den Feuerhaken und schürte die Flamme; nach einer Weile sagte sie:

»Ich will deine Frage beantworten, aber hernach verlassen wir das Thema.«

»War die Person, welche hier dargestellt ist, vielleicht die Ursache zu der Antwort, welche du Georg, als er um deine Hand anhielt, gegeben?«

David beugte sich vor, um in ihren Augen lesen zu können. Es sah aus, als ob Dagmars Antlitz zitterte, eine so heftige Bewegung hatten seine Worte verursacht.

»Ja!« lautete die Antwort, welche flüsternd gegeben wurde, ohne daß sie David ansah.

Wie stand es mit dem jungen Arzte? Das kleine Wörtchen Ja hatte sicherlich Eindruck auf ihn gemacht. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die Hand über die Stirne.

»Komm und singe!« bat Dagmar und setzte sich an das Piano.

»Unmöglich, ich kann nicht.«

Im Augenblick war Dagmar an seiner Seite.

»Du mußt; nun bin ich es, welche bittet!«

Sie sah ihn an und lächelte, aber erschrak, als sie die Blässe von seinem Antlitz gewahrte.

»Bist du krank?«

»Nein, – und da du es wünschest, so will ich singen.«

Er trat zu dem Instrument.

David sang beinahe den ganzen Abend, und Dagmar akkompagnirte.

Er schien auf einmal ausschließlich von der Musik in Anspruch genommen. Bald nach dem Souper sagte er Dagmar gute Nacht und begab sich auf sein Zimmer.

 

XXVI.

David fiel es schwer, seine Gedanken von dem Fischerknaben abzulenken.

Dieser verfolgte ihn die ganze Nacht, und diese Beharrlichkeit war nichts weniger als angenehm.

Am Sonntagsmorgen, während David sich ankleidete, trat Olle in sein Zimmer.

»Mit Verlaub, Herr Doktor, ich habe etwas auf dem Herzen; aber es muß ganz unter uns bleiben.«

David versicherte lächelnd, was Olle ihm anvertrauen würde, sollte ein Geheimniß vor der übrigen Welt bleiben.

»Wie der Herr Doktor weiß, so bin ich geboren und erzogen in Haraldshof, wo mein Vater vor mir Gärtner war. Ich habe unter den beiden Gutsbesitzern, Wilhelm und dem Oberst, gedient. Ich sah das Fräulein von dem Augenblick, da sie im Garten herumzuspringen begann, und ich kann beinahe sagen, daß ich bei ihrer Erziehung gewissermaßen mitgewirkt habe. Sie und ihr Hektor sind mir auch vor allem andern ans Herz gewachsen. Sie ist immer eine wilde Blume gewesen, mein kleines Fräulein, und es ist klar, daß es nicht für Jedermann so leicht sein wird, sich auf sie richtig zu verstehen. Aber der alte Olle hat das gethan, immerdar, bis sie hinaus in die fremden Länder ging; seitdem ist sie ganz verwunderlich geworden. Es gibt bestimmt etwas, das ihr im Sinn liegt, und das sie vor Niemand aussprechen will. Es kommt zu gewissen Zeiten eine solche Unruhe über sie, daß sie ganze Nächte nicht schläft. Dann wankt sie herum und macht zuweilen lange, lange Spaziergänge. Aber es müßte zum Teufel sein, wenn ich jetzt nicht herausgebracht hätte, was es ist, das sie so seltsam macht.«

»Und was sollte das sein?« fragte David mit dem lebhaftesten Interesse.

»Ja, sehen Sie das zuerst an,« antwortete der Alte und zog ein Etui heraus, welches er David reichte; »und dann, wie das Gemälde ist, welches sie bei sich aufgehängt hat, seitdem die Herrschaft verreist ist.«

David öffnete das Etui und stutzte. Er hatte ein Porträt vor sich, welches dem Fischerknaben glich; aber das Original zu dem letztern schien viel älter gewesen zu sein; die Gesichtsfarbe war bleich und kränklich. Es war ein Mann, welcher schon etliche dreißig Jahre zurückgelegt hatte. Er war in einen Mantel gekleidet, welcher Brust und Schultern bedeckte, und nur den Hals mit dem niederfallenden Hemdkragen frei ließ. Der Kopf, von einem Walde dunkler Locken umgeben, war mit einer kleinen Sammtmütze bedeckt.

In dem Antlitz des Fischerknaben lag ein Ausdruck jugendlichen Uebermuths, jugendlicher Sorglosigkeit und Lebenslust; in diesem hingegen ein Gepräge von Erschöpfung, durch verheerende Leidenschaften hervorgebracht.

David hatte sich in die Betrachtung des Porträts so vertieft, daß er Olle's Gegenwart ganz vergaß.

Der Alte hatte seine klugen und wachsamen Augen auf ihn geheftet.

Nach einer Weile äußerte der letztere: »So lange wir noch in Haraldshof waren, pflegte das Fräulein mehrere Stunden hinter einander zur Nachtzeit im großen Garten oder im Park herumzuwandern. Sie war dann bleich, rang die Hände, weinte und konnte, wenn sie sich müde gegangen hatte, dann Stunden lang dasitzen und den Teufel da ansehen. Winters ging sie meistens in die Gallerie; aber war die Unruhe allzu groß, dann blieb sie nicht, sondern trabte hinaus in Sturm und Schnee. Zuweilen am Tag, wenn sie allein war, brachte sie Stunde um Stunde damit zu, daß sie sich an dem Scheusal hier das Verderben holte. Als der Cousin dann die Stänkerei anstellte und wir hieher zogen, wurde es besser. Sie hatte da andere Dinge zum Nachgrübeln erhalten, und die Unruhe kam nicht so oft über sie; aber seitdem Herr Georg das letzte Mal hier war, ist es schlimmer als je. Ich weiß Nächte, wo sie bis vor Morgen gar nicht zur Ruhe ging. Sie war in Wald und Feld herumgewandert, hatte sich auf die Brücke gesetzt, wenn der Mond aufgegangen, und das Ding da angestarrt, ganz wie wenn sie verhext wäre; aber am Tage zeigte sie ein heiteres Angesicht, und dann wußte Niemand, als der alte Olle, wie schlimm es bei ihr bei Nacht gewesen war.«

Olle schwieg. David sah traurig aus.

»Was hältst du, mein lieber Olle, von dem Allem?« fragte er endlich und schloß das Etui.

»Ich glaube zuvörderst, daß das Fräulein irgendwie krank ist, und dann … so … hängt es mit dem da zusammen, was ihr Kummer macht.«

»Hast du, während du sorgsam über sie wachtest, sie niemals während des Ausbruchs von Unruhe und Kummer zu stören gesucht?«

»Das ginge wohl an, daß ich das thun sollte!«

»Aber wie bist du in den Besitz von dem Porträt hier gekommen?« fragte David.

Olle erzählte, wie das zugegangen und fügte bei:

»Ich ließ einen Boten mit den Schlüsseln nach der Stadt reiten; aber dieses behielt ich und gab, als sie mich fragen ließ, ob ich nicht ein kleines Medaillon gesehen, zur Antwort, wenn das der Fall gewesen wäre, würde es mit den Schlüsseln gefolgt sein. Nun glaubt sie es verloren zu haben. Sie will ihren Kummer für sich tragen, und will es nicht leiden, daß Jemand sie weinen sieht.«

»Hast du noch mit Niemand von dem geredet, was du mir jetzt erzählst?«

»Nein, nie. Ich bin ihr nur nachgegangen und habe über sie gewacht. Es wäre auch gar nicht in der Ordnung, daß ich ihre Geheimnisse verriethe.«

»Aber du hast es doch gethan.«

»Ah, das ist etwas anderes. Der Herr Doktor ist Doktor und muß dem Uebel abhelfen können, ohne daß sie Kunde bekommt, daß Jemand davon weiß. Ueberdieß ist es wohl von dem Herrn Oberst und seiner Gemahlin so beschlossen, daß der Herr Doktor ihr helfen soll. Einen Waldner will der Oberst zum Tochtermann haben, das ist klar wie der Tag.«

»Du irrst dich, Alter,« fiel David ein.

»Ich glaube nicht. Der alte Olle hat viel gesehen und gehört, und er erinnert sich noch der Zeit, da Moriz Björnstam einen harten Kampf für seine Liebe zu des Herrn Doktors Frau Mutter kämpfte; es ist wohl die alte Liebe, welche bewirkt, daß ihre Kinder ihr lieb sind; aber nun will ich gehen, ehe die Frühstücksglocke läutet.«

Olle ging nach der Thüre, aber blieb mit der Hand auf dem Schlosse stehen und äußerte:

»Herr Doktor, Sie sind so geschickt, die Leute zu kuriren; geben Sie ihr ein paar Tropfen, daß sie schlafen kann. Sie können, Doktor, alle andern Uebel beseitigen, und müssen wohl im Stande sein, ihr von ihrer Unruhe zu helfen, sonst wäre es mit Ihrer Kunst nicht so weit her, wie man sagt. Nun sollen Sie mir versprechen, Herr Doktor, zu thun, was in Ihren Kräften steht, so daß ich meine junge Gebieterin nicht verrathen habe, ohne ihr einen Nutzen zu bringen.«

David versprach zu thun, was er vermöchte.

Zufrieden mit diesem Versprechen entfernte sich der Alte.

Peter öffnete kurz darauf die Thüre und meldete, das Fräulein erwarte den Herrn Doktor beim Frühstück.

 

XXVII.

Im Speisesaale war Dagmar.

Sie kam blühend und mit heiterem Lächeln David entgegen und rief:

»Siebenschläfer! Glaubst du, es sei schicklich, die Tante und mich auf den Kaffee warten zu lassen? Dann bist du kein aufmerksamer Kavalier.«

»Aerzte sind es nur ausnahmsweise,« antwortete David, auf welchen nach dem, was er von Olle gehört hatte, ihre Munterkeit einen peinlichen Eindruck machte.

»Willst du vielleicht mir einbilden, du seiest auf einem Krankenbesuch gewesen?« fuhr Dagmar fort und schenkte den Kaffee ein.

»Wenn auch nicht auf einem Besuch, bin ich doch mit meinen Gedanken bei einem Kranken gewesen. Ich habe darüber nachgedacht, wie es mir gelingen möchte, einen meiner Patienten von seiner Schlaflosigkeit zu befreien.«

»Das muß ein ganz unbehaglicher Zustand sein, nicht schlafen zu können,« bemerkte Dagmar ganz ruhig. »Gibt es ein Heilmittel gegen ein solches Uebel?«

»O ja, Opium; aber im gegenwärtigen Fall kann es nicht angewendet werden.«

»Das ist zu beklagen. Es ist wohl recht peinlich, krank zu sein? Ich habe keine Erfahrung davon; ich habe niemals ein körperliches Leiden gehabt, nicht einmal Zahnweh. Jahr aus Jahr ein dasselbe unerschütterliche Wohlbefinden. Es ist gewiß nicht gut, eine solche Felsengesundheit zu haben. Es macht sich einförmig, und man setzt keinen Werth darauf, wenn man niemals das Gegentheil empfunden hat.«

»Es gehört zum Björnstamschen Geschlecht, gesund zu sein. Dein Vater, deine Großmutter, ja alle, die ich kannte, sind in dieser Hinsicht von der Natur begünstigt worden.«

»Ich besitze somit meine Gesundheit als väterliches Erbe.«

Dagmar lenkte damit das Gespräch auf einen andern Gegenstand.

Nach dem Frühstück begaben sie sich auf Dagmars Arbeitszimmer.

»Ich möchte etwas von dir entlehnen,« sagte David.

»Was könnte das sein?«

»Etwas, das du sehr werth hältst.«

»Dergleichen Dinge leiht man nicht aus.«

»Nicht? Dann unterlassen wir es, davon zu reden.«

David setzte sich an das Piano und schlug einige Akkorde an. Dagmar stand still und sah ihn an.

»Ich glaube fest, daß meine Verpflichtung gegen dich nicht geringer Art ist.«

»Ah, du scherzest.«

David spielte einen prächtigen Marsch.

»Wem habe ich dafür zu danken, daß …«

»Um Vergebung, willst du das nicht auf eine andere Gelegenheit verschieben?« unterbrach sie David und spielte noch schneller.

»Nun ja, ich muß wohl deinen Wunsch mir zur Richtschnur nehmen.«

Dagmar stand jetzt hinter Davids Stuhl. Er spielte immer fort.

»Was ist es, das du von mir entlehnen wolltest?« fragte sie. Die Stimme war so mild. David hörte sogleich zu spielen auf und drehte sich zu ihr um. Er schloß ihre Hände in die seinigen und sagte:

»Du hast es mir jetzt unmöglich gemacht, dich darum zu bitten.«

Dagmar machte ihre eine Hand los, legte sie auf seine Schulter und flüsterte flehend:

»David, sag es jetzt gleich!«

David, wie stand es mit der Kaltblütigkeit des Arztes? Wie mit deinem Verstand, deiner ewigen Liebe zu Majken und allen deinen vernünftigen Vorsätzen, dich nie mehr von einer Frau bezaubern zu lassen? Was wurde aus diesem allem? Nichts. Zwischen dich und Dagmar stellte sich nicht mehr Majkens Bild, um dein Herz zu hindern, daß es mit erhöhter Heftigkeit schlug. Nein, du drücktest Dagmars Hand an deine Lippen und stammeltest in großer Erregung:

»Dagmar, es war das Gemälde dort.«

Er deutete auf den Fischerknaben.

»Alles außer diesem.«

David ließ ihre Hand los. Er war wiederum der ruhige Arzt.

»Hast du Lust, das hier zu spielen?« fragte David. »Es ist aus der Weißen Frau, vierhändig gesetzt. Jahre sind vergangen, seitdem ich es gespielt habe; aber ich hoffe dennoch damit fertig zu werden.«

»Du und Majken, ihr habt es oft in frühern Tagen gespielt,« sagte Dagmar und setzte sich neben ihn an das Piano.

Sie sprachen beinahe den ganzen Vormittag nichts, sondern musicirten unaufhörlich.

Zum Mittagsmahl kamen Major Kroners, welche von Dagmar eingeladen worden waren. Sie zeigte sich als liebenswürdige Wirthin, aufmerksam und artig und unterhielt die Gäste durch ihre muntern Scherze.

Der junge Arzt nahm wenig oder vielmehr gar keinen Antheil an dem Gespräche. Am Nachmittag machte er ein Brettspiel mit dem Major und leistete den Damen nicht Gesellschaft.

Er folgte jedoch allen Bewegungen Dagmars.

Als das Souper vorüber war, fuhren Major Kroners nach **köping. David blieb und wollte erst am Montagmorgen sich nach Hause begeben.

Etwas kalt war das »Gute Nacht«, welches er Dagmar sagte. Als er von ihr ging, waren seine Gefühle nichts weniger als freundlich.

Er wäre bestimmt von Eriksdal abgereist und lange nicht mehr zurückgekehrt, wenn er es nicht für seine Pflicht gehalten hätte, Dagmar ärztliche Aufmerksamkeit zu widmen.

Er begab sich nach der Trennung von Dagmar in Olle's kleine Wohnung.

Olle saß vor dem Feuer und schnitt Stäbe für seine Pflanzen.

»Potz Tausend, der Herr Doktor!« rief Olle und warf einen Blick auf die Uhr.

»Ja, ich komme in Folge des Vertrauens, welches du mir geschenkt hast,« bemerkte David und nahm dem Alten gegenüber Platz.

»Versteht sich. In einer Stunde werde ich nachsehen, ob das Licht dort oben brennt. Ist es finster, dann ging sie wohl aus, wie ich mir vorstelle.«

»Ist dein Fräulein vergangene Nacht draußen gewesen?«

»Nein, das Licht brannte bei ihr fast die ganze Nacht hindurch. Sie suchte wohl nach dem, was ich ihr genommen habe, glaube ich, oder saß sie auch hin und schaute das häßliche Gemälde an. Meine Meinung geht inzwischen dahin, wenn das Fräulein es nicht hätte, würde Alles viel besser werden.«

David gab keine Antwort darauf. Er saß da und starrte in das Feuer.

David, welcher mit Leichtigkeit die richtige Behandlung für seine Patienten zu finden pflegte, wenn die Krankheit nicht auf einem Seelenleiden beruhte, vermochte kein Heilmittel für ein Uebel zu entdecken, welches nicht von physischen Leiden begleitet war. Ebenso wenig war er im Besitz seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit. Es lag so viel Dunkles und Unklares vor, sowohl in seinen eigenen Empfindungen, wie in Dagmars Benehmen, daß er sich auf einem völlig fremden Gebiet befand. Er hatte inzwischen fest beschlossen, sie von dem Ausbruch eines Kummers zu befreien, welchen sie Niemand anvertrauen wollte. Er mußte unbedingt in einer aufgeregten Phantasie liegen. Die ganze Kunst bestand somit darin, daß sie verhindert wurde, unaufhörlich in der Welt der Einbildung zu weilen.

War es eine unglückliche Liebe, welche ihr Frieden und Ruhe raubte, so mußte Alles, was sie daran erinnerte, von ihr entfernt werden, bis sie entsagen lernte.

David, welcher selbst gelitten, gekämpft und gesiegt hatte, mußte wohl das Recht haben, sie von diesem zwecklosen Beweinen einer Glückseligkeit, welche ihr nicht zu Theil werden konnte, abzubringen.

Die Zeit rückte vor, während David hierüber nachdachte. Endlich erhob sich Olle, nahm Kappe und Pelz und ging hinaus.

David zog Dagmars Etui hervor und betrachtete das Porträt.

Das Feuer im Kamin warf ein wechselndes Licht darauf. Bald schienen die Wangen zu glühen, und dann nahm das Antlitz einen rein weiblichen Ausdruck an; bald verdunkelten sich die Züge wieder, dann wurden sie männlich und zeigten sich von Leidenschaften verheert, vom Körper- und Seelenleiden verzehrt.

Nach einer langen Pause kehrte Olle zurück.

»Es ist dunkel im Zimmer. Das Fräulein ist also auf der Promenade und ganz sicher auf dem Pfade längs des Flusses, welcher zu der Hütte des alten Mattes zur Seite des Waldwegs führt. Am besten, der Herr Doktor geht allein. Der Mond hat sich eben hinter Wolken verkrochen, so daß er ganz unbemerkt von hier abkommen kann, im Fall das gnädige Fräulein möglicher Weise in dem Gärtchen wäre.«

David wandte sich nach dem bezeichneten Pfade. Er war ganz gut ausgetreten.

Leichte Schneeflocken tanzten von dem umwölkten Himmel nieder.

David wanderte bis nach der Hütte hin, ohne daß er ein Geräusch von Schritten vernahm oder die Spur von einem Menschen gewahr wurde. Bei dem Lichtscheine, welchen von Zeit zu Zeit der hervortretende Mond verbreitete, hatte David indessen Fußspuren in dem frischgefallenen Schnee bemerkt. Es waren deutliche Kennzeichen eines kleinen Frauenfußes.

Bei dem kleinen Gehäge des Köthners angelangt, blieb David stehen und suchte die Richtung ausfindig zu machen, welche sie verfolgten; aber in demselben Augenblick rief eine Frauenstimme von einem Gebüsche aus:

»Wer da?«

David hütete sich, zu antworten. Er drückte die Mütze über die Stirne, zog seinen Rockkragen hinauf und blieb im Schatten der Hütte stehen.

»Bist du es, Mattes?« fragte die Stimme, und eine Frau trat hervor.

Noch immer keine Antwort.

Dagmar warf einen furchtsamen Blick auf die dunkle Gestalt neben der Hüttenthüre und ging ganz nahe an ihr vorüber. Der Mond war in Wolken verborgen, und der unbewegliche David schien keinen sehr angenehmen Eindruck hervorzubringen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie ein Stück Vorsprung hatte, folgte David mit schwerem Schritt, so daß Dagmar wohl hören konnte, es komme Jemand hinter ihr her.

Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick rückwärts und sah sich dann fortwährend verfolgt.

Dagmar ging nicht, sondern sprang. Aber in demselben Maße, als sie ihre Bewegung beschleunigte, förderte auch David seine Schritte.

Dagmar fürchtete sich zum ersten Mal.

Von Kindheit an gewöhnt, in Wald und Feld vom frühen Morgen bis spät am Abend, ja mitten in der Nacht, herumzustreifen, hatte sie niemals unangenehme Folgen davon gehabt oder irgend eine Störung erfahren.

Dagmar war kaum auf halbem Wege nach Hause angelangt, als der Laut von rauhen Männerstimmen ihr Ohr traf. Sie kamen von der Seite her, wo Eriksdal lag.

Vorwärtsgehen wäre so viel gewesen, als sich der Begegnung betrunkener, unordentlicher Bursche auszusetzen; umwenden war ebenso gewagt, da sie dann auf denjenigen stoßen mußte, welcher sie verfolgte.

Erschöpft von schnellem Laufen und von Schrecken murmelte sie:

»Gott helfe mir!«

»Dagmar, es ist nichts zu fürchten,« antwortete ihr Verfolger.

»David!« rief Dagmar. Er stand jetzt an ihrer Seite.

»Warum hast du auf meinen Ruf: Wer da? keine Antwort gegeben?« fragte Dagmar. »Jetzt hast du mich recht ordentlich in Schrecken gejagt.«

»Meine Antwort darauf sollst du erhalten, wenn wir heimkommen. Jetzt nimm meinen Arm.«

 

XXVIII.

Die lauten Stimmen kamen immer näher, und bald gewahrte man einen Haufen von Burschen, welche auf sie zukamen. Sie sangen, schrieen und machten großen Lärm.

Dagmar faßte Davids Arm und flüsterte:

»Es ist am besten, wir ziehen uns hinter das Gebüsch zurück, bis sie vorüber sind.«

»Diese Vorsicht dürfte zu spät kommen. Sie haben uns schon bemerkt. Wir gehen weiter, an meiner Seite hast du nichts zu fürchten.«

Der Mond hatte nun sein Angesicht hinter der Wolkendecke wieder vorgeschoben und beleuchtete jeden Gegenstand. Die Nahenden waren mit Ranzen und Knütteln ausgerüstet, und ihr Aussehen war nichts weniger als einladend.

»Aha, was ist das für eine Dirne, die um diese Zeit noch da draußen ist?« brüllte einer von ihnen. »Und sie hat einen Kerl bei sich. Nun, wir können sie wohl von einander scheiden. Höre, Kamerad, hieher mit dem Mädel; sie paßt besser zu unsers Gleichen. Nun, du verstehst doch schwedisch, oder sollen wir es dich lehren?«

Die Burschen stellten sich Dagmar und David in den Weg.

»Macht Platz, gute Freunde,« sagte David ruhig.

»Gut Freund mit dir, du Tellerlecker; du kannst selbst Platz machen,« schrie einer der Lümmel.

»Laß die Dirne los; sie soll uns begleiten,« rief ein anderer.

»Nun, du Hundsfott, hast du nicht zu gehorchen gelernt?« schrieen die Uebrigen. Einer derselben streckte die Hand aus, um Dagmars Arm zu fassen.

»Nimm dich in Acht,« rief David und gab ihm mit seinem Stock einen Schlag über die Hand.

»Ah so, du willst dich mausig machen; du glaubst mit ehrlichen Arbeitern Streit anfangen zu dürfen; aber dafür sollst du bezahlen. Wir Leute wollen dich Mores lehren, wir.«

Vier Knüttel wurden gegen Davids Kopf erhoben.

Seine Lage war nicht sehr beneidenswerth.

»Hieher, Olle,« rief David und schlug den nächsten Knüttel mit seinem Stocke zurück.

»Du rufst um Hülfe, du Wicht,« brüllte der Betrunkenste von ihnen und ging David auf den Leib, wurde aber von einem der Kameraden zurückgehalten.

»Nicht allzu hitzig, Petterson, da kommt Jemand, und wir könnten mit dem Polizei-Inspektor zu thun bekommen.« Die Knüttel senkten sich, und deren Eigenthümer zogen sich auf die Seite, mit Ausnahme des Mannes, welcher Petterson genannt wurde. Er schien nicht geneigt, den Auftritt zu einem so friedlichen Schluß gelangen zu lassen. Der Friedensvermittler nahm ihn deßhalb unter den Arm, in der Absicht, ihn mit sich fortzuziehen. Aber da sie an Dagmar und David vorbeigingen, paßte Petterson die Gelegenheit ab und versetzte dem jungen Arzt einen mörderischen Streich auf den Kopf, ehe David denselben pariren konnte. David wankte und fiel der Länge nach in den Schnee.

Nun folgte der Frevler seinen Kameraden ohne Widerstand.

Ehe Olle zur Stelle kam, waren die Ruhestörer auf und davon, und Dagmar lag auf den Knieen neben David, um ihn zum Bewußtsein zurückzubringen.

Mit Olle's Hülfe gelang dieß auch, und nach einer Weile vermochte David, auf des alten Gärtners Arm gestützt, heimzuwandern, obwohl dieß mit großer Schwierigkeit geschah. Er hatte sich im Fallen den Fuß verrenkt.

David war noch von dem Schlage auf den Kopf ganz schwindlig, blieb aber doch bei voller Besinnung und wollte nicht, daß Jemand von den Domestiken beigezogen würde, sondern Olle sollte in aller Stille ihn nach seinem Zimmer geleiten.

Dort angekommen, bat er Dagmar, ihn Olle's Pflege zu überlassen. Er selbst verschrieb sich, was er unter den Umständen für nöthig fand.

In der Nacht verlor David wieder das Bewußtsein und konnte somit nicht bemerken, daß es Dagmar war, welche ihm die kalten Umschläge machte. Am Montag Morgen kehrte die Besinnung wieder zurück, und nach Verfluß einiger weitern Tage war er von den Folgen des Schlags wieder vollkommen hergestellt, aber der verrenkte Fuß hielt ihn noch in Eriksdal zurück.

Er mußte sich still halten, und Dagmar leistete ihm Gesellschaft.

Wenn es etwas Behagliches sein konnte, unthätig mit einem unbrauchbaren Fuß auf einem Sopha zu liegen, so mußte es wohl in einem Fall sein, wo man gleich David eine einnehmende Frau neben sich hatte, welche alle ihre Kräfte aufbot, um dem Patienten die einförmige Stille, zu welcher er verurtheilt war, in Vergessenheit zu bringen. Es ist indessen ein Unglück dabei, wenn man eine allzu liebenswürdige Pflegerin hat, und die Worte des Dichters treffen hier zu:

– – bald sind vorbei der Wunde Schmerzen,
Nur eine Narbe bleibt zurück,
Die Brust von außen heilt mit Glück,
Doch ach! wie geht es mit dem armen Herzen!

Zwei Wochen stündlichen Beisammenseins vermögen viel. Man lernt da einander näher kennen, als sonst in einem Jahre, und manche liebenswürdigen Eigenschaften, welche vorher verborgen waren, kommen jetzt an den Tag.

Endlich war Davids Fuß geheilt, und er konnte in die Stadt zurückkehren; aber wie es mit seinem Herzen stand, darüber vermögen wir keine Aufklärung zu geben.

 

XXIX.

Es war am zweiten Sonntag, nachdem David den nachdrücklichen Schlag erhalten hatte. Am Montag sollte er Eriksdal verlassen.

David und Dagmar saßen im Arbeitszimmer. Dagmar hatte so eben davon geredet, wie sehr es sie schmerze, die Ursache von dem Unheil, das ihn betroffen hatte, gewesen zu sein.

Mit kaltem, steifem Ton hatte David sie gebeten, nicht so zu sprechen.

Sowohl die Worte, als der Ton, womit sie geäußert wurden, hatten Dagmar verletzt, und jetzt saßen beide schweigend da.

David war ersichtlich von seinen Gedanken in Anspruch genommen. Er gab nicht darauf Acht, daß Dagmars Antlitz von einer traurigen Stimmung zeugte.

Dagmar stand endlich auf und trat an das Fenster. Die Abenddämmerung begann sich allmälig über der Erde zu lagern.

Frau Thorén war in ihr Zimmer gegangen, um nach dem Mittagsmahl ein Schläfchen zu machen. Alles war ruhig und still.

Dagmar blieb lange stehen und schaute hinaus. David beharrte in seinem Schweigen.

Dagmar konnte sich nicht enthalten, das Stillschweigen zu unterbrechen.

Sie klingelte. »Herr Peter« erhielt den Befehl, Licht anzuzünden. Als er sich wieder entfernt hatte, erwachte David aus seinen Grübeleien, wandte sich zu Dagmar und fragte:

»Warum stehst du am Fenster? Langweilst du dich?«

»Wenn es so wäre, bliebe ich nicht hier,« antwortete sie.

»O ja, es ist so.«

»Wie kannst du das behaupten?«

»Ganz einfach darum, weil ich dich kenne. Du magst dich für verpflichtet erachten, aus Erkenntlichkeit deinen eigenen Wünschen Gewalt anzuthun!«

Es lag etwas Ironisches in dem Tone.

»Aus Erkenntlichkeit bringe ich dir nicht ein so unbedeutendes Opfer.«

»Sondern ein größeres?«

»Nicht einmal das. Man verschwendet seine Gaben nicht an den, welcher sie nicht zu würdigen versteht.«

»Darin thut man Recht. Komm und setze dich her, Dagmar, ich möchte gern mit dir reden.«

»Es geht ebenso gut, wenn ich hier stehen bleibe.«

David stand auf und trat zu ihr.

»Bist du beleidigt, Dagmar?« fragte er.

»Ja.«

»Das freut mich; es ist mir dann gelungen, in Zukunft uns beide von deinen Dankesbezeugungen zu befreien. Ich würde dergleichen gern von der ganzen Welt empfangen, nur nicht von dir.«

»Ich werde dir den Verdruß ersparen, von mir etwas annehmen zu müssen,« fiel Dagmar ein.

»Das wäre schlimm. Ich hätte mir sonst darauf Rechnung gemacht, du würdest mir doch eines und das andere kleinere Opfer bringen, um welches ich dich zu bitten beabsichtigte.«

»Du widersprichst dir selbst. Du hast ja erklärt, du wollest mir nicht das allergeringste zugeben.«

»Verstehe mich recht. Opfer, wie so vieles andere, haben ihren Werth einzig und allein aus dem Gefühl, wovon sie ausgehen. Ist es die Pflicht oder Dankbarkeit, welche sie hervorruft, so erscheinen sie mir ohne allen Werth; aber ist es Zuneigung oder Liebe, so bilden sie Schätze, welche durch nichts aufgewogen werden.«

David schwieg.

Dagmar blickte noch immer durch das Fenster.

Nach einer kurzen Pause nahm David wieder das Wort:

»Jetzt, Dagmar, stehe ich von allem ab, was seinen Ursprung in deiner vermeintlichen Erkenntlichkeit hat, hoffe aber dagegen, du werdest aus Freundschaft die Bitte erfüllen, welche ich an dich richte.«

Auch jetzt schwieg Dagmar.

David setzte mit Innigkeit hinzu:

»Ich rechne also darauf, daß du etwas auf mich hältst.«

Dagmar sah ihn an und lächelte.

»Nun, welche Opfer soll meine Freundschaft dir bringen?« fragte sie.

»Einige von deinen übeln Gewohnheiten.«

»Deine Ansprüche nehmen einen ernstern Charakter an,« rief Dagmar und zog sich von ihm zurück.

David stand auf und folgte ihr nach.

»Ja, es handelt sich auch um völligen Ernst.«

Das junge Mädchen schaute ihn lächelnd an, aber er sah dessen ungeachtet sehr feierlich aus.

»Wie dem nun sei,« bemerkte Dagmar, »hoffe ich, sie werden nicht allzu schwer sein, als daß ich mich ihnen unterwerfen könnte; im entgegengesetzten Fall erhältst du eine abschlägige Antwort. – Also, was willst du, daß ich thun soll?«

David faßte ihre beiden Hände und sagte mit Nachdruck:

»Du mußt von deinen nächtlichen Wanderungen abstehen.«

»Nichts weiter? Die habe ich bereits aufgegeben.«

»Du mußt auch versprechen, nicht bei Nacht dir den Schlaf zu versagen, nicht unaufhörlich über Dingen zu brüten, welche deinen Seelenfrieden stören, nicht an Abenden, wenn du allein bist, vor dem Gemälde träumen.«

Dagmar hatte die Augen gesenkt. Sie schwieg.

»Wie, Dagmar, weigerst du dich, mir dieses Versprechen zu geben?«

Seine Hände umschlossen die ihrigen noch fester.

»Ich weigere mich nicht; aber ich kann nur ein bedingtes Versprechen geben, nämlich so weit es in meinem Vermögen steht, zu thun, was du begehrst. Zur Nachtzeit meine Wohnung nicht zu verlassen, dazu will ich mich verpflichten; aber zu schlafen, wenn der Schlaf mich flieht, nicht zu denken, wenn meine traurigen Gedanken mich überwältigen, das übersteigt die Kraft meines Willens.«

»Das will ich bestreiten,« fiel David ein. »Gib mir nur dein Versprechen, und es wird dir hernach ein Leichtes, dich eines Bruchs von demselben zu enthalten. Ich kenne dich, du wirst deinem Wort nicht untreu werden.«

»Eben darum kann ich es nur in einem Fall geben, der in meinen Kräften steht.«

Dagmar schaute zu ihm empor.

»Deine Kräfte sind groß, wenn du dieselben anwenden willst.«

Frau Thorén trat ein und unterbrach das Gespräch.

David und Dagmar blieben nicht weiter allein, und am folgenden Morgen reiste unser Doktor ab.

 

XXX.

Olle rapportirte von Zeit zu Zeit über bedeutende Besserung. Das Licht brannte nicht mehr ganze Nächte in des Fräuleins Zimmer u. a. m.

Auch Frau Thorén, welche in einem Gespräch unter vier Augen David ihre Unruhe über Dagmars Vorliebe zu dem abscheulichen Gemälde anvertraut hatte, erzählte, sie treffe Dagmar nicht mehr träumend vor demselben. Die junge Dame war überhaupt ruhiger und gleichmäßiger in ihrer Gemüthsstimmung. Sie las, schrieb, musicirte und arbeitete, wenn sie allein war. Dagmar besuchte die Nachbarn, empfing Gäste und war froh und munter. Allerdings konnte sie manchmal ein trauriges Aussehen haben; aber dieß kam selten vor und glich einer vorübergehenden Wolke, welche mit der Geistesabwesenheit, die früher so gewöhnlich war, nichts gemein hatte.

David war zufrieden und vergnügt. Je öfter er wiederkehrte, desto inniger wurde seine Anhänglichkeit an Dagmar.

Sie war ihm lieb wie die Freude nach dem Leid, wie der Friede nach dem Streit. Er hing an ihr, nicht mit der Abgötterei, welche er Majken gewidmet hatte, sondern mit der Freundschaft des Mannes für die Frau, deren Schutz und Stütze zu sein er sich bewußt ist. Sie war nicht wie Majken das Ideal, zu welchem er mit schwärmerischer Verehrung aufschaute, sondern ein Abbild all des Guten und Edeln, was sich in ihm selbst fand.

Mit jedem Tag nahm Davids Freundschaft einen wärmeren Charakter an. Sie wurde ihm etwas mehr als was sie gewesen, und er fühlte sich nicht immer so zufrieden mit seiner Freundesrolle, welche er sich auflegen zu müssen glaubte.

Es war jetzt nicht wie damals, da er als Jüngling für Majken schwärmte, daß er zufrieden war, nur in ihrer Nähe leben, sie sehen und mit ihr sprechen zu dürfen. Nein, David fühlte gewissermaßen ein unwiderstehliches Bedürfniß, Alles für Dagmar zu sein und in ihr alle seine Freude zu finden. Er hatte keine Ruhe, wenn er von ihr getrennt war; aber er empfand sie ebenso wenig an ihrer Seite. Ein dunkles Gefühl der Unzufriedenheit mit deren gegenwärtiger Stellung schlich sich dann in seine Seele ein.

War er in **köping, so sehnte er sich nach Eriksdal; dort angekommen, wollte er oft sich wieder von da entfernen. Trat er in Dagmars Zimmer und seine Augen fielen auf das Gemälde, so war auf einmal seine gute Laune dahin und eine peinliche Reizbarkeit überfiel ihn; und dieß zuweilen bis zu dem Grad, daß er nicht, wie er wünschte, dieselbe beherrschen konnte.

Und gleichwohl hatte David eine sehr große Gewalt über seine Empfindungen und wurde von den meisten Leuten für ruhig gehalten. Er war es auch im Allgemeinen, nur nicht gegen Dagmar. Sie wurde zuweilen ein Gegenstand für die Aeußerung seiner Ungeduld und dieß, obwohl er getreulich im Gedächtniß zu halten suchte, daß er Arzt war. Er besaß großen Einfluß auf Dagmar. Sie richtete sich in allem nach ihm. Auch dieß erweckte mitunter seinen Verdruß.

Diese Nachgiebigkeit war ja eine Folge davon, daß sie in einer Verpflichtung bei ihm zu stehen glaubte. Sie wollte auf diese Weise ihre Dankbarkeit an den Tag legen. Das war es, was David kränkte.

Durch solche Voraussetzungen unterhielt er in seinem Innern ein beständiges Mißvergnügen, und sein Benehmen bekam etwas Kaltes, gerade während seine Anhänglichkeit an Dagmar sich mehr und mehr entwickelte.

 

XXXI.

Der Mai war mit Wärme und einer lächelnden Sonne gekommen, welche Leben und Wachsthum hervorlockte. Die Kronen der Bäume standen nicht länger kahl, und die Anemonen waren aus ihrem Winterschlaf erwacht. Tausend geflügelte Sänger jubelten dem Frühling im Norden entgegen.

Es war ein Samstag Abend. Die Kirchenglocken verkündeten aus der Ferne, daß ein Festtag bevorstand.

Auf der Veranda stand Dagmar und ruhte mit der einen Hand auf dem Geländer; die andere hielt einen erbrochenen Brief, welchen sie so eben zu Ende gelesen hatte.

Der Friede des Abends war für sie vergessen. Sie stand in Gedanken versunken.

Die Töne der Kirchenglocken verhallten in der Luft, nur das Gezwitscher der Vögel unterbrach noch die Stille der Gegend.

Plötzlich fuhr sie zurück und schaute zur Seite.

Auf der Schwelle, welche den Saal und die Veranda trennte, stand David.

Ein einziger Blick genügte, um zu bemerken, daß Dagmars Gedanken nicht heiterer Art waren.

»Guten Abend, Dagmar,« sagte er. »Ein herrlicher Abend! Hast du nicht Lust, einen Spaziergang zu machen?«

»Nein, du magst nach der Fahrt hieher der Ruhe bedürfen, und ich habe dir eines und das andere mitzutheilen.«

»Du hast Nachrichten von dem Oheim?«

David deutete auf den Brief, welchen sie in der Hand hatte.

»Ja, ich habe einen Brief sowohl von Papa als von Majken.«

»Was schreiben sie; wann kommen sie heim?«

»Erst am Schluß des Sommers,« erwiderte Dagmar bitter lächelnd. »Sie haben keine Eile, ihre Tochter wiederzusehen.«

»In ihren frühern Briefen hieß es ja, sie werden unverzüglich zurückkehren.«

»Ja, aber nun finden sie es angenehmer, eine Tour nach Italien zu machen. – Lies selbst!«

Dagmar reichte David die Briefe, stieg dann die Treppe hinab und ging in den Garten.

David sah ihr nach.

Es lag viel in dem Blick; aber wir wollen nicht versuchen ihn zu verdolmetschen.

Als Dagmar unter den Bäumen verschwunden war, las David die Briefe von Majken und vom Oberst. Er las sie mit Aufmerksamkeit, nicht so wie Dagmar gethan hatte. Dann würde er wie sie über den scheinbar gleichgültigen Ton in dem Briefe des Oberst und die beinahe scherzhafte Stimmung in Majkens Schreiben sich verwundert haben. David las nicht bloß, was in Worten gekleidet dastand, zwischen den Zeilen fand er manchen Gedanken, welchen Dagmar übersehen hatte.

Der junge Arzt kannte den Oberst und Majken allzu wohl, als daß er sich durch den Ton in deren Briefen irre leiten ließ. Er sah sogleich, daß es eine andere Ursache zu deren verlängertem Aufenthalt im Auslande gab, als den, welchen sie selbst vorschützten.

Des Obersts Brief war kurz. David kam es vor, als er ihn zum zweiten Mal durchlief, als ob eine gewisse Eilfertigkeit darin herrschte. Er erinnerte sich nun, daß der Oberst in keinem seiner Briefe des Erbes von dem Marquis d'Aveyron erwähnt, sondern im Vorbeigehen gesagt hatte, er würde darüber Rechenschaft geben, wenn er nach Hause käme. Mochte David nicht das Rechte treffen, wenn er annahm, der Aufschub seiner Heimkehr stehe hiemit in einigem Zusammenhang? In dieser Annahme wurde er um so mehr bestärkt, als sich in Majkens Brief ein eifriges Bestreben zu scherzen kund gab, als ob sie dadurch der Möglichkeit vorbeugen wollte, daß Dagmar die wahre Ursache für deren verlängerte Reise herausfände. Es war ohne Zweifel etwas, das sie beunruhigen konnte, und das wollten sie verhindern. David erkannte hierin wieder beide.

Er legte die Briefe zusammen und ging Dagmar aufzusuchen.

Sie saß auf einer Moosbank unten am Strand. Das Antlitz trug Spuren von Thränen.

»Wie, Dagmar, ich glaube, du weinst?« rief David.

»Ja, es thut mir wehe, daß Papa und Majken ihren Aufenthalt im Auslande verlängern. Es sind schon sieben Monate, daß sie abgingen, und dazu jetzt noch weitere drei. Ich hatte mich so innig gefreut, sie heim zu bekommen.«

»Aber es kann ja irgend einen gültigen Grund geben, welchen sie nicht aussprechen wollen. Uebrigens kennst du deines Vaters Vorliebe für Reisen. Er ist allzu viele Jahre daheim geblieben, als daß er nach seinem langen Aufenthalt in Frankreich von einem Ausflug nach Italien abstehen könnte.«

Dagmars Stirne erheiterte sich.

»Weißt du, David, du hast große Aehnlichkeit mit einem Engel des Trostes; du findest allzeit irgend ein Mittel, wodurch du Mißtrauen und Zweifel verjagst. Du bist allzu gut.«

Davids Herz hatte bei Dagmars erstem Satze schneller geschlagen; aber stand beinahe still bei dem letzten.

»Beste Dagmar, die Vergleichung mit einem Engel des Trostes ist nicht sehr schmeichelhaft für einen Mann; und was die Güte betrifft, so thust du am besten, nicht viel Worte davon zu machen.«

»Nun, für heute will ich davon abstehen,« rief Dagmar. »Statt dessen will ich dir anvertrauen, daß ich nach Durchlesung der Briefe ganz betrübt war. Ich fühlte mich eifersüchtig und dachte: sie sind einander genug, ich bin für sie – nichts.«

»In diesem Fall wären sie ja vollkommen glücklich.«

»Aber glücklich ohne mich!«

Die Thränen standen ihr in den Augen.

»Und das sollte dich betrüben?«

»Ich liebe sie allzu innig, als daß ich nicht wünschen sollte, für sie etwas zu sein. Ich bin ja trotz aller zeitlicher Vortheile doch recht arm, wenn es sich um Zuneigung handelt. Ich habe nur Papa und Majken zu lieben, für sie zu leben und mich aufzuopfern; wenn sie meiner nicht bedürfen, was wäre dann mein Beruf auf Eden?«

»Du hast es selbst so haben gewollt,« fiel David kalt ein.

»Ich?!« rief Dagmar. »O, du kurzsichtiger David, der du nicht verstehst, daß ich mehr als Jemand anders es bedarf, geliebt zu werden, zu lieben; aber es fiel mir nicht zum Loose und darum … reden wir nicht mehr davon. Deine Worte erinnerten mich, wie unrecht es war, meinen Vater eines Mangels an Liebe anzuklagen. Er, welcher so viel für mich aufgeopfert hat, muß wohl das Recht haben, einmal ein wenig von des Lebens Freude für sein eigen Theil zu genießen. – Willst du, so machen wir jetzt eine Promenade.«

»Ich habe die Lust dazu verloren; aber wenn du es wünschest, so bin ich bereit, dich zu begleiten.«

»Ist nicht nöthig; ich bleibe ebenso gern, wo wir jetzt sind.«

»Ich beabsichtigte dir vorzuschlagen, in dein Zimmer hinaufzugehen.«

David zeichnete mit dem Stock in den Sand.

»Auch darauf gehe ich ein, obwohl ich nicht einsehe, was wir an diesem entzückenden Abend innerhalb der vier Wände thun sollen.«

»Lesen oder Musik machen.«

»Nun wohl, ich stimme für das letztere. – Komm!«

»Einen Augenblick,« bat David. »Du ziehst es bestimmt vor, unter freiem Himmel zu bleiben. Du hast ja keine Freude daran, drinnen zu sitzen.«

»Ich liebe vor Allem das hohe Himmelsgewölbe, der Wälder Rauschen und der Blumen Duft; aber es macht mir ein Vergnügen, einen Wunsch von dir zu erfüllen, auch wenn ich dadurch genöthigt würde, innerhalb der vier Wände zu weilen.«

»Und warum macht es dir ein Vergnügen?«

Dagmar gab keine Antwort.

David wandte sich mit unzufriedener Miene ab.

»Soll ich dir es sagen?« fragte er.

»O ja, laß hören.«

»Seitdem der betrunkene Kerl mir einen Schlag gegeben, siehst du es für eine Pflicht an, mir die größte Artigkeit zu erweisen, theils dadurch, daß du mir zu verschaffen suchst, was ich gerne haben möchte, wenn ich hieher komme, theils dadurch, daß du allen meinen Einfällen dich fügst. Dieß quält mich. Ich sähe es dann lieber, wenn du auf keinen einzigen meiner Wünsche Rücksicht nähmest, sondern sie mit Gleichgültigkeit behandeltest.«

David sprach mit abgewandtem Angesicht. Als er schwieg, war Dagmar ganz bleich geworden. Sie erhob sich, um zu gehen; aber diese Bewegung veranlaßte David, sie anzublicken.

»Wohin, Dagmar?« rief er und hielt sie zurück.

Keine Antwort.

David beugte sich vor, um ihr ins Antlitz zu sehen. Dagmar verbarg es in den Händen.

»Du weinst; was ist es, das diese Thränen hervorruft?«

»Deine Worte.«

Sie versuchte sich von ihm loszureißen.

»Haben sie dich verletzt? Wenn dem so ist, so vergib sie mir!«

Dagmar setzte sich, ohne zu antworten.

»Dagmar,« bat David, »wirf mir vor, ich sei ein ungeschickter Arzt, ein schlechter Freund, ein schwacher Charakter, aber weine nicht. Deine Thränen brennen mir auf dem Herzen. Ich verstehe nicht, was dich schmerzen konnte.«

»Verstehst du es wirklich nicht?« entgegnete Dagmar, ihre Thränen trocknend; »dann will ich es dir sagen, dein Mangel an Zartgefühl. Hätte meine Freundschaft einigen Werth für dich, würdest du mich nicht um Gleichgültigkeit gebeten, es würde dich nicht gequält haben, wenn ich dir deinen Aufenthalt hier angenehm machen wollte; du würdest nicht dadurch beschwert, daß ich auf deine Einfälle einzugehen suchte, würdest dich nicht darüber ärgern, daß ich mich nach deinem Urtheil richtete. Du hättest dann auf diese kleinen Beweise von Anhänglichkeit einigen Werth gelegt und ich hätte fortwährend die Freude gehabt, sie dir zu widmen. Nun hast du mir zu verstehen gegeben, daß ich nichts für dich bin, daß jeder Schein davon, als wärest du etwas für mich, dir eine Plage ist. Das, David, schmerzt mich. Ich war so froh, in dir einen guten und treuen Freund zu sehen, und nun … nun weiß ich ja, daß du es am liebsten siehst, wenn ich dich nicht so betrachte.«

»Du weißt es?« fragte David ruhig und sah ihr in die Augen.

»David,« stammelte Dagmar und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

Jetzt war David völlig Herr über seine Gemüthsstimmung. Er mißbilligte die Worte, welche er sich hatte entfallen lassen.

Wir unseres Theils nehmen inzwischen an, daß er sie nicht zurückzunehmen gewollt hätte, wenn es auch in seinem Vermögen gestanden wäre, weil sie ihm die Gewißheit verschafften, daß es Freundschaft und nicht Erkenntlichkeit war, was Dagmars Handlungen zu Grunde lag. In demselben Augenblick, da David einsah, daß er einen Mißgriff begangen hatte, stand deutlich und bestimmt vor seinen Augen, daß er nicht weiter seine Gefühle über die Vernunft herrschen lassen dürfte, und er gewann auch wieder eine gewisse äußere Ruhe.

»Ich brauche mich nicht zu erklären,« sagte er; »du hast bereits eingesehen, wie sehr, was auch meine Lippen aussprechen, dennoch eins gewiß ist: daß ich dein Freund bin; aber gerade darum will ich nicht, daß du aus andern Beweggründen als aus Freundschaft auf mein Urtheil Rücksicht nimmst. Ich fürchtete, du wolltest auf diese Weise die kleinen Dienste bezahlen, welche ich, wie du glaubst, dir geleistet habe.«

»Dir bezahlen dadurch, daß ich mich selbst bessere und meinem Streben etwas besseres als eine blinde Nachgiebigkeit gegen meine eigenen Einfälle zum Ziele setze. Nein, David, das läßt sich nicht wohl denken.«

»Ich werde nicht sobald diese Stunde und diese deine Worte vergessen.«

David war es ganz warm ums Herz geworden.

 

XXXII.

Als die Abendluft kühl zu werden anfing, gingen Dagmar und David ins Haus.

Sie sahen froh und munter aus, als der alte Olle ihnen begegnete. Er blieb stehen und murmelte für sich:

»Es sieht aus, als ob es Ernst damit werden könnte.«

Der Alte lächelte und setzte hinzu: »Nun, dann wäre es eine rechte Freude, daß ich meine Hand dabei im Spiel gehabt habe.«

Dagmar und David traten in das Arbeitszimmer. Die untergehende Sonne warf durch das Fenster ihre letzten Strahlen auf das Gemälde über dem Piano. Der Farbenton desselben bekam dadurch ein so belebtes Aussehen, daß man zu sehen glaubte, wie des Blutes warme Wellen durch die Adern des Knaben sich ergossen. Nie hatte derselbe schöner als in dieser Beleuchtung sich gezeigt.

Dagmar trat zuerst ein. Die Schönheit des Gemäldes hemmte auf einen Augenblick ihre Schritte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, wandte sich von dem Gemälde ab und sagte zu David:

»Gib mir Papa's Brief; jetzt glaube ich die Veranlassung zu seiner Reise nach Italien zu errathen. Daß es nicht sogleich geschah! Wie war es möglich, das zu vergessen …?«

Dagmar durchlief den Brief. Sie seufzte hernach und sagte mit einem wehmüthigen Lächeln:

»Du bist daran schuld, David, daß mir nicht einfiel, warum er sich dorthin begibt; du hast mich meiner Freunde vergessen gemacht.«

»Wenn ich es wirklich vermöchte, da …«

Hier wurde David von Frau Thorén unterbrochen, welche zur Thüre hereinschaute, um Dagmar davon zu unterrichten, daß die Fräulein Kroner zu Eriksdal angelangt wären.

Der Doktor und Dagmar bekamen nun etwas anderes zu denken.

David war allzu artig, als daß er nicht bei Ankunft derselben in die Rolle des Weltmanns sich schickte und den jungen Damen alle die Aufmerksamkeit erwies, welche sie von ihm fordern konnten.

Es waren heitere, schöne und lebhafte Mädchen. Von den jungen Männern verzogen, machten sie auch nicht geringe Ansprüche auf deren Artigkeit und erkannten es als eine unabweisliche Pflicht der Herren, in erster Linie sich mit ihnen zu beschäftigen. Alle drei hatten einen guten Kopf und gute Manieren und waren eine angemessene Gesellschaft für Dagmar. Ohne Zweifel auf Grund davon gab David auch Dagmar den Rath, dieselben einzuladen, über den Sommer in Eriksdal zu bleiben.

Es wurde auch ganz lebhaft nach ihrer Ankunft. Ihr Bruder, der Inspektor auf Eriksdal, brachte jeden Abend mit den Uebrigen unter Geplauder und Scherz zu. Man trennte sich spät, und wenn die Damen auf ihre Zimmer sich verfügt hatten, machten David und der junge Kroner noch einen kurzen Spaziergang im Garten, um zu rauchen.

Als David sich auf sein Zimmer begab, warf er einen Blick nach Dagmars Fenster hinauf.

Es brannte dort Licht.

Sie wachte somit.

Er zündete eine frische Cigarre an und blieb auf der Veranda, um wo möglich zu warten, bis das Licht erlöschen würde; aber dieses Warten dauerte für ihn allzu lang und er mußte sich zur Ruhe begeben.

Hätte David an demselben Abend sich herbeigelassen, seine Freundschaft für Dagmar näher zu untersuchen, so fürchten wir, er wäre zu einem Schlußsatz gelangt, der ihn selbst überrascht hätte. Er enthielt sich auch weislich aller Selbstprüfung. David fand es mehr nach seinem Geschmack, sich mit Dagmar selbst zu beschäftigen und im Gedächtniß zu durchgehen, was sie im Laufe ihrer Unterredung gegen ihn geäußert hatte.

Obwohl David spät zur Ruhe ging, war er doch bei Zeiten auf.

Das Erste, was ihm unter die Augen kam, waren Briefe, die der Bote aus der Stadt mitgebracht hatte.

David ließ sich auf der Veranda nieder, um sie zu lesen, überzeugt, daß die andern alle noch schliefen.

Das eine Schreiben kam von Georg, und dadurch wurde David unterrichtet, daß der Bruder eine Reise nach England zu unternehmen gedachte und dort längere Zeit zu verweilen beabsichtigte.

Georg reiste direkt von Haraldshof ab, ohne **köping zu besuchen, und bat David, einen herzlichen Gruß an Dagmar auszurichten.

Das andere Schreiben kam von Majken. Sie bat David Alles zu thun, um Dagmar mit ihrem verlängerten Aufenthalt im Ausland zu versöhnen.

Majken war unruhig über die Stieftochter und beschwor David, sie mit einigen Zeilen von Dagmars gegenwärtiger Gemüthsstimmung in Kenntniß zu setzen.

In einem Postscript vom Oberst sprach sich dieselbe Unruhe aus; auch er wünschte zu erfahren, wie es Dagmar zu Muth wäre.

David war eben mit dem Lesen der Briefe fertig geworden, als er eine Stimme vom Garten aus singen hörte:

»Ein kleiner Zank zuweilen u. s. w.«

»Dagmar bereits auf!« rief David, steckte die Briefe in die Tasche und eilte sie aufzusuchen.

Sie war damit beschäftigt, einen großen Kranz von Wiesenblumen zu winden.

»Was, du bist schon wach?« begann David.

»Wie du siehst; aber daß du es bist, wundert mich sehr.«

»Ich pflege im Allgemeinen nicht zu verschlafen,« erklärte David. »Aber du solltest wirklich es zuweilen thun, besonders da du Nachts wachst,« setzte er hinzu.

Dagmar machte eine verneinende Bewegung mit dem Kopfe, und David nahm wieder das Wort:

»Ich habe gerechten Grund, dir zu zürnen.«

»Hast du Grund dazu,« fiel Dagmar ein; »nun so erkläre mir die Veranlassung.«

»Du hast dein Versprechen nicht gehalten. Deine Freundschaft ist doch, streng genommen, nicht so groß, daß sie dich bestimmen kann, eine deiner Gewohnheiten aufzuopfern.«

»David!« – Dagmar erhob drohend den Finger; – »du bist der launenhafteste Mensch, den ich kenne; es ist ungemein schwer dir es zu Dank zu machen. Gestern verbatest du dir meine Aufopferung; heute findest du sie zu klein.«

»Gestern war es mir nicht so gewiß, daß du etwas auf mich hieltest; heute weiß ich es, und meine Ansprüche haben nun dieselben Dimensionen angenommen, wie meine Anhänglichkeit.«

»Da werden sie nicht so groß sein.«

»Nicht?«

David bückte sich, um einige Blumen aufzuheben, welche Dagmar verloren hatte. Er reichte ihr dieselben. Ihre Augen begegneten sich und sie lächelten bei diesem »nicht«, was vielleicht am richtigsten mit »viel« übersetzt werden sollte.

»Nun, darf ich nicht erfahren, worin mein Verbrechen besteht?« nahm Dagmar wiederum das Wort.

»Du hast versprochen, Nachts nicht zu wachen. Heute Nacht brannte jedoch Licht in deinem Arbeitszimmer. Was thatest du? Du vergaßest dein Versprechen und den Befehl des Arztes, daß du schlafen solltest.«

»Du fragst, was ich gethan habe. Laß sehen, ob du es errathen kannst.«

Dagmar maß, ob der Kranz rings um den Tisch reiche, an welchem sie saß.

»Willst du, daß ich es thun soll?«

»Ich bitte darum.«

»Du betrachtetest das Gemälde und träumtest von dem Fischerknaben. Du weintest und quältest dich damit, daß du deine Phantasie aufregtest.«

Dagmars Angesicht wurde von einer leichten Wolke beschattet.

»Dießmal begegnete dem Herrn Doktor ein kleiner Irrthum. Ich schrieb.«

»War dieß so nothwendig, daß es bei Nacht geschehen mußte?«

»Nein, wenn du meinst, daß es dringend war; wohl aber wenn du mich kennst und weißt, daß ich mir nicht zu schlafen befehlen kann, wenn der Schlaf mich fliehen will. Um mich aller düstern Gedanken zu entschlagen und mein dir gegebenes Versprechen zu halten, schrieb ich an Majken und Papa.«

»Warum schläfst du denn nicht?«

»Frage die Anemone hier, warum sie nicht ein Veilchen ist. Die Antwort wird ihr ebenso unmöglich werden, als mir.«

»Nicht so ganz. Die Anemone ist zu dem geboren, was sie ist, aber du bist nicht geboren zum Wachen. Schlaflosigkeit ist ein Uebel, welches du dir selbst geschaffen hast.«

»Das bezweifle ich.«

Dagmar legte den Kranz von sich, stützte die Wange auf die Hand, und setzte nach einer kurzen Pause hinzu:

»Glaube mir, ich habe viel gegen dieses Uebel gearbeitet.«

»Auf dieselbe Weise wie ein Ertrinkender, wenn er, da man ihm ein Brett zuwarf, seine ganze Rettung in dieser elenden Planke suchte und nicht verstand, daß sie nur ein Mittel zu der Rettung wäre. Die Folge war natürlich, daß er umkam.«

»Das Gleichniß paßt nicht auf mich.«

»So will ich deutlicher reden. Nun du seit einigen Jahren von Schlaflosigkeit geplagt bist, glaubst du, dieselbe gehöre zu deiner Natur. Hättest du der Ursache selbst nachzuforschen gesucht, so würdest du zu einem andern Schlußsatz gelangt sein.«

»Woher weißt du das Alles?«

»Ich bin Arzt, und ein Arzt weiß Vieles. Gestatte darum, daß ich fortfahre. Deine Schlaflosigkeit ist nicht ein Uebel, welches von sich selbst gekommen, sondern ganz und gar durch deine Einbildungskraft hervorgerufen. Du hast etwas, worüber du nachgrübelst. Dieses steht wieder im Zusammenhang mit dem Gemälde. Anstatt nun Alles, was dein Grübeln erregen kann, zu entfernen, und deinen Geist an andere Gegenstände zu fesseln, gibst du dich allem hin, was demselben Nahrung verschafft. Du schwelgst in deinem eigenen Schmerz. Du hast dich eine Zeit lang enthalten, gleich einem ruhelosen Irrsinnigen ganze Nächte herumzuschweifen; du hast auch auf diese Art deinem selbstgeschaffenen Kummer entgegengearbeitet; aber du hast gleichwohl alles beibehalten, was dich daran erinnert. Hättest du im Ernst dich davon zu befreien gesucht, so würdest du auch jeden Gegenstand entfernt haben, welcher dich daran erinnerte, und dann wäre es nicht nöthig gewesen, das Schreiben Nachts anzuwenden, um den traurigen Phantasiegebilden zu entfliehen.«

David schwieg.

Dagmar blieb einige Minuten still sitzen, erhob aber darauf den Kopf und sagte ganz munter:

»Nein, jetzt ist Zeit, den Kaffeetisch zu bestellen. Ich habe den Kranz hier gewunden, um ihn damit zu schmücken. Weißt du, was heute für ein Tag ist?«

»Es ist der zwanzigste Mai.«

»Und der Tag trägt den Namen Carolina, und so heißt Majken. Demnach muß Alles zur Feier ihres Namenstages recht festlich gerichtet sein. Daß du das vergessen konntest! Was beweist das? Nun ja, daß du ein ungetreuer Ritter gegen Majken geworden bist.«

Dagmar nahm den Kranz, legte ihn um den Arm, nickte ihm zu, und begab sich nach der Veranda hinauf.

»Du bist ein ungetreuer Ritter gegen Majken geworden,« wiederholte David, und ihm fiel dabei die Ruhe ein, womit er Majkens Brief gelesen; diesen Brief, welcher in seiner Brusttasche ruhte, und woran er nicht ein einziges Mal gedacht hatte, seitdem er mit Dagmar zusammengetroffen war.

Im Laufe der nun vergangenen Monate hatte David beinahe gänzlich Majken vergessen. Lag somit eine Wahrheit in Dagmars Worten, daß er seiner vieljährigen Liebe ungetreu geworden?

Vor einem Jahre hatte er Majken nach vieljähriger Trennung wieder gesehen. Damals liebte er sie eben so warm, wie zu der Zeit, da er mit ihr das Geständniß ihrer gegenseitigen Gefühle ausgetauscht hatte, und jetzt, nach kaum zwölf Monaten war diese Liebe erkaltet.

Es war eine Wahrheit, welche David nicht länger ableugnen konnte. Er war zugleich sich dessen vollkommen bewußt, etwas das er bisher zu werden gefürchtet hatte.

Unser Doktor entging jedoch der Nothwendigkeit, vor sich selbst die Veränderung in seinem Innern entschuldigen oder rechtfertigen zu müssen, denn ein Bote erschien mit der Aufforderung, sich am Kaffeetische einzufinden.

Die Veranda war durch Fürsorge von Olle und den Gartenknechten mit hohen Schlinggewächsen aus der Orangerie geschmückt worden.

Dagmar hatte den Kaffeetisch mit Wiesenblumen besetzt, und rings um eine Paradetasse für die abwesende »Caroline« lag ein ausgezeichnet schöner Kranz von Myrten, Immortellen und Orangeblüthen.

Zum Mittagsmahl kamen Gäste, und Major Kroner brachte einen Toast für Diejenige aus, deren Namenstag man zu feiern gekommen war.

Nach dem Essen zerstreuten sich die Gäste. Ein Theil streifte im Garten umher; ein anderer blieb oben im Zimmer oder auf der Veranda.

Frau Thorén und Dagmar hatten indessen noch von etwas Anderem zu reden, und hielten sich in Folge davon noch ein wenig im Saale auf.

David saß auf der Veranda, rauchte und grübelte über das Gemälde nach, welches gleich einem dunkeln Geheimniß sich unaufhörlich einstellte und alle Ruhe aus seiner Brust verjagte.

»So lang das Original zu dem Fischerknaben für Dagmar Alles ist, wird auch das Gemälde seinen Platz behalten,« dachte er und fühlte dabei eine lebhafte Erbitterung sowohl gegen das erstere als gegen das letztere.

»Gute Nacht, David!« ertönte es von der Saalthüre. Dagmar stand auf der Schwelle.

David warf seine Cigarre von sich und trat ihr näher.

»Während des Geräusches vom Tage habe ich dir mitzutheilen vergessen, daß Georg nach England reist. Er kommt vor der Abreise nicht mehr in die Gegend, sondern trägt mir einen herzlichen Gruß an dich auf.«

»Georg verreist, ohne mir Lebewohl zu sagen?« rief Dagmar.

»Kann dich das wundern?«

»Ich leugne nicht, daß es mich mit Erstaunen erfüllt; aber ich habe wohl Unrecht. Wenn du schreibst, so sage ihm, daß es mich sehr gefreut haben würde, wenn ich ihn noch hätte sehen können.«

»Das werde ich nicht versäumen. – Nun, Dagmar, wie gefällt dir Alfred H–g?«

»So, so.«

»Warum durfte er nicht den Neapolitaner kopiren? Deine Weigerung gab Anna viel zu denken. Ich fürchte, du hast damit Anlaß zu manchen Vermuthungen gegeben.«

»Möglich, aber das kann ich nicht verhindern. Derjenige, welchem ich eine solche Erlaubniß gäbe, müßte sehr hoch in meiner Achtung oder Freundschaft stehen. Herr Alfred H–g ist mir ein Fremdling. Um seines Vergnügens willen kann ich einen Gegenstand, welchen ich lieb habe, nicht profaniren.«

»Angenehme Nacht, Dagmar,« antwortete David. Er wollte gehen.

»Wir sehen uns doch noch, ehe du morgen abreisest?« sagte Dagmar und ließ ihn gehen.

Er hielt indessen seine Schritte an und fragte:

»Gedenkst du heute Nacht zu schreiben, Dagmar?«

»Nein.«

»Vielleicht zu wachen und zu träumen?«

»Ich werde versuchen zu schlafen und zu vergessen,« versetzte Dagmar ihm die Hand reichend, und fügte hinzu: »Geh' nicht mißvergnügt von mir. Es quält mich im Herzen, wenn du unfreundlich an mich denken solltest. Ich möchte so gerne dir zu Willen sein.«

»Dagmar!«

David ergriff die dargebotene Hand.

»Ein einziges Opfer, und …«

»Begehre nicht, daß ich etwas thun soll, das mir unmöglich ist.«

David ließ ihre Hand los.

»Verzeihe; ich hätte einsehen sollen, daß die gemalte Leinwand dir mehr als alles Andere ist.«

Der Ton war kalt und er entfernte sich hastig.

»Undankbarer,« murmelte Dagmar und begab sich auf ihr Zimmer.

David reiste am folgenden Morgen so frühe ab, daß er und Dagmar einander nicht mehr sahen.

Bis hier fehlerhafte Kapitelnumerierung, korrigiert. Re

 

XXXIII.

Der Monat Mai ging zu Ende, ohne daß David wieder in Eriksdal, außer zu einem kurzen Besuch sich einstellte, und dann blieb er kaum eine halbe Stunde. Er wollte sich nur unterrichten, wie Dagmar sich befand, und da er sie bei guter Gesundheit traf, entfernte er sich sogleich. Sein Benehmen war artig, aber kalt.

Zu Anfang Junis machte Dagmar mit den Fräulein Kroner einen Ausflug nach Haraldshof. Sie verweilten dort ein paar Wochen, und kehrten erst einige Tage vor Mittsommer zurück.

Ein Brief, welcher gleichzeitig von David anlangte, unterrichtete Dagmar, daß er sich eine Woche frei gemacht hätte und die Feiertage bei seiner Mutter zubringen wollte. Sie würde sonst nach Georgs Abreise ihre beiden Söhne entbehren müssen.

Der Eindruck des Briefs war nichts weniger als angenehm. Den ganzen Tag war sie schweigsam und nachdenklich.

Die Fräulein Kroner sollten über den Sommer zu Eriksdal bleiben. Sie befanden sich dort so »göttlich wohl«, und Dagmar hatte an ihnen eine angenehme Gesellschaft.

Mittsommer war vorüber, und damit auch Davids Aufenthalt zu Aengsberga.

Er kehrte nach **köping zurück.

Er war an Eriksdal vorübergefahren, ohne dort auf einen Augenblick vorzusprechen.

Es war am Abend gewesen, und er wollte um diese Zeit nicht mehr beschwerlich fallen, hatte er sich selbst gesagt; aber wir fürchten, daß er dießmal sich etwas weiß machte.

Als er in seine Wohnung trat, empfing er einen Brief, welcher vor Kurzem angelangt war.

Er kam von Dagmar.

David betrachtete das Billet, wie zweifelhaft, ob er das Siegel erbrechen sollte. Er legte es endlich bei Seite, machte einige Schritte durch das Zimmer, stellte verschiedene Fragen an den Diener, und erst, nachdem derselbe Rechenschaft abgelegt hatte und verabschiedet worden war, nahm er Dagmars Billet wieder auf, öffnete es und las:

 

»Bester David!

»Deine Unzufriedenheit mit mir muß nun fort sein. Ich nehme dieß für ausgemacht an; es kann nicht anders sein. Würdest du Dagmar kennen und sie recht verstehen, wärest du niemals in Zorn gerathen, sondern nachsichtig gegen sie gewesen. Nun hast du Unrecht gethan, eine Gleichgültigkeit blicken zu lassen, welche nicht natürlich sein kann. Man hat mir gesagt, daß du am Samstage, d. h. heute, nach **köping heimzukehren gedenkest. Am Sonntage reisest du von der Stadt ab und trinkst deinen Morgenkaffee mit

Dagmar

 

»Seltsames Mädchen!« murmelte David, »man könnte doch recht viel Ergebenheit an sie verschwenden.«

 

XXXIV.

Frühe am Sonntagmorgen waren die Fräulein Kroner und Frau Thorén in die Kirche einer benachbarten Gemeinde gefahren, um einen vielgepriesenen Prediger von Stockholm zu hören. Dagmar hatte ganz ehrlich erklärt, sie würde nicht von der Gesellschaft sein, da sie David erwartete.

Auf der Veranda stand der Kaffeetisch.

Dagmar befand sich in ihrem Arbeitszimmer und hatte »Herrn Peter« befohlen, den Herrn Doktor, wenn er ankäme, hieher zu weisen.

Sie setzte sich an das Piano.

Es war etwa halb neun Uhr, als Davids Wagen im Hofe vorfuhr.

Er trat mit hastigen Schritten in Dagmars Zimmer, blieb aber plötzlich stehen, während sie in demselben Augenblick sich vom Instrument erhob.

Aber es war nicht diese Bewegung Dagmars, welche seine Schritte hemmte; es war etwas Anderes, das seine ungetheilte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Das Gemälde mit dem Fischerknaben war verschwunden, und an seiner Stelle hing ein schönes Porträt von Mozart.

»Willkommen!« sagte Dagmar.

»Welche Ueberraschung!« rief David.

»Bist du jetzt zufrieden mit mir?«

Davids Antwort bestand darin, daß er ihre beiden Hände mit Küssen bedeckte. Dagmar äußerte eine Minute darauf:

»Weißt du, was heute für ein Tag ist?«

»Vielleicht wieder ein Namenstag? In diesem Fall ist es wohl der meinige, da du mir eine so große Freude bereitest!«

»Es ist der Jahrestag deines ersten Besuches hier. Ach! wie ich heute mich so glücklich fühle!«

Aber mit diesen Worten eilte sie von ihm hinweg und rief:

»Komm! Nun wollen wir Kaffee trinken.«

David gehorchte jedoch dem Rufe nicht sogleich. Er blieb stehen und warf einen prüfenden Blick rings in dem Zimmer umher.

Es war vollständig anders möblirt worden. Bücherschrank, Sopha, Sessel, selbst das Piano – Alles war neu. Das letztere hatte seinen alten Platz behalten, sonst war die Anordnung nicht mehr dieselbe. Das Zimmer hatte ein freundlicheres Aussehen bekommen. Die schweren Seidegardinen waren mit weißen von feinem, fast durchsichtigem Stoffe vertauscht.

Der Tag war voll reiner und unverfälschter Freude für David und Dagmar.

Vergangenheit und Zukunft waren für sie gleichgiltig; die Gegenwart war Alles.

David blieb nicht über Nacht in Eriksdal. Er sollte zeitig am folgenden Morgen daheim sein, und zog es vor, am Abend heimzufahren.

Dagmar widersetzte sich diesem Vorhaben nicht, aber flüsterte, als sie ihm Lebewohl sagte:

»Denke recht freundlich an mich, wenn du heimkommst.«

» Denke freundlich« wiederholte David für sich.

 

XXXV.

Als David nach Hause kam, war es Nacht, aber eine Juninacht. Er blieb noch eine Zeit lang in seinem äußern Zimmer; es war ihm unmöglich, sogleich zur Ruhe zu gehen. Endlich, als der Tag wieder anzubrechen begann, wollte er sich in sein Schlafgemach begeben.

Er trat in das Kabinet.

Neben seinem Schreibtisch befand sich ein seltsames Gestell, über welches ein weißes Tuch geworfen war.

»Was soll das bedeuten? Wäre ich ein Gespenster fürchtender Junge, würde ich glauben, es habe Jemand sich einen Spaß gemacht, mir Schrecken einjagen zu wollen,« rief David beinahe etwas geärgert und schob das Tuch hinweg. Das Gestell wackelte, aber fiel nicht.

David hatte den neapolitanischen Fischerknaben, auf einer Staffelei befindlich, vor sich. An dem Gemälde war ein Streifen Papier angeheftet, worauf die Worte zu lesen waren:

»Ich leihe nicht aus, was ich einmal lieb gehabt habe; aber ich kann es dem geben, welcher die Gabe verstehen wird.«

»Dagmar, geliebte Dagmar!« rief David.

In diesem Augenblick wurde die Erde von den ersten Strahlen der Sonne begrüßt. Sie schauten durch das Fenster zu dem jungen Arzt herein; wir benützen diese Gelegenheit, um ihm einen guten Morgen zu wünschen.

 

XXXVI.

Das schöne Gemälde wurde in des Doktors Kabinet aufgehängt.

Wir finden David am folgenden Morgen vor demselben, die Augen auf dem Antlitz des Knaben ruhend.

Jeder Schlag seines Herzens sagte ihm, wie innig er Dagmar liebte.

Die Liebe, welche ganz unvermerkt in seinem Herzen entsprossen war, drängte sich jetzt stark, warm und mächtig hervor. Es lag in diesem Gefühl etwas Heftiges und Unbezähmbares, welches er früher nicht empfunden hatte, und David gerieth über dessen Tiefe und Stärke in Bestürzung. Wohin sollte diese Liebe ihn führen? Sollte er zum zweiten Mal sein Glück durch eine Frau gestört sehen? Oder sollte er nun die Glückseligkeit gewinnen, welche er kaum an Majkens Seite zu träumen gewagt hatte, aber welche er jetzt an Dagmars Seite zu finden, mit leidenschaftlicher Wärme zu finden begehrte?

»Liebte sie ihn?«

Er durchging jedes Wort von Dagmar, rief sich jeden Blick, jede Bewegung zurück, um eine Antwort auf seine Frage zu finden. Seine Gedanken blieben endlich bei der Gabe des Gemäldes stehen. Was bewies dasselbe? Daß Dagmar ihm die Vergangenheit opferte. Dieses wäre wohl ein sprechender Beweis, wie lieb sie ihn hatte. Durfte er es wagen, darauf zu trauen?

Aber auf der andern Seite, wie viele Proben hatte Dagmar nicht Georg davon gegeben, daß sie etwas auf ihn hielt, und doch, als er ihr sein Herz anbot, hatte sie sich geweigert, die seinige zu werden.

Doch hatte sie vor David erklärt, daß das Gemälde an dieser abschlägigen Antwort theilweise Schuld war.

Sie hatte somit einmal diese mystische Persönlichkeit geliebt; aber diese Liebe war nun von einer wärmeren und stärkeren Liebe zu David verdrängt; dieß war wenigstens eine Möglichkeit. Er hatte selbst seine Liebe von Majken auf Dagmar übergetragen; er hatte eine stille und schwärmerische Empfindung gegen ein tiefes, ernstes Gefühl eingetauscht. Wenn er, der zehn Jahre lang Majken geliebt hatte, sie um Dagmars willen vergessen konnte; warum sollte nicht auch Dagmar derselben Wandelbarkeit unterworfen sein?

So dachte David, und wir müssen bekennen, daß seine Voraussetzungen nicht allen Grundes ermangelten. Dessen ungeachtet gelang es ihm nicht, sich selbst eine wirkliche Ueberzeugung beizubringen. Sein Herz war von Zweifel erfüllt.

David war nun in dem Alter, wo die Heftigkeit in den Gefühlen sich etwas legt und einen ruhigern, wenn auch anspruchsvollern Charakter annimmt. Er war jetzt einer großen Leidenschaft mächtig, aber auch großer Opfer, wenn der Verstand es so forderte. Er wollte nicht aus einem ungeduldigen Verlangen nach Gewißheit seines Herzens Geheimniß bloß stellen. Nein, er wollte prüfen, ehe er Dagmar sagte: »Du bist das Leben in meinem Leben.« Er wollte ihr nicht früher sagen, wie innig sie geliebt wurde, als bis er sich überzeugt hatte, daß er Gegenliebe gefunden. Gewann er diese Ueberzeugung nicht, so sollte auch seine Zunge niemals die Sprache der Liebe führen.

Die nun folgende Zeit war eine unaufhörliche Ebbe und Fluth in Davids Empfindungen.

Es war Sommer; alles redete von Liebe, das Herz wollte unaufhörlich sich verrathen, aber die Vernunft gebot Stillschweigen; noch hatte David nicht Gewißheit erlangt.

Den einen Tag fuhr er von Eriksdal hinweg, in voller Gewißheit geliebt zu werden; aber wenn er wiederkehrte, war Dagmar nicht mehr dasselbe holde, milde und liebenswürdige Mädchen, welches er das letzte Mal gesehen, sondern glich einem muntern und launenhaften Wildfang. Er entfernte sich dann, völlig überzeugt, daß es nur Freundschaft war, welche er für sie hegte. Wenn er hernach sich einfand, war die Stirne umwölkt und der Blick düster; aber da bot sich immer eine Gelegenheit, wo Dagmar ihm einen neuen Beweis von Zuneigung gab. Fort war dann die Wolke auf der Stirne und die Hoffnungslosigkeit im Herzen.

Zuversicht und Mißtrauen lösten einander in Davids Seele ab. So verging Woche um Woche, und der Sommer neigte sich allmälig seinem Ende zu. Man war bereits im Monat August.

Die Fräulein Kroner hielten sich noch immer zu Eriksdal auf. Zuweilen ärgerte es David, die Ursache gewesen zu sein, daß sie hierher gekommen waren, und daß ihm in Folge von deren Anwesenheit nur auf kurze Augenblicke ungestört mit Dagmar zu reden vergönnt war.

Diese hatte sich, seitdem sie ihm das Gemälde gegeben, beständig heiter, obwohl stets auf ungleiche Weise gezeigt. Die Beweglichkeit ihres Gemüths gestattete nicht, daß ihre gute Laune sich immerdar gleichmäßig äußerte:

Sowohl von Frau Thorén als von Olle erfuhr David, daß jede Spur von Dagmars Traurigkeit bleibend verschwunden wäre.

Dagmar wachte nicht mehr bei Nacht; sie suchte nicht die Einsamkeit, um zu weinen. Ueberraschte man sie, wenn sie allein war, so hatte ihr Angesicht immer einen ruhigen Ausdruck.

Bei solchen Aufklärungen kam es ihm vor, als ob diese Veränderung für Dagmar daher entspringen müßte, daß etwas sie der Welt ihrer Träume entrückt und deren Gedanken und Gefühle an die Wirklichkeit gefesselt habe. Dieses Etwas konnte ja die Liebe zu ihm sein.

Unsere Gefühle gleichen zuweilen sprungfertigen Rennern. Ist es ein kräftiger Wille, ein starker Arm, welcher den Zügel hält, so werden sie dadurch gehindert, blindlings dahin zu stürzen; man muß die Augen offen und die Aufmerksamkeit gespannt halten; die geringste Nachgiebigkeit, und sie eilen in wilder Flucht davon. Jetzt bedarf es verdoppelter Anstrengungen, um die verlorne Gewalt wieder an sich zu bringen.

David war der Meinung gewesen, er könne sich vollkommen auf die Kraft der Selbstbeherrschung verlassen und gab nicht Acht darauf, wie seine Neigung in dieser Zeit der Ungewißheit immer stärkere Macht über ihn erlangte, so daß sie eines Tags alle seine Vorsätze vereiteln mußte.

 

XXXVII.

An einem schönen Sonntagmorgen ritt Doktor Waldner von **köping ab.

Einige heftige Krankheitsfälle hatten ihn die ganze Woche daran gehindert, Dagmar zu besuchen, und jetzt war er ungeduldig, sie zu sehen. Er kam auch gerade zur rechten Zeit an, um an Dagmars und Thoréns Kaffee-Frühstück Antheil zu nehmen.

Die Fräulein Kroner hatten Eriksdal verlassen.

Dagmar war somit allein.

Frau Thorén hatte nach dem Frühstück gewöhnlich so viel zu richten, daß ihr keine Zeit übrig blieb, den jungen Leuten Gesellschaft zu leisten.

Dagmar hieß David mit einem einnehmendem Lächeln willkommen. Sie war in ihrer liebenswürdigsten Stimmung.

Sie und David gingen zu der Moosbank am Strom hinab. Sie redeten über den letzten Brief von dem Oberst und Majken, von deren Rückkehr zu Ende Septembers; hernach ging das Gespräch auf verschiedene kleine Reiseabenteuer über.

David erzählte von einigen, die ihm vorgekommen, und Dagmar beklagte, daß sie nicht sagen konnte, sie hätte auch nur ein einziges erlebt.

»Das schlimmste, was mir unterwegs vorkam, war jenes, da du mich vor den betrunkenen Kerls rettetest. Es war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich einen wirklichen Schrecken empfand. Seltsam genug warst du es, welcher mir den meisten Schrecken einjagte, daß du schweigend hinter mir hergingest. Kannst du sagen, warum du es gethan hast?«

»Ich wünschte, du solltest dich recht gründlich fürchten.«

»Und wozu sollte das nützen?«

»Du solltest die Lust zu deinen nächtlichen Wanderungen verlieren. Ich erreichte auch meine Absicht.«

»Glaubst du also, daß die Furcht mich davon abgehalten hat?«

»Was anderes?«

David fühlte es wie eine Ahnung, daß auf seine Selbstbeherrschung nicht sehr viel zu bauen sein dürfte.

»Du weißt, daß es etwas ganz Anderes war, das mich davon abzustehen vermochte.«

»Ich weiß es?«

David hütete sich, sie anzusehen.

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

»In diesem Fall geschah es wohl darum, daß ich bei der Gelegenheit einen Schlag auf den Kopf bekam?«

»Ich würde dich wohl nicht bloßgestellt haben, wenn ich meine Spaziergänge, da du in **köping warst, wieder aufgenommen hätte?«

»O nein, darin kannst du Recht haben.«

»Also konnte das wohl nicht die Ursache sein.«

»Dann ist es mir unmöglich, es zu errathen.«

»Wirklich? Ich hätte doch geglaubt, du würdest nicht vergessen haben, daß es meine Anhänglichkeit war, welche mich bestimmte, davon, wie von vielem anderem, abzustehen.«

»Nimm dich in Acht, Dagmar, du mußt nicht so sagen.«

David wurde ganz warm.

»Vor was soll ich mich in Acht nehmen?«

Anstatt zu antworten, fragte David:

»Bist du noch von Schlaflosigkeit geplagt?«

»Nicht sonderlich.«

»Du träumst somit nicht mehr von dem Fischerknaben oder seinem Original in der Wirklichkeit?«

Davids Herz schlug heftig.

»Ich habe beide fast vergessen. Es ist wenigstens schon lange her, daß ich ihnen einen Gedanken widmete.«

»Er hat jedoch einmal deine Liebe besessen?«

Dagmar schwieg nun ihrerseits.

David wurde gezwungen, sie anzusehen.

Ihr Antlitz war ernst, aber zeigte zugleich einen so milden und schönen Ausdruck, daß David viel klüger daran gethan haben würde, wenn er es nicht angesehen hätte.

»Wie innig liebe ich sie nicht,« sprach er bei sich selbst; »es wäre der Tod für mein Herz, wenn sie einen andern liebte.«

»Du schweigst,« nahm er laut wieder das Wort, in einem Tone, welcher der gewöhnlichen Ruhe ermangelte. »Sollte deine Liebe noch an den Fremdling gefesselt sein, und du zögerst, wenn dem so wäre, mir es zu gestehen?«

»Ich zögere niemals, die Wahrheit auszusprechen; aber ich schwieg, weil du eine so seltsame Frage stelltest. Ich überlegte bei mir selbst, was diese Neugierde veranlassen könnte.«

»War denn diese meine Voraussetzung, du habest den vergessen, den du einmal liebtest, etwas so Besonderes?«

»Man liebt nicht, um zu vergessen, aber ich weiß noch nicht, was lieben ist.«

»Wie, du weißt es nicht?«

»Wenigstens nicht, so weit es den betrifft, dessen Züge der Fischerknabe entlehnte,« flüsterte Dagmar, und wandte sich von ihm ab, um zu gehen.

»Also Georg?« fragte David völlig unter dem Eindruck seiner Gefühle.

»Auch ihn nicht.«

Die Worte glitten beinahe lautlos über Dagmars Lippen. Im Augenblick gewann David wieder die Herrschaft über sich selbst.

Nicht mit bebender Stimme und leidenschaftlicher Heftigkeit redete er jetzt, sondern mit jenem ergreifenden Ernste, welcher einem starken und edeln Gefühl angehört. Vernunft und Wille waren allerdings besiegt, aber das Herz führte auf eine würdige und doch offene Weise seine eigene Sprache. Es war der gebildete und hochgesinnte Mann, welcher der Frau, die er liebte, seine heiligsten Gefühle anvertraute. Es war nicht die Sprache der Leidenschaft, sondern der Liebe. Er flehte nicht, daß sie ihn wiederlieben möchte; er wünschte es als das höchste Glück. Er forderte nicht ihr Herz, er bat darum; er erlaubte sich keine unvernünftigen Drohungen, im Fall sie ihn nicht lieben könnte; aber sie mußte dessen ungeachtet einsehen, welchen Werth ihre Gegenliebe für ihn hatte.

Es war kein Jüngling, welcher zu den Füßen seiner Göttin bettelte; es war der Mann, welcher sagte: »Ich gebe dir mein Herz, was hast du mir zu geben?«

Jeder Tropfen Bluts war aus Dagmars Wangen entflohen, während sie auf seine Worte hörte. Ihr Herz stand still.

Als sie schwieg, saß sie da, stumm und athemlos, den Blick zu Boden gesenkt und die Hände fest in einander gelegt. Endlich flüsterte sie:

»Mein schöner, herrlicher Traum …«

»Herr Peter« stand jetzt vor ihnen.

Es war ein Vater, welcher gekommen, um den Arzt zu seinem schwer erkrankten Sohne zu holen. Jede Minute Zögerung brachte Gefahr mit sich.

Die Pflicht rief; ihr mußten alle Sonderinteressen weichen, und David war sogleich bereit, dem betrübten Vater zu folgen.

Kaum eine Stunde darauf fuhr ein großer Reisewagen in den Hof von Eriksdal ein.

 

XXXVIII.

Es war wiederum Morgen.

Der Doktor war soeben von dem kranken Jüngling zurückgekehrt.

Er warf sich auf den Sopha, um einige Augenblicke zu ruhen, ehe die Empfangsstunde schlug.

Der Schlaf floh jedoch von seinen müden Augen.

Hätte der Bote an dem Krankenbette nur einige Minuten gezögert, so wäre Alles zwischen ihm und Dagmar klar geworden; aber von diesen Minuten hing vielleicht das Leben des Kranken ab. Er gab sich also zufrieden, so wie es war. David hätte jedoch gern ein Jahr darum gegeben, wenn er in diesem Augenblick Dagmars Worte zu deuten im Stande gewesen wäre.

Kurz vor der Empfangszeit fiel David in einen leichten Schlummer; derselbe hatte jedoch kaum einige Sekunden gewährt, als er durch den Bericht erweckt wurde:

»Es ist ein Bote von Eriksdal da; der Herr Doktor soll unverzüglich nach Eriksdal kommen; es ist Jemand erkrankt.«

Jemand krank? Wer? Das wußte der Bote nicht; nur daß der Oberst am gestrigen Abend heimgekehrt war. Der Inspektor hatte gesagt, man sollte den Doktor holen.

Nachdem David denen, welche ihn um Rath zu fragen gekommen waren, seine Verhaltungsbefehle und Vorschriften gegeben hatte, fuhr er nach Eriksdal.

Der Oberst und seine Frau waren heimgekehrt und befanden sich, wie der Knecht versicherte, bei guter Gesundheit. Sollte es also Dagmar sein, welche erkrankt war?

Bei seiner Ankunft wurde er von »Herr Peter« empfangen, welcher ihn ersuchte, zu dem Fräulein hinaufzugehen. Ohne die Zeit mit Fragen zu verlieren, begab er sich dorthin.

Im Arbeitszimmer befand sich nur ein Domestike. David ging nach dem Schlafzimmer, schob die Gardinen zurück und trat ein.

Am Bette saß Majken, und auf der andern Seite stand der Oberst. Jemand lag auf den Knieen neben Majken.

Es war Dagmar.

Wer war also der Kranke?

David trat näher.

Dagmar richtete sich auf. Ihr Angesicht war in Thränen gebadet.

»Gott sei gelobt, daß du kommst,« riefen sie und Majken zu gleicher Zeit. »Hilf, wenn es noch Hilfe gibt!« setzte Dagmar hinzu und zog sich auf die Seite.

David stand vor dem Bett, hätte aber beinahe einen Ruf der Bestürzung ausgestoßen, als sein Blick auf den fiel, welcher dort ruhte.

Die Züge waren David nur allzu wohl bekannt, obwohl sie jetzt, von Krankheit verstört, nur ein Schatten des schönen Bildes waren.

Es gab einen kurzen aber peinlichen Streit zwischen dem Arzt und dem Menschen, beim Anblick dieses Gesichts, welches ihm schon so manchen bittern Schmerz verursacht hatte; aber der Kampf war ausgekämpft, als David die Hand des Patienten faßte. David untersuchte den Kranken, welcher in vollkommen bewußtlosem Zustande dalag, und stellte darauf einige Fragen, welche der Oberst beantwortete.

Arthur d'Aveyron – so lautete dessen Name – war seit mehreren Jahren krank gewesen. Zuerst am Geiste, so daß er in eine Irrenanstalt gebracht werden mußte. Als er seinen Verstand wieder fand, war die Brust angegriffen. Er hatte hernach längere Zeit in Italien verweilt, und schien in den letzten Monaten so bedeutend besser, daß der Oberst seinem eifrigen Wunsche, sie nach Schweden zu begleiten, willfahren zu können glaubte. Während der letzten Tage der Reise wurde er unpäßlich und war, als sie in Eriksdal ankamen, so schwach, daß man ihn aus dem Wagen hinwegtragen mußte. In der Nacht war er in den Zustand verfallen, worin er sich noch jetzt befand.

David hörte dem Oberst mit jener kalten Aufmerksamkeit zu, welche dem Arzte bei einem solchen Berichte eigen ist. Noch einmal untersuchte er den Kranken und traf darauf seine Anordnungen mit so glücklichem Erfolge, daß Arthur wieder zum Bewußtsein kam. Der Athem wurde regelmäßiger, der Puls ruhiger, die Lippen bewegten sich. David beugte sich zu ihm nieder. Der Kranke flüsterte Dagmars Namen. Langsam öffneten sich seine Augen und er sagte etwas; David konnte nicht unterscheiden, was es war, aber Dagmar eilte herbei und reichte ihm etwas zu trinken. Darauf blieb sie an seiner Seite sitzen, seine Hand in die ihrige geschlossen.

»Gibt es noch einige Hoffnung für ihn, zum Leben wiederzukehren?« fragte Dagmar, ehe David sich entfernte.

»Noch kann ich nichts sagen,« antwortete David; »was ich thun kann, will ich thun, um ihn für dieses Mal zu retten, aber lang dauert seine Lebensbahn nicht.«

»Gott lohne dich dafür; ich vermag es nie zu thun,« setzte sie ganz traurig hinzu.

»Der Lohn des Arztes ist, daß der Kranke wiederhergestellt wird,« war Davids kalte Antwort.

Der Lohn blieb nicht aus; Arthur genas so allmälig.

Eine schwere Probezeit war inzwischen diese Krankheit für unsern Doktor.

Wie er auch sein Herz stählte, konnte David doch nicht hindern, daß er unter der Zärtlichkeit litt, welche Dagmar diesem Arthur widmete. Sie war beständig bei ihm, suchte seine Wünsche zu errathen, und bot alle ihre Kräfte auf, ihn, da es besser mit ihm wurde, zu zerstreuen. Sie unterwarf sich ganz bereitwillig seinen Launen und widmete ihm jede Stunde des Tags.

Zu sehen, wie die Frau, welche von ganzer Seele geliebt wird, sich für einen jüngern Mann aufopfert, dessen Stellung zu ihr nicht recht erkennbar ist, mußte für ein von Natur eifersüchtiges Gemüth höchst peinlich sein.

David fühlte sich auch zuweilen versucht, Dagmar zu sagen, daß seine ärztliche Rolle unter solchen Verhältnissen beinahe seine Kräfte überstiege, und daß er recht daran zu thun glaubte, wenn er seinen Amtsbruder mit der Behandlung Arthurs beauftragte; aber sein Gewissen ließ ihm eine solche Handlungsweise nicht zu. Doktor D. war nicht als besonders eifrig bekannt, und hier war Eifer und Geschicklichkeit erforderlich. Davids Stolz gebot ihm überdieß, sich aller dieser Marter, welche ihm Liebe und Eifersucht schufen, zu unterwerfen.

Er konnte indessen ein Gefühl der Bitterkeit gegen Dagmar nicht unterdrücken, welches den Beweis lieferte, wie lieb sie ihm war, und dennoch die Maske der vollkommensten Gleichgültigkeit annahm, die ihm manche schwere Plage verursachen sollte.

Dagmar hatte keinen Gedanken mehr für ihn und sie hätte ihm doch einige Rechnung dafür tragen sollen, daß er mit solcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit diesen Arthur behandelte, für welchen sie ihn aufopferte.

Woche um Woche verging.

Der Kranke war auf dem Wege der Besserung und konnte jetzt ganze Tage auf dem Sopha ruhend zubringen. Majken und Dagmar umgaben ihn mit allem, was ihn zerstreuen und aufmuntern konnte.

Die Gefahr, in der sein Leben schwebte, war für dieses Mal verschwunden; aber die Krankheit war von der Natur, daß wenn Arthur auch den Winter überlebte, er doch höchst wahrscheinlich nicht mehr sehen durfte, wie die Erde sich in die Pracht des Sommers kleidete. Dieß hatte David sowohl dem Oberst als Majken mitgetheilt, und beide hatten dabei geäußert:

»Am besten für ihn, wenn er sterben kann.«

Arthurs Zustand erheischte jedoch nicht länger die tägliche und stündliche Gegenwart des Arztes, und David besuchte ihn deßhalb nur ein paar Mal in der Woche.

Eines Tags, da er nach Eriksdal kam, waren der Oberst und Majken abwesend.

Dagmar saß bei ihrem Cousin und las; aber als David eintrat, entfernte sie sich sogleich. Der Besuch bei dem Kranken dauerte jedoch nicht lange, und David schaute sich hierauf nach Frau Thorén um, ihr einige Verordnungen, die er nöthig fand, mitzutheilen.

David war gerade im Begriff, der guten Frau Lebewohl zu sagen, als Dagmar eintrat und sie bat, zu Arthur hinaufzugehen. Sie selbst wollte einen kleinen Spaziergang machen.

»Willst du mir Gesellschaft leisten?« fragte sie David.

»Meine Zeit erlaubt es mir nicht; ich muß sogleich nach der Stadt zurück,« war die kalte Antwort.

»Ist es wirklich so nothwendig, daß du sogleich abfährst? Kannst du mir nicht eine Stunde opfern?«

David konnte es nicht.

Dagmar hatte ihn allzu lang leiden lassen, ohne mit einem Blick oder mit einem Wort den bittern Schmerz, den sie ihm verursachte, zu lindern, als daß er jetzt sich nach ihren Wünschen richten mochte.

 

XXXIX.

Eines Morgens, einige Tage später, erhielt David einen Brief. Er erbrach eilig den Umschlag. Ein langes Schreiben war eingeschlossen.

Wir geben dasselbe hier:

 

»Lieber, theurer David!

»Du wolltest mir die Stunde nicht schenken, um welche ich dich bat, und jetzt danke ich dir dafür. Ich werde es leichter finden, schriftlich mich dir mitzutheilen. Vielleicht wird es mir gelingen, mich verständlich zu machen. Ich hoffe es, obwohl ich in Allem, was meinen Cousin Arthur berührt, ein geheimnißvolles Stillschweigen bewahren muß.

»Kennst du meinen Charakter und meine Gemüthsart, so mußt du mich auch richtig zu beurtheilen vermögen. »Schon lange hast du meine Antwort auf die Frage erwartet: ob ich dich liebe?

»Diese Antwort schwebte einmal auf meinen Lippen, aber sie ging nicht über dieselben.

»Eine lange peinliche Zeit ist seitdem vergangen.

»Gezwungen, alle meine Zeit und alle meine Aufmerksamkeit Arthur zu widmen, hat es ausgesehen, als ob ich vergessen hätte, was ich dir schuldig war. Dieß ist aber nicht der Fall.

»Du hast jedoch in deinem Herzen mich wegen der Qual angeklagt, welche du durch die Zärtlichkeit, die ich an Arthur verschwendete, gelitten hast.

»Du hattest das Recht, eine Erklärung über mein Benehmen zu fordern; ich nahm meine Zuflucht zu dem Arzt und schien dessen uneingedenk zu sein, was ich David schuldig war.

»Ach, ich konnte nicht anders handeln!

»Ich hatte nicht bloß einen Kranken, sondern auch einen Unglücklichen vor mir, welcher um seines schweren Leides willen aller möglichen Sorgfalt bedurfte. Es wurde eine Pflicht, seine Schmerzen zu lindern. Ich mußte unter der Ausübung derselben sogar dich versäumen.

»Gäbe Gott, daß ich dich vergessen könnte oder noch Seelenstärke genug hätte, dich in dem Gefühle der Mißbilligung, welches du jetzt gegen mich hegst, zu belassen. Es wäre dir dann leichter gewesen, die Liebe zu mir zu vertilgen.

»Mir fehlt jedoch diese Selbstverleugnung, und darum, David, werde ich dir die Geschichte meiner Seele erzählen. Beurtheile mich hernach mit all der Unparteilichkeit, welche ich von dir erwarte.

»Damit du das zu thun im Stande bist, muß ich alle Umwälzungen in meinem Innern durchgehen.

»Bis zu meinem neunten Jahr war ich ein eigenwilliges Naturkind. Ich wurde allerdings von dem Umgang mit den Nachbarn ferngehalten, aber ich war noch nicht scheu vor allen fremden Personen. Meine Umgebung sprach niemals von meiner Mutter; die Erinnerung an sie wurde somit nicht wieder ins Leben gerufen.

»Ich war bis zu diesem Zeitpunkt ein glückliches Kind.

»So kam der Tag, da ich Mrs. Dowsons Brief fand.

»Die Entdeckung davon, daß ich nicht meines Vaters Tochter war, übte einen wunderbaren Einfluß auf mich aus.

»Sie machte mich betrübt und ließ mich in einem Dunkel über meine Geburt, welche aufzuklären für ein Kind unmöglich war. Zu begreifen, daß ich nicht die Tochter von meiner Mutter Gatten war, fiel mir schwer, und noch schwerer wurde mir, zu begreifen, wie sein Bruder mein Vater sein konnte. Ich wollte Niemand darüber befragen, aber suchte nach meiner kindlichen Fassungskraft mir das Verhältniß aufzuklären. Meine Phantasie wurde dadurch in eine allzu lebhafte Thätigkeit versetzt.

»Die Erinnerung an den Abend, da meine Mutter mich auf die Arme nahm und in die See sprang, erwachte nunmehr zum Leben und wurde mit märchenhaften Ereignissen in Verbindung gebracht, welche nur in meinem Gehirn sich vorfanden. Ich wurde leutscheu und träumerisch. Von meinen heitern Spielen konnte ich wegspringen, um meinen düstern Phantasien über meine Eltern mich zu überlassen.

»Tante Thorén fand mich ganz seltsam, und um mich während dieser Stunden zu zerstreuen, sprach sie oft von Tante Waldner, dir und Georg.

»Ihr wurdet auch die einzigen Wesen aus dem wirklichen Leben, welche außer meiner Umgebung mich interessirten. Aber es war ein schmerzhaftes Interesse. Ich beneidete euch darum, daß ihr eurer Eltern rechte Kinder waret; ich sah euch stolz darauf, und dieses reizte mich.

»Ein Zusammentreffen mit euch fürchtete ich; aber daran zu denken und unbemerkt dich oder Georg zu sehen, war mir eine Freude.

»Ich begann so allmälig anzunehmen, daß meine Eltern nicht todt wären, daß sie noch irgendwo lebten und daß sie eines Tags wieder auftreten würden. An diesem wichtigen Ereigniß solltest du sammt Georg einigen Theil haben.

»Ich überließ mich mehr und mehr solchen Vorstellungen, lebte meistens in denselben und schuf unaufhörlich neue und wunderliche Begebenheiten, bis daß Majken ihre Hand an meine Erziehung legte.

»Mit ihrer Bekanntschaft fing eine neue Zeit an.

»Ihr Einfluß auf mich wurde groß.

»Ich vergaß die Märchenwelt um der Liebe willen, die ich zu ihr empfand. Sie flößte mir Lust zum Lernen ein und meine Gedanken hefteten sich auf vernünftige Gegenstände.

»Ich übergehe auch die drei ersten Jahre ihres und meines Zusammenlebens.

»Du tratest hernach zu Haraldshof auf.

»Dein Anblick erweckte meinen Neid.

»Ich suchte mich damit zu trösten, daß Haraldshof mein werden sollte; aber diesen Trost entzog mir Majken, und ich mußte mich nach einem andern umsehen. Ich beschloß eine gleich gute Tochter zu werden, wie du dem Gerüchte nach ein guter Sohn warst. Ich hatte eben diesen schönen Entschluß gefaßt, als Georg zu uns kam.

»Er war jünger als du und bewies mir vom ersten Augenblick an ein Wohlwollen und eine Aufmerksamkeit, welche du Majken widmetest. Mein Herz heftete sich sogleich an ihn. Er wurde mein Freund, mein Vertrauter, mein Spielkamerade und Theilnehmer an Freud und Leid von mir.

»Bald entdeckte ich, daß du Majken lieb hattest. Dieß setzte wieder meine Phantasie in Bewegung.

»Du wurdest der Held in dem Roman, welchen ich mir selbst diktirte.

»Meine verstorbenen Eltern bekamen Ruhe in ihrem Grabe. Ich brachte alle einsamen Stunden damit zu, daß ich an Ereignisse dachte, in welchen ihr, du und Majken die Hauptfiguren werden solltet.

»Ich wurde unter diesen Träumereien dir weniger fremd; du gehörtest gleichsam mir an, und ich legte dir und Majken höhere und edlere Eigenschaften bei, als diejenigen, welche auf mein und Georgs Loos gefallen waren.

»Am ersten Abend bei der Großmutter wurdest du mein Vertheidiger.

»Du bekamst dadurch etwas wirklich Ueberirdisches und schienest zu Majkens Gatten geschaffen. Mir beweisen zu wollen, daß du es nicht würdest, wäre so viel gewesen, als mir einen wahrhaften Schmerz zuzufügen.

»Aus diesen schönen und dir schmeichelnden Vorstellungen wurde ich von der Großmutter geweckt, welche eines Tags mir erzählte, daß meine Mutter geisteskrank gewesen. Diese Eröffnung rief ein Chaos von Kummer und seltsamen Gedanken in mir hervor, und ich wurde von der Verwirrung in meinem Innern nicht eher befreit, als bis ich wieder in Haraldshof war. Da nahm ich meinen Roman bezüglich deiner und Majkens wieder auf, während ich mich an der Gesellschaft von Georg erfreute.

»Deine plötzliche Entfernung von Haraldshof und Majkens stumme Betrübniß zerstörten auf einmal meinen Roman und zwangen mich, Majken alle meine Zärtlichkeit zu widmen.

»Darauf folgte mein erster Nachtmahlsgenuß und gab mir einen ernsten Gegenstand zur Beschäftigung.

»Gott und die Religion nahmen während dieser Zeit meine Seele in Anspruch.

»Des Lebens Ernst, unsere Pflichten gegen den Höchsten und unsern Nebenmenschen bekamen nun eine bestimmte und feierliche Bedeutung. Ich verstand nun, daß all mein Streben darauf hinzielen müßte, eine gute Christin zu werden.

»Nach diesem für mein Leben einflußreichen Zeitpunkt kam meines Vaters Heirat mit Majken.

»Du wurdest nun für mich ein hochherziger Märtyrer, welcher nicht mehr mit andern Sterblichen verglichen werden konnte oder durfte.

»Als du von meines Vaters Haupt die heimliche Gefahr abwandtest, welche in dem anonymen Billet angedeutet war, fesseltest du noch unauflöslicher meine Bewunderung und Dankbarkeit an dich.

»Wir wurden getrennt.

»Georg blieb fortwährend mein bester Freund, und meine Anhänglichkeit an ihn wuchs von Tag zu Tag.

»Wir reisten auf den Kontinent.

»Nach siebenmonatlichem Aufenthalt im Auslande kehrte ich mit Kummer im Herzen zurück und fort war mein Friede und alle meine Hoffnung auf Glück.

»Was es war, das eine solche Verwandlung bei mir hervorbrachte, kann ich dir nicht sagen. Ich kann bloß erwähnen, daß an die Bekanntschaft mit Arthur sich solche Umstände knüpften, wie sie störend in meine ganze Zukunft eingreifen mußten.

»In meinem Innern ging eine vollständige Umwälzung vor.

»Alles was ich mir von Glück im Leben gedacht hatte, erbleichte; Freude und Wonne entflohen, und meine Zukunft wurde der Entsagung geweiht.

»So war ich, als Georg mir zum ersten Mal seine Hand anbot.

»Hätte er es vor unserer Reise ins Ausland gethan, wäre meine Antwort darin bestanden, daß ich mich in seine Arme warf und sagte: ›Ich gehöre dir.‹

»Daß ich seine Hoffnungen täuschen mußte, war mir eine bittere Prüfung; ich wußte, wie innig er mich lieb hatte.

»Es drängte sich inzwischen bei dieser Veranlassung trotz meines Schmerzes ein dunkles Gefühl von Zufriedenheit damit ein, daß ich ihm meine Hand nicht schenken durfte. Dieses Gefühl würde mich jedoch niemals bestimmt haben, ihm dieselbe zu verweigern, wäre nicht ein mächtigerer Grund vorhanden gewesen. Ich untersuchte nicht gern, aus welcher Quelle es entsprang; aber als Georg einige Zeit später uns besuchte und sagte: David kommt heim, da verstand ich zum ersten Mal mein eigenes Herz.

»Es war die Erinnerung an den Helden in meinem geträumten Roman. Ich hatte der Bewunderung, welche ich für dich hegte, keine Form gegeben; aber ich that es, als du nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren an meiner Seite standest.

»Mit innerem Kummer las ich in deinem Angesicht, daß du in mir Majken zu sehen erwartetest. Was ich da empfand, klärte mir auf, daß jeder Schlag meines Herzens dir gehörte.

»Ja, ich hatte als Kind dich geliebt, da ich dein Glück beneidete; ich hatte dich als ganz junges Mädchen geliebt, da ich für deine und Majkens Liebe schwärmte; ich liebte dich, als du hinwegreistest, um sie zu vergessen, und ich liebte dich, als du nun zurückkehrtest, ohne daß es dir gelungen war, ihr Bild aus deiner Seele zu tilgen.

»Ich wollte dir meine Liebe nicht schenken, aber ich konnte sie nicht von dir losreißen.

»Eine Gegenliebe wünschte ich nicht; ich wußte ja, daß du mir keine zu geben hattest.

»Du solltest niemals erfahren, was du für mich warst, so hatte ich es beschlossen; aber nicht alle Seelen sind stark genug, um dergleichen Vorsätze halten zu können. Noch schwerer wurde es, als es dir gelang, Licht über meine Geburt zu verbreiten und ich wiederum mit Dankbarkeit und Bewunderung an dich denken mußte. Du kamst mir vor, als wärest du meines Lebens guter Genius.

»Während Majken daheim in Eriksdal war, hatte ich auch Stunden von Schwäche, da ich sie um die Liebe von dir beneidete; nicht minder litt ich dadurch, daß du Georgs Bewerbung mit Wärme umfaßtest und für dieselbe zu arbeiten suchtest. Als du mir mein Benehmen gegen ihn vorwarfest, hätte ich dir gern zugerufen: willst du, daß ich mich mit deinem Bruder verheiraten soll, da ich dich liebte?

»Es gab andere Stunden, wo ich dir gern den Grund anvertraut hätte, welcher mir zuerst meine abschlägige Antwort an Georg diktirte; aber mein düsteres Geheimniß dir anzuvertrauen, schien mir unmöglich. Möge es mir ins Grab folgen.

»Majken reiste ab.

»Du und ich, wir sahen einander täglich.

»Deine Macht über mich wurde so unbegrenzt, daß Sorgen und düstere Gedanken entwichen.

»Zu lieben und mich zurückgezogen zu halten, überstieg mein Vermögen.

»Mich als den Gegenstand deiner Neigung zu sehen und dir keinen Beweis der meinigen zu geben, war ebenso unmöglich, obwohl ich dabei niemals vergessen durfte, daß die Seligkeit, welche von der Liebe geschenkt wird, nicht für mich war.

»Ich setzte ebenso wenig voraus, daß du deine Zärtlichkeit für Majken auf mich übertragen könntest; ich fühlte mich nur vergnügt und dankbar, wenn ich dir Opfer bringen durfte, welche du wünschtest, und ich war glücklich an dem Tage, da ich dir das Gemälde schickte, welches mir so lieb geworden.

»Die Zeit, welche nun folgte, war reich an Freude; aber sie war doch nur ein Traum, und das Erwachen wurde desto bitterer.

»Was hatte ich dir wohl im Austausch gegen deine Liebe zu geben? Nichts – wenn nicht das Herz, welches du bereits besaßest.

»Du, der du einmal deinen süßesten Hoffnungen Lebewohl sagen mußtest, du mußt auch verstehen, was ich fühlte, als die Wonne, mich geliebt zu wissen, mir das Bewußtsein des Schicksals zurückführte, welches das meinige war und in dem Wort: Entsagung sich zusammenfaßte.

»Gott, welcher in meinem Innersten liest, weiß auch, wie schwach ich bin. Er allein kann entscheiden, ob ich unter dem Einfluß deiner Worte und meiner eigenen Empfindungen Stärke genug gehabt hätte, diesem strengen Gebot Folge zu leisten, wofern du nicht abberufen worden wärest, ehe meine Lippen zu bekennen Zeit fanden, was du für mich warest.

»Du gingest.

»Eine Stunde darauf kam Arthur, um durch seine Gegenwart mich daran zu erinnern, was ich dir und meinem Gewissen schuldig war.

»Nun sind die Loose gefallen.

»Ich kann niemals deine Gattin werden.

»Lieben werde ich dich, so lange mein Herz schlägt, aber mein Schicksal mit dem deinigen zu vereinen, dazu kann nichts mich vermögen.

»Wir müssen uns trennen.

»Verzeih', daß die Liebe Dagmar so schwach machte, daß sie dieselbe nicht in ihres Herzens Tiefe verbergen konnte; verzeih', daß sie bei dir eine Zärtlichkeit hervorgerufen hat, welche dir nur Leiden schaffen wird.

»Geliebter, geliebter David, denke ohne Bitterkeit an

Dagmar

 

XL.

Sobald David den Brief gelesen hatte, begab er sich nach Eriksdal.

Dagmars Schreiben war ein Bild ihres Ichs, aufrichtig und doch geheimnißvoll. In demselben Augenblick, da sie ihm ihre Liebe schenkte, nahm sie dieselbe wieder zurück, ohne von den Gründen, welche sie dazu zwangen, Rechenschaft zu geben. Diese konnte David indessen nicht bei sich finden; sie mußte dieselben angeben, oder ihm das Glück schenken, welchem er zu entsagen nicht geneigt war.

David trieb das Pferd unbarmherzig an, wodurch das Thier um so mehr überrascht wurde, als es bisher gewohnt war, mit einer gewissen Schonung behandelt zu werden; aber David war nicht in der Stimmung, andern Gefühlen, als der Ungeduld, welche ihn beherrschte, Gehör zu geben.

Es war um vier Uhr Nachmittags, als David sein Pferd an dem Gitterthore in Eriksdal anhielt. Er sprang ab, warf die Zügel dem Stalljungen zu und stand in der nächsten Minute im Vorzimmer.

Die Saalthüre ging auf und Majken trat heraus.

David begrüßte sie und fragte sogleich nach Dagmar.

Majkens Angesicht nahm einen betrübten Ausdruck an, als sie antwortete:

»Dagmar hat Eriksdal verlassen.«

»Dagmar ist abgereist?« rief David in einem Tone, der auf einmal darüber aufklärte, was Dagmar für den jungen Arzt war.

»Ja, sie hat sich nach Haraldshof begeben und wird eine Zeit lang dort bleiben.«

David sagte nicht ein Wort. Er folgte Majken schweigend in ein Kabinet.

»Wie befindet sich der Kranke?« fragte er nach einer Weile.

»Arthur begehrte, sich nach Haraldshof begeben zu dürfen. Er wünschte dort zu sterben, und nichts konnte ihn bestimmen, von seinem Wunsche abzustehen. Heute morgen reiste er ab mit Björnstam und Dagmar. Ich werde mich in einigen Tagen auch dahin begeben. Wir bleiben dort, bis es dem Höchsten gefällt, Arthur von seinem traurigen Dasein zu befreien.«

Eine augenblickliche Pause. Davids Stirne war bleich; seine Brust hob sich unruhig.

»Wie ist dir, David?« fragte Majken und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Du scheinst aufgeregt.«

»Vergib mir diese Schwäche und gestatte, daß wir uns mit etwas anderem, als mit mir beschäftigen. Sage mir,« setzte er hinzu, »aus welchem Grunde Dagmar diesem Arthur so viele Zärtlichkeit beweist, daß sie ihr eigenes und das Glück derer, welche sie lieben, für ihn aufopfert?«

»Diese Frage kann nur Dagmar beantworten; ich fürchte jedoch, daß sie es nicht thun wird. Es steckt ein Geheimniß hinter dem allem. Wenn ich es jetzt ahne, so glaube ich doch kein Recht zu haben, zu verrathen, was ich nur bei mir vermuthete.«

David begann auf und ab zu gehen. Eine heftige Bewegung fand in seinem Innern statt. Er blieb nach einer Weile stehen und rief plötzlich:

»Warum lehrtest du mich Dagmar lieben? Warum fesseltest du mein Interesse an sie, da du doch ahnen mußtest, daß auch sie meine Hoffnungen täuschen und auf immer mein Glück zerstören würde? Ohne dich wäre sie nicht geworden, was sie jetzt für mein Herz ist. Du hast wiederum Unglück und Kummer über mein Haupt gebracht.«

»David, sprich nicht so. Meine Absicht war, dich zum Glück zu führen. Ich kannte Dagmar, ihr weiches Herz, ihren milden Charakter, ihre romantische Gemüthsart, ihre lebhafte Seele und die excentrische Auffassung alles Schönen und Edeln. Ich kannte dich, wie reich du nicht bloß an Herz und Verstand, sondern auch an Charakter ausgestattet warst. Du solltest Dagmar verstehen, sie lieben, wie sie es verdiente, und sie war wiederum die Frau, welche unter allen am besten dir anstand. Ihr Alter, ihre Schönheit, alles bewirkte, daß du nicht wohl eine bessere Gefährtin durch das Leben finden konntest. Als ich abreiste, hoffte ich, dieser phantastische Kummer, welchem sie sich überließ, würde in demselben Augenblick verschwinden, da ihr Herz sich an dich fesselte. Ach, ich wurde leider von dem gewöhnlichen Mißgeschick betroffen, welchem der Mensch ausgesetzt ist, wenn er die Vorsehung spielen will; ich kam heim, um meine schönen Träume von Glück für dich und sie zerstört zu finden. Eine fixe Idee beherrscht Dagmar, so daß ich nun dich bitten muß: vergiß sie

Majkens Augen standen voll Thränen.

David sah es nicht.

»Dagmar, Dagmar!« hätte er mit dem Schmerz der Verzweiflung rufen mögen; aber er äußerte mit gedämpfter Stimme:

» Dagmar vergessen! Und du, Majken, forderst mich dazu auf. Es gibt also keine Hoffnung mehr?«

»Nein, ich glaube nicht,« flüsterte Majken.

Majken wagte nicht, David anzusehen, aus Furcht, in seinem Angesicht den Schmerz zu lesen, welchen diese Worte verursachten.

Nachdem er eine lange Weile stillschweigend dagesessen, ergriff der Doktor ihre Hand und sagte mit wiedergewonnener Ruhe:

»Weine nicht, Majken. Ich bin ein Mann und werde als solcher mein Schicksal ertragen. Lebewohl! ehe du nach Haraldshof fährst, sehen wir einander noch einmal.«

 

XLI.

Während des nun folgenden Winters gab es viele Kranke in **köping.

Doktor D., einer von Davids Amtsgenossen, war auch erkrankt, so daß David dessen Praxis neben seiner eigenen zu besorgen hatte.

Dies that er auf eine so ausgezeichnete Weise, daß er beinahe in dem ganzen Landvogtei-Bezirk als einer der geschicktesten Aerzte gepriesen wurde.

Von nah und fern kamen Kranke, um sich bei ihm Raths zu erholen.

Er lebte ausschließlich seinem Berufe und seinen medicinischen Studien. Er wurde der Kranken irdische Vorsehung und der Betrübten Trost, immerdar bereit beizustehen, zu helfen, zu trösten und zu lindern.

Wie sehr er durch seine getäuschten Hoffnungen, sein zerstörtes Glück zu leiden hatte, behielt er für sich. Nicht der geringste Schatten davon spiegelte sich in seinem Angesicht ab, welches stets ernst und mild, niemals düster oder streng war.

Seine Art und Weise war freundlich und theilnehmend, niemals straff oder zurückstoßend. Gleich gegen Jedermann, jung oder alt, arm oder reich, mußte er auch der Gegenstand des Lobs von allen werden.

Es gab kein hübsches Mädchen, keinen reichen Gutsbesitzer, der sich rühmen konnte, mit größerer Theilnahme von ihm behandelt worden zu sein, als das alte gebrechliche Weib oder der geringe Taglöhner.

 

XLII.

Im Frühjahr kehrte Georg aus England heim.

Im April erhielt David einen Brief von ihm mit der überraschenden Nachricht, daß er im Begriff stände, mit Agnes, der Tochter des Hüttenwerkbesitzers Hammars sich zu verloben.

Georg hatte die Bekanntschaft mit der Familie in England gemacht, und die Heimreise war in deren Gesellschaft erfolgt. Der Schluß davon war, daß Georg und Agnes die Ringe wechseln sollten.

Georg schloß diese Mittheilung mit folgenden Worten:

 

»Es wundert dich vielleicht, daß ich, von den Jünglingsjahren her an Dagmar gefesselt, nach so kurzer Zeit mich trösten konnte und mein Glück an der Seite einer andern Frau suchte.

»Versuche dich in meinen Charakter und meinen auf die Wirklichkeit gerichteten Sinn zu versetzen, und du wirst finden, daß was geschehen, ganz natürlich ist.

»Dagmar ist mir immerdar lieb, als die beste, theuerste Freundin; aber von der Stunde an, da ich wußte, daß sie niemals mir ihre Liebe schenken würde, ging all mein Streben dahin, die Natur meiner Gefühle für sie zu ändern und sie zu dem zu machen, was sie sein sollten: zu den Gefühlen eines Bruders gegenüber von seiner Schwester.

»Entziehe der Liebe die Hoffnung und sie stirbt hernach von selbst ab. Die Hoffnung ist für die Liebe ebenso nothwendig, wie die Luft für den Menschen.

»Lange zu beweinen, was man auf immer verloren hat, heißt auf unwürdige Weise seine Kräfte vergeuden. Die Welt, in welcher wir leben, ist voll von Schätzen für die Förderung unseres Glücks. Wir sündigen gegen den Geber, wenn wir nicht neue aufsuchen, zum Ersatz für die, welche wir verloren haben.

»Ich bin glücklich genug gewesen, ein Mädchen zu finden, welche mich mit dem, was ich verloren habe, versöhnt. An ihrer Seite hoffe ich das Glück aufblühen zu sehen, welches mir von Dagmar versagt worden ist – – – – – – – – –«

 

Zu wie vielen Betrachtungen gab dieser Brief nicht Veranlassung. Wie seltsam schienen nicht Schicksal und Ereignisse mit David gespielt zu haben!

Georg hatte sich über den Verlust seiner Jugendliebe getröstet. David hatte die seinige vergessen und mit des Mannes stärkern Gefühlen sich an diejenige gefesselt, welche einmal das Ziel der wärmsten Wünsche seines Bruders gewesen war. Sie dagegen war für beide verloren.

David legte den Brief zusammen und murmelte:

»Dagmar ist niemals für Georg gewesen, was sie für mich ist; dann vermöchte er nicht, dieselbe zu vergessen. Getrennt, wie wir sind, für Zeit und Ewigkeit, weiß ich doch, daß mein Gefühl für sie dasselbe bleiben wird.«

Da klopfte es an die Thüre des Kabinets und Davids Diener trat mit einem Briefe ein.

»Von dem Oberst!«

David öffnete sogleich das Billet und las folgende eilig niedergeworfene Zeilen:

 

»Mein lieber David!

»Komm sogleich nach Haraldshof. Arthur liegt im Sterben. Der Arzt vom Hüttenwerk und wir Alle wünschen dich hier zu haben.

Dein ergebener
M. Björnstam

 

David hätte mit allem Grund von der Welt sich entschuldigen können. Aber er that es nicht. Doktor D. hatte einen Amtsverweser erhalten, einen geschickten jungen Arzt; ihm trug David die Besorgung seiner Praxis auf und reiste in aller Eile von **köping ab.

 

XLIII.

Der Abend war eingebrochen, als David nach Verfluß so mancher Jahre wieder durch das Thorgewölbe von Haraldshof fuhr.

Wie hatte sich nicht alles verändert, seitdem er zum letzten Mal von dort weggegangen war.

Auf dem Hofe begegnete er einem Wagen, und darin saß der Pastor der Gemeinde.

David achtete jedoch nicht auf dieses Zusammentreffen, sondern sprang aus seiner Chaise, sobald dieselbe anhielt.

In demselben Gemache, wo David von Majken sich getrennt hatte, als er auf ihr Zureden Haraldshof verließ, kam ihm Mathilde entgegen.

Sie führte ihn schnell in des Obersts früheres Schlafzimmer.

Arthur d'Aveyron saß in einem Lehnsessel mit dem Gepräge des Todes in seinen Zügen. Dagmar war an seiner Seite und der Arzt des Hüttenwerks stützte sich auf die Rücklehne des Sessels und betrachtete den Kranken. Wer sonst im Zimmer war, sah David nicht; seine ganze Aufmerksamkeit war auf Arthur und Dagmar concentrirt.

Er trat auf den erstern zu.

»Es ist vorüber,« flüsterte der Arzt.

David faßte dessenungeachtet Arthurs Hand, ließ sie aber sogleich wieder los und warf einen erstaunten Blick auf die knieende Dagmar.

Sie trug einen Myrtenkranz in ihrem Haar und war mit einem einfachen Brautkleid angethan.

Ein leichtes Zittern zuckte durch seinen Körper und er gedachte der Begegnung des Geistlichen.

Der Hüttenwerks-Arzt legte seine Hand auf dessen Schulter und rief ihn zu sich selbst zurück.

Die beiden Aerzte gingen aus dem Zimmer. Der erstere wünschte von dem Verlauf der Krankheit, von der plötzlich eingetretenen Verschlimmerung u. s. w. Rechenschaft zu geben, unterstellte Davids Prüfung die Maßregeln, die er getroffen, und wollte wissen, ob etwas Anderes, das ein glücklicheres Resultat herbeigeführt hätte, zu thun gewesen wäre.

David versicherte, daß nach seiner festen Ueberzeugung sich nichts erdenken ließe, was zur Verlängerung von dem Leben des Abgeschiedenen gedient hätte.

Als die beiden Aerzte sich trennen wollten und David wieder von Haraldshof abzugehen gedachte, trat Frau Waldner bei ihnen ein.

David hatte nicht bemerkt, daß sie sich in der Nähe des Todten befand.

Die Mutter nahm ihres Sohnes Arm. Sie gingen durch einige Zimmer, bis David sich wieder von Neuem in dem ersten Gemache befand.

»Geliebte Mutter!« rief David, »was ist hier vorgefallen? Was bedeutet Dagmars Anzug?«

»Daß dieselbe einige Minuten, ehe Arthur d'Aveyron seinen letzten Seufzer aushauchte, mit ihm getraut wurde,« antwortete Frau Waldner. »Ich wurde von dem Oberst ersucht, dem traurigen Akte beizuwohnen.«

David machte keine weitere Frage, sondern sagte seiner Mutter Lebewohl, indem er versicherte, daß seine Zeit ihm nicht gestatte, seinen Besuch mehr als nöthig war zu verlängern, und fuhr wieder ab, ohne ein Wort mit Majken oder dem Oberst gewechselt zu haben.

 

XLIV.

Die schnelle Reise und die strenge Luft hatten David eine Erkältung zugezogen, welche ihn mehrere Tage an das Bett fesselte.

Als er wieder genesen war, fühlte er die Nothwendigkeit, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Er hatte während seiner Krankheit die Ueberzeugung gewonnen, daß er sich ein größeres Feld für seine Wirksamkeit suchen müßte.

Die Hauptstadt war der Ort, welchen er für die Befriedigung des brennenden Verlangens, etwas Großes zu leisten, erwählte, und er beschloß **köping zu verlassen.

Einen Monat nach dem Besuche in Haraldshof begab sich David nach Stockholm.

Er unterrichtete in einigen Zeilen den Oberst von der Veränderung seines Lebensplanes. Dagmar ließ er grüßen und beklagte den Verlust, den sie in dem Augenblick erlitten hatte, da andere Frauen wenigstens der Hoffnung sich hingeben, das Glück erobert zu haben.

Als David von **köping abfuhr, war sein Entschluß gefaßt, in Jahr und Tag nach diesen Gegenden nicht mehr zurückzukehren.

 

XLV.

Zwei Jahre vergingen, ohne daß unser Doktor seine Heimat besuchte. Er hatte sich im Laufe derselben einen hervorragenden Namen als einer der verdienstvollsten Aerzte der Hauptstadt erworben.

David kam in die Mode und wurde gesucht.

Seine Praxis war so groß geworden, daß er bereits sich genöthigt sah, neue Patienten abzulehnen, nur um denjenigen sich widmen zu können, welche er bereits hatte.

Mit Leib und Seele war er seinem Beruf ergeben. Alles, was sich nicht darum drehte, war ihm gleichgültig. Er verfolgte jeden Fortschritt in der Medicin und versäumte seine Studien nicht; etwas, das den Ruf, welchen er sich gemacht hatte, rechtfertigte.

Er hatte inzwischen die Freude gehabt, in Stockholm mit seiner Mutter zusammenzutreffen, da sie Georgs Vermählung anwohnte. Seine Mutter wiederzusehen, war für David ein Festtag.

Björnstams waren damals eben in Kopenhagen gewesen, so daß sie nicht auf die Hochzeit kommen konnten.

David hatte Niemand von ihnen gesehen, seitdem er **köping verlassen; aber schon einige Monate nach seiner Ankunft in der Hauptstadt war ein langer Brief von Majken an ihn eingelaufen. Den Inhalt desselben kennen wir nicht; aber David hatte sich von da an wo möglich nur noch eifriger als zuvor seinem ärztlichen Berufe hingegeben.

Ein lebhafterer Briefwechsel hatte sich sofort zwischen Majken und ihm angeknüpft und wurde bleibend unterhalten.

Er erfuhr auch durch ihre Briefe, daß Arthur, welcher Wittwer war, da er nach Schweden kam, eine kleine Tochter hinterlassen hatte, und daß dieses Kind nunmehr von Dagmar, welche beständig in Haraldshof wohnte, erzogen würde. Während des Winters verweilte sie einige Wochen bei ihrem Vater in Eriksdal, kehrte aber hernach wieder in die liebe Heimat ihrer Kindheit zurück. Sie hatte dort ihren eigenen Haushalt, welcher von Frau Thorén besorgt wurde.

Im dritten Frühjahre seines Aufenthalts in der Hauptstadt glaubte David der Erholung zu bedürfen und entschloß sich, den Sommer eine Reise zu machen. Er überließ seine Praxis einigen seiner Kollegen auf die drei Monate, welche er fortzubleiben beabsichtigte.

Mit einem innigen Gefühl von Zufriedenheit ging David an einem schönen Sommermorgen an Bord des Dampfschiffes, welches ihn aus dem Getümmel der Hauptstadt entführen sollte. Es war ihm, als ob er aus einem Kerker befreit würde, und er genoß in vollen Zügen die neugewonnene Freiheit.

Auf dem Dampfschiff traf er ein junges Paar, welches seit einem Jahre Mann und Frau war – nämlich Christoph Alm mit seiner Gattin. Die Begegnung erschien auf beiden Seiten gleich angenehm, und die früheren Universitäts-Kameraden sprachen gegen einander ihre Freude darüber aus, sich so unvermuthet zu treffen.

David gewahrte auch, daß Alm in tiefer Trauer war, und fragte ihn nach dem Grunde derselben. Christoph hatte seinen Vater begraben. Sjöqvist, welcher das letzte Jahr krank gewesen, war im Frühling mit Tod abgegangen, ehe der Sohn herbeieilen konnte, um ihm die Augen zu schließen.

Christoph betrauerte seinen Vater aufrichtig, aber er war allzu glücklich, als daß der Kummer sonderliche Macht über ihn haben konnte, um so mehr als er vor dem Vater eigentlich keine Achtung zu hegen vermochte, sondern nur die nachsichtige Anhänglichkeit eines Kindes gegenüber von ihm empfand.

 

XLVI.

Zu Aengsberga gab es eine Menge Geschäfte im Garten. Frau Waldner selbst hatte vollauf zu besorgen.

Das Haupt von einem breiten Strohhut beschattet, war sie gerade eifrig daran, einige seltene Blumen zu versetzen, als eine muntere Stimme von einem der Gänge her rief:

»Wo in aller Welt weilt denn gerade Frau Waldner?«

»Hier, liebes Kind,« antwortete die gute Tante und erhob sich aus ihrer gebückten Stellung.

Eine schlanke Frauengestalt eilte unter den Bäumen hervor, und in der nächsten Sekunde stand Dagmar an Tante Waldners Seite. Sie hielt einen kleinen, mit frischen Blättern bedeckten Korb in der Hand.

»Willkommen,« sagte Frau Waldner und nickte ihr ganz freundlich zu. »Wie du heute Abend warm und schön aussiehst, mein süßes Mädchen.«

»Theuerste Tante, vergiß nicht, daß ich Frau bin,« fiel ihr Dagmar ins Wort. »Aber nicht davon wollen wir reden, sondern von der Ursache, warum ich so warm habe. Ja, siehst du, das kommt daher, daß wir, Agnes und ich, eine Wette eingegangen haben, wer von uns beiden dir zuerst Erdbeeren anbieten könnte. Wir hoben gleichzeitig an, und nach langem Suchen habe ich einen kleinen Vorrath davon gesammelt. Es galt Eile, und hier bin ich nun mit meinem Schatze. Ich bin auch tüchtig zugefahren. In einigen Minuten ist Agnes hier, aber da hast du meine Beeren bereits erhalten, du gute, liebe Tante.«

»Glaubst du wirklich, daß es für eine Marquisin d'Aveyron sich schickt, auf solche Weise von dannen zu schießen?« rief eine Stimme von einem der Gänge her, und Georgs junge Frau kam auf die Schwiegermutter zu.

Bei dem Namen d'Aveyron flog eine leichte Wolke über Dagmars Stirne; diese verschwand jedoch gleich, und Dagmar versicherte, es schicke sich eben so gut für sie wie für Agnes, welche Mann und Kind im Stich gelassen, um Dagmar eine Freude zu rauben.

»Du darfst nicht vergessen, daß ich in meiner Eigenschaft als Georgs Frau Pflichten und Rechte habe, welche du nicht besitzest,« fiel Agnes ein; »ich komme als Georgs zweites Ich.«

»Ganz schön, aber ich – ich bin hier mit den Beeren als Davids Repräsentant. Er ist der ältere Sohn und muß wohl den Vortritt haben.«

Frau Waldner streichelte und küßte die Wangen der jungen Frauen, und dankte ihnen für ihr Wohlwollen; sie wollte, dieselben sollten mit ihr heraufkommen und sich mit etwas Himbeersaft und Wasser erfrischen; aber Agnes konnte nicht länger von ihrem Kinde wegbleiben, und Dagmar wollte nach Hause zu ihrem kleinen Mädchen, das sie mit dem Versprechen, sogleich wiederzukehren, verlassen hatte. Als die jungen Frauen eine Weile mit der alten Dame geplaudert hatten, nahmen sie Abschied und fuhren, jede in ihrem Wagen, nach Hause.

Agnes eilte an der Allee, welche nach Haraldshof führte, vorüber, und lenkte nach dem Hüttenwerk hinab, wo ein neues, schönes Gebäude auf Rechnung des Disponenten errichtet worden war. Dagmars Equipage schlug den Weg nach dem alten Herrensitz ein.

Die Staubwolke hinter den beiden Fuhrwerken hatte sich noch nicht gelegt, als ein leichter Reisewagen auf dem Hofe von Aengsberga anhielt.

Frau Waldner hatte jedoch keine Ahnung von dem neuen Besuch; die kleinen Körbe mit den Beeren waren bei Seite gestellt worden, und sie beschäftigte sich wieder mit ihren Pflanzen.

Es rauschte im Laube; es bewegte sich in den Gängen des Gartens; aber der Arbeitenden waren rings herum so viele, daß diese Laute die Aufmerksamkeit der guten Frau nicht erregten. Plötzlich fühlte sie sich von ein paar starken Armen umfaßt und eine kraftvolle männliche Stimme rief:

»Ist das auch recht und in der Ordnung, daß Frau Waldner in den Blumenbeeten herumstochert und sich die Finger mit Erde beschmutzt?«

»David!« stammelte die überglückliche Mutter und schlang ihre Arme um des Sohnes Hals. »Herr mein Gott! liebstes, liebstes Kind, wie bin ich so erfreut!«

»Davon ist mein Hemdkragen ein sprechender Beweis,« scherzte David; »aber zur Strafe dafür, daß du mich so übel zugerichtet hast, sollst du mich auch den ganzen Sommer hegen und pflegen; ich beabsichtige von Herzens Grund zu faulenzen.«

David küßte der Mutter die Hände, trotz der beschmutzten Finger. Er war so glücklich sie wiederzusehen. Frau Waldner weinte und lachte fast zu gleicher Zeit bei der Vorstellung, daß sie den geliebten Sohn so lang bei sich behalten dürfte.

Die Pflanzen wurden nun dem Gärtner anvertraut. Frau Waldner nahm hierauf die kleinen Erdbeerkörbe und führte David in das Haus hinauf, um dort ungestört den ersten Abend nach seiner Wiederkehr sich mit ihm zu unterhalten.

»Was willst du dich da mit dem Tragen selbst beschweren?« fragte David. »Kannst du die Körbchen nicht mir anvertrauen?«

»Ich fürchte, du wirst sie verderben; sie sind, wie du siehst, nur von Blättern und Stielen.«

»Nun, was enthalten sie denn Außerordentliches?«

»Etwas, womit ich dich bewirthen will. Es hat sie mir selbst erst vor einer halben Stunde Jemand zum Geschenk gemacht.«

»Wer?«

»Welche? mußt du fragen.« Frau Waldner hielt Dagmars Körbchen, welches mit Maßlieben verziert war, in die Höhe. »Dieses hier ist von Dagmar und das andere von Agnes.«

Nun erzählte Frau Waldner von deren Wetteifer und fügte bei, daß Dagmar gesagt hätte, sie stelle David vor.

Der Doktor sagte nichts; aber als die Mutter etwas später ihm mit den Beeren aufwartete, nahm er nur von denen, welche Dagmar gepflückt hatte.

Nach dem Souper wollte Frau Waldner die Körbchen wieder an sich nehmen und aufheben, aber zu ihrem großen Leidwesen war das von Dagmar verschwunden.

Später am Abend hätte die gute Mutter einen Blick in das »Zimmer der jungen Leute« werfen sollen; sie würde dann wohl dahinter gekommen sein, welchen Weg das verlorne Körbchen genommen hätte.

 

XLVII.

In einem Salon zu Haraldshof, dessen nach dem Garten gehende Glasthüre geöffnet war, finden wir Dagmar in einem hochlehnigen Fauteuil zurückgebeugt. Ihr Angesicht war bleich, ihr Auge müde und über ihrem ganzen Aeußern weilte ein Gepräge von Niedergeschlagenheit. Man wäre beinahe versucht gewesen, Dagmar für kränklich zu nehmen, wenn die Fülle ihrer Gestalt eine solche Annahme nicht Lügen gestraft hätte.

Auf ihren Knieen lag ein Buch, welches sie noch nicht geöffnet hatte. Die eine Hand hing zur Seite nieder, die andere ruhte auf dem Buche.

So war Dagmar, Gott allein weiß, wie lange dagesessen, als Schritte von der Glasthüre sie aus dem Nachdenken, worein sie versunken war, erweckten.

»Guten Morgen,« sagte Olle.

Dagmar beantwortete den Gruß, ohne ihre Lage zu ändern.

»Wie geht es heute mit deiner Gicht, lieber Olle?« fragte sie.

»Ziemlich gut; aber es sieht aus, als ob Ew. Gnaden sich nicht ganz wohl befänden.«

Olle betrachtete sie mit einem mißvergnügten Blick.

»Du meinst nur so,« entgegnete ihm Dagmar. »Mir ist immer wohl.«

»Es mag so sein, versteht sich; obwohl es erkünstelt aussieht. Wenn meine kleinen Blumen ihre Kelche zur Erde neigen, anstatt sie zur Sonne zu erheben, und wenn die Vögel unruhig bei Nacht herumflattern, so ist es kein gutes Zeichen.«

»Darin kannst du recht haben, obwohl ich nicht begreifen kann, welcher Zusammenhang zwischen deinen Blumen und Vögeln und meinem Gesundheitszustand stattfinden mag. Aber von wegen der Blumen, ich habe Frau Waldner versprochen, ihr einige von den hellen Levkojen nach Aengsberga zu schicken.«

»Es verlohnt sich kaum der Mühe; dort haben sie jetzt an etwas Anderes zu denken.«

»Was soll das sein?«

»Ach mein Gott, der Doktor ist ja gestern Abend angekommen, und heute sah ich ihn nach dem Hüttenwerk hinabreiten.«

Dagmars bleiche Wangen färbten sich mit einem leichten Roth. Olle bemerkte die zarte Farbe und begann sich mit den Blumen in den Rabatten zu beschäftigen. Er lächelte für sich selbst so hin und begab sich nach einer Weile in andere Gegenden des weitläufigen Gartens.

Dagmar streckte die Hand nach einem Sommerhut aus, welcher auf einem Stuhle daneben lag, setzte ihn auf und erhob sich, wahrscheinlich in der Absicht, einen Spaziergang zu machen; aber in diesem Augenblick öffnete sich eine der Salonthüren und ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren kam hereingehüpft.

»Guten Morgen, Mama, Adele will dich begleiten, Adele will ausgehen,« rief sie, und man konnte sagen, daß Adele unendlich viel wollte.

Dagmar lächelte, hob die Kleine empor und küßte sie; aber nachdem das Mädchen ihre Liebkosungen mit ein paar Küssen beantwortet hatte, wollte sie hinaus. Dagmar folgte der Kleinen, welche nun ganz despotisch die Frau Mama zwang, mit ihr herumzuspringen und zu spielen, gerade als ob Dagmar ihr an Alter völlig gleich gewesen wäre.

Adele lachte aus vollem Halse; zuweilen hörte man auch Dagmars Lachen mit dem des Kindes sich mischen.

Während sie in ihrem Spiele fortfuhren, hatte Frau Thorén die Thüre zum Salon geöffnet und David mit den Worten eingelassen:

»Dagmar sitzt dort in dem Fauteuil.«

Nachdem sie ihm diesen Bescheid gegeben hatte, schloß sie die Thüre hinter ihm.

David trat auf den hochlehnigen Fauteuil zu, aber keine Dagmar fand sich dort.

Jetzt vernahm er Dagmars und des Kindes Stimmen vom Garten her.

Er schaute auf, woher sie kamen, und gewahrte Dagmar, welche sich hinter einem Busch zu verbergen im Begriff war, während Adele herumsprang und nach ihr suchte. Endlich fand Adele die Mama und jubelte laut vor Freude.

David wandelte bei dem Anblick des Kindes ein unbehagliches Gefühl an.

Der minder angenehme Eindruck wurde jedoch schnell wieder zurückgedrängt, als seine Augen sich wieder auf Dagmar hefteten.

Er ging hinaus in den Garten.

David stand vor Dagmar in demselben Augenblick, als sie ihre Arme um das leichtfüßige Mädchen schloß, welches gefangen wurde, eben da es entfliehen wollte.

»David!« rief Dagmar, ließ das Mädchen los und reichte ihm ihre Hände hin.

»Wie schön, wie gut ist es von dir, daß du kommst; so lange hast du mich auf dieses Wiedersehen warten lassen.«

David lächelte und küßte ihre Hände.

»Du hast mich somit erwartet?«

»Ich wußte ja, daß du kommen würdest. Obwohl zwei Jahre verflossen sind, ohne daß du etwas von dir hören ließest, war ich doch versichert, daß du eines Tags mich aufsuchen würdest.«

»Du hättest mir niemals, Dagmar, einen willkommeneren Gruß bieten können, als in diesen Worten enthalten ist,« antwortete David. »Daß ich dich wieder aufsuchen würde, war gewiß und sicher; aber ungewiß, ob es zur rechten Stunde geschehen dürfte.«

»Ich fürchte, daß der Freund länger zögerte, als er sollte,« fiel Dagmar hastig ein.

»Das hat weniger zu bedeuten, wenn David nur nicht zu spät kommt.«

Dagmar konnte keine Antwort geben; sie rief Adele. David setzte hinzu:

»Heute hatte ich nebenbei andere Pflichten, welche mich hieher führten. Ich komme nämlich, um einige Monate daheim zu bleiben, und mußte somit in Haraldshof einen Besuch machen, um dafür zu danken, daß du es übernommen hast, während meiner Abwesenheit meiner Mutter ältern Sohn zu repräsentiren.«

»Und du bist ein berühmter Arzt geworden!« unterbrach ihn Dagmar.

»Darüber kann ich mich nicht aussprechen; aber das erste, worauf ich in meiner Mutter Hause stieß, war eine Gabe von dir; das, kann ich betheuern, machte mir eine wirkliche Freude. Eine gute Vorbedeutung war die Gabe, obwohl ein Korb.«

Dagmar wich Davids Blicken aus, nahm Adele an der Hand und stellte sie dem Doktor mit den Worten vor:

»Adele d'Aveyron, Arthurs hinterlassene Tochter.«

Dagmar schaute zärtlich das Mädchen an, welches dem fremden Herrn zunickte und hierauf davon sprang. Sie hatte den alten Olle zu Gesicht bekommen und eilte auf ihn zu.

Das Gespräch zwischen David und Dagmar nahm jetzt einen mehr allgemeinen Charakter an. Man redete von Georg. Dagmar erinnerte David an das Urtheil, welches sie über seinen Bruder gefällt hatte, und David bekannte mit einem Lächeln, daß sie dem Anschein nach bei der Beurtheilung von Georgs Gefühlen einen sichereren Blick als er gehabt hätte. Darauf bemerkte er:

»Ach, ich habe dir ja noch keine Mittheilung von der eigentlichen Ursache meines Besuchs gemacht.«

»Bedurfte es einer besondern Ursache?« fragte Dagmar lächelnd. »Ich glaube nicht.«

»Wenn ich auch dessen nicht bedürfte, könnte ich doch wohl einen solchen haben. Ich beabsichtige nämlich, dir ein lang vermißtes Kleinod wieder zuzustellen.«

»David!« rief Dagmar; »du willst doch nicht zurückgeben, was ich dir einmal geschenkt habe.«

»O nein, ich gebe nicht zurück, was ich erhalten. Hier handelt es sich um etwas, das ich in Verwahrung habe.«

David reichte ihr das Etui, welches Olle von Dagmars Toilettentisch weggenommen hatte.

Sie empfing es mit vollkommen gleichgültiger Miene, indem sie sagte:

»Du hast es von Olle erhalten; das hat er mir erst kürzlich bekannt.«

»Ich glaubte, es würde jetzt einen höhern Werth für dich haben, als damals, als du es verlorest.«

»Ach, mein Freund, es ist ein Porträt von meiner Mutter Bruder. Dessen Werth lag bloß darin, daß es mich an Arthur erinnerte. Willst du, so behalte es immerhin. Ich liebe diese Erinnerungen nicht mehr.«

Dagmar pflückte eine Pensée und reichte sie David.

»Eine schöne Blume,« sagte sie.

»Unleugbar.«

»Warum nimmst du sie nicht? Weißt du, was sie gleicht?«

»Dem Sammet.«

»O nein, sie erinnert an schöne aber ernste Gedanken, tiefe und heilige Gefühle. Du kannst sie ja in ein Knopfloch deines Rockes stecken.«

»Dagmar! Ich werde sowohl sie als das Etui aufbewahren, bis du beides zurückbegehrst.«

»Dann kannst du es für immer bewahren. Weißt du, daß Majken und Papa etwas später im Sommer hieher kommen?«

»Majken hat mir davon geschrieben.«

»Steht ihr in Korrespondenz?«

»Ja.«

Agnes kam und machte dem Gespräch unter vier Augen ein Ende.

 

XLVIII.

Daß Dagmar und David von diesem Tage an einander öfters sahen, versteht sich von selbst.

Bald kam sie nach Aengsberga, bald fuhr er nach Haraldshof, und dazwischen trafen sie sich auch bei Georg. Sie gingen als gute Freunde mit einander um, aber hüteten sich gegenseitig, auf irgend ein zärtlicheres Gefühl hinzudeuten. Dagmar war recht herzlich, aber es ruhte auf dieser Herzlichkeit eine solche Ruhe, daß es Niemand einfiel, darin etwas Anderes als Freundschaft zu sehen.

Davids Benehmen war vielleicht kälter und hatte zuweilen einen Schein von Gleichgültigkeit, welcher Frau Waldner ein wenig ärgerte.

Doch gab es trotz dieses Kaltsinns keine Person, deren Gesellschaft er so eifrig suchte, als diejenige Dagmars, aber ohne daß er wie früher sich in ihr Thun mischte oder ihre Gefühle auszuforschen suchte.

Es kam niemals vor, wenn er zu Haraldshof vorsprach und Dagmar bleich und ermüdet aussah, daß er eine Anmerkung darüber machte oder nach der Ursache fragte. Er stellte sich, als ob er nichts merke, und schien anzunehmen, daß Dagmar so zufrieden und froh war, wie sie sich zeigte.

Eines Abends war David bei einem der Nachbarn gewesen und begab sich etwas spät nach Hause. Er kam an Haraldshof auf demselben Weg vorüber, welchen Ring gefahren war, als er Zeuge davon wurde, wie Dagmars Mutter ihr Leben beschloß.

Die See lag ruhig und klar da in der hellen Sommernacht. Ueberall war es still in der Nähe und Ferne.

Es sah aus, als ob die Natur in einen lieblichen Traum versunken wäre.

Plötzlich hielt David sein Pferd an.

Eine Frau saß am Strande. Sie war zur Hälfte von den Bäumen verborgen. Er konnte nicht unterscheiden, wer es war; aber er glaubte es doch zu wissen. Er schwang sich sogleich vom Pferde, dessen Zügel von einem Mann gefaßt wurden, der hinter dem Stamm einer großen Eiche sich verborgen hielt.

Der Mann war Olle.

Er deutete auf die Frau am Strande und flüsterte:

»Dieselbe Stelle, wo die Mutter sich hineinwarf.«

David blieb einen Augenblick stehen, wie von einer plötzlichen Offenbarung getroffen.

Eine kleine Weile, und er hatte seine Handlungsweise bestimmt.

Ein Liedchen pfeifend, ging David mit gleichgültiger Miene und Haltung zum Strand hinab. Sein Schritt war laut; er kam aber dessen ungeachtet ganz nahe zu der Frauengestalt heran, ehe sie sich rührte; aber da fuhr sie auf, als ob sie aus einem Traume erwachte.

»Was seh' ich!« rief David; »bist du es, Dagmar?«

Er stand ganz in ihrer Nähe. Dagmars Angesicht war von Thränen benetzt.

David erkannte, daß die Zeit zu Bemerkungen nicht tauglich war. Er nahm auch, ohne ein Wort beizusetzen, ihren Arm, legte ihn in den seinigen und führte sie vom Strande hinweg über die Straße, durch den Park und nach dem Salon, dessen Glasthüre offen stand.

Nicht ein Wort wurde unterwegs geäußert. Beim Eintritt in den Salon zog Dagmar ihren Arm aus dem von David und schaute zu ihm auf, indem sie flüsterte:

»Wie gut bist du gegen mich!«

»Und du – wie grausam bist du gegen David,« antwortete er.

»Sprich nicht so!«

Dagmar verbarg ihr Angesicht in den Händen.

David zog dieselben hinweg und bemerkte mit ruhiger und milder Stimme:

»Hast du vergessen, was du einmal versprachest? Es würde mir leid thun, Dagmar, wenn du dein gegebenes Wort brächest. Hat Davids Friede einigen Werth für dich, so gehe zur Ruhe. Suche zu schlafen, und nun: gute Nacht!«

»Ich werde zu gehorchen suchen,« stammelte Dagmar und eilte hinein.

Die Thüre wurde geschlossen. David kehrte zu seinem Pferde und dem alten Olle zurück.

»Mein Gott, Herr Doktor, so schlecht steht es nun wieder. Sie haben jetzt zum zweiten Mal Anlaß, uns zu helfen.«

David klopfte den Alten auf die Schulter und versicherte, daß es wieder recht werden sollte; darnach schwang er sich auf sein Pferd und ritt hinweg.

 

XLIX.

Am folgenden Morgen erwartete Dagmar mit einer gewissen Unruhe, daß David von sich hören lassen würde. Der Vormittag war jedoch schon ziemlich weit vorgeschritten, ohne daß er sichtbar wurde. Um elf Uhr fuhr Frau Waldners kleine Droschke im Hofe vor, und sie stieg allein aus derselben.

Dagmar und Adele hießen die Tante mit großer Herzlichkeit willkommen. Sie ihrerseits erklärte sogleich, sie sei gekommen, um sie nach Aengsberga mitzunehmen.

Allerdings fiel es Dagmar schwer, sich von allen ihren mancherlei Beschäftigungen zu trennen; denn sie sollte ja einigen armen Frauen zu arbeiten geben; es sollten einige Kinder der Dienstleute vom Hüttenwerk Kleider erhalten, denen sie solche selbst verfertigt hatte und auch selbst austheilen zu müssen glaubte; aber Frau Waldner meinte, das Alles könnte Frau Thorén eben so gut besorgen. Die Folge war, daß die junge Wittwe und Adele nach Aengsberga fuhren. Georg und Agnes sollten zum Mittagessen dorthin kommen, und Alles ließ hoffen, daß es ganz unterhaltend würde, versicherte Frau Waldner.

Dagmar scherzte über Tante Waldners Tyrannei, sah aber ganz heiter aus, als sie zu Aengsberga ankamen, wo David ihnen aus dem Wagen half.

Es regte sich anfänglich eine gewisse Verlegenheit bei Dagmar, als David sie anredete, aber sie verschwand bald. Er war ja so aufgeräumt, sah so gut und freundlich aus, daß Dagmar sich von seinem Anblick ganz belebt fühlte.

Das Frühstück wartete auf der Veranda. Als man damit fertig war, nahm Frau Waldner Adele mit sich in den Garten hinab.

David und Dagmar blieben allein.

Dagmar hatte Adele und die Tante begleiten wollen, aber David erklärte sich dagegen.

»Gestehe, Dagmar,« sagte er, »daß du dich beinahe vor mir zu fürchten scheinst.«

»Fürchten?« fragte sie, ihn anschauend. »Wie wäre das möglich? Von dir habe ich ja wohl nichts zu fürchten?«

»Nicht gerade; aber du weißt, daß ich als Freund und Arzt dich schelten muß.«

»Nicht als Arzt, aber wohl als Freund. Zu dem erstern habe ich niemals meine Zuflucht nehmen dürfen.«

»Aber du bist gleichwohl krank und bist es schon lange gewesen.«

»Beweise es, wenn du kannst. Ich glaube, es würde mir ein Vergnügen machen. Worin besteht denn meine Krankheit?«

Dagmar hatte dieß in ganz scherzhaftem Tone gesagt.

»In einer krankhaft gereizten Einbildung, welche endlich eine noch schwerere Geisteskrankheit herbeiführen könnte.«

»Sprich nicht so, aus Barmherzigkeit,« rief Dagmar und legte ihre Hand auf seine Lippen. Sie war todesbleich geworden. Davids strenger Blick nahm nun einen Ausdruck inniger Theilnahme an.

»Ist denn was ich eben sagte, so Schrecken erregend?« fiel er ein. »Dieß war also das Uebel, woran du littest; der Kummer, welcher dich verzehrte; die Angst, welche dir deinen Frieden raubte? O Dagmar, warum hast du dich mir nicht anvertraut?«

Dagmar ließ den Kopf sinken und sagte mit tiefer Niedergeschlagenheit:

»Ich vermag nicht über diesen Gegenstand zu reden. Ich kann nicht von einem Unglück sprechen, welches mir so furchtbar scheint, und aus welchem es keine Rettung gibt.«

»Wenn du selbst nicht davon reden kannst, mußt du wenigstens auf das hören, was ich dir zu sagen beabsichtige.«

»Nein, David, nicht einmal das ist mir möglich,« fiel Dagmar ein.

»Wir setzen jedoch voraus, daß du es thust; daß du mich lieb genug hast, um dich dieser Plage zu unterwerfen. Ich will dir übrigens bloß ein kleines Ereigniß aus der Wirklichkeit erzählen. Du mußt hören, ohne mich zu unterbrechen.«

»Ich hatte einen Freund,« fuhr David fort, »einen jungen Arzt, welcher mir einmal die Geschichte seiner Liebe erzählte. Du sollst erfahren, wie sie lautete:

»Er hatte eine junge Verwandte gehabt, ein heiteres und liebenswürdiges Mädchen, welches er von den Kinderjahren an kannte.

»Einige Jahre lang sahen sie einander nicht; aber da sie sich wieder begegneten, sagte man ihm, das junge Mädchen leide an einem heimlichen, unerklärlichen Kummer. Man bat den jungen Arzt, demselben entgegenzuarbeiten. Er widmete ihr seine ungetheilte Aufmerksamkeit und suchte durch genaue Beobachtung die Ursache zu erforschen, um hernach ihre Schwermuth vertreiben zu können. Das erstere gelang ihm nicht, dagegen ging es mit der letztern besser als er zu hoffen gewagt hatte. Sie vergaß allmälig zu weinen und zu grübeln. Sie vergaß die Phantasiewelt und lebte mit ihm in der Wirklichkeit. Sie liebte den Arzt und wurde von ihm geliebt. Was sie für sein Herz war, vertraute er ihr einmal an, und ihre Antwort war ein Bekenntniß, wie lieb er ihr gleichfalls war. Das Glück öffnete ihnen seine Arme, aber das Mädchen stieß die Seligkeit von sich und forderte ihren Geliebten auf zu entsagen. Sie erklärte, ein unheilvolles, ein mysteriöses Geschick trenne sie von einander.

»Er suchte die auf, welche Alles für ihn war; er fand sie an dem Krankenbett eines Verwandten, den letztern mit einer Zärtlichkeit umgebend, welche ihn bestimmte, von jeder Erklärung abzustehen. Er versuchte dessen ungeachtet ihr Benehmen ohne Bitterkeit zu beurtheilen und die Beweggründe dafür zu erklären; aber es wollte nicht gelingen. Er hatte jede Stunde ihres Beisammenseins durchgangen; jedes Wort, das sie ausgesprochen, jede Bewegung, die in ihren Zügen sich ausprägte, sich vorgehalten. Alles rief ihm zu: Sie liebt dich! und doch vergaß sie ihn jetzt für einen Andern, einen Fremdling. Vorauszusetzen, daß in ihrem Herzen Trug und Treulosigkeit wohnte, das vermochte er nicht; dazu liebte er sie allzu innig. War es Mitleid, welches ihre Handlungen diktirte? So glaubte er bis zuletzt und ahnte einigen Zusammenhang zwischen diesem Verwandten und dem unerklärlichen Geschick, wodurch sie ihrer Aussage nach von ihm geschieden wurde. Er beschloß der Zeit zu vertrauen und geduldig zu warten, bis dessen Tod sie von der Rolle einer Krankenwärterin befreite. Da wollte er sie aufsuchen; er wollte nicht von ihr lassen, ehe sie ihm eine Erklärung gegeben hätte, nicht eher als bis sie eingewilligt hätte, die Seinige zu werden.

»Da wurde er plötzlich an ein Sterbebett gerufen; es war ihr kranker Verwandter, welcher seinen letzten Kampf mit dem Tode bestand.

»Der Arzt kam erst, als das Leben erloschen war, aber der Todte hatte für ihn jede Hoffnung auf Glück vernichtet; in der Todesstunde hatte er sich mit derjenigen trauen lassen, welche der Arzt liebte. Sie hatte dem Sterbenden dieselbe Hand gegeben, welche sie dem, den sie liebte, verweigerte.

»Eine solche Handlungsweise konnte der Arzt nicht verstehen. Er ging fort, um ihr nicht mehr zu verzeihen.«

»Aber er verzieh,« flüsterte Dagmar.

»Daß er es konnte, daran war des Mädchens Stiefmutter schuldig. Sie verstand sein Unglück und gab ihm den Schlüssel zu dem Räthsel. Sie rettete ihm den Glauben an die Geliebte.

»Aber reden wir nicht weiter von ihm. Wir wollen uns mit dem Mädchen beschäftigen. Du weißt, daß ihr geheimnißvolles Thun bitteres Leiden mit sich geführt hatte. Wie anders, wenn die Liebe stärker gewesen wäre, als die Zurückhaltung! Sie hätte ihm dann gesagt, was es war, das sie in eine arme von Schreckbildern geplagte Träumerin verwandelte, das sich zwischen sie und das Glück stellte. Manche bittere Stunde hätte sie dann sich selbst und dem Geliebten erspart.«

David faßte Dagmars Hand und setzte hinzu: »Was du damals solltest, wirst du jetzt thun.«

Dagmar schwieg, sah aber David mit einem bittenden Blicke an.

»Dagmar,« begann David wieder in ernstem Tone: »Du hast mit deinem geheimnißvollen Thun einen Fehler begangen, welchen du gut machen mußt. Es wäre schlimm, wenn du nicht den Muth hättest, mit mir die Quelle deines stillen Kummers selbst zu erforschen; oder sollte David Unrecht gethan haben, daß er wieder gekommen ist?« fragte der Doktor.

»Nein, das hat er nicht!« rief Dagmar. »Ich werde reden,« setzte sie hinzu; »obwohl du nicht weißt, wie viel du von mir forderst. Ich habe niemals früher meinen Kummer in Worte gekleidet, und nun, da ich es thun soll, scheue ich vor dem Laut meiner eigenen Stimme zurück.«

»Aber hernach wird der Kummer,« fiel David ein, »seinen Stachel verlieren, und du wirst darüber erstaunen, daß ein eingebildetes Unglück dir so großen Schmerz verursachen konnte.«

Dagmar erhob den Kopf, aber der bekümmerte Ausdruck war verschwunden.

»Mag es denn geschehen,« und ohne weitere Vorbereitungen begann Dagmar ihre Erzählung.

 

L.

»Während unseres Aufenthalts in Paris besuchten wir das Atelier eines ausgezeichneten Malers. Unter den Gemälden, welche meine Aufmerksamkeit fesselten, war ein neapolitanischer Fischerknabe. Das Gemälde war von einem jungen Marquis d'Aveyron bestellt, welcher sich in Gestalt eines Fischers hatte porträtiren lassen. Mein Vater wurde nachdenklich bei dem Laute dieses Namens, den auch meine Mutter geführt hatte.

»Der Eindruck des Gemäldes verschwand jedoch bald vor den übrigen, welche einander ablösten.

»Eines Abends, einige Zeit darauf, besuchten wir die italienische Oper. In die Loge uns gegenüber trat ein junger Mann und eine einnehmende Dame in Gesellschaft des schwedischen Legationssekretärs.

»Unsere Aufmerksamkeit richtete sich sogleich auf ihn. Wir hatten das Modell zu dem schönen Fischerknaben vor uns.

»Sein ganzes Aussehen zeugte von Jugend, Gesundheit, Lebensfrische. Er hatte sichtbarlich seine Freude daran, jung und schön zu sein.

»Mit seinem Opernglase überschaute er das Publikum und endlich haftete sein Auge auf uns.

»Er wandte sich zu dem Legationssekretär, sagte etwas zuerst zu ihm, hernach zu der Dame, und hernach verließen die Herren die Loge.

»Einige Augenblicke darauf traten sie in die unsrige und der Legationssekretär stellte uns den Marquis Arthur d'Aveyron vor.

»Arthur sagte dem Papa einige verbindliche Worte, welche das Vergnügen ausdrückten, das er darüber empfand, daß er seine Bekanntschaft machte, und fragte, ob er derselbe Oberst Björnstam wäre, welcher mit Anaïs d'Aveyron sich verheirathet hätte.

»Mein Vater bejahte die Frage, und Arthur nannte sich einen Bruderssohn von Anaïs.

»Er und ich, wir waren folglich Cousin und Cousine.

»Sein Vater und Großvater wohnten auf dem Familienschloß. Als Arthurs Mutter starb, hatte der Vater sich von der Welt zurückgezogen, und der Sohn hatte weder den Vater noch den Großvater in den letzten drei Jahren zu Gesicht bekommen.

»Er war eben von einer Reise ins Ausland, welche er mit seiner jungen Frau gemacht hatte, zurückgekehrt. Unter anderem äußerte er auch, daß zwischen seiner Frau, welche in der Loge uns gegenüber saß, und zwischen mir eine erstaunliche Aehnlichkeit sich fände, welche ihm sogleich aufgefallen wäre.

»Er verließ nach einer Weile unsere Loge, nachdem er sich ausgebeten hatte, mit seiner jungen Frau uns einen Besuch machen zu dürfen.

»Zwei Wochen lang waren wir beinahe täglich mit ihnen zusammen. Beide, jung, liebenswürdig, glücklich und heiter, betrachteten das Leben von dessen sonnigster Seite.

»Eines Tags fand sich Arthur mit einer Wolke auf der sonst so freien Stirne ein. Er hatte einen Brief von seinem Vater erhalten, welcher aus Anlaß eines umlaufenden Gerüchts über die Religion seiner Schwiegertochter zu erfahren wünschte, ob es möglich wäre, daß sein Sohn eine von dem allein selig machenden Glauben abtrünnige Frau zu seiner Gattin habe machen können. Arthur beabsichtigte nun zu seinem Vater zu reisen, um ihn damit zu versöhnen, daß seine Schwiegertochter Protestantin wäre – ein Unternehmen, das auf schriftlichem Wege keinen Erfolg versprach.

»Arthur hatte, als er die Einwilligung des Marquis zu seiner Vermählung nachsuchte, es nicht für nöthig erachtet, von dem Glaubensbekenntniß seiner geliebten Zoë Rechenschaft zu geben, aber nunmehr beunruhigte es ihn, daß er es nicht gethan hatte. Er hatte seines Vaters Einwilligung somit eigentlich erschlichen, da er die strengkatholische Denkart von ihm und seinem Großvater nur allzuwohl kannte.

»›Es liegt in unserem ganzen Geschlecht,‹ äußerte Arthur, ›eine angeborne Anlage zur Narrheit, und jede Generation hat ihre Opfer davon gehabt. Mein armer Vater, welcher aus einem übermüthigen jungen Mann ein bigotter Alter geworden ist, steht auf der Grenze von religiösem Wahnwitz und wird mir vielleicht meine Heirat nicht verzeihen.‹

»Arthur und seine Frau reisten nach dem Aveyron'schen Familienschloß, und wir verließen Paris.

»Etwas über zwei Monate waren vergangen, als wir eines Abends mit Zoë und Arthur in Neapel zusammentrafen. Der letztere war beinahe unkenntlich. Sein blühendes Aussehen war verschwunden, und aus jedem Zuge leuchtete ein verzehrendes Seelenleiden. Auch bei Zoë schien es, als ob sie von einem bittern Kummer niedergedrückt wäre. Ein schweres Unglück hatte sie demnach getroffen.

»Nach einstündigem Zusammensein entdeckten wir mit Schrecken, daß Arthur einen Anfall von Geistesverwirrung hatte. Er stand auf der Grenze des Wahnsinns.«

Dagmar drückte die Hand auf die Stirne und fügte hinzu:

»Diese Entdeckung war furchtbar und wurde es für mich in noch höherem Grade, als ich meinen Vater gegen Majken äußern hörte:

»›Sein Zustand erinnert mich auf schmerzliche Weise an Dagmars Mutter.‹

»Ich schlief jene Nacht nicht.

»Vor meinen Ohren erklangen Arthurs Worte: ›Es liegt in unserem Geschlecht eine Anlage zur Narrheit.‹ Meine Mutter war irrsinnig gewesen und mehrere in ihrer Verwandtschaft waren demselben Unglück anheimgefallen. Dieses entsetzliche Erbe bezog sich demnach auch auf mich.

»Dieß war der Anfang zu all den endlosen und qualvollen Nächten, welche nun folgten.«

Dagmar stand auf und machte einen Gang durch den Garten. Als sie ihren Platz an Davids Seite wieder einnahm, war sie ruhig.

»Die Ursache zu Arthurs Geistesstörung war in der Kürze folgende: Er war zu seinem Vater gekommen, bereit auf einen stürmischen Auftritt: aber zu seiner Bestürzung fragte der Vater ihn nur: ›Ist deine Frau nicht eine Ketzerin?‹ Da Arthur mit Ja antwortete, entfernte sich der Vater ohne ein Wort und schloß sich in seinem Zimmer ein. Am folgenden Morgen fand der Kammerdiener ihn todt im Bette. Der Marquis hatte mehrere Jahre an einem Herzübel gelitten, welches nun, wahrscheinlich in Folge der starken Gemüthsbewegung, seinen Tod herbeiführte.

»Arthurs Kummer wurde so heftig, daß er ihn von vorn herein dem Wahnwitz nahe brachte. Er klagte sich an, seines Vaters Mörder zu sein, und als der Großvater in seinem Zorne ihn verstieß und ihm den Tod desselben schuld gab, wurde es zur fixen Idee bei ihm, daß er seinen Vater um's Leben gebracht hätte. Verzehrt von Kummer und des Verstandes beraubt, kam er mit Zoë in Italien an.

»Während unseres Zusammenseins wechselte sein Zustand zwischen vollem Verstande und Anfällen wahnwitziger Verzweiflung, wo er in wilde Klagen ausbrach und sich als den größten Verbrecher auf Erden ansah. Wenn diese Anfälle über ihn kamen, ertrug er nicht einmal den Anblick seiner Frau, sondern floh vor ihr wie vor einem bösen Gewissen. Ich war dann die einzige, welche ihn zur Ruhe bringen konnte. Wenn seine Gedanken sich wieder zu klären begannen, weinte er über das Schicksal, welches über Zoë gekommen. Er erklärte, alle diejenigen, in deren Adern das Blut der Aveyrons flösse, seien zum Wahnwitz verurtheilt, und bat mich, mein Schicksal nicht mit dem eines andern Menschen zu verknüpfen. Ich sollte unverheiratet sterben, um nicht auf mein Gewissen die Schuld zu laden, ein so unheilbringendes Erbe fortgepflanzt zu haben.

»Ich sah, wie unglücklich Zoë geworden; ich war Augenzeugin von Arthurs Anfällen. Ich hörte seine Klagen, wenn die Vernunft wiederkehrte; seine Reue darüber, daß er so viel Elend auf die Frau, die er liebte, gehäuft hatte, und ich prägte dieß alles meinem Gedächtniß ein. Meine Mutter starb wahnsinnig; meine Pflicht war, auf Arthurs Worte: ich möchte niemals mein Schicksal mit dem eines andern verknüpfen, ernstlich zu hören.

»Nach vierwöchigem Zusammensein in Neapel reisten die Aveyrons plötzlich von dort ab, ohne uns auf ihre Entfernung vorzubereiten oder uns zu sagen, welchen Weg sie nahmen.

»Mein Friede war inzwischen für immer dahin. Ueber meiner Seele lagerte eine Schwermuth, welche, wie ich fand, meinen Vater und Majken beunruhigte. Ich begann jetzt zu fürchten, sie möchten von der Furcht vor demselben Unglück, welches ich als mein unausweichliches Schicksal betrachtete, geplagt sein. Es brachte mich an den Rand der Verzweiflung, denken zu müssen, daß sie mit Besorgniß in meinem Angesicht nach jeder Spur davon forschen würden. Ich wollte nicht, daß sie von einer Angst, wie die meinige, gemartert würden, und ich begann eine Rolle zu spielen und mich eben so munter und sorglos wie früher zu zeigen.

»Von Italien nahmen wir unsern Weg nach der Schweiz. Wir durchreisten die dortigen Landschaften. Die Wirkung davon war wohlthuend für meine Seele. Ich vergaß zuweilen mein unglückliches Muttererbe und fühlte mich wieder froh und glücklich.

»Nach einer Reise von einigen Wochen kamen wir eines Abends in einen höchst reizenden Ort, wo wir zu bleiben beschlossen.

»In einiger Entfernung von dem Gasthause erhob sich ein schönes und großartiges Gebäude, welches etwas von einer Burg und einem Schloß in sich vereinigte. Es hatte eine romantische Lage.

»Ich fragte sogleich, wem es gehöre und erhielt zur Antwort:

»Einem Arzte, der hier eine Irrenanstalt habe.

»Ein Narrenhaus in einer so schönen Gegend.

»Ich schauderte und konnte meinen Blick nicht von dem Gebäude abwenden. Es übte auf mich einen gleichzeitig anziehenden und abschreckenden Einfluß aus.

»Ich sprach bei mir selbst:

»In einer solchen Anstalt wirst du eines Tages eingesperrt werden.

»Am Morgen nach unserer Ankunft stand ich frühe auf und begab mich, ehe Papa und Majken erwachten, nach dem großen Irrenhause.

»Ich wollte eine solche Anstalt in der Nähe sehen; ich wollte Bekanntschaft mit den Unglücklichen machen, welche dort weilten.

»Nach einer Unterredung mit dem Arzte war er so artig, mich durch seine Heilanstalt zu führen. Ich sah Irrsinnige und betrachtete sie mit demselben Interesse, womit die zum Tode Verurtheilten den Richtblock betrachtet haben mögen. Wir kamen endlich zu der Abtheilung für die Tobsüchtigen. Der Doktor öffnete eine Klappe von einer Zelle, aus welcher man wildes Geschrei vernahm. Ich schaute mit Entsetzen hinein.

»Der Narr, welcher hier raste, war – Arthur.

»David, ich sehe ihn, wenn ich will, so wie er vor meinen Blicken stand; ich werde niemals seine wildrollenden Augen, seine verwitterten Gesichtszüge vergessen, und ich weiß kaum, wie ich von seiner Thüre hinwegkam.

»O! denken zu müssen, daß man einmal sein Schicksal theilen muß, das ist schrecklich!«

Dagmar verbarg ihr Angesicht in den Händen.

David schwieg still.

Lange konnte Dagmar ihre Fassung nicht wieder finden. Endlich gelang es ihr dennoch.

»Es ist ein bitterer Kelch, den du mir zu leeren gibst, indem du mich zwingst, dieß zu erzählen; aber ich thue es, wie ich Alles thun würde, was du von mir fordertest. Darum wollen wir zu meinem Besuche in dem Irrenhause zurückkehren.

»Als wir, der Doktor und ich, uns wieder in seinem eigenem Zimmer befanden, unterrichtete ich ihn davon, daß ich die Cousine des Unglücklichen wäre und etwas über Zoës Aufenthaltsort zu erfahren wünschte.

»Sie wohnt in einiger Entfernung von hier,« antwortete der Doktor. »Die Marquisin ist viel kränklich und wird bald Mutter werden, aber dessen ungeachtet will sie nicht getrennt von ihrem Manne leben, sondern so nahe sein, daß sie ihn täglich sehen kann. Sie wünscht jedoch unerkannt zu bleiben.«

»Der Doktor sagte auch, daß er gute Hoffnungen in Bezug auf Arthurs Wiederherstellung hege, aber daß es wahrscheinlich langsam gehen würde.

»Unglücklicher als je kehrte ich in das Wirthshaus zurück. Ich erzählte Majken und Papa meinen Besuch im Irrenhaus, sagte ihnen, daß Arthur sich daselbst befände, und bat sie, ein paar Tage hier zu bleiben, damit ich Zoë besuchen könnte.

»Ich hätte allerdings nicht nöthig gehabt, sie zu sehen, um mich in meinem Entschluß, nicht zu heiraten, zu bestärken, aber wie die Umstände nun waren, hatte ihr von Kummer und Verzweiflung niedergedrückter Gemüthsstand genügt, mir zu zeigen, welches Verbrechen derjenige begeht, welcher einen andern Menschen an ein Schicksal kettet, wie es desjenigen wartet, der sich mit einer irrsinnigen Person verheiratet. Zoë war wirklich grenzenlos unglücklich, und zwar, ohne daß etwas geschehen konnte, um ihr Schicksal zu mildern.

»Nach einem Aufenthalt von ein paar Tagen traten wir die Rückreise nach Schweden an und nahmen den Weg über Paris.

»Dort kaufte Papa auf meinen Wunsch den ›Fischerknaben‹.

»Arthur, welcher in seinen glücklichern Tagen sich in diesem bizarren Kostüm hatte porträtiren lassen, war es nach der Heimkehr von dem Vater in Vergessenheit gekommen, die Affaire mit dem Maler abzumachen, welcher nun froh war, das Gemälde verkaufen zu können.

»Ich gab bei Papa vor, ich wollte dasselbe haben, um mich an Arthur zu erinnern, wie ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Die eigentliche Ursache war jedoch, daß ich das Bild meines unglücklichen Cousins vor Augen zu haben wünschte, um niemals in Versuchung zu gerathen, von meinem Vorsatz in Bezug auf künftige Ehelosigkeit abzuweichen.

»Während unseres Aufenthalts zu Haraldshof hing das Gemälde in der Gallerie, und ich brachte dort manchmal ganze Stunden zu, dieses oder das Porträt von dem Vater meines unglücklichen Cousins zu betrachten, wobei ich mir Arthurs trauriges Schicksal vergegenwärtigte.

»Als wir nach Eriksdal übersiedelten, wurde es in der Bibliothek untergebracht; aber von da versetzte ich es späterhin in mein Zimmer. Ich war versichert, Niemand würde die Art von Interesse argwöhnen, welches mir dasselbe eingeflößt hatte. Das Gemälde war mit meinen traurigen Zukunftsträumen verwachsen und wurde mir darum theuer, wie ein Unglücksgenosse.

»Du warst es, David – du, der meine Gedanken von ihm und meinem Muttererbe ableitete; du warst es, der mich, außer meiner Anhänglichkeit an dich, Alles vergessen machte.

»Ich liebte, liebte eben so heftig, so ausschließlich, wie meine Mutter, wie Arthur geliebt hatte. Es war auch nahe daran, daß ich mir aus dem Sinn schlug, ich müßte mich aufopfern, wenn ich dir ein gleiches Schicksal, wie das von Zoë, ersparen wollte.

»Arthur kam, um mich zu meinem unglücklichen Geschick zurückzurufen. Ich sollte mich nie verheiraten.

»Nie!« wiederholte David.

»Du kannst nach dieser Schilderung nicht daran zweifeln.«

»Dagmar! Noch hast du deine Erzählung nicht geschlossen.«

Dagmar stützte den Kopf auf die Hand, als wäre sie ihres Berichtes müde. Sie fuhr jedoch einen Augenblick später fort:

»Du erinnerst dich gewiß meines Leidwesens, als ich die Nachricht erhielt, daß Papa und Majken über den Sommer ausbleiben würden. Nun wohl, als ich genauer über die Sache nachdachte, überzeugte ich mich, daß Papas verlängerte Reise in irgend einem Zusammenhang mit Arthur stand. Ich wußte, daß Arthur seine Frau verloren, daß er das Irrenhaus verlassen hatte und mit seiner Tochter sich in Italien aufhielt; aber man hatte mir keine näheren Aufklärungen geben können.

»Mein Großvater mütterlicherseits, welcher bis in seinen Tod eine fanatische Unversöhnlichkeit sowohl gegen seinen Enkel, wie gegen mich, seine Enkelin, beibehalten hatte, vermachte sein ganzes Vermögen an die Kirche und an fromme Stiftungen und enterbte somit mich und Arthur.

»Dieses Vermögen war niemals groß gewesen und in spätern Jahren sehr zusammengeschmolzen, so daß seine ökonomische Stellung ebenso bedenklich wie sein Gesundheitszustand wurde. Alles dieß erfuhr Papa in Paris.

»Mein Vater, welcher nach Frankreich gereist war, um meines Erbrechts wahrzunehmen, suchte nun Arthur auf und leistete ihm Hülfe in der Noth.

»Arthurs Schwiegervater war ruinirt gestorben. Von Seiten seiner Frau hatte er somit nichts zu erwarten.

»Papa fand meinen Cousin in der Gegend von Rom in einem sehr betrübten Zustande, arm und beinahe sterbend. Er hatte das Wenige, was von seinem Vermögen übrig geblieben, einer französischen Familie übergeben, damit sie seine Tochter zu einem entfernten Verwandten in Frankreich brächte und ihn bäte, sich des verlassenen Kindes anzunehmen.

»Es versteht sich von selbst, daß Papa sich Arthurs annahm. Von Majken mit liebevoller Theilnahme gepflegt, wurde es mit ihm allmälig besser, und er wünschte, ihnen nach Schweden zu folgen.

»Hier kam er krank an Geist und Körper an. Ich wurde seine Trösterin und diejenige, welche ihn mit seinem Leiden zu versöhnen vermochte. Er sah in mir das Abbild seiner geliebten Zoë, und meine Gegenwart machte den Schluß seines Lebens ruhig und friedvoll.

»Deine Liebe war mein Glück, aber ein Glück, welches ich nur im Traume besitzen sollte. Auch als Arthur wünschte, sein Leben an dem Orte zu beschließen, wo seine Tante das ihrige geendet hatte, gelang es mir, Majken und Papa dahin zu bewegen, daß sie den Winter in Haraldshof zubrachten.

»Mir war es Bedürfniß, aus deiner Nähe fortzukommen; ich sagte das Majken; ebenso daß wir, du und ich, niemals ein Paar werden könnten. Hernach schrieb ich dir, und so reiste ich von Eriksdal ab, ehe mein Brief abgeschickt wurde.

»Während unseres Aufenthalts in Haraldshof wurde Arthur von Angst über die Zukunft seines Kindes befallen. Diese Unruhe nahm schnell den Charakter der Geistesstörung an. Er wollte es wiedersehen, forderte von mir und Majken das heiligste Versprechen, es wieder unter unsere Pflege zu nehmen, und konnte dennoch sich nicht beruhigen.

»Papa schrieb nach dem Mädchen. Wir versicherten Arthur täglich, daß er sie wiedersehen sollte, daß sie auf dem Wege nach Schweden wäre; aber dessen ungeachtet wurde er von einer Verzweiflung gequält, welche ihm die Sinne verwirrte. In dieser Zeit der Unruhe war es, daß er mich anflehte, mich mit ihm trauen zu lassen, um dadurch seiner Tochter eine Mutter zu sichern.

»Bewegt von seinen Bitten und seinem Zustande gab ich endlich nach und versprach, sein Begehren zu erfüllen. Er wurde nun ruhiger und erwartete geduldig das Ende seines Lebens.

»Den Tag vor Arthurs Tod langte die kleine Adele in Haraldshof an, und eine Stunde, ehe er seinen letzten Seufzer ausathmete, wurde ich mit ihm getraut. Ich glaubte damit ein gutes Werk gethan zu haben, und in Adele bekam ich ein Wesen, für das ich leben konnte. Ich sollte ja niemals mein Leben ihm, den ich liebte, zu widmen haben.

»Adele, das arme Kind, welchem gleich mir ein unglückliches Vermächtniß zugefallen war, mußte mir lieb werden. Ich wollte mich ihrer mit aller Zärtlichkeit annehmen und hoffte, die Pflichten gegen sie würden meinen eigenen Kummer verjagen; aber mein Pflichtgefühl war bisher noch nicht stark genug.

»Ich hatte in dem armen Kinde eine beständige Erinnerung an den Vater. Sie rief mir unaufhörlich das Andenken an Arthur zurück, so wie ich denselben in den Stunden seines Irrsinns gesehen, und ich weinte jetzt nicht nur über mich selbst, sondern auch über dieses Kind. Ich war unglücklich.«

»Aber du bist es nicht länger,« fiel David ein, »und du wirst es auch nicht werden. Jetzt bin ich an deiner Seite. Das Uebel, worunter du gelitten, muß weichen; und es wird um so leichter gehen, wenn du zu der Einsicht gekommen bist, daß dein ganzes Unglück in der Einbildung lag. Ich bedurfte allerdings dieser Rechenschaft von dir nicht; ich wußte schon seit zwei Jahren Alles, was du mir soeben sagtest. Majken schrieb darüber kurz nach Arthurs Tod. Für dich war es indessen nothwendig, einmal über deine selbstgeschaffenen Leiden dich auszusprechen; darum veranlaßte ich dich zu reden.«

»David!« rief Dagmar, »du wußtest, woran ich litt, und kamst nicht, mich zu trösten und mir beizustehen.«

»Nein, ich war damals noch nicht stark genug und deine Phantasie daneben von den vorgefallenen Ereignissen noch allzu aufgeregt, als daß du etwas Anderes, als was sie dir eingab, hättest hören können. Wäre ich damals gekommen, würde ich auch wieder weggegangen sein, ohne durch meine Anwesenheit irgend einen Nutzen gestiftet zu haben. In dem Streite, welcher sich zwischen uns erheben mußte, wärest du bei der lebhaften Erinnerung an Arthur nur schwer zu überwinden gewesen. Ich wartete darum, bis der Sieg über ihn mir werden mußte. Bis das geschehen konnte, mußte ich die Zeit, die Abwesenheit und dein Herz zu meinen Bundesgenossen machen.«

»Sitzet ihr immer noch auf der Veranda?« rief Frau Waldner, welche zugleich mit Adele die Stufen herauf stieg. »Georgs Wagen ist eben auf dem Hof vorgefahren; komm deßhalb, lieber David, und empfange deinen Bruder und deine Schwägerin.«

»Sogleich, liebe Mama,« antwortete David.

Ehe er und Dagmar der Aufforderung nachkamen, sagte er mit bewegter Stimme:

»Ein Wort, ehe wir gehen. Glaubst du, daß ich, gleich Georg, mir eine andere Gattin an Dagmars Stelle suchen werde?«

»Nein, das glaube ich nicht. Du wirst niemals eine andere lieben.«

»In diesem Fall stehst du in einer großen Schuld gegen mich.«

»Ich weiß es,« flüsterte Dagmar.

»Nun wohl, bezahle sie dadurch, daß du mich zu deinem Arzte annimmst.«

»Gern, aber ich bin nicht krank, und für mein Uebel gibt es kein …«

»Bleiben wir hier stehen. Ich begehre ja nur von dir, daß du meinen Vorschriften zu gehorchen versprichst. Dieß, Dagmar, sollte doch nicht so schwer sein.«

Dagmar reichte ihm die Hand und lächelte wehmüthig.

»Du hast mein Versprechen.«

»Gut, dann bin ich zufrieden. Nimm nun meinen Arm und laß deine düstern Schatten fahren.«

Sie gingen durch den Salon, das Wohnzimmer und hinaus auf den Hof, wo sie gerade zur rechten Zeit ankamen, um Georg mit Frau und Kind willkommen zu heißen.

Es kam Dagmar vor, als ob sie nach der Schilderung ihres Kummers eine schwere Bürde von ihrer Seele abgewälzt hätte.

Freude, Glück und Zufriedenheit umgaben sie.

David war liebevoll, herzlich und aufmerksam. Aengsberga war so hell, lächelnd und friedvoll, daß sie es niemals früher in einem solchen Lichte gesehen zu haben glaubte.

Am Abend langte Dagmars Equipage an, um sie abzuholen. Tante Waldner erklärte jedoch, es liege gar nicht in ihrer Absicht, Dagmar heimfahren zu lassen, vielmehr wolle sie dieselbe über Nacht behalten.

Dagmar wandte dagegen ein, dieß wäre eine Unmöglichkeit; sie hätte so Vieles zu besorgen und könne darum nicht von Hause fern bleiben. Da sie die Nutzlosigkeit jedes weitern Versuches, sie zu überreden, einsah, stand Frau Waldner davon ab.

Agnes hatte inzwischen sich über Mancherlei mit der Schwiegermutter zu berathen.

David näherte sich Dagmar und sagte in gleichgültigem Tone:

»Ist es dir wirklich Ernst damit, heute Abend heimzufahren?«

»Ja, warum fragst du?«

»Ich wollte dich bitten, zu bleiben.«

»Ich kann nicht.«

»Du kannst nicht?«

David faßte eine ihrer Hände und spielte mit den Fingern.

In diesem Augenblick rief Adele:

»Unser Wagen ist da.«

David betrachtete Dagmars einen kleinen Finger ganz aufmerksam.

»Du hast niemals eine Nacht unter Mama's Dach zugebracht, Dagmar. Man schläft sonst ruhig und gut hier in Aengsberga.«

Dagmar sah ihn an; aber Davids Blick war nicht auf sie gerichtet. Sie wandte sich zu Adele mit den Worten:

»Friedrich kann heimfahren. Wir bleiben bis morgen bei Tante Waldner.«

Adele eilte hinweg, diesen Auftrag zu vollziehen.

 

LI.

Dagmar blieb nicht nur den folgenden Tag, sondern eine ganze Woche in Aengsberga. Der Aufenthalt daselbst bekam ihr sehr gut. Ihre Augen waren nicht mehr matt, wenn der Morgen anbrach, und die Wangen nicht so bleich. Sie war heiter und die Anwandlungen von Düsterheit verschwanden.

Zu Ende der Woche langte der Oberst mit seiner Frau in Aengsberga auf dem Wege nach Haraldshof an, wo sie den Winter zuzubringen gedachten.

Dagmar begleitete sie nach Hause; aber Majken und der Vater forderte sie auf, Tante Waldners Einladung zur Wiederkehr nach Aengsberga anzunehmen.

Nachdem sie eine Woche Majken auf dem alten Herrensitz Gesellschaft geleistet hatte, begann Dagmar sich nach Aengsberga zurückzusehnen, und als David sie abzuholen kam, hatte sie durchaus nichts gegen eine Uebersiedlung dahin einzuwenden.

Sie fühlte sich glücklicher und zufriedener, so lang sie dort war. Sie sah ja doch täglich Majken und ihren Vater.

Wenn Dagmar einen Tag in Haraldshof zugebracht hatte, kehrte sie des Abends mit einem innigen Gefühl von Zufriedenheit nach Aengsberga zurück, und die Heimat ihrer Kinderjahre mit deren traurigen Erinnerungen kam ihr nunmehr so düster vor, daß sie ihre frühere Vorliebe für den alten Herrensitz nicht mehr begreifen konnte.

Auch der Oberst und Majken blieben sehr oft zu Aengsberga über Nacht. Alle fühlten sich dort so wohl.

Das innige Verhältniß zwischen David und Dagmar befestigte sich von Tag zu Tag. Er war der Vertraute ihrer Seele, und sie sprachen oft von dem, was ihr früher so bittern Kummer bereitet hatte. Er brachte sie bei solchen Unterredungen zu dem Bekenntniß, daß sie ihre Leiden sich selbst geschaffen hatte. Er redete von ihrer Gemüthsart, ihrem Charakter, ihrer Körperkonstitution und überzeugte sie, daß sich kein vernünftiger Grund zu der Vermuthung vorfand, als ob sie eine Anlage zu Geisteskrankheit geerbt hätte. David behandelte den Gegenstand mit Ruhe und legte in seine Beweisführung nichts, was seinerseits ein specielles Interesse, sie zu überzeugen, verrathen hätte.

David sprach allerdings oft davon, wie theuer sie ihm wäre; er forderte auch verschiedene Beweise der Anhänglichkeit von Dagmar; aber die warme Sprache der Liebe führte er nicht. Manchmal wollte Dagmar glauben, daß er sie nicht mehr wie früher liebe, aber dann fand sich wieder so Vieles, was den Beweis lieferte, daß sie seine Liebe noch besaß.

Die Zeit eilte inzwischen vorüber und der Sommer nahte sich seinem Schluß.

Dagmar war glücklich gewesen; ihre Unruhe, Sorge und Schlaflosigkeit waren verschwunden; aber in demselben Maße, als diese weichen mußten, war ihre Liebe an Stärke gewachsen und nun so gut wie unbeschränkte Herrscherin über ihre Seele.

 

LII.

David und sie saßen eines Abends neben einander und plauderten, als er plötzlich äußerte:

»Am Schlusse der nächsten Woche bin ich gezwungen, nach der Hauptstadt und zu meinen Patienten zurückzukehren.«

»So bald wirst du mich verlassen!« rief Dagmar.

»Die Pflicht ruft mich, und ich muß gehorchen. Wir werden uns trennen.«

Dagmar wandte sich ab, während sie mit trauriger Stimme bemerkte:

»Wenn du reisest, wird auch meine Freude und mein Frieden wieder verschwinden. Die Sehnsucht nach dir wird dann, wie in den zwei Jahren, da wir getrennt waren, mir endlose Qualen schaffen. Die Ursache, warum wir getrennt von einander leben müssen, wird sich dann mir wieder aufdrängen und mein Dasein verbittern. In deiner Nähe flieht der Kummer; ich vergesse desselben und bin glücklich. Entfernt von dir, wird das Leben mir zu einer drückenden Last.«

»Wenn dem so ist, warum uns trennen?« fragte David. »Warum uns beide zu thörichter Entsagung verurtheilen? Siehst du nicht ein, daß meine Liebe deine Schutzwehr gegen dich selbst ist, und daß, wenn du durch dieselbe gedeckt bist, die Gespenster der Einbildung verjagt werden? Folge mir, und die Glückseligkeit gehört uns. Ich kann nicht länger ohne dich leben. Ich habe Jahre vergehen lassen, ohne dich zu sehen, damit du erkennen solltest, daß die Liebe stärker ist, als deine Phantasie. Ich wußte, du würdest mich vermissen, und ich hoffte Alles von dieser Sehnsucht. Ich wartete und glaubte an deine Liebe. Habe ich vergebens gewartet und gehofft? Soll ich reisen … reisen ohne dich?«

David hatte seinen Arm Dagmar um den Leib gelegt.

Ihre Wangen glühten; sie hatte keinen andern Gedanken als ihn; kein anderes Gefühl, als die Liebe zu ihm. Sie legte die Arme um seinen Hals und stammelte:

»David, ich kann nicht von dir scheiden. Möge Gott, mögest du mir diese Schwachheit vergeben!«

Was weiter gesagt wurde, wissen wir nicht; aber als Majken eine halbe Stunde später zu ihnen eintrat, fand sie David auf den Knieen an Dagmars Seite, sie mit seinen Armen umschließend.

Er sprang auf und rief:

»Majken, ich habe gesiegt; Dagmar ist mein. Du wurdest es dennoch, der ich mein Glück zu danken haben sollte, ohne deinen Rath hätte ich sicherlich in meiner Ungeduld alles zerstört.«

David faßte Majkens Hand und fügte, sie an seine Lippen drückend, mit Wärme hinzu:

»In Dagmar habe ich Majken wieder gefunden.«

In diesem Augenblick war Majkens Glück vollkommen. Sie sah ihren liebsten Wunsch verwirklicht und konnte nun in vollen Zügen das Glück an der Seite ihres trefflichen Gatten, den sie von ganzer Seele und von ganzem Herzen liebte, genießen.

Frau Waldners Freude war die einer glücklichen Mutter, als sie ihr geliebtestes Kind mit der Frau sich verheiraten sah, die sie am gernsten unter allen ihre Schwiegertochter nannte.

 

LIII.

Sechs Wochen nach dem eben bezeichneten Tage wurde Davids und Dagmars Hochzeit zu Eriksdal gefeiert.

Als der Oberst und Frau Waldner die Neuvermählten umarmt und gesegnet hatten, reichte der Oberst seiner Cousine die Hand mit den Worten:

»Nun, Sally, sind unsere beiderseitigen Wünsche in Erfüllung gegangen. Ich hoffe auch durch meine Freundschaft für Waldners Söhne es gesühnt zu haben, daß ich in jungen Jahren und unter dem Einfluß einer heftigen Leidenschaft in einem unbewachten Augenblick die Sprache der Liebe zu dessen Frau redete und dadurch zu so manchen ungerechten Verdächtigungen und bittern Stunden für dich Anlaß gab. Die vieljährige Spaltung zwischen uns, welche eine Folge davon war, ist durch unsere Kinder geheilt worden, und nun hast du mir gewiß vergeben, was ich in den Jünglingsjahren gefehlt habe. Möge Dagmar eine eben so gute Gattin werden, wie sie eine Tochter gewesen, und das Alter von uns beiden wird sich dann froh und glücklich gestalten!«

»Amen,« flüsterte Frau Waldner und drückte dem Oberst die Hand.

Den Tag nach der Hochzeit reisten die Neuvermählten in die Hauptstadt.

Majkens Wunsche gemäß blieb Adele zu Eriksdal.

Dagmar, eine Feindin des Stadtlebens, nahm nun ihren Wohnsitz in Stockholm und befand sich wohl dabei. Sie war glücklich, so glücklich als nur ein Mensch werden kann, der tief und ernst zu lieben vermag.

Den Sommer brachten David und seine Frau gewöhnlich in Aengsberga zu.

Dagmar hatte ihre Vorliebe für Haraldshof gänzlich verloren. Es barg allzu viel traurige Erinnerungen, als daß sie dafür länger eingenommen sein konnte.

David fand niemals Grund, seine Heirat mit einem Abkömmling der Aveyron'schen Familie zu bereuen. Das traurige Erbe, welches Dagmar fürchtete, ging weder auf sie noch auf Adele über.

 

Ende

 


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