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In einem hell erleuchteten Saale, umgeben von blühenden Brautjungfern und stattlichen Brautführern, stand die achtzehnjährige Esther Roman in Brauttoilette, schön und glücklich, wie Diejenige sein muß, welche von der Liebe zum Altar Hymens geführt wird. Sie lächelte die neugierige Menge an, welche sich eingefunden hatte, um zu gaffen und war glücklich in der Hoffnung auf eine herrliche Zukunft, ohne zu ahnen, daß die Rosen auf ihrem Lebenspfade auch Dornen verbergen könnten.

Unter den Schaulustigen befand sich ein Jüngling mit blassem Gesichte. Er verbarg sich hinter den Anderen, wahrscheinlich, um den Blicken der Braut sich zu entziehen, während er sie auf eine Art betrachtete, die ein anderes Interesse, als das der Neugierde, verrieth. Nachdem er Esther einige Minuten lang unverwandt angeschaut hatte, eilte er aus dem Zimmer. Auf der Straße angekommen, nahm er vor dem Hause auf einem Steine Platz. Dort blieb er, das Haupt auf die Hände gestützt. Die Vorbeigehenden hätten glauben können, er weine, wenn sie nicht zum Glücke für ihn weitergegangen wären, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

Aller Gedanken waren mit der Hochzeit beschäftigt, denn diese gewährte den Einwohnern der kleinen Stadt eine außergewöhnliche Zerstreuung, welche ihnen nicht jeden Tag zu Theile wurde.

Esther war nämlich die einzige Tochter des reichsten Mannes in der kleinen Gemeinde, des Eisenwerkbesitzers Peter Roman.

Gäste zu Fuß und zu Wagen kamen an; der feuchte Herbstnebel, der über die Stadt gelagert war, verwandelte sich in einen Platzregen, aber der Jüngling blieb, gefühllos für Alles, was außer ihm vorging, sitzen. Wir wollen jetzt nicht untersuchen, was in seinem Innern vorging, weshalb wir uns von ihm wenden, um den Gästen in das Hochzeitshaus zu folgen.

Welch ein Luxus in der Beleuchtung, welch eine Pracht der Toiletten! Man hätte nicht vermuthet, daß eine Stadt mit 3000 Einwohnern so viel Glanz hätte entfalten können; allein bei derartigen außerordentlichen Gelegenheiten bekommt man Unglaubliches zu sehen.

Der Geistliche nahm seinen Platz hinter den bedeutungsvollen Stühlen ein, und Braut und Bräutigam traten ein.

Wer von ihnen war am schönsten? Es war nicht möglich dies zu entscheiden.

Der Werksbesitzer Erich Malmberg war ein ungemein stattlicher Mann, und es war nicht zu verwundern, daß ihn Esther allen anderen Freiern vorgezogen hatte. Sie sah auch stolz und glücklich aus, als sie neben ihm stand.

Der Geistliche fing an, die Trauung zu vollziehen. Als der Bräutigam den Ring abnehmen sollte, fand er ihn nicht. Eine augenblickliche Pause entstand, dann zog er von dem kleinen Finger der linken Hand einen Ring ab, der an Stelle des verlorenen Trauringes angesteckt wurde. Das Amen wurde gesprochen, und die Beiden waren vermählt.

Der Umstand mit dem Ringe hatte dem Lächeln auf Esthers Lippen ein Ende gemacht. Sie stand mit gesenktem Blicke neben ihrem Manne und nahm ganz niedergeschlagen die Glückwünsche der Verwandten und Freunde entgegen. Es war ihr, wie wenn der Ring, der den verlornen hatte ersetzen müssen, auf ihrer Hand brenne. Eine echte Perle war in denselben eingefaßt, und Perlen bedeuten Thränen. Das hatte Esther von ihrer Amme gehört. Sie hätte sogleich weinen mögen. Jetzt wurde sie von einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter, Tante Juliane, einem gefühlvollen Frauenzimmer, das bei allen feierlichen Gelegenheiten Thränenfluthen vergoß, umarmt. Letztere flüsterte mit Unglück verheißender Stimme: »Gott schütze dich, armes Kind!« Juliane drückte gleichzeitig ein Papier in Esthers Hand und setzte hinzu: »Lies es, wenn du allein bist.«

Esther versteckte das Billet, das sie für ganz unwichtig hielt. Sie kannte die Tante und wußte, daß diese sich gerne auf irgend eine Art hervorzuthun liebe. Esther glaubte, es seien nur einige Rathschläge und Warnungen, welche die Tante niedergeschrieben habe.

Gleich bei dem ersten Walzer, den Braut und Bräutigam mit einander tanzten, fühlte sich Esther wieder froh und glücklich; verschwunden waren alle düstere Ahnungen.

Selbst eine Hochzeit, mag sie auch noch so lustig sein, muß ein Ende nehmen, so war es auch bei der Esthers der Fall. Um zwei Uhr nahm Erich Malmberg seine Braut bei der Hand und führte sie aus dem Elternhause zum Wagen, der die Neuvermählten nach ihrem in der Nähe der Stadt gelegenen Gute führen sollte.

Erich hatte die Begleitung der Brautjungfern abgelehnt; er wollte Esther allein und ohne Gefolge nach ihrer künftigen neuen Heimath führen.

Der Kutscher knallte mit der Peitsche, und der Wagen sollte sich eben in Bewegung setzen, als der auf dem Steine bei der Thüre sitzende Jüngling mit einer Bewegung emporfuhr, als wolle er sich vor die Pferde werfen, welche einen Seitensprung machten und erschreckt mit den jungen Eheleuten davoneilten.

»Was thust du hier?« fragte ein stämmiger Mann und legte die Hand auf die Schulter des Jünglings. Dieser sagte mit dumpfer Stimme:

»Onkel Gunnar, warum mischen Sie sich in meine Angelegenheiten?«

»Ich habe keine Lust, mich darein zu mischen, wohl aber wünsche ich, deiner Mutter einigen Kummer zu ersparen. Du bist ein undankbarer Schlingel, der es nicht verdient, ihr Sohn zu sein, wenn du dich so benimmst, wie du im Sinne hast, es zu thun.«

»Ich bin nicht undankbar, sondern unglücklich,« antwortete der Jüngling; »mir fehlt es an Muth, mein Leben dahinzuschleppen, nachdem ich nichts mehr zu hoffen habe.«

»So, wenn deine Mutter dächte, wie du, so hätte sie schon lange auf ihr Leben verzichtet. Geh nach Hause und ersinne ein besseres Mittel, um dich mit deinem Schicksale auszusöhnen, als dasjenige, worüber du jetzt brütetest.«

Der Jüngling bewegte sich nicht.

»Geh, sag ich,« wiederholte der Mann mit so tiefem Ernste, daß seine Stimme unwiderstehlich wurde. Der Jüngling erhob sein gesenktes Haupt und blickte auf Gunnar.

»Ja, ich will gehen,« murmelte er und entfernte sich.


Das ganze obere Stockwerk des Hauptgebäudes auf dem Eisenwerk Lybo war hell erleuchtet, und die Dienerschaft erwartete in Festestracht ihre junge Herrschaft.

Die Uhr des Gebäudes hatte verkündet, daß zwei und eine halbe Stunde des neuen Tages verflossen seien, als ein Wagen angefahren kam und an der Haupttreppe stehen blieb.

Erich hob seine junge Gattin aus dem Wagen und trug sie die Treppe hinauf, ohne mit einem Blicke oder einer Kopfbewegung die Grüße der Diener zu beantworten. Er war ungeduldig, sie so schnell wie möglich in die Wohnung zu führen, welche jetzt die ihrige bleiben sollte, und wollte sie zugleich den neugierigen Blicken entziehen.

Er selbst nahm ihr das Oberkleid ab, und der Bediente öffnete die Thüre zu dem großen, hell erleuchteten Salon.

Er war nicht leer, wie es Esther erwartet hatte. Mitten im Zimmer stand eine junge, in Trauer gekleidete Frau; sie hielt an der Hand ein kleines Mädchen, das ebenfalls in Trauer gekleidet war.

Esther wich bei diesem unerwarteten Anblick zurück und sah zuerst die Frau und dann ihren Mann fragend an.

»Die Schwester meiner Stiefmutter, Nanny Malmberg,« sagte Erich, sie vorstellend, und setzte dann, nachdem er eine Pause von einer Sekunde gemacht hatte, hinzu: »die Wittwe meines Bruders Karl, welcher neulich starb. Du erinnerst dich wohl, daß ich dir gesagt habe, Nanny könne unserer Hochzeit nicht beiwohnen, sie hat aber gewünscht, dich in deiner neuen Heimath zu begrüßen und ist deshalb heute hieher gekommen.«

Esther erinnerte sich jetzt ebenso, daß Erich gesagt habe, daß Karls Wittwe bei ihnen bleiben werde. Sie reichte der schwarzgekleideten Verwandten die Hand und wechselte mit derselben einige theilnehmende Worte. Nanny erwiderte die herzliche Begrüßung etwas kalt, doch mit Höflichkeit, und, nachdem sie Esther alles mögliche Glück gewünscht, sagte sie dem jungen Paare gute Nacht und entfernte sich.

Ein Gefühl von Kälte bemächtigte sich Esthers. Sie empfand wieder dieselbe Angst, wie damals, wo sie den Perlenring an den Finger bekam.

Erich küßte die Hand seiner jungen Frau und führte sie in ein hübsches Kabinet, wo das Kammermädchen sie erwartete, worauf er sich zurückzog.

Mit Hülfe des Mädchens wollte jetzt Esther die Brauttoilette ablegen; als sie aber die Handschuhe abstreifte, fiel ein Papier zu Boden. Es war Tante Julianas Billet. Die Kammerjungfer hob es auf und reichte es Esther. Die junge Frau entfaltete es ganz mechanisch und wurde sehr überrascht, als sie die Handschrift ihres Mannes erkannte. Sie durchflog die Zeilen und wurde todesblaß; sie sagte zu dem Mädchen:

»Bitte den Herrn, er möge sogleich kommen.«

Kurz nachher stand Erich vor ihr. Esther sandte das Mädchen fort, das sich staunenden Blickes entfernte. Schweigend reichte die junge Frau ihrem Manne das Papier hin und warf sich auf ein Sopha, indem sie in Schluchzen ausbrach.

Erichs Angesicht wechselte die Farbe, als er die von ihm selbst geschriebenen Zeilen durchlas. Sie lauteten folgendermaßen:

»Mein lieber Schwiegervater! Ich willige ohne Bedingungen darein, daß die Hälfte von dem Vermögen Ihrer Tochter für mich unangreifbar sein wird. Morgen komme ich in die Stadt, um die Abmachungen zu unterzeichnen, die Sie in's Reine gebracht haben möchten. Es ist natürlich, daß Sie in gewissem Grad dem Manne mißtrauen, der nicht aus Liebe, sondern nur, um den Wunsch seines verstorbenen Vaters und den Ihrigen zu erfüllen, mit Ihrer Tochter sich verheirathet; allein der Umstand, daß ich erst nach langem Zögern meine Einwilligung zu dieser Heirath gab, als Sie mich zu deren Eingehung überredeten, sollte beweisen, daß ich nicht allein aus schnödem Eigennutz gehandelt habe. Die Verhältnisse könnten sich trotzdem so gestalten, daß ich ohne eigene Schuld ruinirt würde, und dann ist es das Klügste, daß Esthers halbes mütterliches Erbe gerettet wird. – Ich hoffe, daß ich mit der Hälfte, über die ich verfügen kann, die Angelegenheiten des Eisenwerkes so ordnen werde, daß es wieder einmal den Ertrag abwirft, den es früher gewährte.

»Wenn ich auch ohne Liebe im Begriff bin, mein Schicksal an das Esthers zu ketten, so thue ich dies doch mit dem ernstlichen Vorsatz, sie glücklich zu machen. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich während unseres Zusammenlebens sie lieb gewinnen werde, sonst hätten Sie mich nicht überreden können, sie zu heirathen.

Ihr ergebener Schwiegersohn
Erich Malmberg.«

 

Der Brief war aus Lybo wenige Tage vor der Hochzeit datirt.

»Hat dir dein Vater dies gegeben?« fragte Erich nach einer kleinen Weile.

Esther sprang auf, ergriff den Arm des Mannes und rief heftig aus:

»Es ist also wahr! Du hast mich mithin betrogen. Ach, ich Unglückliche, die dich so sehr, so herzlich liebte. Ich kann nicht hier bleiben, ich muß zu meinem Vater zurückkehren, ich werde dich vor Gott und Menschen anklagen und erzählen, wie schmählich ich von meinem Gatten und von meinem Vater betrogen worden bin!«

Esther eilte der Thüre zu.

Erich umfaßte ihren Arm und sagte mit ernster Stimme: »Ich muß dich daran erinnern, daß du jetzt meine Frau bist. Ob uns Freundschaft oder Liebe vereinigt, gehört nicht zur Sache: wir sind Gatten, und du kannst dieses Haus ohne meine Erlaubniß nicht verlassen. Versuche es deshalb, mich ruhig anzuhören.«

Erich nöthigte Esther, ihren Platz auf dem Sopha wieder einzunehmen. Sie gehorchte ganz mechanisch.

Es entstand eine kurze Pause.

»Ich kenne wenige Frauen, welche es mehr verdienen, geliebt zu werden, als du Esther,« sagte Erich; »aber dessen ungeachtet sehe ich jetzt ein, daß es nicht Liebe war, welche mich bewog, dich zu heirathen, sondern die gemeinsamen Wünsche meines verstorbenen Vaters und des deinigen. Du warst ein liebenswürdiges Mädchen, und es war mir also eine theure Pflicht, ihrem Willen zu gehorchen.«

»Ich war auch ein reiches Mädchen,« rief Esther mit flammenden Augen; »es lohnte sich der Mühe, mir Liebe vorzulügen.«

»Es ist möglich, daß ich auch dies in Berechnung nahm,« antwortete Erich mit einem Ausdruck von Ehrlichkeit, der zu seinen Gunsten hätte sprechen sollen; »aber es ist gewiß, daß ich, als ich dich kennen lernte, einsah, daß, wenn es mir möglich wäre, nochmals zu lieben, du mehr, als eine Andere die Gefühle meines Herzens wieder wachrufen könntest. Und nun, Esther, verzeihe mir, daß ich dir dies nicht früher sagte, versuche es, in mir den besten Freund zu sehen, den du besitzest; meine Aufgabe wird sein, deine Wünsche zu errathen, um sie erfüllen zu können.«

Esther antwortete nichts; unbeweglich saß sie da und starrte den Mann an, der sie betrogen hatte. Sie wünschte, von dieser Erde verschwinden zu können, wo Unglück ihr einziger Gewinn war. Hätte sie nur wenigstens dem Manne, dessen Gattin sie war, entfliehen können! Ihr Herz war voll Bitterkeit gegen ihn, den sie wenige Minuten zuvor so unaussprechlich geliebt hatte. Sie wollte nicht verzeihen, sie konnte es nicht. Schon am folgenden Tage wollte sie mit ihrem Vater reden, damit ihre Ehe getrennt würde.

Erich betrachtete seine bleiche Braut, und, da ihre Lippen sich nicht öffneten, äußerte er:

»Du willst mir also nicht verzeihen?«

»Ich kann nicht,« entgegnete Esther; »wir müssen uns trennen.«

»Dann magst du uns Beide bedauern,« sagte Erich, indem er aufstand, »ich werde nie zugeben, daß unsere Ehe getrennt wird. Du bleibst mein, wenn du mich auch während unsers ganzen Zusammenlebens hassen würdest. Jetzt gute Nacht, Esther; möge die Ruhe der Nacht dich beschwichtigen, so daß der kommende Tag dich in versöhnlicherer Stimmung gegen deinen Mann, der Alles thun wird, um dich glücklich zu machen, antrifft.«

Er wollte ihre Hand küssen; sie zog sie zurück und stieß ihn unwillig von sich.

Erich zog sich seufzend zurück und verließ das Zimmer.

Esther überließ sich sogleich einem neuen und heftigen Schmerzensausbruch.

Sie, ein verwöhntes Lieblingskind des Glückes, welches sich nicht erinnern konnte, je einen Wunsch gehegt zu haben, der nicht erfüllt worden wäre, sah sich nun des Glückes verlustig, von dem sie geträumt hatte. Der Schlag war so plötzlich gekommen, daß sie, welcher der Schmerz völlig unbekannt war, denselben nicht zu ertragen vermochte. Es fiel ihr nicht ein, zu versuchen, sich mit ihrem Schicksale auszusöhnen. Nur Eines war ihr klar: sie müsse sich an demjenigen rächen, der ihr so großen Schmerz verursacht habe.

Die Nacht verging ruhelos. Der Morgen dämmerte, und noch saß Esther in ihrem Brautschmucke da, mit verweinten Augen vor sich hinstarrend.

Ein leises Klopfen an der Thür erweckte sie aus dem Kummer, in welchen sie sich versenkt hatte.

Sie mußte öffnen, denn das Klopfen wurde ein, zwei und drei Mal wiederholt.

Sie drehte den Schlüssel im Schlosse herum, und vor ihr stand der Vater. Esther warf sich in seine Arme und rief schluchzend aus:

»O mein Vater, wie hast du mich betrügen und zu der Unglücklichsten unter den Frauen machen können? Nimm mich wenigstens mit dir fort von hier!«

»Du bist eine Thörin, meine liebe Esther,« unterbrach sie der Vater. »Dein Mann hat mich holen lassen, um zu versuchen, dich zur Besinnung zu bringen.«

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte die thränenden Augen.

»Setze dich nur auf meine Kniee,« fuhr er fort; »wir wollen mit einander reden, und, wie in deiner Kindheit, wird es mir jetzt auch gelingen, dich froh und zufrieden zu machen.« Esther schüttelte ihr schönes Haupt und antwortete nicht. Roman zog sie auf seine Kniee hernieder.

»Nun, mein Kind, warum willst du, daß ich dich von hier wegführen soll?«

»Weil mir Tante Juliane einen von Erich geschriebenen Brief übergab, in welchem er sagt, daß er mich nicht liebe, sondern mich deshalb heirathe, weil du und sein Vater es wünschen. Er hat selbst zugegeben, daß dies wahr sei.«

»Das hat er dumm gemacht,« äußerte Roman; »er hätte leicht den Inhalt des Briefes in Abrede stellen können. Aber, mein Estherchen, eine Frau läuft nicht von ihrem Manne fort wegen einer solchen Kleinigkeit.«

»Nennst du das eine Kleinigkeit, daß er mich nicht liebt, daß mein Vater seine Tochter einem Manne gibt, der Liebe heuchelte!« rief Esther und schlug die Hände zusammen. »Wie hältst du es für möglich, daß ich noch einen einzigen Augenblick Ruhe haben kann, da ich aus Liebe Alles hingab und Nichts dafür empfangen habe?« Esther brach jetzt in Schluchzen aus.

»Ich hoffe, daß du ebenso glücklich mit deinem Manne sein wirst, als deine Mutter es mit mir war, und doch, mein Kind, heirathete ich sie ohne Liebe, und nur deshalb, weil sie reich war.«

»Also aus Eigennutz,« fiel Esther ein in einem Tone, der beinahe Entsetzen verrieth.

»Ganz und gar. Ich brauchte Vermögen, sie besaß es, und wir wurden ein Paar glücklicher Gatten.«

»Glücklich ohne Liebe?« unterbrach ihn Esther; »ich kann ein solches Glück nicht begreifen.«

»Deine Mutter aber that es; sie lernte mich lieben.« Der Eisenwerksbesitzer Roman schwieg. Esther legte schweigend ihre Arme um seinen Hals und dachte:

»Sollte ich wirklich die Liebe erringen können, die ich jetzt so bitter beweine?«

Einen Augenblick verschwand der Groll aus ihrem Herzen, und sie glaubte, Alles thun zu können, um geliebt zu werden; allein Esther kannte ihren eigenen Charakter wenig oder gar nicht, wenn sie sich einer solchen Hoffnung hingab. Die junge Frau war keine jener entsagenden Naturen, die, um geliebt zu werden, sich geduldig die größten Opfer auferlegen. Esther war ein verwöhntes Kind stolzen und trotzigen Sinnes mit einer unruhigen Phantasie, die sie im Guten, wie im Schlimmen leicht zu Uebertreibungen verleitete. Sie hatte nie ihren Willen vor Anderen beugen müssen und wollte bei ihrer ersten Prüfung, die sie erfuhr, sich derselben nicht unterwerfen.


Wir verlassen jetzt Esther und kehren zum Hochzeitsabend zurück, um ein kleines Haus in einer der unbedeutenderen Straßen der Stadt X. aufzusuchen.

Die Uhr hatte die zweite Stunde des Morgens geschlagen, als ein junger Mann die Hausthüre öffnete und in ein großes Zimmer im Erdgeschosse eintrat, welches von einer Lampe erhellt war, bei deren Schein eine ältere Frau im Trauergewand arbeitete. Sie sah auf und blickte den Jüngling an, indem sie sagte:

»Kommst du von der Hochzeit? Aber, mein Gott, du bist ja ganz durchnäßt, mein armer Andreas!«

Andreas ging an den Tisch; Mutter und Sohn sahen einander eine Weile schweigend an.

»Ich konnte der Hochzeit nicht beiwohnen,« sagte endlich der Sohn; »ich konnte auch nicht nach Hause gehen, ich blieb draußen auf der Straße.«

»Und warum?« fragte die Mutter, ohne den Blick von seinem Gesichte abzuwenden.

»Meine Absicht war, den Wagen des Brautpaares über meinen Kopf gehen zu lassen.«

»Dennoch hast du diese Absicht nicht ausgeführt, du konntest nicht so feig und so grausam sein.«

Die Stimme der Mutter, als sie diese Worte sprach, war vollkommen ruhig, aber in ihrem Blick lag ein Ausdruck, der deutlich den Schmerz verrieth, den sie bei den Worten des Sohnes empfand.

Andreas warf sich auf die Kniee, umarmte seine Mutter und stammelte ganz aufgeregt:

»Ich bin unwürdig, dein Sohn zu sein! Was soll ich thun, um sie zu vergessen?«

»Arbeiten,« flüsterte die Mutter, sein Haupt an ihre Brust drückend; »so habe ich es gemacht, als mich der Schmerz heimsuchte. Bei der Arbeit lernte ich die Prüfungen ertragen.«

Es entstand Schweigen. Der Jüngling weinte, das Angesicht im Schooße seiner Mutter verbergend, ganz so, wie er oft in seiner Kindheit geweint hatte. Sie ließ ihn weinen, ohne es zu versuchen, ihn zu trösten oder seinen Kummer zu beschwichtigen. Wie wenig vermögen Worte bei solchen Veranlassungen auszurichten! Erst als das Schluchzen aufhörte, streichelte sie sein krauses Haar und sagte:

»Setze dich mir gegenüber, dann wollen wir miteinander reden. Esther ist jetzt verheirathet und für dich verloren. Es ist an der Zeit, daß du wieder zu arbeiten anfängst. Deine unglückselige Liebe hat dich abgehalten, deine medicinischen Studien fortzusetzen. Du hast vielleicht den Gedanken, Arzt zu werden, aufgegeben und wünschest eine andere Laufbahn einzuschlagen. Denke darüber nach, und ob du nun die begonnene Laufbahn fortsetzen oder eine andere betreten willst, so werde ich dir doch die Mittel gewähren, die Akademie zu besuchen.«

»Du!« rief der Jüngling; »wo würdest du so viel Geld hernehmen?«

»Das wirst du später erfahren; genug, ich habe hinreichend für dich, um den Anfang zu machen; aber ehe ich dir dieses Geld gebe, muß ich wissen, was du werden willst.«

Andreas saß schweigend da und blickte seine Mutter an. Er konnte nicht verstehen, wie sie, die seit seiner frühesten Kindheit ein Leben voll Entbehrungen geführt hatte, verfügbare Mittel haben sollte. Er gedachte mit dem Gefühle hoher Bewunderung dieser Mutter, die so Vieles für ihn aufgeopfert und für seine Thorheiten so große Nachsicht gehabt hatte.

»Meine theure Mutter,« murmelte Andreas und küßte ihre Hände. »Ich werde dir abermals Kummer verursachen, allein es scheint mir unmöglich, die Studien fortzusetzen, die ich mit den thörichtesten Hoffnungen begann.«

»Du bist gemüthskrank, Andreas,« wandte die Mutter ein; »eben deshalb mußt du arbeiten. Gib das Studium der Medicin auf und werde Geistlicher.«

Andreas stützte den Kopf mit seinen Händen und flüsterte: »Geistlicher, ja, ich will Geistlicher werden.«

»Ist es dein bestimmter Entschluß?«

»Ich glaube es.«

»Ueberlege es bis morgen, aber prüfe dich genau.« Sie küßte seine Stirne, und er stammelte:

»O meine Mutter, wie werde ich dir je alle deine Liebe, alle deine Nachsicht vergelten können!«

»Dadurch, daß du ein Mann wirst, der die eignen Leidenschaften zügeln kann und dessen Ziel es ist, der Menschheit nützlich zu sein.« Sie ging in's angrenzende Zimmer und schloß die Thüre hinter sich.

Ungefähr gleichzeitig mit Werksbesitzer Romans Besuch bei seiner Tochter trat Herr Gunnar Bengtson bei Andreas ein, welcher am Fenster saß und hinaus sah, als wolle er in dem leeren Raume draußen Jemand oder Etwas suchen, was ihn aufklären könnte, ob seine jetzt getroffene Wahl gut sei.

»Guten Morgen, Andreas, wie befindest du dich heute?« sagte Gunnar und nahm den breitrandigen Hut ab. »Es war ein schreckliches Wetter diese Nacht, aber heute läßt Gott die Sonne scheinen. Ist Frau Berg zu Hause?«

»Meine Mutter ist ausgegangen; früh am Morgen hat sie das Haus verlassen,« antwortete Andreas.

»Um so besser!« erklärte Gunnar und setzte sich Andreas gegenüber. »Ich habe dir etwas zu sagen, und es ist am besten, je bälder, desto lieber damit herauszurücken.«

»Und ich, ich möchte Sie um einen Rath bitten, Onkel Gunnar.«

»Den sollst du auch erhalten, wenn es Noth thut, aber dann fragt es sich, ob du ihn auch befolgen wirst.«

Gunnar strich mit beiden Händen das Haar von der Stirne und blickte den Jüngling mit einem Paar scharfer, kluger Augen an, indem er fortfuhr:

»Es kommt mir vor, mein lieber Andreas, du seiest jetzt lange genug zu Hause gewesen und deiner Mutter zur Last gefallen, ohne eine eigentliche Beschäftigung zu haben. Das könnte jetzt ein Ende nehmen, nicht wahr? Ich will dir darum sagen, daß, wenn du fort und nicht länger studiren willst, ich dir einen Platz bei dem Bergwerk verschaffen kann, und zwar gegen Bezahlung, so daß dein Verdienst dich ernähren kann.«

»Nein, ich danke Ihnen, Onkel; meine Mutter hat andere Pläne, und ich werde meine Studien fortsetzen.«

»Studiren, du? – ein armer Wicht, der so viel Zeit vergeudet hat, daß es beinahe zu spät dazu geworden ist! Deine Mutter kann nicht mehr verdienen, als was sie selbst bedarf, davon wollen wir also nicht reden.«

»Nun, dann muß ich wohl, wie andere arme Jünglinge, mir eine Stelle anschaffen und für meinen Unterhalt arbeiten; ich muß fort von hier.«

»Aber wie wird das gehen? Du hast dich früher nicht wie der arme Sohn einer armen Wittwe benommen. Man reist nicht ohne alle Mittel von X. nach Upsala, das solltest du aus Erfahrung wissen.«

»Meine Mutter hat gesagt, sie werde mir den Besuch der Akademie ermöglichen.«

»Sie werde –« sagte der Alte, gedankenvoll vor sich hinblickend; »aber gleichviel, wenn sie es gesagt hat, so sollst du es auch. Du fährst wohl fort, Medizin zu studiren?«

»Ich bin fast entschlossen, diese Laufbahn aufzugeben und Pfarrer zu werden.«

Gunnar fuhr von seinem Stuhle auf.

»Du Geistlicher? Nein, ich will verd– sein, wenn du dazu taugst. Es würde dir gehen wie mir: ich sollte auch Geistlicher werden, es fehlte nur die Ordination; als ich aber einsah, daß mich dieser Weg direkt zur Hölle führen werde, wurde ich Soldat. Wenn man heftige Leidenschaften hat und sie nicht im Zaume halten kann, dann taugt es ganz und gar nicht, sich hinzustellen und Anderen zu predigen, wie sie leben und entsagen sollen. Man wird blos ein elender Heuchler, der aus seiner Heiligkeit eine Erwerbsquelle zu machen trachtet. Nein du sollst als Arzt weiter machen, obgleich ich für diesen Beruf auch nicht besonders schwärme; hast du aber dein erstes Examen einmal gemacht, so wirst du auch die anderen machen oder das Studium aufgeben. Als Arzt wirst du so viel Leiden sehen, daß du in dieser Schule lernen kannst, daß die Leidenschaften der Menschen ärgste Feinde sind. Du wirst also Arzt und nicht ein Schauspieler im Tempel des Herrn, der Weiber zum Weinen bringt, wenn er Lehren verkündigt, an die er selber nicht glaubt. Du bist zweiundzwanzig Jahre alt und bist schon verliebt gewesen wie ein Narr. Fast zwei Jahre lang hast du deine Studien vernachlässigt und deine Mutter vergessen, um ein Mädchen zu begaffen, das sich nicht um dich kümmerte. Es ist somit alle Aussicht vorhanden, daß du viele Thorheiten begehen wirst, ehe du ein vernünftiger Mensch bist. Das lange Studium, welches ein Arzt zu machen hat, mag ganz passend sein, so daß du unterdessen wieder zur Besinnung kommen kannst. Wenn du diese Laufbahn fortsetzen willst, so verspreche ich dir das nöthige Geld so lange vorzustrecken, bis du den Doktorhut erhalten haben wirst. Wirst du Prediger, so leihe ich dir keinen Heller.«

In dieser Welt entscheiden oft Kleinigkeiten unser Schicksal. Gunnars Versprechen, Andreas mit Geld zu unterstützen, entschied des Letzteren Wahl.

In seiner gegenwärtigen Stimmung hatte er eigentlich nur ein Interesse: bald aus der kleinen Stadt hinwegzukommen und ein thätiges Leben zu beginnen. Er wollte arbeiten, um seiner Mutter Freude zu machen. Es war ihm darum einerlei, ob er Prediger oder Arzt würde.

Gunnar stand auf, um sich zu entfernen, nachdem er noch eine Weile mit Andreas geplaudert hatte und sagte, als er die Hand des Jünglings schüttelte:

»Du bist eitel und hochmüthig; dies sind zwei wichtige Beweggründe, die dich auf der Akademie zum Fleiße anspornen und dich dann zu einem modernen Arzte machen werden. Ich kenne die Herren wohl; sie sind ehrgeizig und mißgünstig wie alle Anderen, und du, mein Junge, wirst dich nicht damit begnügen, einen anspruchslosen Platz als Arzt in einer Landstadt zu finden; du wirst danach streben, einer der berühmtesten Aerzte der Hauptstadt zu werden. Lebe wohl, wir sehen einander schon noch vor deiner Abreise. Grüße deine Mutter.«

Gunnars Worte wiederhallten noch lange in Andreas' Ohren, und in seiner Einbildung erblickte er sich schon als einen gefeierten Arzt, der an Esther Malmbergs Krankenlager gerufen werde, um ihr Leben zu retten. Während der Nacht hatte er sich vorgestellt, wie er vor ihr gegen Sünde und Eitelkeit predigen und ihr Herz erschüttern werde, so daß sie, ein thörichtes Kind, eine reuevolle Büßerin werden würde. Jetzt fand er doch, daß die Rolle des Arztes vorzuziehen sei; es sei besser, ein berühmter Arzt in Stockholm zu werden, als einer der beliebtesten Prediger daselbst. Es war kein innerer Beruf oder warme Menschenliebe, wodurch in diesem Augenblicke Andreas' Wahl bestimmt wurde.


Zwei Tage nach der Hochzeit wurde auf Lybo ein glänzendes Fest gegeben. Alle Personen der Stadt und Umgegend, die Vermögen und Ansehen besaßen, waren dazu eingeladen.

Herr Malmberg war ein ausgezeichnet liebenswürdiger Wirth, die junge Frau war bleich und schön, die Zimmer prächtig und die ganze Anordnung sehr gelungen.

»Wie schön sie ist,« dachte der junge Andreas, der sich unter den Gästen befand und ihr mit den Blicken folgte.

Die arme Esther, die zu dieser Stunde nicht darnach fragte, ob man sie für schön oder häßlich halte, grübelte nur darüber nach, daß sie von ihrem Manne nicht geliebt werde.

Der Werksbesitzer war übrigens so zuvorkommend gegen sie, daß alle seine Gäste glaubten, er sei ein verliebter und glücklicher Gatte, der nicht von Esthers Seite weichen könne, sondern ihr beständig seine Huldigung darbringen müsse. Alle waren überzeugt, er sei der verliebteste Mann, Alle, nur Esther nicht, welche glaubte, er spiele blos eine angenommene Rolle.

Das Fest war sehr belebt. Der Wirth und die Gäste waren fröhlich; man tanzte und scherzte, man aß und trank: was konnte man mehr wünschen?

Esther versuchte auf die Ermahnung ihres Vaters hin ein fröhliches Gesicht zu zeigen, aber sie war nicht gewöhnt, sich zu verstellen; sie hatte nie nöthig gehabt, zu lächeln, wenn sie weinen wollte; deshalb wollte es nicht gelingen, als sie den Versuch machen sollte.

Während einer Pause bei dem Tanze eilte Esther von der frohen Jugend hinweg in ihr Kabinet, um zu ruhen, Kräfte zu sammeln und die Komödie, die sie und ihr Mann spielten, weiter fortzusetzen.

Sie warf sich auf ein Sopha mit den Händen vor dem Gesicht und flüsterte:

»O mein Gott, wie bin ich unglücklich! Ich werde dies nie ertragen können!«

»Du unglücklich, Esther?« wiederholte ganz nahe bei ihr eine zitternde Stimme.

Sie sah auf; vor ihr stand ein ganz junger Mann. »Du, Andreas?« stammelte sie.

»Ja, der verstoßene Andreas, der gekommen ist, um dir vor seiner Abreise Lebewohl zu sagen. Wir werden uns jahrelang nicht mehr treffen, darum wollte ich dich noch einmal sehen und sprechen.«

Esther reichte ihm die Hand.

»Ich sollte dir zürnen, weil du hier eingedrungen bist, ich kann es aber nicht; ich bin jetzt selbst eben so unglücklich, wie du. Erich liebt mich nicht.«

Diese Worte, die für Esther alle Erdenqualen ausdrückten, klangen wie Freudentöne in Andreas' Ohren. Er drückte ihre Hände an seine Lippen und sagte stotternd:

»Ich bin gerächt; du wirst jetzt einsehen, daß Keiner dich so, wie ich, liebte, und ich – werde dich ewig lieben.«

Man hörte Schritte im angrenzenden Zimmer; Andreas ließ Esthers Hände los und zog sich zurück, nachdem er ihr zuvor noch ein letztes Lebewohl zugeflüstert hatte.

Als die ankommende Person hereintrat, befand sich Esther allein.

»Dein Mann hat nach dir gefragt,« sagte Nanny und warf einen spähenden Blick ringsumher, worauf sie hinzusetzte: »Es kam mir vor, als ob du mit Jemand gesprochen hättest; warst du nicht allein?«

»Nein, ich war es nicht, jetzt aber bin ich es,« antwortete Esther und wollte an der Schwägerin, gegen die sie eine Art von Widerwillen empfand, vorbeigehen.

Nanny hielt sie zurück.

»Bleibe einen Augenblick, ich möchte dir Etwas sagen.«

Esther blieb stehen, und Nanny fuhr fort:

»Du kannst mich nicht leiden, mein Anblick ist dir zuwider, das kannst du nicht leugnen, denn ich sehe, daß ich keinen vortheilhaften Eindruck auf dich gemacht habe, aber ich biete dir jetzt meine Hand zur Freundschaft; stoße sie nicht von dir; eine Ahnung sagt mir, daß du, wie ich, unglücklich bist.«

Esther betrachtete Nanny und bemerkte, daß diese ungewöhnlich schön und edel aussah. Esther hatte sich nicht die Mühe gegeben, dies früher zu bemerken. Jetzt aber nach dieser Entdeckung reichte sie ihre Hand der Schwägerin, indem sie sagte:

»Ja, lasse uns Freundinnen sein, ich bedarf der Zuneigung.«

Nanny drückte ihr die Hand und Esther kehrte zu den Gästen zurück. Als sie sich wieder unter denselben befand, kam es ihr vor, wie wenn sie weniger bedauernswürdig sei, als einige Augenblicke zuvor; sie hatte eine Freundin und ein Herz gefunden, welches sie treu liebte.

Der verschmähte Andreas hatte plötzlich einen Werth erhalten, den er nie zuvor in ihren Augen gehabt hatte. Sie dachte nicht länger mit Geringschätzung an seine Liebe; dieselbe war einigermaßen angenehm geworden und schmeichelte ihrer Einbildung und ihrer verletzten Eigenliebe.

Wenn sie auch nicht das Herz jenes Mannes besaß, der sie geheirathet hatte, so wußte sie doch, daß es eines gäbe, das nur für sie schlug, und in diesem Bewußtsein lag ein gefährlicher Trost.

Esther tanzte den ganzen übrigen Abend ununterbrochen und war fröhlicher, als vor dem Gespräch mit Andreas.


Alle Gäste waren fort, mit Ausnahme von Esthers Vater, der auf Lybo über Nacht bleiben sollte. Er und Erich saßen in einem Kabinet und sprachen mit einander. Esther und Nanny standen im Salon, um einander gute Nacht zu sagen.

»Dein Mann hat dich heute Abend sehr schön gefunden,« sagte Nanny, »er ist wirklich verliebt.«

»Ist er?« rief Esther aus. Eine Zornesröthe stieg in ihrem Gesichte auf.

»Du scheinst zu zweifeln?«

Esther antwortete nicht. Sie warf sich auf ein Sopha und verbarg das Gesicht in ihren Händen.

»Ist schon ein Mißverständniß zwischen euch entstanden?« fragte Nanny, eine Hand Esthers ergreifend.

»Mißverständniß?« wiederholte die junge Frau. »Nein, leider ist es keines. Erich liebt mich nicht, und darin besteht mein Unglück.«

Nanny blickte Esther eine Weile schweigend an, dann äußerte sie:

»Woher weißt du, daß er dich nicht liebt?«

»Er hat es selbst gestanden,« stammelte Esther mit bebender Stimme, fast in Thränen ausbrechend.

»Dann mußt du versuchen, seine Zärtlichkeit wieder zu gewinnen. Trockne deine Thränen, zeige ihm ein frohes und freundliches Gesicht und lasse ihn deinen Kummer nicht ahnen, sondern verberge ihn tief im Herzen. Sei mit Thränen und Liebesbezeugungen sparsam, aber sei freigebig mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit. Auf solche Weise kannst du von ihm erlangen, was du jetzt nicht zu besitzen glaubst. Gute Nacht, Esther, überlege dir meinen Rath, denn er ist gut.« Nanny küßte der Schwägerin die Stirne und entfernte sich.

Esther hatte denjenigen Worten Nannys, welche ihrer eigenen Auffassung entsprachen, ein aufmerksames Ohr geliehen, die anderen aber, die dieser Auffassung entgegengesetzt waren, ließ sie vorübergleiten. Sie fand es ganz richtig, mit Liebkosungen nicht verschwenderisch zu sein, ebenso nicht zu weinen; allein freundlich und aufmerksam gegen einen Mann zu sein, der sie betrogen hatte, konnte nicht in Frage kommen, und sie legte diesem Rathe Nannys nicht die geringste Bedeutung bei. Sie wollte kalt, gleichgültig und unzugänglich sein – dazu fühlte sie sich geneigt. Ihre Mutter mochte gehandelt haben, wie sie wollte; Esther hatte nicht im Sinn, gleichfalls so zu handeln und sich einem Manne zu opfern, den sie verabscheuen zu müssen glaubte. Nachdem Esther diesen Entschluß gefaßt, wollte sie in ihr Zimmer gehen, als Erich in den Salon trat.

»Ah, da ist ja mein Weibchen,« sagte er ganz vergnügt und kam ihr entgegen; »ich wollte mich eben zu dir begeben.« Er wollte sie umarmen, allein Esther wich zurück.

»Du kannst dir die Mühe ersparen; wenn du mir gute Nacht sagen willst, so kann dies eben so gut hier geschehen.«

»Das ist nicht meine Ansicht,« sprach Erich lächelnd.

»Aber die meinige,« erklärte Esther mit Nachdruck.

»Wie, ich glaube, du bist noch immer böse? Das ist wohl nicht möglich? Du weißt ja, liebenswürdiges Kind, daß du aus mir den treuesten und zärtlichsten Gatten machen kannst, wenn du nur gut sein und deine eigene Gesinnung nicht verleugnen willst.«

»Ich verleugne sie nicht, wenn ich dir jetzt gute Nacht sage,« entgegnete Esther stolz. »Ich hoffe, daß du mir deine Gesellschaft nicht länger aufdringen wirst; ich bin müde und der Ruhe bedürftig.«

Erich hatte ihre Hand gefaßt, ließ sie aber sogleich los und sprach ein kaltes »Schlafe wohl« aus, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und ging an ein Fenster, wo er, mit dem Rücken gegen das Zimmer zugekehrt, stehen blieb. Esther sah ihm mit einem verdrossenen Blicke nach. Sie hatte erwartet, daß er um ein herzliches Wort, um einen Blick flehen werde, allein er that es nicht; ihre Erwartung schlug fehl und sie eilte in ihr Zimmer hinein, um ihrem Schmerze durch eine Fluth von Thränen Luft zu machen.

Die Dienstboten löschten die Lichter im Salon aus. Die hell erleuchtete Wohnung wurde dunkel, nur eine einzige Lampe erleuchtete das Zimmer, in welchem Erich war und gedankenvoll in die finstere Novembernacht hinausschaute.

Er hörte leise Schritte und erblickte, sich umwendend, Nanny, welche dicht hinter ihm stand.

»Warum bleibst du hier und lässest deine junge Frau allein, drei Tage nach Eurer Hochzeit?« sagte Nanny.

»Erlaube mir, deine Frage unbeantwortet zu lassen,« entgegnete Erich, »und gestatte es dagegen, dich zu fragen, warum du hier bist?«

»Ich suchte dich.«

»Und doch stauntest du, mich hier zu finden?«

»Ja, ich erwartete, vergebens zu suchen.«

»So – –« Erich fuhr mit der Hand über seine Stirne, um irgend einen unangenehmen Gedanken zu verscheuchen und wandte den Kopf, so daß er den Blicken der Schwägerin auswich.

»Hast du mir etwas Besonderes mitzutheilen?« fragte er.

»Du liebst also deine Frau nicht?« versetzte Nanny, ohne seine Frage zu beachten.

»Nanny,« unterbrach sie Erich, »ich wünsche, daß du alle Fragen über diesen Gegenstand unterlassen möchtest. Ob meine Frau und ich einander lieben oder nicht, ob wir glücklich oder unglücklich sind, geht uns allein an. Ein Dritter hat damit nichts zu schaffen. Willst du sonst noch etwas von mir?«

Nanny beobachtete ihn mit ihren großen, dunkeln Augen, als wolle sie in seinem Herzen lesen und das verborgenste Geheimniß desselben entdecken.

»Ich werde deine Worte im Gedächtniß behalten,« sprach sie; »ich werde sie nie vergessen, aber ehe meine Lippen für immer aufhören, über dich und deine Frau zu reden, möchte ich dir sagen, daß die Strafe dem Vergehen unmittelbar auf dem Fuße folgt. Du hast ein junges, schönes und reiches Mädchen geheirathet, um in den Besitz von Vermögen zu gelangen. Was bedeutete es wohl unter diesen Umständen, daß dein Herz noch immer einer Andern gehörte? Du hast aus Eigennutz eine Zärtlichkeit geheuchelt, die du nie empfandest und ließest dich trauen in der vollen Ueberzeugung, daß du ehrenhaft und pflichtgemäß gehandelt habest. Du glaubtest, ein Recht zu haben, so glücklich zu werden, wie es ein Mann sein kann, der einem Weibe erlaubt, ihn zu lieben, ohne daß er es für der Mühe werth hält, sie gleichfalls zu lieben. Du hast deine Rechnung gemacht, ohne die moralische Gerechtigkeit mit in Betracht zu ziehen, und du hast dich verrechnet. Deine Frau liebt dich nicht mehr. Schon am dritten Abend nach eurer Hochzeit lauscht sie auf die Liebesworte, die ihr ein anderer Mann in ihrem Kabinette unter vier Augen zuflüstert.«

»Nanny, dies ist nicht wahr,« rief Erich; »du dichtest dies meiner armen Esther an!«

»Frage sie selbst, ob sie nicht vor ein paar Stunden mit Andreas gesprochen hat, der ihr die wärmsten Versicherungen ewiger Liebe gab.«

»Diese Geschichte kenne ich. Der wilde Junge hat ihr Lebewohl gesagt, ehe er diese Gegend verläßt, und das ist Alles. Hast du kein besseres Mittel, mich aufzubringen, so wird es dir schwerlich gelingen, mich an Esthers Charakter zweifeln zu lassen. Gehe zur Ruhe, Nanny, und sei zufrieden damit, daß du mein Leben vergiftetest, als ich Jüngling war, und vergiß nie, daß es der Wille meines Vaters gewesen ist, der uns hier unter diesem Dache zusammenführte.«

»Wird es dir schwer, diesem Willen zu gehorchen, so bedaure ich dich; du bist dann ein schlechterer Mensch, als ich geglaubt habe. Sage nicht, daß ich dein Leben vergiftete, da ich es bin, welche dich von deinen Gewissensbissen befreit hat. Du kannst nie deine Schuld gegen mich einlösen, Erich Malmberg, denn die Vergangenheit kann nicht geändert, nicht nochmals durchlebt werden.« Nanny ging.

»Sie hat Recht, ich bin ein Elender, ich kann noch nicht vergessen, daß sie sich aufopferte. Meine Pflicht ermahnt mich, dankbar zu sein, allein der Mensch erfüllt seine Pflicht selten; ich bin keine Ausnahme von dieser Regel. Ich kann nur darüber wachen, daß mich mein Herz nicht zu Handlungen verleitet, die meine Ehre verletzen könnten.«

Erich ging in sein Zimmer, um Ruhe zu suchen; aber der Schlaf floh ihn gänzlich.

Es giebt im Allgemeinen nichts, was so schnelle Frucht bringt, als der Samen des Zweifels. Obgleich Erich ruhig und bestimmt Nannys Behauptung hinsichtlich Esthers und des Andreas zurückgewiesen hatte, so konnte er sich doch nicht von einem unbehaglichen Gefühle befreien, welches seine Gedanken immer wieder auf Andreas' Liebe zu seiner Frau zurücklenkte. Es war von Esther unverzeihlich, dem Liebesgespräche eines zügellosen Jünglings zu lauschen, und es ärgerte ihn, daß dieser unbedeutende Bursche kühn genug gewesen war, über seine Gefühle mit Esther Malmberg zu reden.

Erichs Stimmung, als er am folgenden Morgen in den Speisesaal trat, war nichts weniger als freundlich. Nach dem Frühstück folgte er seinem Schwiegervater in die Stadt, ohne Esther mehr als ein kaltes Lebewohl zu sagen. Er kehrte den ganzen Tag nicht zurück. – Wenn es Nannys Absicht gewesen war, den Samen des Mißtrauens in seiner Brust auszustreuen, so war es ihr bis zu einem gewissen Grade geglückt.


Wenn sich reiche Leute verheirathen, so lassen es alle Bekannten sich angelegen sein, durch Einladungen und Veranstaltungen ihre Theilnahme zu bezeugen.

Malmbergs wurden auch überall eingeladen; allein Esther war nicht zu bewegen, einer dieser Einladungen Folge zu leisten. Sie blieb eigensinniger Weise zu Hause. Das ruhige Alltagsleben nahm also schon jetzt seinen Anfang. Esther hatte, gleich den meisten reichen Frauen, es nicht nöthig, ihre Haushaltung zu besorgen, wenn es ihr nicht gefiel, sondern konnte dies Anderen überlassen, und das that sie auch. Sie war es weder gewöhnt, noch hatte sie ein Interesse daran, Milchkammer, Vorrathskammer, Brau- und Backhaus kennen zu lernen. Die Haushälterin war ja da, um Alles zu besorgen. Die junge Frau brachte den größten Theil des Tages in der Bibliothek zu, wo sie einen Roman um den anderen las. Ueber der Betäubung, welche das Romanlesen verursachte, vergaß sie ihre verschwundenen Illusionen und wiegte sich in neue ein. Dies war für sie das einzige Mittel, um ihr herbes Schicksal ertragen zu können. Gegen ihren Mann war sie kalt und unfreundlich, und trotz Nannys Ermahnungen konnte sie kein anderes Betragen annehmen.

Als Erich bemerkte, daß Esthers Benehmen dasselbe blieb und sich überdies an Nannys Erzählung von Andreas erinnerte, entstanden in ihm Zweifel an Esthers Anhänglichkeit, so daß er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, Esthers Liebe zu ihm sei nur eine Laune gewesen, welche von einer andern Laune verdrängt worden sei. Diesen Glauben bestärkte Esther auch dadurch, daß sie nach ihrer Hochzeit ihre arme Tante, Frau Berg, die Mutter des Andreas, besuchte, was sie vorher nicht gethan hatte.

Esther tröstete sich in der That damit, daß sie sich fortwährend in ihrer Einbildung nicht nur die Abschiedsscene zwischen ihr und Andreas, sondern auch alle die Ausbrüche von Leidenschaft, denen sich ihr Vetter vor ihrer Verlobung überlassen, zurückrief. Es war angenehm, daran zu denken, wie heiß seine Liebe war, jetzt, wo sie wußte, daß sie von ihrem Manne nicht geliebt werde. Darum besuchte sie Andreas' Mutter, um von derselben über den verschmähten Liebhaber reden zu hören.

Je mehr Esther sich dem Romanlesen hingab, von desto größerer Bedeutung wurde Andreas für sie. Ganze Stunden lang konnte sie sich ihren Zukunftsträumen darüber hingeben, wie es wohl wäre, wenn sie sich wieder treffen würden. Sie vergaß den Kummer über ihre liebeleere Ehe, wenn sie sich vorstellte, wie glücklich Andreas sein werde, wenn er ihr einst wieder seine Liebe betheuern könne und sie ihm bekennen würde, daß sie ihn liebe.

Man kann hieraus ersehen, daß die junge Frau einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen hatte.

Wäre nicht Erichs jüngerer Bruder Ludwig, der Verwalter des Eisenwerks Lybo, gewesen, welcher mit seinen frohen Scherzen, seinem Gesang und seiner Musik Esther von den Romanen abgehalten hätte, wäre sie ganz und gar in ihre romantischen Grillen versunken; so aber nöthigte er sie oft während der langen Winterabende, wann die Familie auf Lybo in dem sogenannten kleinen Salon versammelt war, das Buch wegzulegen und mit ihm zu musiziren oder zu sprechen. Auf diese Weise war die junge Frau genöthigt, einigermaßen gesellig zu sein. Eines Abends, als Nanny unwohl und auf ihrem Zimmer geblieben war, und Erich in Geschäften sich nach X. begeben hatte, befanden sich Esther und Ludwig allein. Sie musizirten, als sie plötzlich aufhörte und sagte:

»Ludwig, warum bist du gegen Nanny so unfreundlich? Ich kann dein Benehmen nicht leiden; ich habe Nanny lieb.«

»Daran thust du nicht wohl; Nanny liebt dich nicht,« antwortete Ludwig.

»Das thut sie,« rief Esther lebhaft, »und ohne sie wäre mir dieses Haus unerträglich. Sie ist's, die es mir möglich macht, es auf diesem unangenehmen Eisenwerk auszuhalten …«

»Deine Worte sind für meinen Bruder nicht eben schmeichelhaft,« sagte Ludwig lachend.

»Es ist meine Absicht nicht, ihm zu schmeicheln; ich spreche nur eine Wahrheit aus, und was deinen Bruder betrifft, so ist er ungemein aufdringlich.«

»Du scheinst zu vergessen, daß er dein Mann ist.«

»Gott gäbe, ich könnte dies, allein das geht nicht so leicht,« erklärte Esther, das Piano verlassend und sich in eine Sophaecke setzend. »Es macht ihn nicht unterhaltender, daß er mein Mann ist. Ich hörte ihn nie von etwas Anderem reden, als von Eisen und Eisenindustrie, Gruben, Hochöfen und Kohlen. Alles das ist entsetzlich. Spricht er nicht von solchen Dingen, so liest er die Zeitungen und politisirt mit dir oder dem Ingenieur. Meinst du, ich könne dies angenehm finden?«

»Nicht besonders, es ist aber eigentlich deine Schuld, daß mein Bruder ausschließlich mit mir, dem Ingenieur oder Nanny sich unterhalten muß. Du antwortest ihm ja kaum, wenn er dich anredet. Will er singen und bittet dich, ihn zu begleiten, so bist du es nicht im Stande; wenn aber ich oder der Ingenieur G. im nächsten Augenblicke dasselbe Begehren aussprechen, so bist du sogleich bereit. Liest er laut, so gehst du fort und thust Alles, um ihm und den Anderen zu zeigen, daß du eine Freude daran hast, nie Dasjenige zu thun, was ihm gefällt.«

»Findest du das? Ich für meinen Theil meine, daß Erich es ist, welcher sich nie darum kümmert, mir zu Willen zu sein, und deßhalb fühle ich keine Neigung, artiger gegen ihn zu sein.«

»So denkt Nanny nicht. Erich ist sehr kalt gegen sie, was sie aber nicht hindert, voll Aufmerksamkeit gegen ihn zu sein. Sie leitet immer solche Gespräche ein, die ihn interessiren, und sucht seinen Aufenthalt daheim auf jede Art und Weise angenehm zu machen.«

»Und warum thut sie dies?« fiel Esther ein; »ja, damit Erich nicht allzu unerträglich sein soll, wenn wir beisammen sein müssen.«

»Das glaubst du nur!« rief Ludwig lachend aus. »Nein, Nanny hat andere Beweggründe, und ich könnte sie dir auseinandersetzen.«

Aber Ludwig kam nicht dazu, dies zu thun, denn der Bediente meldete, der Propst und seine Frau, seine Töchter und sein Vikar seien auf Besuch gekommen.

Die Frau Propst Susanne Granstedt war eine kleine lebhafte Frau mit unstäten Augen, beweglicher Zunge und einem großen Mangel an Zähnen. Wenn sie die dünnen Lippen öffnete, so wurden zwei lange Zähne sichtbar, die wie ein Paar Ruinen dastanden und an die ehemalige Fülle erinnerten. Die Pröpstin war ein schrecklich gebildetes Frauenzimmer und ein wenig Schriftstellerin. In ihrer Jugend hatte sie, wie sie im Vertrauen mittheilte, eine Sammlung »Fantasieblumen« herausgegeben, und diese Blumen hatten einen solch reißenden Absatz gefunden, daß jetzt keine mehr in den Buchläden vorräthig waren. Dazu besaß Frau Granstedt eine andere Schriftstellereigenschaft: sie verfaßte Biographien über das Leben ihrer Mitmenschen, die mehr oder weniger wahrheitsgetreu waren. Man konnte keinen Namen aussprechen, ohne daß sie nicht sogleich ein Lebensbild der genannten Person vorführte.

Sie begrüßte jetzt die »angenehme liebenswürdige Frau Malmberg« mit vieler Herzlichkeit, erkundigte sich nach ihrer Gesundheit und nahm sogleich, ohne eine Antwort abzuwarten, an, diese sei nicht so gut, weil Esther blaß geworden sei. Sie fragte ferner nach Nanny Malmberg, sagte, sie sei untröstlich, daß sie nicht an der Nachhochzeit habe Theil nehmen können und wäre sehr begierig, die Bekanntschaft mit Nanny erneuern zu können.

Die Pröpstin sprach in Einem fort, und Esther ließ sie reden. Die würdige Frau nahm auf einem Sopha Platz, ergriff Esthers Hände und bedauerte, daß der Hausherr abwesend sei, da sie ihm nicht zu seinem und Esthers Glück gratuliren könne. Während sie so sprach, irrten ihre Augen im Zimmer herum, als ob sie einen Gegenstand suchte, auf welchen sie übergehen und damit einen neuen Anknüpfungspunkt für ihr Gespräch gewinnen könne. Ihr Blick weilte auf einem großen Oelgemälde, welches Lieutenant Karl Malmberg, Nannys verstorbenen Mann, vorstellte.

»Ach, wie ähnlich es ist!« rief die Pröpstin, von dem Sopha auffahrend und auf das Bild zugehend, aus, indem sie das Taschentuch vor die Augen hielt und sich mit einem gewissen Nachdruck schnäuzte, um ihre erregten Gefühle kund zu thun. »Wie schade, daß er sterben mußte! Sie können sich, liebe Frau Malmberg, nicht vorstellen, welchen liebenswürdigen Charakter der Mann besaß. Aber er, wie alle guten Menschen, hatte schwere Prüfungen durchzumachen.« Jetzt seufzte die Pröpstin, schnäuzte sich abermals und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ich weiß am besten, was er litt, und meine Ueberzeugung ist, daß er aus Gram gestorben ist.« Sie wandte sich hastig um, blickte schnell im Zimmer umher und rief aus: »Aber wo ist die Frau Kapitän? Ich möchte ihr so gerne meine Theilnahme an dem schweren Verlust, den sie erlitten hat, aussprechen. Sie ist vielleicht mit dem Herrn Malmberg in die Stadt? Arme Kleine, sie kann Zerstreuung brauchen, sie hat gewiß keine angenehmen Empfindungen!« Wieder senkte sie die Stimme: »Sie hat sich Manches vorzuwerfen! Sie wissen wohl, wie sie verheirathet war und kennen die Geschichte ihres Mannes?«

Esther waren diese Geschichten gänzlich unbekannt, und sie erklärte, sie wolle die Schwägerin holen lassen, aber Frau Granstedt rief aus:

»Um Alles nicht, stören Sie sie nicht! Welch ein reizendes Kabinet,« setzte sie hinzu und stürzte in das Kabinet hinein. Esther mußte als höfliche Wirthin ihr folgen. Im Ofen des Kabinets brannte ein helles Feuer. Die Pröpstin gerieth bei diesem Anblick in großes Entzücken.

»Ach, wie gemüthlich es hier ist, und wie einladend das kleine Sopha aussieht; man fühlt sich so recht zu vertraulichen Mittheilungen gestimmt. Nichts geht über ein kleines Gespräch hier in der Dämmerung.« Sie nahm auf dem Sopha Platz, indem sie erklärte, daß sie und Esther als Frauen ein angenehmes Stündchen unter sich zubringen und die Anderen sich selber überlassen könnten.

»Ich kenne meinen Mann; er spricht am liebsten mit Herrn Ludwig über Ackerbau und Eisenindustrie, und was meine Mädchen betrifft, so haben sie ihr größtes Vergnügen bei dem Vikar. Er hat auch Manches erlebt, was ich ein anderes Mal erzählen werde. Nun ist es mir am meisten darum zu thun, zu hören, wie Sie sich auf Lybo befinden. Der Ort ist nicht glückbringend, und es hat mich in der That beunruhigt, als ich daran dachte, daß Sie vielleicht hier von irgend einem Kummer heimgesucht werden könnten.«

Esther, von dem Wortschwall und der zudringlichen Vertraulichkeit der Pröpstin gereizt, erklärte sogleich, sie befinde sich ungemein wohl in der neuen Heimat. Wie es schien, achtete die Frau des Propsts auf diese Antwort nicht, denn sie fuhr fort, ohne sich beirren zu lassen:

»So, Sie wissen nicht, wie Nanny Gyllenpil sich verheirathete; aber Sie wissen es natürlicherweise, daß Nannys ältere Schwester mit dem seligen Eisenwerksbesitzer verheirathet war, das heißt, sie war seine zweite Frau. Es ist eine reizende Frau, ja, das ist sie. Schade, daß sie fortwährend im Auslande sich aufhält. Der alte Malmberg starb, wie Sie wissen, in Italien. Er litt an einer Brustkrankheit, und sie, der Engel, folgte ihm und pflegte ihn, der sie ganz schlecht behandelte. Das ist eine andere Geschichte, aber nicht so romantisch, wie die Nannys. Diese kann ich an den Fingern heruntersagen, indem die beiden Brüder, Karl und Erich Malmberg, nahe daran waren, in ewige Feindschaft zu gerathen. Die Brüder, sage ich; es ist aber mit der Brüderschaft etwas kurios beschaffen, wie ich Ihnen sagen will. Ich weiß bestimmt, daß Karl nicht der Sohn derselben Mutter war, wie Erich, obschon die arme Frau ihn als eigenes Kind erziehen mußte, aber davon wollte ich nicht reden, sondern von Liebesgeschichten; der »selige Herr Malmberg« entschied die Sache dadurch, daß er den Herrn Erich fortschickte. Während er abwesend war, verheirathete sich Karl mit Nanny, die den Kapitän gar nicht liebte, sondern in Herrn Erich verliebt war. Sie mußte dennoch Karl nehmen, denn der Werksbesitzer wollte es. Der Lieutenant war jedoch nicht auf Rosen gebettet, nein, gewiß nicht. Nanny machte ihm das Leben so sauer, wie möglich, ja, das that sie. Er war eifersüchtig, der arme Mensch, und, wie man sagt, nicht ohne Ursache; denn als Erich nach Hause kam, liebte er seine Schwägerin noch immer und that auch seinen Gefühlen keinen Zwang an, da sich der Vater in Italien befand.«

Hier wurde die Pröpstin unterbrochen. Nanny trat in das Kabinet, und die würdige Frau Pröpstin hätte nicht mehr betroffen werden können, wenn sie den »seligen Herrn Malmberg« selbst erblickt hätte. Einige Sekunden blieb sie ganz ruhig sitzen, ohne daß sich ihre Zunge bewegte, was sonst nur im Schlafe der Fall war, vorausgesetzt, daß sie nicht im Traum redete. Die Pröpstin gehörte jedoch nicht zu denen, die die Fassung verlieren, denn sie erholte sich sogleich, sprang von dem Sopha auf, stürzte Nanny mit ausgebreiteten Armen entgegen, um sie zu umarmen und mit einem Schwalle von theilnehmenden Worten und Thränen zu überschütten.

Esther war der Meinung, von der Pfarrfrau, deren Geschwätz nur unangenehme Gedanken erweckte, lange genug gequält worden zu sein; sie eilte deßhalb aus dem Kabinet, um gegen die anderen Mitglieder der Familie des Propstes ihre Pflichten als Wirthin zu erfüllen. Ludwig schlug vor, man solle musiziren, da der Vikar eine schöne Stimme besaß; Esther und er sollten ein Duett singen.

Der Propst und der Ingenieur setzten sich zu einem Brettspiele nieder.

Die Pröpstin, welche sah, daß Esther ihr entkam, bemächtigte sich Nannys, die bereitwillig Platz neben ihr nahm.

Nanny war zwei und zwanzig Jahre alt, Esther erst achtzehn. Nanny hatte recht vieles im Leben gesehen und erfahren und wußte, daß man sogar von der schwatzhaftesten Zunge etwas Hörenswerthes erfahren könne.

Die Pröpstin fing sogleich an:

»Sie haben eine unbeschreiblich liebenswürdige und angenehme Schwägerin erhalten, Frau Malmberg, ein recht liebes Kind und reich dazu, ja wohl, so reich, daß sie wohl die Reichste hier im Ort sein wird, sie, die einzige Erbin des alten Roman. Sie ist von neun Kindern das einzige überlebende. Es hat ausgesehen, als sei der Alte vom Schicksal auserkoren gewesen, alle seine Kinder zu erben, und Niemand glaubte, die kleine Esther werde am Leben bleiben; es geschah aber dennoch und Roman mußte sich damit begnügen, acht Kinder geerbt zu haben. Gott weiß, daß er Alles that, um auch diesem armen Kinde zu schaden und es zu verderben; es ist also sein Fehler nicht, daß es noch lebt. Niemand kann begreifen, wie sie ein so liebenswürdiges Geschöpf werden konnte, denn man kann sich kein böseres und abscheulicheres Kind, als sie war, vorstellen. Apropos, wie geht es der kleinen Tochter, dem lieben Kinde?«

»Olga schläft, es geht ihr ganz gut,« antwortete Nanny lächelnd.

»Das glaube ich gern, sie kann sich nur wohl befinden, da sie eine solche Mutter hat. Frau Malmberg kennt wohl die Lebensgeschichte des Herrn Roman?«

»Sehr wenig,« entgegnete Nanny.

»Haben Sie sie nicht gehört? Dann kann ich sie Ihnen erzählen; ich kenne Roman seit seinen Knabenjahren. Sein Vater soll irgendwo ein Gut besessen haben, ich weiß nicht genau, wo; er war ein Lumpenkerl, das ist gewiß, und so kam er um dasselbe. Er ließ sich dann mit der Tochter in Gefla nieder. Dort ernährte er sich mit Drechseln, und das Mädchen nähte Hüte für Putzmacherinnen. Der Sohn, der jetzige Eisenwerksbesitzer, kam als Verwalter auf das Eisenwerk zu Grythamra. Hier wußte er sich so bei der Familie einzuschmeicheln, daß der Herr ihm seine einzige Tochter geben mußte, um die Ehre des Mädchens zu retten. Auf diese Art wurde er der Besitzer eines sehr großen Vermögens; Roman hat es seitdem bedeutend vermehrt. Dies geschah nicht immer auf gewissenhafte Weise, das darf man sicher glauben, und es ist dies allbekannt, man braucht also nicht darüber zu sprechen. Was aber schrecklich ist, das ist sein Betragen gegen seine Schwester. Sie ist natürlich eine Frau von schlechtem Charakter, aber der Bruder hätte doch ein wenig Nachsicht mit ihr haben sollen, wenn auch Andere keine zu haben brauchten. Sie heirathete einen armen Geistlichen, einen Lumpen, der sich schlecht aufführte und meinem Manne viel Aerger verursachte, denn er war in unserem Kirchspiel Vikar gewesen. Er überlebte seine Verheirathung nicht lange, was eine Wohlthat war. Die Frau, daß Gott erbarm, wollte sich damit zieren, daß sie um ihn trauerte, um mit ihren Thränen die Gemeinde zu rühren, in welcher er Seelsorger gewesen war, als er starb. Sie erhielt auch zwei sogenannte Gnadenjahre, eines für sich und eines für den Knaben, welche aber nicht sehr einträglich waren, denn die Pfarrei war arm. Sie zog nun nach X., um wieder Hüte zu nähen um damit sich und das Kind zu ernähren. Sollte man es aber für möglich halten, daß der reiche Roman, der Millionär, ihr keinen Heller zur Unterstützung gab? Die Wittwe Berg ist bekanntlich ein hochmüthiges Geschöpf, welches ihn um keinen Pfennig anging, dies ist sicher. Sie verkehren nicht einmal mit einander. Der junge Andreas hat jedoch während seiner Schulzeit bei Romans essen dürfen, und, als er als Gymnasiast nach Hause kam, brachte er die Ferien bei seinem Onkel zu. Man sagt, daß ein zärtliches Verhältniß zwischen ihm und Esther bestanden habe, der Alte habe aber der Sache dadurch ein Ende gemacht, daß er das Mädchen dem Herrn Malmberg gab. Sie wissen das besser, als irgend Jemand, sowie auch, daß sein Geschäft schlecht stand, als er Esther heirathete. Ueber die Neuvermählten will ich nicht reden, obschon man hier im Kirchspiel mancherlei von ihnen spricht.«

Abermals wurde Frau Granstedt unterbrochen, diesmal von Malmberg selbst, welcher soeben nach Hause kam und hereintrat, um die Pröpstin zu bewillkommen.

Nanny hatte mehr, als ihr lieb war, zu hören bekommen und überließ jetzt ihren Schwager der Redseligkeit der Pröpstin, was wir gleichfalls thun wollen.

Gut bewirthet und gesättigt kehrte die Familie des Propstes nach Hause zurück, und auf Lybo begab man sich zur Ruhe. Die jungen Frauen hatten Beide Stoff zum Nachdenken erhalten.

Esther lag auf dem Sopha in ihrem Schlafzimmer und dachte an das, was Frau Granstedt über die Liebe ihres Gatten zu Nanny mitgetheilt hatte, als die Letztere zu ihr hereinkam.

»Ich glaube, du hast ebensowenig, als ich, Lust zu schlafen,« sagte Nanny und setzte sich in einen Lehnstuhl. »Die Pröpstin hat so viel gesprochen, daß es mir noch in den Ohren summt. Es ist mir unmöglich, den Klang ihrer Stimme los zu werden. Nun, Estherchen, sie hat dich wohl mit schönen Geschichten über mich erbaut? Mir erzählte sie die Biographie deines Vaters, deiner Tante und die deinige, ehe ich noch ein Wort davon wußte.«

»Sie hat von mir wohl nicht viel zu erzählen gehabt,« sagte Esther verdrießlich. »Ich habe mein Leben im Vaterhause zugebracht, ich kam nie weiter, als von X. nach Grythamra und habe nie einen anderen Liebhaber, als meinen jetzigen Mann gehabt.«

»Nicht?« sagte Nanny, mit den Quasten ihres Schlafrockes spielend. »Frau Granstedt war gewiß anderer Meinung. Sie meinte, dein Vetter Andreas sei über alle Maßen in dich verliebt und du in ihn und daß dein Vater dich verheirathete, um dieser zärtlichen Verbindung ein Ende zu machen.«

»Hat sie das gesagt? Das war schändlich, abscheulich; ich konnte als ledig den Andreas nie leiden, Erich war meine erste und einzige Liebe, und erst, seitdem ich seine Frau bin, habe ich meines Vetters freundlicher Weise gedacht.«

Nanny fing zu lachen an.

»Zürne nicht, mein Blümchen, die Pröpstin meinte, du hättest in deinen Vetter verliebt sein müssen, deshalb nahm sie die Sache als abgemacht an. Arme Frau, sie verwechselt stets Dichtung und Wahrheit.«

»Sie hat vielleicht auch gefaselt, als sie sagte, Erich sei in dich verliebt und du in ihn?« rief Esther.

»Man sieht nur, sie ist geneigt, Romane zu dichten und da sie keine solche schreiben kann, so improvisirt sie welche. Nun, mein Estherchen, glaubtest du ihren Worten?«

Nanny reichte ihr die Hand und lächelte sie so freundlich an, daß Esther, als sie in die schönen Augen der Schwägerin blickte, klar und deutlich einsah, daß die Pfarrerin Nanny ebenso belogen habe, wie sie es ihr selbst gemacht hatte. Die junge Frau hatte Nanny seit der Nachhochzeit lieb gewonnen und hielt es für ausgemacht, daß die Zunge, die sich zwischen zweiunddreißig frischen Zähnen bewegte, eher die Wahrheit reden werde, als diejenige, welche ohne Mühe sich nur zwischen zwei Ruinen bewegen konnte. Sie faßte Nannys Hand und drückte sie mit der Versicherung herzlicher Ergebenheit, indem sie beifügte, daß, wenn nicht Nanny und Ludwig auf Lybo wären, sie gewiß keinen Tag länger daselbst bleiben würde.

Die Schwägerinnen trennten sich nach einer herzlichen Umarmung, und Esther begab sich zur Ruhe, ohne weiter an die Behauptungen der Pröpstin zu denken. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war – Andreas.


Nanny blieb lange in tiefe Gedanken versunken in ihrem Lehnstuhl sitzen. Ihr Gesicht zeugte von einem harten inneren Kampfe. Sie gehörte nicht zu den weichherzigen Frauen, die von Andern sich beeinflussen lassen; sie besaß einen starken Willen, tiefe Gefühle und viel Stolz. Hatte sie ein Ziel im Auge, das sie erreichen wollte, so zeigte sie eine erstaunliche Beharrlichkeit, um es zu erreichen. Sie glaubte an sich selbst, und dieser Glaube gab ihr Kraft im Kampfe gegen Schwierigkeiten.

Als Nanny eine Stunde lang gegrübelt hatte, legte sie den Shawl an, ging in den Corridor hinaus und blieb an Ludwigs Thüre stehen. Sie klopfte an und fragte:

»Ludwig, bist du noch auf?«

Die Thüre wurde geöffnet, und Ludwig stand vollständig angekleidet vor ihr.

»Ist Jemand krank, daß du hier so mitten in der Nacht herumspukst?« fragte er.

»Wenn das der Fall wäre, so würde ich wohl nicht zu dir gehen, du bist doch kein Arzt?«

»Leider, nein,« antwortete Ludwig; »wäre ich es, so würde ich dich bald von deiner Vorliebe für das Nachtwandeln heilen. Darf ich wissen, was du willst?«

»Mit dir reden.«

»Doch nicht hier im Corridor?«

»Nein, komm mit mir, so werden wir in meinem äußeren Zimmer mit einander sprechen.«

»Wäre es nicht möglich, das Gespräch bis morgen zu verschieben?« fragte Ludwig gähnend. »Ich bin so v–t schläfrig.«

»Ich bedaure es; allein wenn das, was ich dir zu sagen habe, sich aufschieben ließe, so würde ich dich nicht gestört haben; komme deshalb.«

Nanny kehrte in ihre Zimmer zurück, und Ludwig folgte ihr. Sie schloß die Thüre zwischen dem Schlafzimmer und dem kleinen Vorzimmer, wandte sich dann an ihren Schwager und sprach:

»Du hast Esther vor mir gewarnt.«

»Pflegst du zu lauschen? Das wäre eine neue, mir unbekannte Tugend, von der ich früher keine Ahnung gehabt habe.«

»Ich lausche nie,« antwortete Nanny; »als ich aber diesen Abend die Musik drunten verstummen hörte, verstand ich, daß Ihr sprachet und daß du dich ganz freundschaftlich von mir unterhieltest. Sei so gut und sage gerade heraus: was hast du eigentlich gegen mich? Daß du mich nicht leiden kannst, scheint klar zu sein.«

»Was ich gegen dich habe?« wiederholte Ludwig. »So viel, daß die ganze Nacht nicht lange genug wäre, um dir Alles mittheilen zu können. Ich kann dennoch mit zwei Worten alle deine Fehler bezeichnen: du bist intrigant und herzlos.«

»Das wäre wirklich viel mit wenigen Worten gesagt und eine weit bezeichnendere Charakterschilderung, als selbst die Pröpstin sie hätte liefern können. Aus welchem Grunde fällst du ein solches Urtheil?«

»Aus dem Grund, weil du meine beiden Brüder aufgemuntert hast, sich in dich zu verlieben. Darauf hast du aus Berechnung den Aelteren geheirathet, obgleich dein Herz an dem Jüngeren hing. Als Frau hast du meinem armen Bruder das Leben recht sauer gemacht, obgleich er dich wahnsinnig liebte. Als er auf seinem Sterbebette lag, bewegtest du ihn, von Erich zu fordern, daß sein Haus auch das deinige werden solle. Du hofftest vielleicht, Erich würde seine Verlobung mit Esther rückgängig machen, wenn du Wittwe würdest; allein du vergaßest, daß er eine reiche Heirath machen mußte, um Lybo behalten und späterhin dich und dein Kind daselbst auslösen zu können. Als deine Hoffnung, ihn zum Manne zu bekommen, fehl schlug, ließest du dich hier nieder, um Zwist zwischen den Gatten auszusäen, und auf diese Art über Erich herrschen zu können. Meinst du, ein solches Benehmen könne Achtung einflößen?«

»Nein, gewiß nicht,« antwortete Nanny ruhig; »es ist aber auch nicht ausgemacht, daß ich so gehandelt habe, wie du voraussetzest. Wenn ich wollte, könnte ich dir das Gegentheil beweisen, aber die Zeit pflegt solche Irrthümer, wie derjenige ist, welchen du jetzt begehst, zu berichtigen. Ich beschränke mich also darauf, zu fragen, ob du immer noch im Sinne hast, Esther zu warnen und mir so zu begegnen, wie du es seit meiner Ankunft gethan hast?«

»Ich glaube gewiß, daß ich es thun werde; ich sehe keinen Grund ein, warum ich mein Benehmen ändern sollte.«

»Ich dagegen sehe einen ein; du hast zwei Frauen vor dir, die zusammen leben müssen, wenigstens eine Zeit lang. Die Eine ist allein und wehrlos, die Andere ein vom Glücke verwöhntes Kind, das jetzt von der ersten Widerwärtigkeit betroffen worden ist. Lasse sie Freundinnen bleiben, denn im entgegengesetzten Fall handelst du im höchsten Grade unritterlich. Ich bitte dich, stehe dem Wohlwollen nicht im Wege, das Esther für mich hegt; es kann für sie und auch für deinen Bruder von Nutzen werden.«

»Ich glaube es nicht. Ich mochte nie den Judas leiden, weder in männlicher, noch in weiblicher Gestalt,« erklärte Ludwig.

»Du willst also nicht von dem Bemühen ablassen, mir Esthers Freundschaft zu entziehen?« rief Nanny sich erhebend.

»Doch, wenn du von deinem Vorsatze, hier zu bleiben, ablassen willst.«

»Das thue ich nicht; lieber wollen wir im Streit leben, und dann kann es im Ungewissen bleiben, wer von uns Beiden, du oder ich, Lybo verlassen wird.«

»Ich werde es nicht sein!« betheuerte Ludwig mit Sicherheit. »Du weißt, daß ich, wie du, mein Erbtheil auf dem Eisenwerke stehen habe. Erich kann mich schwerlich verabschieden, wie er es mit einem anderen Verwalter thun könnte.«

»Er kann sich mit dir abfinden, wie mit mir auch.«

»Gewiß, er thut es aber nicht, weil er dann keinen Vortheil von seiner Heirath haben würde, um so mehr, als er nur über die Hälfte von Esthers mütterlichem Vermögen verfügen kann. Gute Nacht, Nanny, hast du noch etwas beizufügen?«

»Nein, kein Wort, da ich dich nicht bewegen kann, von deinen Verfolgungen abzulassen.«

»Schlafe wohl,« sprach Ludwig, das Zimmer verlassend. Das Wort »Verfolgungen« wiederhallte ganz sonderbar in seinen Ohren und gab ihm Anlaß zu Betrachtungen, die den Schlaf von seinem Lager verscheuchten. Nanny zeigte sich schon am folgenden Tag sehr verändert. Sie beschäftigte sich mehr als gewöhnlich mit Esther, und suchte ihr Interesse für andere Dinge, als Romane, einzuflößen, war aufmerksam gegen Erich, verbindlich gegen den Ingenieur und freundlich gegen Ludwig.

Eines Abends, als Alle im Salon versammelt waren und Esther schweigend und träumerisch in einem Lehnstuhl saß, äußerte Nanny, sich zu der jungen Frau wendend:

»Was meinst du, Esther, könnten wir zwei Frauen es nicht unternehmen, die Haushaltung auf Lybo zu besorgen? Wir sind zwei junge, gesunde Frauen und vergeuden unsere Zeit in nutzloser Unthätigkeit, du mit Romanen, ich mit Stickerei. Könnten wir nicht Frau Grönbäck helfen, so daß sie nicht Alles selbst zu thun hätte?«

Erich, der Piquet mit dem Ingenieur spielte, sah empor und richtete seinen Blick auf Nanny. Sie saß da über ihre Arbeit gebeugt und merkte nicht, daß sie beobachtet werde.

»Wozu sollte das dienen?« antwortete Esther und fing an, mit den Locken der kleinen Olga zu spielen. »Ich denke, Frau Grönbäck besorgt Alles sehr gut, und ich habe keine Ursache, mit ihr unzufrieden zu sein.«

Nanny fing zu lachen an.

»Mein Gott, Esther, wie verständig dies lautet, ganz als verstündest du etwas von der Haushaltung. Ich glaube, du und ich sind gleich unkundig und thäten am besten, einige Lektionen bei Frau Grönbäck zu nehmen. Alsdann könnten wir beurtheilen, wie sie ihr Amt verwaltet. Wenn du Lust hast, so können wir schon morgen anfangen.«

»Nein, liebe Nanny, mir fehlt die Lust dazu gänzlich.« Esther hob Olga zu sich empor und plauderte mit ihr.

Erich verlor das Spiel und stand anscheinend ärgerlich darüber auf.

Nanny fuhr nach einer kurzen Pause fort:

»In diesem Falle werde ich allein die Schülerin der Frau Grönbäck. Ich kann dieses Schlaraffenleben nicht länger ertragen.«

»Es ist rührend, dir zuzuhören,« fiel Ludwig ein; »wenn Alles so weit kommt, so wirst du vielleicht eine so gelehrige Schülerin, daß du eines schönen Tags die alte Grönbäck bei Seite schiebst und ihren Platz einnimmst.«

»Die Alte will ich gewiß nicht beseitigen, aber ihre Mühe erleichtern und selbst ein wenig nützlich sein,« sagte Nanny. Erich setzte sich neben sie und fing an, von der Haushaltung zu sprechen, sowie von der Nothwendigkeit für eine Frau, diese kennen zu lernen. Er war besonders dankbar gegen Nanny, die durch ihren Vorschlag der alten Frau Grönbäck die Unannehmlichkeit erspare, in ihrem Alter sich zu sehr anstrengen zu müssen, da diese nicht dazu bewogen werden könne, eine Gehülfin zu nehmen. Die ehrliche Alte habe gehofft, daß, wenn eine Frau ins Haus käme, sie von dem wichtigsten Theil ihres Berufs entbunden bleiben werde und daß Alles auf dem gleichen Fuße eingerichtet werde, wie zu Lebzeiten des Vaters, meinte Erich.

Esther hörte ihrem Manne zu, ohne daß seine Worte den geringsten Eindruck auf sie machten. Es war so weit mit ihr gekommen, daß ihr Erichs Ansichten vollkommen gleichgültig waren. Was er auch sagte, erschien ihr langweilig und alltäglich, und das, was er jetzt sprach, langweiliger und alltäglicher, als jemals.

Nanny konnte sich wohl mit der Haushaltung beschäftigen, sofern es ihr gefiel, wenn nur Esther nichts damit zu thun hatte; diese für ihren Theil mochte sich nicht dazu überreden lassen, an Küche und dergleichen zu denken. Ihr Leben war traurig genug, und sie wollte es nicht noch trauriger machen, um einem Manne zu gefallen, der sie nicht liebte und für den sie keine Liebe mehr empfand. Sie wollte ihr größtes Vergnügen, das Lesen von Romanen, nicht entbehren. In dem Hause ihres Vaters hatte sie sich um Nichts zu bekümmern gebraucht und wollte es auch hier nicht thun.

Nanny und Erich sprachen noch eine Weile mit einander, worauf sich die Erstere wieder an Esther mit den Worten wandte:

»Es hat mich gewundert, daß weder du noch Erich deine Tante, Frau Berg, zu euch eingeladen habt. Sie ist ja arm. Dieser traurige Umstand giebt ihr ein Anrecht auf noch größere Aufmerksamkeit, als wenn sie reich wäre. Man hat mir gesagt, sie sei nicht einmal zu eurer Hochzeit geladen gewesen; kann das die Wahrheit sein?«

»Die Tante und Papa sind uneinig,« antwortete Esther; »deßhalb kam sie nicht zu meiner Hochzeit.«

»Du bist ja nach deiner Hochzeit bei ihr gewesen!«

»Ein paar Male.« Esther sah etwas verlegen aus. Das Bewußtsein, daß diese Besuche nicht aus Theilnahme für die Tante, sondern aus einem plötzlich entstandenen Interesse für Andreas veranlaßt worden seien, rief diese Verlegenheit hervor.

»War Erich mit dir?« fragte Nanny.

Es entstand Schweigen. Nanny verstand, was dies zu bedeuten hatte, fuhr aber nach einer Weile fort:

»Wenn Erich diesen Anstandsbesuch nicht schon gemacht hat, so ist es eine Versäumniß, die ihr schon morgen gutmachen solltet. Fahret also zu Frau Berg und nehmet sie mit hierher.«

Esther hatte schon lange gewünscht, was Nanny jetzt sagte, hatte sich aber nicht dazu entschließen können, ihren Mann darum zu bitten. Es war ihr zuwider, etwas von ihm zu begehren. Sie war Nanny sehr dankbar dafür, daß sie so bestimmt ihre Meinung ausgesprochen hatte.

Esther wollte ihr auch recht herzlich danken, wenn sie allein sein würden.

Nanny schlug Ludwig vor, sie sollten vierhändig miteinander spielen. Sie gingen an das Instrument.

»Du spielst deine Karten geschickt aus,« sagte Ludwig; »dadurch, daß du ihren beiderseitigen Schwächen schmeichelst, hast du Beide für deine Pläne gewonnen. Es wird mir schwer genug werden, mit meinen wenigen Trümpfen das Spiel zu gewinnen.«

»Das wirst du nie,« sagte Nanny und öffnete das Notenheft.

Am folgenden Tage schlug Erich seiner Frau vor, sie sollten zusammen Tante Berg besuchen. Obgleich Esther es zu ihrer Aufgabe gemacht hatte, alle Vorschläge Erichs mit »nein« zu beantworten, machte sie doch bei dieser Gelegenheit eine Ausnahme von ihrer angenommenen Gewohnheit.

Die beiden Gatten fuhren ab, ohne auf dem Weg nach X. ein Wort zu sprechen.

Als sie um die Mittagsstunde nach Hause kamen, war Frau Berg in ihrer Gesellschaft. Erich und Esther hatten sie nur mit Mühe dazu überreden können, weil sie sich unwohl fühlte. Esther war aber so beharrlich gewesen, daß die Tante sich endlich überreden ließ. Nichts konnte sie jedoch bewegen, auf Lybo zu übernachten, da ihre Unpäßlichkeit zunahm. Sie kehrte daher am Abend nach Hause zurück.

Nanny hatte der armen Wittwe so viel Freundlichkeit erwiesen, daß sie nicht zuvorkommender hätte sein können, wenn Frau Berg die reichste und angesehenste Frau der Gegend gewesen wäre.

Nach ihrer Abreise saßen Nanny, Erich und Ludwig beisammen und plauderten. Nanny lobte Frau Berg und konnte sich nicht genug darüber verwundern, daß Roman nicht gut mit seiner Schwester stehe. Esther schwieg und konnte es nicht verstehen, warum Nanny so großen Werth auf ihre arme Tante legte. Esther war von Kindheit auf daran gewöhnt, alle Diejenigen, welche kein Vermögen besaßen, mit Geringschätzung zu betrachten. Die Armuth war in Herrn Romans Augen ein Fehler, und Esther hatte bisher Alles mit des Vaters Augen angesehen. Sie war deßhalb noch mehr überrascht, als sich Nanny zu ihr mit den Worten wandte:

»Du und ich fahren wohl morgen nach X., um zu hören, wie es der Tante Berg geht? Hat ihre Unpäßlichkeit zugenommen, so ist es deine Pflicht, meine liebe Esther, darnach zu sehen, daß sie Pflege erhält.«

Hatte Esther Pflichten der armen Tante gegenüber? Dieses war ihr so neu, daß ihre Fassungskraft nicht hinreichte, um dies zu begreifen. Sie machte aber keine Einwendungen, als Nanny darauf bestand, und somit wurde beschlossen, daß die Schwägerinnen am nächsten Tage nach X. fahren sollten.

Erich betrachtete Nanny mit Blicken, welche ersehen ließen, daß er ihren feinen Takt und ihr gutes Verständniß für das, was recht sei, nicht nur billige, sondern sogar bewundere.

Nanny und Esther sagten den Herren gute Nacht. Ludwig und Erich blieben noch eine Weile im Saale, um zu rauchen und zu plaudern.

»Ich begreife deine Handlungsweise nicht, mein bester Erich,« äußerte Ludwig. »Du bist vier Jahre älter, als ich, allein mir scheint es, als wenn du dem Verstande nach zwanzig Jahre jünger wärest.«

»Dies ist keine Lobrede auf meinen Verstand,« sagte Erich und ließ einige Wolken aus seiner Cigarre aufsteigen.

»Sei es Lob oder Tadel, wahr ist es! Was zum T – hat Nanny hier im Hause zu schaffen?«

»Du scheinst zu vergessen, daß ich den bestimmten Willen meines Vaters und den Wunsch meines Bruders erfüllte, als ich sie auf so lange zu mir nahm, bis ich mich mit ihr wegen ihres Antheils am Eisenwerke abfinden kann. Ich kann doch mein zwei Verstorbenen gegebenes Wort nicht brechen?«

»Es ist sehr schön und erbaulich, daß du so Wort hältst, aber albern ist es doch, und nur ein so sonderbarer Mensch, wie unser geliebter Vater, nur ein Thor, wie Karl, konnten etwas Derartiges verlangen. Du hättest es Nanny recht machen können, ohne sie hierher kommen zu lassen. Hier stiftet sie nur Verwirrung an. Deine alte Neigung zu ihr wird wiederkehren und deine schwache Zuneigung für Esther aufhören.«

»Wenn das Letztere geschieht, so muß Esther die Schuld ganz und gar bei sich selbst suchen. Was meine ehemalige Neigung für Nanny betrifft, so weißt du nicht, wie thöricht du redest; das gehört aber nicht hieher. Ich bewundere sie, wenn sie, wie heute, Verstand und Takt beweist, aber ich hege Argwohn gegen sie, denn sie hat mich schon einmal getäuscht. Lasse uns deshalb nicht von ihr reden. Traue deinem Bruder so viel zu, daß du es für unmöglich ansiehst, er werde je gegen die Gesetze der Ehre sich verfehlen.«

»Du hast es, streng genommen, schon gethan, indem du Esther heirathetest und verliebt mit ihr thatest, ohne es zu sein,« sagte Ludwig.

»Du hast Recht; hätte ich es aber nicht gethan, so wäre für uns keine Rettung gewesen. Ich empfing das Eisenwerk nach dem Tode unseres Vaters schwer verschuldet und verpflichtete mich, statt eures Erbtheils eine gewisse Summe heraus zu bezahlen. Ich wußte schon, als mein Vater noch lebte, wie die Geschäfte standen, hoffte aber auf bessere Conjunkturen und übernahm deshalb diese Verpflichtungen. Ich konnte mich kaum mit unserer Stiefmutter abfinden, aber dadurch wurde ich unvermögend, mehr auszuzahlen. Dein Antheil sollte, deinem eigenen Wunsche gemäß, auf dem Eisenwerke stehen bleiben, und du solltest mir als Verwalter die Geschäfte besorgen helfen. Du weißt selbst, was wir in den letzten Jahren für Verluste erlitten haben und daß ich uns nur durch eine reiche Heirath retten konnte. Man hätte sonst Lybo unter seinem Werthe verkaufen müssen. Ich habe zwar einen Fehler begangen, den einzigen, dessen man mich anklagen kann, nämlich, daß ich einen gewissen Brief an ihren Vater schrieb, in welchem ich sagte, ich liebe sie nicht. Diesen Brief fand eine Tante und übergab ihn Esther. Hätte ich die unglückseligen Worte nicht geschrieben, so hätte Esther die Beschaffenheit meiner Gefühle nicht erfahren, und wir wären Beide glücklich.«

Erich drückte die Hand seines Bruders und verließ ihn.

Ludwig warf die Cigarre weg, ging pfeifend im Zimmer auf und ab und blieb endlich vor Karl Malmbergs und Nannys Bildern stehen. Er betrachtete zuerst des Bruders Bild und murmelte:

»Narren sind Alle, welche Malmberg heißen, dieser war aber närrischer, als alle die andern zusammen. Das Vernünftigste, was er je that, war, daß er starb. Was soll man aber mit der Wittwe anfangen?«

Er richtete seine Blicke auf Nannys Bild. »Ist sie ein so schlaues und intrigantes Weib, wie man sie schildert, so muß man der Teufel selbst sein, um sie überlisten zu können; da ich der Ehre, mit jenem Herren verwandt zu sein, mich nicht rühmen kann, so wird sie mich wohl überlisten. Es ist doch sonderbar, daß ein so edles Gesicht die Maske einer so treulosen Seele sein kann. Sie ist doch sehr schön und jung, sehr jung.«

Ludwig wurde gedankenvoll und blieb lange vor Nannys Bilde stehen. Endlich entfernte er sich mit Mühe von dem schönen Gemälde und ärgerte sich darüber, daß er sich hatte davon fesseln lassen.


Nanny und Esther besuchten am folgenden Tage Frau Berg. Sie fanden sie im Bette liegend.

Nanny blieb bei der Kranken und gab Esther den Auftrag, während ihrer Abwesenheit die kleine Olga zu pflegen.

Ein Tag verging nach dem andern, und Nanny kehrte nicht nach Lybo zurück.

Täglich fuhr Esther in die Stadt, damit Nanny ihr Kind sehen solle, da diese fortfuhr, mit großer Zärtlichkeit die kranke Wittwe zu pflegen.

Auf Lybo wurde Nanny sehr vermißt. Die Abende waren unendlich lang. Nanny war nicht mehr da, um Gespräche einzuleiten, zu musiciren oder das gespannte Verhältnis zwischen den Gatten besser zu machen. In den ersten Tagen, nachdem Nanny fort war, suchten sowohl Erich als Ludwig Esther zu zerstreuen, allein es glückte ihnen nicht. Sie gähnte unaufhörlich, während Erich vorlas, was ihn damit aufzuhören veranlaßte. Wenn er mit ihr sprach, so gab sie ihm kurze, einsilbige Antworten, die deutlich erkennen ließen, daß sie die Konversation gar nicht liebe. Die Folge war, daß Erich sie mit Olga sich unterhalten ließ, so gut sie konnte. Er las leise oder spielte mit seinem Bruder und dem Ingenieur, und Esther langweilte sich schrecklich.

Acht Tage waren auf diese Weise vergangen, und Ludwig selbst fing an, zu wünschen, Frau Bergs Krankheit möchte bald ein Ende nehmen und Nanny zurückkehren. Er meinte, die Streitigkeiten mit ihr wären pikant genug und eine ganz angenehme Unterbrechung der tödtlichen Langeweile gewesen, die jetzt auf Lybo herrschte.

»Ich glaube wahrhaftig, die schlaue Nanny ist Krankenwärterin geworden, nur um es uns hier ganz raffinirt ungemüthlich zu machen; sie hat mir zeigen wollen, daß sie uns Allen unentbehrlich sei,« dachte Ludwig.

Am neunten Tage kam ein reitender Bote, welcher ein Billet an Esther überbrachte des Inhalts, diese solle sich sogleich zu der Tante begeben.

»Komm ohne Zaudern,« schrieb Nanny, »aber bringe deinen Vater mit; es ist ungewiß, ob die Tante diese Nacht überleben wird.«

Esther überreichte dies Billet ihrem Manne, und eine Viertelstunde später fuhr er mit ihr nach X. Es war für Esther und Erich nicht leicht, Herrn Roman zu überreden, seine sterbende Schwester zu besuchen, aber endlich gelang es ihnen doch.

Sie traten alle drei zu der Kranken hinein und fanden Nanny an deren Bette sitzend, indem sie milde, tröstende Worte zu der Sterbenden sprach, die jetzt nur an ihren Sohn dachte. Gunnar stand am Fußende des Bettes und betrachtete die Kranke mit schmerzlichen Blicken. Als der alte Roman hereintrat, ging ihm Gunnar entgegen und sagte mit leiser Stimme:

»Es ist gut, daß du kamst, du Granitblock! Versuche es jetzt, deine Härte gut zu machen! Du hast, bei Gott, deiner Schwester gegenüber so viel zu sühnen, daß du jetzt keine Possen spielen darfst, sondern Alles zwischen euch wieder gut machen mußt.«

Roman war ein Mann, der auf dieser Erde sich selbst, sein Geld und seine Tochter am meisten liebte; er war aber doch kein so verstockter Egoist, daß er mit kaltem Herzen ans Sterbebett seiner Schwester treten konnte. Der alte Groll verschwand, er beugte sich über die Kranke und sprach leise ihren Namen aus. Die beiden Geschwister sahen einander in die Augen; in den Blicken, welche sie wechselten, lag Versöhnung und das Vergessen der Vergangenheit. Frau Berg wünschte mit ihrem Bruder zu reden, und die Anderen entfernten sich.

Das Gespräch war lang, und Roman schien erregt, als er heraustrat. Die Kranke nahm von Esther Abschied, dankte ihr für die Freundlichkeit, die sie ihr in der letzteren Zeit gezeigt und empfahl ihren Sohn Gunnars Obhut.

Ihre Kräfte waren erschöpft und Alle, außer Nanny, verließen das Krankenzimmer.

Esther folgte ihrem Vater nach Hause, um in der Stadt zu bleiben, bis die Tante den letzten Kampf ausgekämpft haben werde.

Erich fuhr allein nach Lybo zurück und zwar in keiner angenehmen Stimmung.

Der Besuch bei Frau Berg hatte sehr niederschlagende Gedanken in ihm erweckt, die ihn nöthigten, Vergleichungen anzustellen.

Die Liebe der armen sterbenden Wittwe zu ihrem verstorbenen Manne bildete einen grellen Kontrast zu Esthers Gleichgültigkeit gegen den ihrigen.

Karolina Berg hatte lieber die Last der Armuth und den Zorn des Bruders ertragen, als daß sie von dem Geliebten abließ. Sie hatte, wenn sie dem Willen des Bruders gehorcht hätte, die Frau eines reichen Mannes sein können, zog aber ein Leben voller Entsagung an des Liebsten Seite vor. Sie, ein Weib, hatte so viel Muth gehabt, der ihm, Erich Malmberg, abging, obgleich er 28 Jahre alt war. Er hatte sich verkauft, um der Armuth zu entgehen und war doch nicht glücklich geworden. Die Feigheit seines Charakters, welche ihn das Kind, das er jetzt seine Gattin nannte, opfern ließ, hatte sich gestraft.

Sein Selbstgefühl wurde durch diese Betrachtungen sehr gedemüthigt, und Erich hätte ihnen gern entgehen mögen, wenn er es gekonnt hätte.

Wir, die wir dies thun können, verlassen ihn jetzt und kehren zu Frau Berg zurück.

Tiefe Stille herrschte im Krankenzimmer.


Der Arzt hatte Nanny gesagt, er habe keine Hoffnung, daß Frau Berg genesen werde; man müsse jeden Augenblick erwarten, daß es mit ihr ausgehe.

Kurz, nachdem sich der Arzt entfernt hatte, schlummerte sie ein und schlief ruhig und stille.

Nanny saß, den Kopf auf ihre Hand gestützt, unbeweglich da, das bleiche Angesicht der Kranken betrachtend. Es war noch nicht lange her, seitdem sie am Sterbebette ihres Mannes gesessen war und seinen Athemzügen gelauscht hatte, bis er einschlief, um nie mehr zu erwachen. Nanny erinnerte sich an Alles, was sich seit seinem Tode zugetragen hatte. Sie hatte während der langen, düsteren Nacht Zeit genug zu Betrachtungen, die von nichts unterbrochen wurden. Der Morgen kam, und Frau Berg schlief noch immer.

Als der Arzt kam, untersuchte er ihren Pulsschlag, und seine Stirne erheiterte sich. Nanny erkannte, daß eine schwache Hoffnung vorhanden sei.

Erst am Nachmittag erwachte Frau Berg. Ihr Gesicht hatte einen andern Ausdruck, und der Arzt wagte es, seine Hoffnung über ihre Wiederherstellung auszusprechen.

Esther war an dem Tage mehrmals gekommen, um nach der Tante zu sehen. Sie fühlte sich sehr froh, als sie am Abend zu dem Vater mit der Nachricht zurückkehrte, der Arzt sei der Ansicht, die Krankheit habe eine glückliche Wendung genommen.

Nichts war natürlicher, als daß Esther sogleich an Andreas schrieb. Sie erzählte ihm von der Krankheit seiner Mutter und der glücklichen Wendung derselben.

Esther schrieb einen langen Brief über Alles, was die Mutter betraf und versprach, ihm am folgenden Tage mehr mitzutheilen.

Frau Bergs Genesung ging langsam von Statten.

Nanny blieb bei ihr, so lange die geringste Gefahr vorhanden war; als aber Alles überstanden war, fuhr Nanny jeden Abend nach Lybo hinaus und jeden Morgen zu Frau Berg hinein, so daß sie den Tag über bei ihr war.

Die zärtlichste Tochter hätte ihre Mutter nicht sorgsamer pflegen können, als Nanny Frau Berg pflegte. Währenddem sie der Genesenden die Zeit angenehm zu vertreiben suchte, schrieb Esther lange, lange Briefe an Andreas und erhielt als Antwort ganze Bände.

Herr Roman besuchte täglich seine Schwester, um sich zu erkundigen, ob sie etwas brauche oder ob Geld für die täglichen Ausgaben vorhanden sei. Bei diesen Besuchen weilte er vorzugsweise in dem äußeren Zimmer, unterhielt sich mit Nanny und konnte ihr nicht genug für alle Mühe, die sie sich wegen seiner Schwester gab, danken.

Als Nanny eines Abends nach Hause fahren wollte, stellte ihr Roman seinen Wagen zur Verfügung, und mehr als einmal kam es vor, daß er selbst kutschirte.

Der Frühling war während Frau Bergs Krankheit eingetreten, und man konnte sich der lieben Sonne, des milderen Windes und schwellender Hoffnung erfreuen. Frau Berg war jetzt so weit genesen, daß sie mit Erlaubniß des Arztes in ihren Zimmern umhergehen konnte.

Nanny brachte nur noch täglich einige Stunden bei ihr zu und fuhr zeitig am Nachmittage nach Hause.

Der elegante Jagdwagen des Herrn Roman hielt eines Abends, wie gewöhnlich, vor Frau Bergs Hausthüre; er selbst kutschirte. Der Knecht, der mitzukommen pflegte, war aller Dienstleistung enthoben, weil Herr Roman nicht vor dem folgenden Tage in die Stadt zurückzukehren gedachte.


Peter Roman war ungefähr 50 Jahre alt, stark und kräftig, mit einem wohl konservirten Aeußern. Seine Haare waren dunkel, seine Zähne weiß und frisch, seine Stirne frei von Runzeln und seine Gestalt stattlich. Er war ein Mann von vorteilhaftem Aeußeren, so daß er nicht zu den Alten gezählt werden konnte, da er noch nicht zu altern angefangen hatte. Man hatte auch in der guten Stadt X. während der zwölf Jahre seiner Wittwenschaft nichts Anderes zu thun, als ihn bald die Eine, bald die Andere heirathen zu lassen. Sobald er mit einer unverheiratheten Dame sprach, sah Tante Juliana eine künftige Frau Roman in derselben. Alle die übrigen neugierigen und wohlunterrichteten Matronen der Stadt X. machten es so, wie Tante Juliane, und darum hatten sie auch unzählige Male die Verkündigung seiner Verlobung erwartet.

Jahre waren inzwischen vergangen, ohne daß etwas daraus wurde, und das Interesse der alten Damen für seine Heirath hatte auch etwas abgenommen. Aus dieser Beruhigung über seinen Wittwenstand wurde jedoch Tante Juliane, eine Cousine von Romans verstorbener Frau, aufgeschreckt, als sie ihn ein Mal um das andere Nanny Malmberg kutschiren sah. Es konnte nicht fehlen, daß die junge schöne Nanny, welche als eine berechnende Frau bekannt war, den reichen Wittwer fangen werde. Nach der Heirath seiner Tochter hatte er ja auch keine Vaterpflichten mehr, die ihn abhielten, eine neue Ehe einzugehen.

Tante Juliana war unruhig. Sie konnte nicht erlauben, daß er ihre verstorbene Cousine so tief beleidige und eine zweite Frau nähme. Sie war auch umhergesprungen und hatte über den Leichtsinn der Männer Klagen erhoben.

An dem bereits erwähnten Nachmittage hatte es sich so glücklich gefügt, daß Frau Granstedt in der Stadt war, um ihre liebe Freundin, Fräulein Juliane Flink, zu besuchen.

Herr Romans Jagdwagen fuhr an dem Fenster der Letzteren vorüber, als die Damen eben ihren Kaffee tranken. Tante Juliana stellte ihre Tasse weg und eilte zum Fenster.

»Meine liebe Susanne, sahst du wohl, wer eben vorbeifuhr?« rief sie aus.

»War es nicht der alte Roman?« fragte die Pröpstin, die zum andern Fenster geeilt war.

»Freilich, aber wen meinst du, daß er kutschirte?« Juliana öffnete das Fenster und sah dem Wagen nach. Die Pröpstin folgte ihrem Beispiel.

»Die Wittwe von Lybo, wie ich sehe!« rief die Pröpstin.

»Und sie fuhr mit ihm ganz allein, ohne daß der Knecht dabei war, wie es sonst der Fall zu sein pflegt.«

Juliana schloß mit Nachdruck das Fenster, und die Damen nahmen ihre Plätze an dem Kaffeetische wieder ein, das alte Fräulein erzählte jetzt genau, wie oft und an welchen Tagen Herr Roman Nanny zu kutschiren pflegte.

»Es ist heute zum zwanzigsten Male,« schloß sie ihre Rede. Die Pröpstin mißbilligte ein so anstößiges Benehmen. Die zweite Tasse Kaffee wurde gereicht, als sie aber geleert werden sollte, kamen zwei ältere Damen auf Besuch. Sie sahen aus, als wären sie gesprungen, um schnell da zu sein. Kaum waren die ersten Grüße ausgetauscht, als sie ausriefen:

»Sahst du, Juliana, daß Roman und die Wittwe ganz allein fuhren? Heute wird er gewiß freien. Frau Berg ist nunmehr gesund, und die Wittwe hat keinen Vorwand mehr, um zu ihr zu fahren und sie zu pflegen. Ja, diesmal kann man die Sache für abgemacht ansehen. Der alte Narr! Es ist lächerlich, eine so junge Person zu heirathen; und sie, das schlaue Ding, ist Karolinas Krankenwärterin geworden, um auf diese Art den Goldfisch zu fangen.«

»Karolina Bergs Krankenwärterin?« fiel die Pröpstin ein. »Ist Karolina krank gewesen? Ich habe ja nichts davon gehört!«

Die neuangekommenen Damen wurden eingeladen, am Kaffeetische Platz zu nehmen; sie erzählten jetzt von Frau Bergs Krankheit, von der Versöhnung zwischen ihr und dem Bruder, von Nannys Unermüdlichkeit, die Kranke zu pflegen und von Romans vermeintlicher Liebe zu Nanny.

»Das versteht sich,« sprach Juliana in scharfem Tone, »daß Karolina gewiß nicht gefährlich krank gewesen ist, sondern daß der Arzt mit ihr und Gunnar Bengtson gemeinsame Sache gemacht hat, um Roman zur Versöhnung zu bewegen. Ihr müßt nämlich wissen, daß, als diese zu Stande gekommen war, Karolina genas und dann der Wittwe den Alten fangen half. Diesmal ist Roman recht hintergangen worden, und sobald wir uns treffen, will ich es ihm sagen.«

»Ihr seid ja Feinde!« bemerkte eine der Frauen und schlürfte ihren Kaffee.

»Freilich, dies hält mich aber nicht davon ab, zu ihm zu gehen und ein Wort der Wahrheit zu reden. Ich bin, Gottlob, nicht arm und abhängig und brauche ihm nicht zu schmeicheln, wie seine Schwester. Ist er so unvernünftig, darüber zu zürnen, daß ich den Brief, den er an Ort und Stelle vergessen hatte, Esther gab, so verhindert mich das doch nicht, meine Pflicht gegen ihn zu erfüllen, wenn er in ein Spinngewebe von Intriguen hineingerathen ist.«

»Den Brief – von welchem Briefe sprichst du?« fragte die Pröpstin, indem ihre Zunge unruhige Bewegungen zwischen den zwei Zahnstümpfen machte.

»Habe ich dir das Ereigniß nicht erzählt? Es ist doch schon lange, seitdem es sich zugetragen hat. Noch ein wenig Kaffee?« fragte die höfliche Wirthin.

»Nur einige Tropfen. Ein ausgezeichneter Kaffee; wie war es aber mit dem Briefe?« fragten die Kaffeeschwestern.

»Ihr sollt es sogleich erfahren. Vielleicht könnt Ihr mir ergründen helfen, warum Roman sein einziges Kind dem Erich Malmberg gab.« Tante Juliana schnäuzte sich und fuhr mit einer gewissen Feierlichkeit fort:

»Ich war am Tage vor der Hochzeit bei Romans, um dem Mädchen zu helfen, da ich ihre nächste Verwandte mütterlicherseits bin. Ich mußte natürlich nachsehen, ob Alles für den wichtigen Tag in Ordnung sei und ging deshalb in das Zimmer des Alten hinein. Ich versichere, daß ich nur, um mich zu überzeugen, ob die Dienerschaft Alles ordentlich rein gemacht habe, die Papiere auf seinem Schreibtisch in Ordnung brachte; unter denselben bemerkte ich einen Brief, den er hatte fallen lassen. In meiner Gewissenhaftigkeit wäre es mir nie in den Sinn gekommen, den Brief zu lesen, wenn die Schrift mir nicht bekannt vorgekommen wäre und ich nicht Esthers Namen bemerkt hätte. Ihr müßt wissen, daß mir das mutterlose Kind sehr am Herzen liegt.« Juliana seufzte. »Ich las also das Schreiben, und sah mit Bestürzung, daß Herr Malmberg ganz unverschämt erklärt, er heirathe Esther nicht aus Liebe. Es geschah also des Geldes wegen; habt Ihr je etwas Schrecklicheres gehört?«

»Niemals!« war der einstimmige Ausruf.

»Ich fand es gegen meine Grundsätze Esther über diesen Betrug im Unklaren zu lassen und gab ihr deshalb den Brief.«

»Ganz recht,« erklärte die Pröpstin. »Ich hätte es auch so gemacht, man muß immer danach streben, dem Bösen in dieser Welt entgegenzuarbeiten, ja, das muß man. Aber Estherchen heirathete doch. Sie hätte am Altare ›nein‹ sagen sollen.«

»Das fürchtete ich eben, und dies hätte Skandal verursacht, deshalb zögerte ich, ihr den Brief zu geben, bevor nicht die Trauung vorüber wäre. Meine Ansicht ist, daß man in erster Linie Alles vermeiden muß, was Aufsehen erregende Scenen hervorruft. Das begriff Roman nicht, sondern behauptete, ich habe es aus Bosheit gethan, um Unheil zwischen den Gatten zu stiften. War das nicht eine niederträchtige Behauptung?« Julianas Stimme zitterte.

»Sehr niederträchtig, meine liebe Freundin,« erklärte die Pröpstin; »aber was glaubtest du, daß ich werde in Erfahrung bringen können?«

»Die Ursache, warum Roman das Mädchen an Malmberg verheirathete.«

Frau Granstedt schwieg und sah die anderen Damen an, als ob sie dieselben mit einer gewissen Ueberlegenheit ausforschen wollte, ob sie keine befriedigende Antwort auf eine solche Frage geben könnten; als aber Alle in der Erwartung auf sie blickten, daß sie sich aussprechen werde, that sie dies mit folgenden Worten:

»Meine allerliebste Juliana, hast du dies nicht einsehen können?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie alsdann fort:

»Verstehst du denn nicht, daß er die Tochter los werden wollte, um die Wittwe heirathen zu können?«

»Unmöglich!« rief Juliana; »er war mit ihr vor der Hochzeit seiner Tochter wenig zusammen.«

»Warte ein wenig. Am ersten September wurde der Lieutenant beerdigt. Roman kam zum Begräbniß; das hat mir der Vikar erzählt. Er sah da Nanny wieder, die er zu den Zeiten des alten Malmberg oft auf Lybo sah, indem sie als Mädchen sich dort aufhielt. Roman fand Gefallen an der Wittwe. Er wußte, daß sie nach dem Tode ihres Mannes auf Lybo ihren Wohnsitz aufschlagen werde. Als sie nach X. kam, gab er seine Einwilligung zu Erich Malmbergs Heirath mit seiner Tochter, um diese los zu werden. Zwei Monate nach der Verlobung wurde die Hochzeit gefeiert.«

Die drei Zuhörerinnen starrten die Pröpstin mit dem Ausdrucke der Bewunderung ihres Scharfsinnes an. Wir lassen sie ungestört ihre Hochachtung darüber aussprechen und wollen uns jetzt mit dem Gegenstande des Gespräches der werthen Damen beschäftigen. Nanny hatte sehr wohl bemerkt, daß Esthers Vater ihr eine Aufmerksamkeit erwies, die er sonst an Niemand verschwendete. Sie begriff auch, daß er für sie ein sehr lebhaftes Interesse empfinde, nahm jedoch an, daß es ihm in seinem Alter nicht einfallen könne, zu freien. Sie zeigte sich für die Beweise von Freundschaft, die ihr »Onkel Roman« gab, dankbar und verstand es, ihre Anerkennung derart auszudrücken, daß solche ihm schmeicheln mußte, ohne ihn aufzumuntern.

Roman verehrte die schöne und liebenswürdige Nanny so sehr, daß er sie keinen Wunsch konnte aussprechen hören, ohne zu suchen, denselben zu erfüllen.

Sie fuhren durch die Straßen der Stadt und sprachen von gleichgültigen Dingen, denn sie hatten ganz und gar keine Kenntniß von all dem Kopfzerbrechen, das Tante Juliana und ihre Freundinnen ihretwegen sich machten. Nanny unterbrach jedoch bald das Gespräch über Wind und Wetter durch folgende Frage:

»Wie gedenkt der Onkel mit Tante Karoline sich zu stellen, nachdem sie wieder gesund ist?«

»Ich will ihr ein Jahresgehalt geben, so daß sie sich durch eigene Arbeit nicht mehr zu ernähren braucht,« antwortete Roman; »oder meinst du, ich solle es anders machen?«

Er sah Nanny an, welche, als sie den Blick des fünfzigjährigen Mannes bemerkte, unwillkürlich eine lebhaftere Gesichtsfarbe bekam und einigermaßen in Verlegenheit gerieth.

»Es ist hohe Zeit, diesen Fahrten ein Ende zu machen,« dachte Nanny, antwortete aber mit ruhiger Stimme:

»Sie sollten die Tante zu sich nehmen, Onkel. – Ich kenne sie, sie wird sich nie dazu bequemen, eine Unterstützung anzunehmen, ohne etwas dafür zu leisten. Bei Ihnen würde sie einen passenden Wirkungskreis erhalten, brauchte sich nicht anzustrengen, und Sie selbst, Onkel, denke ich, haben Jemand nöthig, der das Hauswesen leiten und die Hausfrau repräsentiren kann.«

Roman knallte mit der Peitsche.

»Karolina und ich sind nie einig gewesen,« sagte er, »und man muß mit Grund befürchten –«

»Nichts ist zu befürchten, Onkelchen,« fiel Nanny ein; »Alles wird dadurch gut werden. Sie kennen Ihre eigene Schwester nicht. Im täglichen Zusammenleben werden so viele gute und edle Eigenschaften bei Karolina hervortreten, daß Sie sie lieb gewinnen werden. Ich bitte Sie, verschaffen Sie der Tante eine Heimath bei ihrem Bruder und machen Sie den Rest ihres Lebens ebenso angenehm und sorgenfrei, als dies seither nicht der Fall war. Der Zankapfel zwischen Euch war ja ihre Heirath, und der Umstand, daß sie der Stimme ihres Herzens folgte, anstatt Onkels Willen zu gehorchen. Da wir nun nicht mehr annehmen können, daß die Liebe Einem von Euch einen Possen spielen werde, so wird Alles zwischen Euch recht und gut werden. Nun, Onkel, nehmen Sie Tante Karolina zu sich?«

Nanny sah Roman flehend an. Sein unentschlossener Gesichtsausdruck ging in ein Lächeln über.

»Wenn ich dir zu Gefallen bin, was für eine Belohnung erhalte ich?«

»Meine Freundschaft,« antwortete Nanny.

»Setze aber voraus, daß ich wieder heirathen werde,« sagte Roman, welcher mit der Belohnung nicht ganz zufrieden war.

»Onkel!« rief Nanny mit glücklich affectirter Verwunderung, die jedoch nicht verhinderte, daß sie leicht erröthete.

»Du scheinst dies für unglaublich zu halten?«

»Ja, beinahe.«

»Ich dagegen halte es für die natürlichste Sache von der Welt: ich werde es ganz gewiß thun.«

»Mag sein,« erwiderte Nanny, ohne ihn anzusehen, denn sie bemerkte, daß seine Augen auf sie gerichtet waren; »dies hindert nicht, daß Sie Ihre Schwester bei sich haben können. Sollte die künftige Frau etwas dagegen einzuwenden haben, so kann es ja wieder anders gehalten werden. Sie werden immerhin den Vortheil haben, daß Tante Karoline so lange, als Sie nicht wieder verheirathet sind, Ihnen Ihr Heimwesen behaglicher macht. Ich meinerseits werde Sie öfter besuchen, wenn ich bei Ihnen die Tante treffen kann.«

»Meinetwegen, aber gieb mir deine Hand darauf, daß du oft kommen wirst.«

»Hier ist sie.« Nanny legte ihre Hand in die Romans.

»Da wir jetzt hinsichtlich Karolinas einig sind, so hoffe ich, daß ihre Fürsprecherin diejenigen Wünsche erfüllen wird, die ich in letzter Zeit gehegt habe.« Nannys Hand wurde von Roman festgehalten, und sie hütete sich, dieselbe zurückzuziehen oder merken zu lassen, daß sie irgend welche Bedeutung darin suche.

Ein kleiner Sprung der scheu gewordenen Pferde zwang Roman, Nanny loszulassen und denselben seine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die junge Frau benützte die Gelegenheit, um das Gespräch auf die Pferde zu lenken. Diese waren der Stolz und die Freude Romans. Sie sprach jetzt von des Onkels schönem Stalle, von Reit- und Wagenpferden und zeigte ein so großes Interesse für dieses sein Lieblingsthema, daß man auf Lybo ankam, ohne daß er Gelegenheit gefunden hätte, das abgebrochene Gespräch wieder anzuknüpfen.

Erich, Esther und Ludwig bewillkommten sie auf der Treppe.

Nanny fuhr nicht mehr täglich in die Stadt. Frau Berg zog zu ihrem Bruder und bedurfte Nannys nicht weiter.

Gemüthlichkeit und Freude, die eine Zeit lang ganz auf Lybo verschwunden waren, kehrten jetzt wieder ein. Wenn Nanny auch auf Esthers Gewohnheiten und Liebhabereien keinen wesentlichen Einfluß auszuüben vermochte, so konnte sie doch von Esthers Gesicht den Ausdruck der Verdrießlichkeit verscheuchen. Die junge Frau war sogar zuweilen ganz munter. Ihre Freude an Gesang und Musik, Spaziergängen und Gesprächen kehrte wieder; sie fühlte sich nicht so allein, als während Nannys Abwesenheit. Es waren zwei Personen, für welche Esther schwärmte, nachdem die Liebe zum Manne erkaltet war, nämlich Nanny und Andreas. Ihre Phantasie war von Letzterem erfüllt, ihr Herz wurde von der Ersteren getröstet. Andreas war die Hauptfigur in dem Romane ihres Lebens; die Liebe zu Nanny ein Ersatz für die Wirklichkeit. Sie suchte in dem Gefühle der Freundschaft und im Gaukelspiele der Phantasie Vergessenheit und Stärke, um ihre Tage an Erichs Seite verleben zu können. In den Romanen war es immer eine unglückliche Ehe, welche den Grund zu allen jenen romantischen Begebenheiten legte, die auf eine so zauberische Weise Esther entzückten. Weshalb sollte sie nicht das, was sie gelesen hatte, erleben können? Der Anfang des Romanes war schon gut, aber die Entwickelung konnte zu großen Leidenschaften und großen Ereignissen führen. Esther war in Erwartung alles dessen nicht mehr unglücklich, da sie Nanny bei sich hatte; war sie aber mit Erich allein, so floh die Freude und nur Bitterkeit blieb zurück. Er war in ihren Augen ein Mann ohne allen moralischen Gehalt, langweilig anzusehen und noch langweiliger anzuhören, eine Mischung von Eigennutz und Falschheit. Esthers Widerwille war so groß geworden, daß, wenn ihm etwas angenehm war, ihr dieselbe Sache sogleich unangenehm wurde. Er brauchte eine Person oder eine Sache nur zu loben, um ihr Widerwillen dagegen einzuflößen.

Esther bewunderte Nannys Verstand, liebte sie, wie eine Schwester und verschwendete an sie alle die Zärtlichkeiten, die sie ihrem Manne gegenüber verschwendet haben würde, wenn sie nicht entdeckt hätte, daß er sie ohne Liebe geheirathet habe, aber trotzdem gab es gewisse Dinge, in welchen Esther von Niemand, nicht einmal von Nanny, sich beeinflussen ließ. Nanny hatte Versuche gemacht, welche mißlangen. Jetzt machte sie keine direkten Versuche mehr, sondern überließ es der Zeit, das zu bewirken, was sie nicht vermochte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß, wenn sie Esther ermahnte, gegen ihren Mann freundlich zu sein, dies nur die entgegengesetzte Wirkung gehabt hatte, so daß sie deutlicher als zuvor ihren Widerwillen gegen ihn an den Tag legte. Nanny hatte einmal, als Esther in dieser Weise handelte, geäußert:

»Was wird dich wohl einzusehen vermögen, daß es dein eigenes Wohl erfordert, meinem Rathe zu folgen?«

Esther umarmte sie und erklärte, ihre Nanny werde nie verstehen lernen, wie es einer Frau zu Muth sei dem Manne gegenüber, von welchem sie betrogen worden sei, und deshalb bat Esther, nicht weiter von ihrem Manne zu sprechen.

Erich seinerseits schien nach Verfluß der ersten Wochen das Prinzip angenommen zu haben, nie einen Wunsch auszudrücken, Esthers Willen nie entgegen zu sein, so lange derselbe sich innerhalb der Grenzen der Billigkeit bewegte, und nur der Vervollkommnung des Eisenwerks und der Regelung der Geschäfte zu leben, damit Malmbergs das Vermögen, das sie in früherer Zeit besessen hatten, wieder erlangen könnten. Seine Geschäfte und die Eisenindustrie nahmen sein Interesse ausschließlich in Anspruch. Er arbeitete den ganzen Tag und hatte wenige Zeit für das Familienleben übrig, was für ihn der reinste Gewinn war. Während Nannys Abwesenheit kam es ihm zwar sehr ungemüthlich vor, wenn er sich bisweilen am Abend bei seiner Frau einfand, aber seit Nannys Rückkehr waren die Abende angenehm, und er brachte da manche Stunde bei den Damen zu.

Ludwig sah ein, daß es während Nannys Abwesenheit recht langweilig gewesen sei; er hatte nicht einmal die Freude gehabt, sich über sie ärgern zu können; jetzt aber, da sie wieder da war und er mit ihr zanken konnte, kam es ihm auf Lybo ganz angenehm vor. Was war es mit dieser Frau, die von den meisten Menschen als schlau und ränkevoll geschildert wurde und die dessenungeachtet überall, wo sie hinkam, Freude hervorrief? Ludwig stellte sich diese Frage, ohne sie beantworten zu können.

»Sie ist so listig, daß sie sich unentbehrlich macht,« murmelte er, da er keine andere Erklärung finden konnte.

Wenn Ludwig sich an uns gewandt hätte, so würden wir auf befriedigendere Weise, als er, seine Vermuthung beantwortet haben; aber da er dies nicht gethan hat, so schweigen wir in der Ueberzeugung, daß der Leser im Laufe der Erzählung die Lösung selbst finden wird.


Lybo konnte sich einer schönen Natur rühmen, obgleich der Charakter derselben etwas wild und rauh war. Hohe Fichtenwälder, riesige Berge und schimmernde Wasserspiegel umgaben es. Das Eisenwerk lag an einem breiten Flusse, der die dazu gehörigen Ländereien durchfloß. Und doch hatte der Herrensitz, von Fichten, Granit und Wasser eingefaßt, ein freundliches Aussehen; er glich einer südlichen Landschaft, die von nördlicher Scenerie umrahmt ist. Die Kunst hatte ein entzückendes Eden inmitten der Wälder und Berge hervorgezaubert und alle Hülfsmittel, welche ihr die Natur darbot, benützt. Die Gärten, der Park und das Gewächshaus hatten unerhörte Geldsummen gekostet, aber sie ließen selbst für den Anspruchsvollsten nichts zu wünschen übrig. Der Sommer war gekommen und die ganze Natur hatte ihr Festgewand angelegt.

Der Prachtgarten, der an der Vorderseite des Hauses lag und aus zwei großen Terrassen bestand, deren eine bis an das Ufer des Flusses reichte, war ein wahres Reich der Flora. Man gelangte aus dem Wohnhause durch ein paar Glasthüren in denselben und hatte zur Rechten den Park und zur Linken das Gewächshaus nebst dem Küchengarten.

Der Hof war viereckig mit Anlagen, Rasen, Blumen und Bäumen. Eine breite Allee führte von da aus in den Weg zum Eisenwerke und zu diesem selbst.

Man hatte zu Mittag gegessen und Jeder begab sich an seine Arbeit: der Ingenieur zum Schmelzofen, Erich in das Comptoir und Ludwig auf das Feld.

Esther saß in der Bibliothek, die im Erdgeschosse mit den Fenstern nach dem Park zu lag. Die kleine Olga spielte im Hofe mit den Kindern des Inspektors, und Nanny ging durch die Glasthüren in den Garten hinaus. Sie blieb einen Augenblick stehen, um das Bild, das vor ihr lag, zu betrachten. Es war schön, und ein Ausruf des Wohlgefallens hob ihre Brust. Sie dachte:

»Wie Vieles hat nicht der Mensch, wofür er dem allgütigen Gott danken sollte, und wie undankbar ist er! Das Leben ist doch herrlich, und wir Sterbliche, die wir mit der Fähigkeit begabt sind, es zu genießen, sind glücklich!«

Ein Ausdruck wahren Glückes war auf dem Gesichte der jungen Frau bemerkbar. Es sah aus, als hätten sich niemals andere, als frohe und angenehme Gefühle darauf abspiegeln können. Trauer und Schmerz schienen jetzt diesen Zügen völlig fremd zu sein. Sie hatte gewiß nie die Bekanntschaft jener düsteren Gäste gemacht, da sie so glücklich aussehen konnte. Vielleicht kannte sie dieselben dennoch, vielleicht hatte sie auch schon aus dem bitteren Kelch getrunken, aber gewiß dachte sie in diesem Augenblick nur an das Gute und Schöne im Leben. Nachdem sie eine Weile ihre Blicke an der schönen Aussicht geweidet hatte, ging sie langsam zu der Steintreppe, welche nach der unteren Terrasse führte. Eine dicht belaubte Allee durchschnitt hier den Garten und führte von da an das Ufer des Flusses, wo eine Brücke sich befand.

Hier setzte sich Nanny. Sie stellte den mitgebrachten Arbeitskorb weg, stützte den Arm auf das Geländer, blickte über das vorbeifließende Wasser und lauschte dem Brausen des Wasserfalls. Die Vögel stimmten in den eintönigen Gesang ein, und der Wald säuselte eine leise tönende Begleitung zu dem Concert. Nanny lächelte. Sie war unaussprechlich glücklich; sie genoß Gottes Erscheinung in der Natur und war für diesen Genuß dankbar. Allein der Mensch darf selten in ungestörter Ruhe sich solcher Stunden ungetrübter Seligkeit erfreuen. Der Laut von Schritten ertönte in ihren Ohren. Ein leichter Schatten verbreitete sich über ihr Gesicht; sie streckte die Hand nach ihrer Arbeit aus, indem sie den Blick vom Flusse abwandte.

Der Herankommende bewegte sich nicht leichten, elastischen Schrittes, sondern trat schwer auf. Es war Herr Roman. Nanny's Augenbrauen runzelten sich, und sie nahm schnell ihre Arbeit auf.

»Guten Tag, Nanny,« sagte Roman, ihr die Hand reichend.

»Seien Sie willkommen, lieber Onkel,« antwortete Nanny freundlich; »wie geht es der Tante?«

»Der Karolina geht es ganz gut; sie fuhr heute nach Grythamra, um einige Zeit dort zu verweilen. Ich habe ihr vorgeschlagen, sie und Andreas sollen dort mit mir den Sommer über zubringen.«

»Wird Andreas nach Hause kommen?« fragte Nanny mit einer gewissen Unruhe.

»So wünschte ich es, aber Karolina, die immer entgegengesetzte Wünsche hat, ist dagegen, indem sie den Jungen nicht daheim haben will.«

Roman nahm auf der Bank neben Nanny Platz.

»Die Tante hat Recht,« erklärte Nanny, »und, strenge genommen, lieber Onkel, glaube ich, daß sie immer Recht gehabt hat.« Nanny sagte dies mit reizendem Lächeln.

»Aus welchem Grunde hast du diese Ueberzeugung?« fragte Roman.

»Aus dem Grunde, weil Andreas in Esther verliebt ist, aber nicht, wie es einem jungen Manne ansteht, sondern auf eine heftige und unvernünftige Weise. Ich weiß, daß dies dem Onkel bekannt ist, aber was der Onkel nicht weiß, ist, daß Esther, wenn Andreas in ihre Nähe käme, diese Liebe vergelten würde. Sie schütteln den Kopf, aber Sie müssen sich erinnern, daß Esther nicht von derselben Art ist, wie ihre verstorbene Mutter. Ihre Tochter kann nicht verzeihen, daß ihr Mann sie nicht liebte. Aus Gram darüber hat sie ihre Gedanken auf denjenigen gerichtet, der sie bis zur Abgötterei verehrt. Nun, lieber Onkel, wie glauben Sie wohl, daß die Tante handeln würde, wenn Sie Ihnen den Gefallen thun würde und Andreas hieher kommen ließe?«

»Schlecht natürlich, aber sie hätte mir dies Alles sagen können.«

»Onkel, sie ist Mutter, und es wäre ihr schwer, von dem Sohne Etwas zu sagen, was ihn in Ihren Augen heruntersetzen könnte. Sie fürchtet immer, Sie könnten böse werden, was ich jedoch nicht voraussetze.«

»Daran thust du wohl, denn dir kann ich nicht zürnen, sogar dann nicht, wenn du die Bitte, die ich an dich stellen möchte, mit Nein beantwortest.«

Roman schwieg. Nanny wurde dunkelroth und bekam heftiges Herzklopfen.

»Als jung habe ich nie im eigentlichen Sinne des Wortes ein Weib geliebt,« fuhr Roman fort. »Meine Frau lag mir sehr am Herzen, aber Liebe zu ihr habe ich nicht empfunden. Ich war in jener Zeit so von Geschäften, von der Eisenindustrie und der Vermehrung meines Vermögens in Anspruch genommen, daß alles Uebrige Nebensache war. Ich habe unter allen lebenden Wesen Esther am zärtlichsten geliebt, allein diese Liebe vermochte mein Interesse nicht von dem Geschäfte abzuwenden. Ich kam durch die Krankheit meiner Schwester in nähere Berührung mit dir. Du lenktest bald meine Gedanken auf dich. Ich habe mich also im Alter von fünfzig Jahren verliebt, so daß ich für dich Alles, was mir früher von Werth war, aufopfern könnte. Meine Wirksamkeit, meine Geschäfte, Eisen- und Bergwerke bekümmern mich jetzt wenig mehr. Stets muß ich an dich denken, ich mag anfangen, was ich will, und ich wünsche, dich mein Eigen nennen zu dürfen. Willst du meine Frau werden, Nanny?«

Nanny machte eine Bewegung, als hätte man sie mit einem glühenden Eisen berührt.

Roman bemerkte diese Bewegung, war aber zu klug und praktisch, um darin den Beweis erblicken zu wollen, daß Nanny in ihren alten Freier verliebt sei. Er rechnete nicht darauf, daß er einen Eindruck auf sie gemacht habe, wohl aber darauf, daß die Klugheit sie bewegen würde, die Frau des reichen Roman zu werden. Wenn sie einmal die Seinige wäre, dann würde die Zuneigung ihr die mangelnde Liebe ersetzen, besonders da Roman, wie Jedermann, Nanny für eine verständige Person hielt. Als Nanny nicht sogleich antwortete, fuhr er fort:

»Ueberlege dir die Sache, Nanny, ehe du dich entschließest. – Ich bin reich und du bist arm. Erbleiche nicht bei diesen Worten, denn sie sind wahr. Du erbtest vielleicht vier- bis fünftausend Reichsthaler von deinem Manne. Er war ruinirt, als er starb, obgleich dir dies verheimlicht werden sollte. Erich versprach, für dich und Olga zu sorgen. Ich war dabei, als dies während der Krankheit deines Mannes in's Reine gebracht wurde, und ich kann dich versichern, daß es großmüthig von Erich gehandelt war, wenn man bedenkt, daß Karl nur sein Milchbruder gewesen ist. Niemand weiß dies besser, als ich. – Jetzt werden dir die Vortheile eines soliden Vermögens angeboten und alle Freuden, die eine Frau genießen kann, welche sich von einem redlichen Manne geliebt weiß; als meine Wittwe wirst du wenigstens 300,000 Thaler besitzen. Glaube mir, es ist ein großer Vortheil, reich zu sein, und du brauchst nicht zu fürchten, daß ich meine Frau schlecht behandeln werde, so lange ich lebe.«

Roman wußte, daß er ein guter Gatte gewesen und daß diese Thatsache Allen bekannt war.

Nanny hatte die Farbe gewechselt, als sie vernahm, Karl Malmberg sei nicht Erichs Bruder gewesen. Die gerötheten Wangen wurden blaß, eine Wolke lagerte sich auf ihrer Stirne als ein Zeichen des peinlichen Eindrucks dieser Worte. Nanny hatte geglaubt, sie sei die Wittwe von Erichs wirklichem Bruder und besitze wenigstens 40,000 bis 50,000 Thaler. Die Anordnungen nach dem Tode des Mannes, welcher sie in Unkenntniß über ihre thatsächliche ökonomische Lage ließen, hatte sie als eine Folge der weniger guten Situation, in der sich das Eisenwerk befand, angesehen. Kein Wort entschlüpfte ihr, welches verrathen hätte, wie schmerzlich überrascht sie war. Sie blieb stumm.

»Versprichst du, Nanny,« fuhr Roman fort, »meinen Vorschlag zu überlegen und mir erst nach einer Woche Antwort zu geben? Ich würde mich sehr glücklich fühlen, wenn Nannys Herz einige Zuneigung zu dem Manne hegte, der redlich und aufrichtig ihr das Anerbieten …«

»Guter Onkel,« stotterte Nanny, »habe ich es nöthig, zu sagen, daß ich eine wahre Hinneigung zu Esthers Vater empfinde? Ich glaube, es ist dies dem Onkel bekannt. Ich werde Ihren schmeichelhaften Antrag hinreichend überlegen und nach gewissenhafter Selbstprüfung meine Antwort ertheilen.«

Herr Roman küßte ihre Hand. Ein schrilles Pfeifen wurde ganz nahe bei ihnen hörbar, und Ludwig trat hervor.

Roman erhob sich sogleich, erklärte, er wolle seinen Schwiegersohn aufsuchen und entfernte sich, indem er Ludwig beim Arme nahm. Nanny blieb zurück. Die Luft war so klar, die Sonne so strahlend, die Blumen so duftend und der Fluß ebenso glänzend, als dies der Fall war, ehe sie Roman gestört hatte, und doch fühlte sie sich jetzt ganz unglücklich. Sie betrachtete kummervoll die lachende Natur, und auf ihrem Gesichte wechselte der Ausdruck des Zorns mit dem des Schmerzens. Endlich nahm es ein kaltes Gepräge an. Der Verstand hatte das Scepter ergriffen und den Gefühlen geboten, auf seine Stimme zu hören. Mit den Augen des Verstandes verglich Nanny ihre Lage mit den Vortheilen und Schattenseiten des Heirathsantrages. Hochmuth und Eitelkeit flüsterten dem Verstande zu: »Durch diese Heirath erlangst du Unabhängigkeit und Ansehen nicht allein für dich, sondern auch für dein Kind.«

Hierin lag etwas Verführerisches, und der Verstand war sehr geneigt, mit diesem seinem gefährlichsten Unterthanen gemeinschaftliche Sache zu machen, aber da riefen das Herz und das Gewissen: »Sollen diese Vortheile mit einem Meineide erkauft werden? Du kannst diesen Mann nicht lieben.« »Die Liebe ist eine Thorheit,« wendete der Verstand ein, »und du wirst überhaupt Keinen lieben.«

Nanny saß eine ganze Stunde da und erwog und überlegte, welche Partei sie ergreifen solle. Endlich erhob sie sich, schüttelte den Kopf, wie wenn sie alle diese Gedanken hätte los werden wollen und rief aus:

»Ich muß Esther aufsuchen!«

Diese war leicht zu finden. Sie befand sich noch in der Bibliothek, wo sie, in einem Lehnstuhle ruhend, E. Sues »Prophezeihung« verschlang.

»Wie, sitzest du noch hier?« rief Nanny. »Wie ist es möglich, dieses Zimmer Gottes freier Natur vorzuziehen und noch dazu an einem so schönen Tage, wie heute?«

Esther sah zum Fenster hinaus.

»Ja, das Wetter ist wirklich schön,« sagte sie; »ich habe dies nicht bemerkt. Wir werden viele solcher Tage den Sommer über haben.« Sie sah wieder in das Buch.

»Ich glaube, du hast im Sinn, den abscheulichen Roman weiter zu lesen,« eiferte Nanny. »Liebe Esther, lege doch den Plunder weg und mache einen Spaziergang mit mir. Ich kann nicht begreifen, was du für einen Genuß an diesen Schilderungen sträflicher Liebe und des Mords finden kannst; man wird gewiß ein schlechterer Mensch nach dem Lesen eines derartigen Gesudels. – Nun, mache kein so verdrießliches Gesicht, sondern komm, ich muß mit dir reden.«

Esther zeigte zum Spaziergang wenig Lust, allein sie hatte Nanny lieb und war gerne mit ihr zusammen.

»Wir wollen im Parke herumgehen,« sagte Nanny, als sie im Freien waren. Sie reichte Esther den Arm. »Hast du deinen Vater angetroffen?« fragte Nanny.

»Ist Papa auf Lybo? Das ist sonderbar, daß ich ihn nicht gesehen habe.«

»Er und ich sprachen vor einer Stunde mit einander. Er und Ludwig gingen dann nach dem Eisenwerke.«

»Dann werde ich ihn wohl beim Abendessen sehen. Es ist mir immer eine Freude, Papa zu treffen, weil ich weiß, daß er auf dieser Welt mich am meisten liebt. Er hat mich lieber, als sein Geld, und das thut mein Mann nicht.« Esther seufzte.

»Hast du nie an die Möglichkeit gedacht, daß dein Vater wieder heirathen könnte?« forschte Nanny.

»Papa wieder heirathen! Papa eine Frau nehmen, die Mama ersetzen würde! Papa sollte Jemand mehr lieben, als mich? Das wäre schrecklich, und ich könnte derjenigen, die mir so viel Böses zufügte, nie verzeihen. Nichts könnte mich bewegen, mit ihr zu verkehren. Es giebt auf dieser Welt nichts so Hassenswerthes, als Stiefeltern.«

»Du redest wie ein egoistisches Kind ohne allen Verstand. Wenn Alle so wie du raisonnirten, so wäre es hier auf dieser Welt sehr traurig. Wittwen und Wittwer wären in solchem Falle genöthigt, für sich zu bleiben. Dein Mann und seine Brüder handelten anders, als ihr Vater im Alter von einigen fünfzig Jahren meine Schwester heirathete. Sie kamen der Stiefmutter mit Freundlichkeit entgegen und behandelten sie zärtlich.«

Esther sah Nanny scharf an und rief aus:

»Es ist wohl nicht wahr, was Tante Juliana dieser Tage, als sie hier war, andeutete?«

»Was war dies?«

»Daß Papa um dich werbe.«

»Hatte dein Vater der Tante Juliana etwas Derartiges anvertraut?«

»Das nicht, aber sie habe ihre Beobachtungen gemacht, wie sie behauptete.«

»Die Beobachtungen der guten Tante haben sich in dieser Hinsicht immer als falsch erwiesen; laß uns aber einmal scherzweise annehmen, sie seien richtig, – was würdest du da sagen?«

Esther warf sich ins Gras nieder und saß da mit den Händen vor den Augen.

»Ich würde nichts sagen,« sprach sie mit leiser Stimme, »ich würde aber weinen, mein ganzes Leben hindurch weinen. Ach Nanny,« setzte sie hinzu und blickte empor, »ich fühle in diesem Augenblicke, daß, wenn Papa dich nehmen würde, er sich nicht mehr um mich kümmerte. Du hast einen bessern und liebenswürdigeren Charakter, deshalb würde es Papa wie Erich, Ludwig, Tante Karolina und Alle machen – mich vergessen, um dich zu lieben. Ich selbst habe dich lieber, als ich Jemand zuvor geliebt habe, und ich würde dann so allein sein und könnte Niemand lieben, so daß es für mich am Besten wäre, mich hinzulegen und zu sterben.«

Esther bedeckte abermals das Gesicht mit ihren Händen. Sie weinte, aber nicht heftig und gewaltsam, wie sie zu weinen pflegte, sondern still und bitterlich. Nanny war ruhig und betrachtete sie. Endlich äußerte sie, indem sie gleichsam ihren eigenen Gedankengang fortsetzte:

»Du hast mich sehr lieb und deinen Vater auch, und diese Zuneigung macht dich zur Eifersucht geneigt. Esther, hast du deinen Mann denn gar nicht lieb?«

»Das fragst du?« Esther sprang auf. »Meinen Mann lieben, der mich betrogen hat! Nein, niemals! Es gibt Augenblicke, wo –«

»Sei still! sprich die leidenschaftlichen Worte nicht aus. Dort kommt dein Vater und dein Mann.« Nanny fuhr mit ihrer Hand über Esthers ungeordnetes Haar und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Das Romanlesen erhitzt deine Einbildung und verwirrt deinen Verstand, und du glaubst, erbitterter gegen denjenigen zu sein, den du einst liebtest, als du es wirklich bist.«

»Daß ich ihn liebte, habe ich vergessen und will mich dessen nicht erinnern; allein was hilft es, über diesen Gegenstand Worte zu verlieren? Ich will wissen, ob Papa um dich angehalten hat. Sage es mir, ehe ich ihm entgegen gehe.«

»Du, Esther, forderst Alles vom Glück, aber du willst nichts opfern, um Andern Glück zu bereiten. Sei ruhig, dein Vater wird immer seine Tochter am meisten lieben; ich werde es nicht sein, die dir seine Liebe entziehen wird. Kann ich sie nicht stärker anfachen, so werde ich sie doch nicht minder werden lassen.«

Nanny küßte Esthers Stirne. Gleich darauf waren die Herren bei ihnen. Esther hatte durch ihre Aufregung eine lebhaftere Farbe bekommen und war so schön, daß sie Nanny, deren Aussehen nichts Blendendes hatte, ganz und gar verdunkelte.

Nanny frappirte nicht beim ersten Anblick. Man mußte sie in Eifer sehen, sie reden hören und die Gedanken, die sie beseelten, in ihrem Gesichte sich abspiegeln sehen, um zu erkennen, daß sie eine im höchsten Grade eigenthümliche Schönheit besaß.

Esther dagegen war sehr schön, mochte sie reden oder schweigen, ob sie bös oder gut, im Eifer oder gleichgültig war, sie blieb doch immer schön.

»Sie ist eine kleine Schönheit, meine Frau,« dachte Erich, als er vor den jungen Frauen stand. »Wie schade, daß sie nicht verzeihen kann, daß ich sie nicht liebte, als ich sie heirathete; könnte sie dies thun, so würde ich die Vergangenheit bald vergessen.«

»Ich glaube, ihr Damen habt eine kleine Scene gehabt,« äußerte Erich und sah Nanny an. »Esther sieht aufgeregt aus,« fügte er mit gerunzelter Stirne hinzu.

Nanny that, als hätte sie seine Worte nicht gehört, sondern wandte sich an Roman mit einigen Bemerkungen über die Schönheit des Parkes. Esther sah ihren Mann an und antwortete:

»Scenen kommen zwischen Nanny und mir niemals vor; wir sind gegen einander zu ehrlich und aufrichtig, um uneinig werden zu können. Ich bin aufgeregt gewesen, es kam aber daher, weil ich einen Augenblick fürchtete, Nannys Hingebung, die mir Alles ist, zu verscherzen.« Esther erfaßte die Hand ihres Vaters und küßte sie mit den Worten:

»Du böser Papa, ich sollte zürnen, weil du mich nicht früher aufgesucht hast, und doch weißt du, daß ich, dich und Nanny ausgenommen, kein einziges Wesen habe, das meinem Herzen theuer ist.« Sie umarmte den Vater und drückte ihre heiße Wange an die seinige.

Erich biß sich in die Lippen.

Nanny lächelte und sprach mit sonderbarer Betonung:

»Mir träumte diese Nacht, daß ich Lybo verließ und Erich kutschirte, als ich von hier weggefahren bin.«

Erichs Stirne wurde noch finsterer.

»Der Traum kann leicht in Erfüllung gehen,« sagte Roman scherzend, »und dann können die Bewohner von Lybo sich damit unterhalten, einander gegenseitig das Leben so unerträglich, wie möglich zu machen; wenigstens scheinst du, liebe Esther, dies zu deiner Aufgabe gemacht zu haben. Es würde mich gar nicht wundern, wenn Erich Lust und Liebe zu dir verlieren und einer Anderen anhängen würde.«

Esther wurde noch lebhafter, ihre Augen blitzten, und sie öffnete die Lippen, um zu antworten, aber der Vater legte seine Hand auf dieselben.

»Laß mich nicht bereuen, daß ich gut gegen dich gewesen bin,« sprach er strenge; »du thust dies, wenn du, wie vorhin, Worte sprichst, die von unrichtiger Auffassung und von schlechtem Herzen Zeugniß geben.«

Roman nahm den Arm der Tochter und legte ihn in den seinigen. Sie gingen gegen das Wohnhaus. Erich und Nanny folgten, aber ohne daß Eines von ihnen ein einziges Wort gesprochen hätte. Nanny sah außerordentlich gedankenvoll aus.

Herr Roman blieb den ganzen Abend auf Lybo. Nanny scherzte mit Esther und plauderte mit den Uebrigen, so daß die Wolken auf den Stirnen der Anwesenden sich zerstreuten und sie hatte das Vergnügen, lauter fröhliche Gesichter zu sehen, was sogar bei Ludwig, der nicht am wenigsten unzufrieden schien, der Fall war. Man trennte sich später, als gewöhnlich. Die Herren hatten sich auf der Terrasse niedergelassen, um zu rauchen; Nanny und Esther leisteten ihnen Gesellschaft, bis Roman aufstand, um fortzugehen. Esther schlich sich dann zu ihm, legte den Arm um seinen Hals und fragte liebkosend: »Papa, bist du mir böse?«

Der Ausdruck ihrer Stimme und ihres Blickes war mild und bittend. Roman fand seine schöne Tochter so reizend, daß es ihm unmöglich war, den Verdrießlichen zu spielen. Hätte er sich strenge zeigen können, so würde er Esther vielleicht gezwungen haben, ihr Benehmen zu ändern; allein Roman dachte jetzt nicht daran, sondern umarmte und küßte seine Tochter, indem er sie versicherte, daß er seinem kleinen Liebling nicht böse sein könne, und so sagte er ihr gute Nacht.

»Schwäche, Schwäche!« dachte Nanny, als sie ihrem »Onkel und Freier« die Hand zum Abschied reichte.

»Welch eine stattliche Frau! So viel Takt und Verstand,« dachte Roman, als er nach Hause fuhr, und vergaß ganz, seine Pferde zu bewundern.

Nanny ging an jenem Abend direkt in ihre Zimmer, anstatt wie sonst eine Weile mit Esther zu plaudern. Die kleine Olga schlief. Die junge Mutter trat an ihr Bett und betrachtete das schlafende Kind. Sie stützte die Hände auf den Rand des Bettes und beugte sich über die Kleine.

»Als ich mich zum ersten Male verheirathete, geschah es ihretwegen, da ich ihr mit ganzem Herzen anhing. In meiner Ehe war ich nicht glücklich, und ich wurde von Allen verkannt. Jetzt, mein süßer Liebling, kann ich durch meine zweite Heirath ohne Liebe dich reich und unabhängig machen. Was hat es also zu sagen, wenn ich wieder unglücklich werde?«

Sie küßte das schlafende Kind, erhob sich schnell und entfernte sich vom Bette, als fürchtete sie den Einfluß, den das Kind auf sie ausübte.

»Wenn ich Frau Roman sein werde,« fuhr sie in Gedanken fort, »so habe ich auf einmal alle Bande gelöst, die mich hier fesseln; sie müssen sich dann ohne mich behelfen.«

Sie warf sich in den Lehnstuhl, hob die Arme empor und flüsterte: »Ich will reich werden, reich und vermögend durch mein Geld, also fort mit aller thörichten Grübelei! – Ich bin wohl kein Kind mehr, das von Glück und Liebe träumt, sondern eine kluge und denkende Frau, die für die Zukunft ihres Kindes lebt. Die Liebe spielte meinem Herzen immer grausam mit, als ich jung war, so daß ich für dieselbe kein Opfer bringen werde. Die Gewißheit, daß mein Mann ein Pflegekind und bei seinem Tode ruinirt gewesen, ändert meine Stellung und die meines Kindes; wir verzehren hier auf Lybo das Gnadenbrod. – O welch eine gräßliche Demüthigung liegt in diesem Gedanken!«


Die Vögel begannen fröhlich und sorgenlos ihren Gesang, als die Sonne im Osten aufging. Die Blumen schienen zu lächeln, das Laub erzitterte, und die Wasserfälle brausten. Alles außerhalb Lybo schien lauter Glück und Freude zu sein, aber innerhalb der stattlichen Mauern herrschte an diesem Morgen große Unruhe. Die kleine Olga war in der Nacht krank geworden, und ein reitender Bote wurde zum Doktor geschickt. Esther war bei der betrübten Mutter.

Bei dem kranken Kinde zeigten sich alle Symptome einer Halskrankheit, die gerade unter den Kindern der Nachbarschaft grassirte. Alles, was man bei solchen Gelegenheiten vor der Ankunft des Arztes anzuwenden pflegt, wurde angewendet. Nanny kniete jetzt neben dem Bette des Kindes und lauschte ängstlich auf jeden Laut, der die Ankunft des Doktors ankündigen konnte.

Eine unendlich lange Zeit verging, bis endlich ein Wagen in dem Hof anlangte. Nanny fuhr empor und flog dem Arzte entgegen, um ihn so schnell als möglich zu Olga zu führen. Der Doktor untersuchte mit bekümmerter Miene die Kleine. Sie war von der gefährlichen Krankheit schwer angegriffen, und er sagte der Mutter geradezu, er habe wenig Hoffnung. Noch einige Stunden, und es gab keine Hoffnung mehr; die kleine Olga war in eine bessere Heimath emporgeschwebt.

Nanny hatte während dieser entsetzlichen Stunden keine Thräne vergossen, und als Alles vorbei war, sah sie einem Marmorbilde ähnlich. Tags darauf erkrankte sie so schwer, daß wenig Hoffnung auf ihre Genesung vorhanden war.

Frau Berg eilte auf die erste Nachricht von den traurigen Begebenheiten auf Lybo dorthin und blieb daselbst, um ihrerseits Nanny zu pflegen. Sie und Esther warteten der armen Mutter mit aller erdenklichen Zärtlichkeit, aber es vergingen Wochen und Monate unter schweren Kämpfen zwischen Leben und Tod. – Der Sommer und der Herbst waren vergangen, ehe man endlich sagen konnte, Nanny sei auf dem Wege der Besserung, aber erst nach dem Weihnachtsfeste konnte sie ihre Zimmer verlassen und in den Salon hinunterkommen.

Roman war täglich auf Lybo und brachte immer Etwas mit, was Nanny freuen oder überraschen konnte, und Esther war unermüdlich, angenehme Ueberraschungen zu ersinnen.

Frau Berg, eine kluge, verständige Frau, die selbst Vieles erlebt hatte, ließ während Nannys Krankheit dieselbe aus dem Zimmer, in welchem Olga gestorben war, in ein anderes Stockwerk verbringen, wo sie die Räumlichkeiten erhielt, die gewöhnlich als Gastzimmer benutzt wurden. Sie lagen gegen den Garten zu, so daß weder die Aussicht, noch die Möbel an den erlittenen Verlust erinnerten. Der Name der kleinen Olga wurde nie genannt, und Frau Berg hatte die Wärterin der Kleinen ihres Dienstes entlassen.

Nanny selbst sprach während ihrer Genesung kein einziges Mal den Namen ihrer Tochter aus. Sie redete überhaupt wenig und lächelte nie, selbst dann nicht, als ihr Ludwig Briefe von ihrer Schwester Marianna überbrachte.

Ihre Trauer war so tief, daß keine Worte sie ausdrücken konnten, und man sah ein, daß sie sich nicht so bald über den erlittenen Verlust werde trösten können.

Ihre Liebe zu Esther hatte während der langen Krankheit und der langsamen Genesung an Innigkeit gewonnen; sie war jetzt für Nannys Herz das Theuerste auf der Welt. Auch Esthers Freundschaft hatte einen ernsteren Charakter angenommen.

Esther spielte, sang und las Nanny vor, sprach über die Bücher, die sie las, erzählte kleine unterhaltende Neuigkeiten aus der Stadt und entwickelte im Umgange mit ihr so viel Milde und Liebenswürdigkeit, daß sie vor Nanny in einem neuen vortheilhaften Lichte erschien.

Als der Lenz auf den Winter folgte, war Nanny endlich ganz hergestellt. Der Arzt erlaubte ihr, kleine Ausfahrten in freier Luft zu machen, und als der Garten in seinem Blumenschmucke prangte, war sie kräftig genug, um allein umherzuwandeln. Olga hatte Monate lang an des Vaters Seite im Malmbergischen Familiengrabe geruht, aber Nanny war nicht an demselben gewesen. Sie schauderte vor dem Besuche des Kirchhofes zurück.

Es war an einem Samstag Abend. Nanny und Esther hatten den ganzen Nachmittag im Parke zugebracht, und Erstere hatte der Letzteren vorgelesen, welche glücklich war, mit ihrer geliebten Nanny allein zu sein. Die jungen Frauen hatten zu lesen aufgehört und befanden sich auf der Rückkehr vom Parke, um in Ludwigs und des Ingenieurs Gesellschaft das Abendessen einzunehmen. Erich war fortgereist.

»Gedenkst du morgen die Kirche zu besuchen?« fragte Nanny.

»Glaubst du, mein Engel, ich würde dich verlassen, um die langweilige Predigt des Pfarrers anzuhören! Ganz gewiß nicht!« antwortete Esther.

»Ich hätte Lust, dorthin zu fahren.«

Esther schwieg.

»Leistest du mir Gesellschaft?« fragte Nanny.

»Wo du hin gehst, gehe ich auch,« sagte Esther.

Als sie in den Hausflur traten, hielt Romans Wagen vor dem Eingang zum Hof, so daß er und sie einander im Hausflur begegneten, aber er war nicht allein; Erich war bei ihm.

Der junge Gutsbesitzer kehrte nach einer Abwesenheit von einigen Wochen zurück. Bei seinem Anblicke veränderten beide Frauen ihre Miene; die Esthers wurde verdrießlich und kalt, Nannys Antlitz nahm eine lebhafte Farbe an, und ein schwaches Lächeln schwebte auf ihren Lippen, indem sie ihn begrüßte. Dieses Lächeln war das erste, seitdem Olga gestorben war.

Esther sah es, und ein unangenehmes Gefühl erwachte in ihr. Sie selbst begrüßte ihren Mann, als sei er nur einige Stunden lang fort gewesen, und ihr Unwille wurde durch den Gedanken gesteigert, daß sein Anblick das erste Lächeln auf Nannys Lippen hervor gerufen habe, was sie mit all ihrer Zärtlichkeit nicht zu thun vermocht hatte.

Erich küßte Esther flüchtig auf die Stirne und faßte sodann Nannys Hand; mit dem Ausdrucke inniger Herzlichkeit sprach er:

»Wie freut es mich, dich so gesund wiederzusehen. Empfange meine herzlichen Glückwünsche zu deiner Wiedergenesung.«

»Ich danke dir, Erich,« gab Nanny zur Antwort. »Sei uns zu Hause ebenfalls willkommen! Bist du in England gewesen?«

»Ich komme direkt davon her.«

Am Abendessen war die ganze Familie versammelt.

Esther hatte ihre verdrießliche und schnippische Art, die sie immer in der Gegenwart des Mannes zeigte, wieder angenommen. Es war keine Spur mehr von der zärtlichen Hingebung, die sie gegen Nanny gezeigt hatte, vorhanden. Während der Mahlzeit äußerte Erich, er habe bei seiner Abreise nicht gehofft, Nanny so gesund wiederzusehen, wie sie jetzt zu sein schiene.

»Wenn du eine derartige Befürchtung hegtest,« fiel Esther ein, »so begreife ich nicht, warum du reistest. Deine Unruhe scheint mir etwas zweifelhaft zu sein.«

»Wohl möglich, daß es dir so scheint, aber Nanny glaubt gewiß, daß ich unruhig war. Sie weiß, daß ich nie etwas Anderes zu ihr sage, als was ich denke.«

Esther wurde so heiß, als hätte sie Fieber bekommen. Plötzlich fiel ihr die Geschichte der Pröpstin von Erichs Jugendliebe zu Nanny ein.

Liebte er sie noch? Bei dieser Frage, die Esther an sich selbst stellte, summte es in ihren Ohren, und es schwindelte ihr vor den Augen.

Zum ersten Male in ihrem Leben war Esther eifersüchtig. Die Mahlzeit schien ihr eine ganze Ewigkeit zu dauern, und es kam ihr vor, als könne sie alle die Qualen, welche ihre Brust erfüllten, nicht ertragen. Die Liebe zu Nanny hatte Esther glücklich gemacht; nun war es aber zu Ende. Genau betrachtet war vielleicht Andreas doch der Einzige, der sie treu liebte.

Endlich sollte man aufbrechen. Als Erich seiner Frau gute Nacht wünschte, fragte er:

»Darf ich dich auf deine Zimmer begleiten?«

»Das ist überflüssig, ich bin umgezogen, und meine Schlafstube liegt jetzt neben der Nannys.«

Sie küßte den Vater und eilte aus dem Zimmer.

Schwiegervater und Schwiegersohn sahen einander an.

»Du benimmst dich ganz einfältig, mein lieber Erich,« sagte Ersterer; »du lässest sie ihren eigenen Launen folgen, statt daß sie die deinigen erträgt; mache der Comödie ein Ende, sonst geht es schlimm. Rede mit Ernst und Nachdruck und nehme zu Machtsprüchen deine Zuflucht, wenn nichts Anderes hilft. Du wirst sehen, daß das Verhältniß zwischen euch anders wird, wenn du als ihr Herr und Mann auftrittst.«

»Ich will Esther zu Nichts zwingen,« antwortete Erich, »da sie selbst wünscht, daß wir einander fremd bleiben, so hat sie ein Recht, zu fordern, daß ich mich nach ihren Wünschen richte.«

»Schnick, schnack! mein lieber Schwiegersohn,« fiel Roman ein; »hätte ich so gehandelt, so wären meine Frau und ich unglücklich geworden, da sie auch ein verwöhntes Kind war; aber ich übte gleich im Anfang die Macht des Hausherrn aus, und sie wurde gut und ergeben, als sie es gelernt hatte, meinen Willen zu achten.«

Malmberg schwieg, und Roman hielt es für das Beste, nichts mehr beizufügen, sondern Abschied zu nehmen.

Als Erich allein war, saß er lange in Gedanken versunken da. Dann sprang er auf, nahm ein Licht, durchschritt die ganze Reihe der Zimmer, die links vom Salon lagen, und blieb vor einer verschlossenen Thüre stehen, die nicht geöffnet worden war, seitdem er sich verheirathet hatte. Esther hatte ein paar Male gefragt, wohin die Thüre führe und die Antwort erhalten, sie führe zu den nunmehr unbenützten Arbeitszimmern seines Vaters. Er schloß die Thüre auf und trat in ein großes, viereckiges Eckzimmer, das wie das Arbeitszimmer einer Dame eingerichtet war. Er blieb einen Augenblick mit dem über seinem Kopfe erhobenen Lichte stehen und murmelte vor sich hin:

»Nanny, Nanny, wie habe ich vergessen können, was wir dir alle zu verdanken haben?«

Er ging zu einer gegenüber liegenden Thüre und trat in ein anderes Zimmer, das wie das Schreibzimmer eines Mannes möblirt war. An der Wand über dem Sopha hing ein Gemälde. Es stellte zwei Frauen in Lebensgröße vor. Erich trat hinzu; er hob das Licht in die Höhe und betrachtete das Bild.

Sie waren jung und schön, diese Frauen. Die eine war in sitzender Stellung; ihre rechte Hand ruhte auf einem Tische; die andere stand an den Stuhl der Sitzenden gelehnt. In der aufrechtstehenden Gestalt erkannte man Nanny. Das Bild schien erst gestern gemalt worden zu sein, so blaß und durchsichtig war das Gesicht, so schmächtig der Wuchs. Es bildete einen auffallenden Gegensatz zu der sitzenden Dame, die eine große, stattliche Frau von dem Aussehen einer Juno und von üppigen Formen war. Die goldenen Locken, die weißen Schultern, die großen, offenen, etwas tief liegenden dunkelblauen Augen, aus denen eine ganze Welt von Freude und Munterkeit strahlte, die schwellenden Lippen, um welche ein übermüthiges Lächeln spielte, die feine, aber etwas stumpfe Nase, die blühende, helle und frische Hautfarbe, die dem Beschauer bemerklich machte, daß sie von guter Gesundheit und frohem Gemüthe zeuge: Alles blendete die Augen und entzückte die Sinne. Dieses Gesicht war der Ausdruck einer lebensfrischen Seele, eines feurigen Blutes und der Fähigkeit, alles Gute, was unsere Welt darbieten kann, zu genießen. Sie war schön, diese Frau, und je länger man sie ansah, desto schöner wurde sie.

Erich betrachtete diese Beiden, die einander so unähnlich und doch die Kinder derselben Eltern waren.

Eine Minute verging nach der andern, und noch immer stand er da. Endlich wurde er aus seinen Betrachtungen durch etwas Warmes, womit seine Hand berührt wurde, aufgeweckt. Es war der alte Felix, der Lieblingshund des verstorbenen Vaters, welcher die Hand seines jungen Herrn leckte. Erich sah den Hund an und sagte halblaut:

»Du hier!«

Felix wedelte mit dem Schwanze und blickte ihn mit seinen treuen Augen an, als wollte er ihn um etwas bitten. Erich streichelte dem stummen, treuen Freunde den Kopf und sagte:

»Komm, laß uns gehen! Du hast Recht, Felix, es ist für uns nicht gut, hier zu sein.«

Erich wandte sich von dem Bilde ab und ein anderes Porträt kam ihm durch diese Bewegung zu Gesicht.

Es war das Bild von Erichs Stammvater, eines Mannes, der berühmt geworden war durch die Art, wie er sein Eisenwerk betrieb und durch die Vortheile, die er durch seine Versuche, die Eisenindustrie zu verbessern, errungen hatte. Bei seinem Anblicke erheiterte sich Erichs Gesicht, und er rief aus:

»Mein lieber Stammvater, was sagst du darüber, daß einer deiner Enkel wegen der Frauen seufzt und klagt? Du findest es weichlich, du, der du auch für die Eisenindustrie gelebt und gewirkt hast. Gut, ich will suchen, deinem Beispiele zu folgen. Lybo muß noch einmal ein Musterwerk werden können, wie es zu deiner Zeit war.«

Felix hüpfte um Erich herum und eilte froh nach der Thüre.


Esther war Nanny in ihr Schlafzimmer gefolgt und fing sogleich an, sie mit Fragen zu bestürmen. Esther warf sich auf die Kniee und flehte Nanny an, sie möge ihr Nichts verhehlen, sondern gerade heraus sagen, ob Erich Nanny geliebt habe. Sie, Esther, sei stark genug, dieses und noch vieles Andere zu hören, wenn Nanny nur aufrichtig wäre.

Nanny nahm diese Fragen, Bitten und Thränen mit völliger Ruhe auf.

»Bist du eifersüchtig?« fragte sie mit einem Tone, der so frei von jeder Gemüthsbewegung war, daß er im Vergleiche zu Esthers erregter Stimme kalt erschien.

»Eifersüchtig auf Erich!« wiederholte Esther, indem ihre Wangen erglühten. »Wie kannst du so etwas voraussetzen? Ich kann nicht eifersüchtig auf Denjenigen werden, den ich nicht liebe; aber ich will wissen, ob es die Liebe zu dir ist, die mir sein Herz geraubt hat. O Nanny, siehst du nicht ein, daß ich verzeihen könnte, wenn er dich liebte, daß es eine Wohlthat wäre, wenn du mir dies sagtest, weil es eine Entschuldigung für Erich wäre.«

Nanny zog Esther zu sich.

»Du bist ein Kind und kennst dein eigenes Herz noch nicht,« sprach sie. »Sieh mir in die Augen, Esther, und sage mir, glaubst du, ich würde unter demselben Dache mit deinem Manne bleiben, wenn er in mich verliebt wäre? Kannst du nicht einsehen, daß das, was du jetzt voraussetzest, eine Beleidigung für mich enthält?«

Esther blickte in Nannys Augen und las darin die Wahrheit dessen, was sie sagte.

»Verzeihe mir,« stammelte Esther, »ich werde solchen Gedanken niemals wieder Raum geben, nein, niemals!«

Sie schlang ihre Arme um Nannys Hals und bedeckte ihre Stirne und Augen mit Küssen. Nanny war in diesem Augenblicke für diese Liebkosungen nicht empfänglich. Sie erwiderte dieselben zwar, aber ohne die gewöhnliche Wärme. Es sah aus, als wäre Esthers Zärtlichkeit ihr peinlich gewesen.

»Setze dich hier neben mich, Esther,« sagte sie, »und versuche es, ruhig und vernünftig an Das zu denken, was ich dir zu sagen habe.«

Esther setzte sich zu Nannys Füßen.

»Erich hat mich nie geliebt,« fuhr Nanny fort, »und du darfst diese meine Worte nicht bezweifeln; was würdest du aber sagen, wenn du erfahren würdest, daß er eine Andere liebte?«

»Ich würde sagen, es sei mit seinem treulosen Charakter vereinbarlich,« erklärte Esther unter vergeblichem Bemühen, kalt und gleichgültig zu erscheinen. »Liebste Nanny,« setzte sie hinzu, »lasse uns nicht mehr von Erich reden, es ist so peinlich.«

»Wir müssen es thun,« fiel Nanny ein; »ich mißbillige dein Benehmen gegen ihn zu sehr, um nicht noch einmal zu versuchen, dich zu einer Aenderung desselben zu bewegen!«

»Ich kann es nicht,« flüsterte Esther.

»Nicht einmal aus Liebe zu mir? Selbst dann nicht, wenn du durch dein jetziges Benehmen sein Herz dir noch mehr entfremdest?«

»Nanny, Nanny, nicht einmal aus Liebe zu dir kann ich es. Bei Erichs Anblick fliehen alle freundlichen Gefühle, und ich bin meiner selbst nicht länger mächtig. Seine Gegenwart bringt mich auf; wenn er nur die Lippen öffnet, so versetzt es mich in üble Laune, und es kommt mir vor, als rede er lauter Unwahrheiten. Es ärgert mich, daß er schön spricht, da seine schönen Worte nur Falschheit sind. Ich bitte dich auf den Knieen, von mir das Unmöglichste nicht zu verlangen; und es ist mir unmöglich, gegen Erich freundlich zu sein.«

Dieser Bitten ungeachtet versuchte Nanny, Esther die Nothwendigkeit zu beweisen, daß sie sich Mühe geben müsse, um Erichs wirklichen Charakter zu erkennen und ihn nicht nach ihrer Phantasie zu beurtheilen. Ja, nach Nannys Ausfassung war es Esthers Pflicht, dies zu thun.

Esther hörte ihr zu und weinte, erklärte aber dennoch, sie könne Nannys Rath nicht befolgen.

»Möge der Tag nie kommen, Esther,« sagte Nanny, »an dem du es bereust, meinen Rath nicht befolgt zu haben. Mir sagt eine Ahnung, du werdest dich einmal selbst schwer anklagen müssen.«


Sehr frühe am Sonntagmorgen begaben sich die Schwägerinnen zur Kirche. Esther wollte im Vorbeifahren ihre Amme, die Frau des Küsters, und Nanny zum ersten Male das Grab ihres Kindes besuchen. Sie wollten sich in der Kirche treffen. Nanny blieb lange auf dem Kirchhof; sie betete und weinte. Als sie in die Kirche trat, war sie sehr bleich, aber ruhig.

Am Nachmittage, als man auf Lybo zu Mittag gegessen hatte und Esther, ihrer Gewohnheit gemäß, sich mit einem Romane zurückzog, um eine Weile zu ruhen, saßen die Herren rauchend im Garten. Einige Geschäftsleute aus der Stadt waren Mittags gekommen, und nun wurde von den Konjunkturen u. s. w. gesprochen.

Nanny hatte Ludwig einen Wink gegeben, als die Herren den Salon verließen, daß sie mit ihm zu reden wünsche, und er blieb deshalb bei ihr.

»Liegt dir viel daran, mit Erichs Gästen von Landbau, Roggen und Haber zu sprechen?« fragte Nanny. »In diesem Falle will ich dich nicht aufhalten, sonst hätte ich aber Mancherlei mit dir zu sprechen.«

»Rede nur,« sagte Ludwig und setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber.

Nanny hatte das Gesicht abgewandt, so daß Ludwig es im Profil sah; dieses Profil war regelmäßig.

»Ich glaube, meiner Treu, es ist ihre Absicht, mich zu bezaubern,« dachte Ludwig, der die Augen von den reizenden Zügen nicht abwenden konnte.

»Mein bester Ludwig,« fing Nanny nach einer kurzen Pause an, »deine Absicht, Esther vor mir zu warnen und meinen Einfluß in diesem Hause weniger gefährlich zu machen, scheinst du aufgegeben zu haben, da Esther und ich fortwährend befreundet sind. Denkst du vielleicht anders von mir?«

»Nein, das nicht; du bist ein Räthsel: ich mißtraue dir, will dir aber nicht schaden,« antwortete Ludwig, die Augen noch immer auf das halb abgewandte Antlitz geheftet.

»Dann wundert es mich, daß du so passiv bliebst.«

»Es würde mich selbst wundern, wenn ich die Ritterlichkeit vergessen und eine wehrlose Frau verfolgen würde,« entgegnete Ludwig. »Ich schweige deshalb, bewache aber deine Handlungen.«

»Und du überlässest Esther meinem Einfluß?«

»Bis auf Weiteres; denn noch hast du die Kluft zwischen ihr und Erich nicht vergrößert. Esther ist übrigens so langweilig, daß es mir einerlei ist, ob sie glücklich oder unglücklich ist. Nunmehr denke ich nur an Erich. Er verdiente es, glücklich zu sein und wird es vielleicht werden, weil er sich so mit dem Geschäfte, den Schmelzöfen, dem Eisen u. s. w. beschäftigt, daß es ihm gleichgültig ist, ob du und Esther da sind oder nicht.«

Nanny stützte das Gesicht mit den Händen und schwieg.

»Wie schön sie ist, die schlaue Hexe,« dachte Ludwig.

»Die Feindschaft zwischen uns ist also ausgesetzt und wird sich vielleicht einmal in Freundschaft verwandeln; wenn nicht früher, so doch dann, wenn ich Lybo verlassen habe,« sagte Nanny.

»Gott behüte uns davor!« rief Ludwig aus.

Nanny wandte hastig den Kopf; ihre Blicke begegneten sich.

»Ich werde es wahrscheinlich recht bald thun,« sprach Nanny mit fester Stimme.

Ludwig warf den Kopf zurück: ein ironisches Lächeln schwebte auf seinen Lippen.

»Ich mußte so etwas geargwöhnt haben,« rief er.

»Um so besser. Jetzt wollen wir aber dies Thema lassen; ich bitte dich, mir einige Fragen ehrlich zu beantworten. Zum Ersten: wie standen die Sachen nach dem Tode meines Mannes? Was enthielt das Papier, das er mich zu unterzeichnen bat?«

Ludwig schwieg.

»Ich verlange von dir, daß du mir ohne Vorbehalt antwortest,« fuhr Nanny fort; »sonst suche ich es auf gesetzlichem Wege zu erfahren. Du weißt gewiß, daß mein Mann kurz vor seinem Tode ein langes Gespräch mit Erich und dem Bezirksrichter N. hatte. Ein Dokument wurde verfaßt, und mein Mann ließ es mich unterzeichnen. Dieses Dokument, sagte er, enthalte eine Bestimmung, welche Erich zum Verwalter meines und Olgas Erbtheils mache. Seiner Aussage nach war abgemacht worden, daß uns Erich erst nach fünfzehn Jahren wegen unseres Antheils am Geschäfte abfinden und Rechenschaft über die Verwaltung ablegen sollte. Ich glaubte, Erich einen Dienst durch die Unterzeichnung dieses Dokumentes zu erweisen, denn so wurde mir die Sache dargestellt. Ich und mein Kind sollten bei Erich bleiben; er sollte für uns sorgen, wie für die eigene Familie. Wenn ich wieder heirathen wolle, so würde ich der Erbschaft verlustig und meinem Kinde das Ganze zufallen. Mein Mann starb, und ich vertraute seinen Worten unbedingt und suchte den Inhalt des Dokuments nicht zu erforschen. Ich kam hierher, völlig überzeugt, daß Olga und ich 40 bis 50,000 Thaler auf dem Eisenwerke stehen hätten. Kurz vor der Krankheit meines kleinen Engels erklärte man mir ganz unvermuthet, daß mein Mann euer rechter Bruder nicht gewesen sei, daß er, streng genommen, kein Erbtheil von eurem Vater anzusprechen gehabt, und daß das Kapital, das er hinterlassen, nicht über 5000 Thaler betragen habe. Jetzt will ich bestimmt wissen, ob dies wahr ist.«

»Warum wendest du dich nicht an Erich?«

»Weil er mir nicht ehrlich antworten würde. Ich rufe das Gesetz nicht gerne an, um dies zu erfahren. Die Verfügung meines Mannes hat keine gesetzliche Gültigkeit, wenn ich dagegen opponiren wollte, und dies will ich thun, wenn du dich weigerst, mir die gewünschte Aufklärung zu geben.« Nanny sprach mit Entschiedenheit.

»Nun, Nanny, man hat in der Hauptsache die Wahrheit gesprochen. Karl war weder der Sohn meines Vaters, noch der meiner Mutter. Er war ein angenommenes Kind meiner Eltern und, wie du selbst weißt, dasjenige, welches mein Vater und wir alle am liebsten hatten. Es ist auch wahr, daß Erich dem Karl 5000 Thaler schenkte, nachdem Ersterer mit dem väterlichen Erbtheil des Letzteren dessen Schulden bezahlt hatte. Du und dein Kind sollten diese 5000 Reichsthaler bekommen, als euern Antheil am Eisenwerke. Schon zwei Jahre, ehe Karl starb, war er gänzlich ruinirt und wurde diese Zeit über von Erich unterhalten. Die ungünstige Lage, in welche Lybo gerieth, war zu einem großen Theile Karls Schuld, weil er auf Kosten des Anwesens gerettet wurde. Erich hatte keinen anderen Ausweg, um seine und unsere ökonomische Stellung zu verbessern, als eine reiche Heirath zu machen. Beim Tode unseres Vaters waren die Konjunkturen ungünstig und die Geschäfte zerrüttet. Daß Erich genöthigt war, unsere Stiefmutter auszubezahlen, machte die Sache nicht besser, und sie wurde äußerst bedenklich, als Erich so große Summen an Karl auszahlen mußte. Nur das Herbeischaffen eines größeren Kapitales konnte das Anwesen retten.«

»Das heißt also,« bemerkte Nanny, »daß ich Nichts besitze.«

»Du besitzest immerhin die 5000 Thaler, die Erich dem Karl vor seinem Tode gab.«

Es entstand eine Pause, während welcher Ludwig Gelegenheit hatte, fortwährend Nannys Profil zu bewundern.

»Wie konnte Karl all das Geld vergeuden?« fragte Nanny, welche mehr für sich hin, als mit Ludwig sprach. »Wir führten ja ein recht eingezogenes Leben.«

»Er befand sich vor seiner Hochzeit tief in Schulden,« entgegnete Ludwig. »Karl war als jung allzu bereitwillig gewesen, seinen Kameraden zu dienen, gerieth in die Klauen von Wucherern, weil er Bürgschaften einging, und dadurch in ökonomische Zerrüttung. Die so eingegangenen Schulden wuchsen auf schreckliche Weise, weil er zu ungeschickt war, um sie abzuwälzen. Als unser Vater starb, stürzten die Gläubiger über Karl her, und Erich mußte ihn retten, es mochte kosten, was es wollte und ihm eine Summe nach der anderen verschaffen.«

»Erich hat sich mehr als großmüthig gegen den benommen, der nicht sein Bruder war,« flüsterte Nanny.

»Er war dies, als ihn unsere Eltern an Kindesstatt annahmen; du mußt aber nicht glauben, Erich habe wegen Karls unser Vermögen verschleudert.«

»Für wen sonst?«

»Nanny, wozu diese Heuchelei, da du doch weißt, daß es geschah, um dich vor Armuth zu schützen?«

Nanny wandte abermals ihr Gesicht dem Schwager zu. Ludwig blickte ihr fest in die Augen, indem er fortfuhr:

»Erich hat dich geliebt; oder hofftest du vielleicht, ich wisse dies nicht?«

»Du thörichter Mensch, du weißt nichts davon,« sprach Nanny stolz.

»Karl hat es mir gesagt,« bemerkte Ludwig; »Karl sagte sogar, er fürchte, daß du Erich liebest. Er versuchte sogar auszuforschen, was ich davon wisse.«

»Sei stille, Ludwig, laß die Todten ruhen und versuche es, dir ein selbstständiges Urtheil über mich zu bilden. Du warst nicht zu Hause, als ich die Frau deines Bruders wurde; aber du solltest trotzdem begreifen, daß man im Alter von sechszehn Jahren noch kein wirklich eigennütziges Wesen sein, sondern leicht einer Uebereilung sich schuldig machen kann.«

Nanny verließ hastig das Zimmer. Ludwig blieb sitzen und starrte zum Fenster hinaus. Einige Augenblicke vergingen, dann bemerkte er sie im Garten.

Roman verließ sogleich die plaudernden Herren und ging Nanny entgegen.

»Was ich für ein Thor gewesen bin,« murmelte Ludwig; »man wird sehen – sie heirathet noch den Alten.«

Roman bot Nanny den Arm, und sie gingen die Terrassentreppe hinunter.

»Jetzt wird sich das Spiel entscheiden, und diesmal gedenkt Nanny ohne Zweifel einen hohen Gewinn zu ziehen,« rief Ludwig aus und stand auf, um zu gehen.

»Was gibt es?« ertönte eine helle Stimme aus einem der inneren Zimmer und Esther trat heraus.

»Bist du schon wach, ich glaubte, du machest noch deinen Mittagsschlaf?« sprach Ludwig ironisch. »Warum bist du eine ganze Stunde früher, als gewöhnlich aufgewacht?«

»Ich will dir sagen, daß ich nie bei Tag schlafe,« entgegnete Esther mit einem Nicken des Kopfes; »aber wo ist Nanny?«

»Im Garten, wo sie am Arme deines Vaters herumspaziert. Lybos Luft ist ungesund für alte Leute, liebe Esther. Mein Vater verliebte sich in Marianne, als er einige fünfzig Jahre alt war, und ich fürchte, dein Vater ist auf dem Punkt, sich in Nanny zu verlieben, wenn es nicht bereits geschehen ist.«

»Du bist jetzt und immer verdrießlich,« erklärte Esther und verließ ihn.


Es war Abend. Esther saß am offenen Fenster in ihrem Schlafzimmer und las einen Brief. Nanny trat herein, ohne daß es die junge Frau bemerkte, so beschäftigt war sie mit Lesen. Nanny trat mit leisen Schritten hervor, blieb hinter dem Stuhle stehen und warf einen Blick auf den Brief, den Esther buchstäblich verschlang.

»Von wem ist der Brief?« fragte Nanny.

Esther fuhr empor und verbarg den Brief in ihrer Tasche. Sie war glühend roth, antwortete aber nichts.

»Ich glaube, Esther will nicht bekennen, daß sie mit Andreas Briefe wechselt,« fuhr Nanny fort. »Du hast also ein Geheimniß vor mir.«

Augenblicklich schlang Esther den Arm um den Hals der Freundin und flüsterte aufgeregt:

»Andreas hat mir in der That dann und wann geschrieben, seitdem die Tante krank war, dies ist, wie du weißt, sehr lange her.«

»Und während dieser langen Zeit hast du ihm wohl auch dann und wann geschrieben?«

»Das habe ich.« Esther weinte beinahe bei diesem Bekenntniß.

»Willst du mir seinen Brief zeigen?« fragte Nanny.

Esther schwieg.

»Du willst nicht.« Nanny wandte sich weg, um zu gehen.

»Bist du unzufrieden?« fragte Esther.

»Ich gestehe es.«

»Weil ich dir seinen Brief nicht zeigen will?«

»Esther, eine Frau, welche von einem jungen Mann Briefe empfängt, die sie nicht Jedermann zeigen kann, ist sehr zu tadeln.«

Nanny ging in ihr Zimmer hinein. Esther ließ sie gehen. Eine ganze Viertelstunde verfloß. Die Freundschaft und die Phantasien für Andreas geriethen in Widerstreit mit einander. Endlich siegte die Freundschaft; Esther ging zu Nanny hinein.

»Ich werde niemals wieder Briefe von Andreas annehmen,« sprach sie, der Freundin die Hand reichend, »wenn du mir nur nicht böse bist. Morgen schon will ich ihm schreiben, daß unsere Correspondenz ein Ende nehmen müsse. Bist du damit zufrieden?«

Nanny war nicht zufrieden; Esther war aber halsstarrig, und nur mit vieler Mühe gelang es Nanny, ihr das Versprechen abzunehmen, daß sie den Briefwechsel abbrechen und Andreas' Brief unbeantwortet lassen werde. Ehe sie sich trennten, hatte Esther es versprochen, und Nanny hoffte, sie würde ihr Wort halten.

Es gibt indessen Versprechungen, die man niemals hält. Dazu gehörte auch Esthers Versprechen. Die verbotene Frucht hat einen so großen Reiz, daß diejenigen, die sie einmal gekostet haben, nur mit vieler Mühe davon ablassen können, fortwährend davon zu genießen. Esther hätte für Nanny vieles opfern, allein dennoch den Briefwechsel mit Andreas nicht aufgeben können. Der Genuß, den ihr seine Briefe bereiteten, war zu groß, als daß sie ihm hätte entsagen können. Sie hielt auch das gegebene Versprechen für zu unpassend, um gehalten werden zu können und fing, als sie allein war, an, für den Bruch desselben Gründe zu suchen.

Nanny, die nie ein gegebenes Wort brach, dachte nicht, daß Esther anders handeln könne. Sie hatte ohnehin für sich selbst viel zu denken, denn sie war entschlossen, Lybo zu verlassen; aber sie sah ein, daß es nicht gut für Esther wäre, allein zu bleiben. Die Entdeckung ihres Briefwechsels mit ihrem Vetter überzeugte Nanny, daß Esther die Pflichten, die sie gegen ihren Mann hatte, nicht kannte.


Erich Malmberg saß eines Morgens früh am Schreibpulte in seinem Privat-Comptoir, das innerhalb des großen Comptoirs befindlich war.

Nanny trat zu ihm herein. Er sah überrascht aus, als er die Schwägerin erblickte. Erich erhob sich und ging ihr entgegen.

»Was führt dich hieher?« fragte er.

»Mein Wunsch, ungestört mit dir zu sprechen,« antwortete Nanny und sah etwas verlegen aus. »Es ist an der Zeit, daß du mir eine Erklärung gibst.«

»Und zu was sollte jetzt eine Erklärung von Nutzen sein?« entgegnete Erich und warf einen kalten Blick auf die junge Frau.

»Zu nichts, wenn sie das Vergangene beträfe; zu vielem, wenn sie meiner ökonomischen Stellung gilt. Ich weiß jetzt, daß mein Mann dein Bruder nicht war; daß er bei seinem Tode ruinirt war, daß du seine Schulden bezahlt, ihm 5000 Thaler geschenkt und es übernommen hast, mich und Olga zu versorgen. Es geschah dies also nicht, um dir zu nützen und dir Zeit zu geben, deine Geschäfte zu ordnen, daß ich dir versprechen mußte, meinen Wohnsitz auf Lybo zu nehmen, sondern es geschah dies deshalb, damit ich und mein Kind vor Noth geschützt sein sollten.«

Nanny richtete sich empor. Erich senkte seinen Blick vor dem ihrigen.

»Kannst du wohl glauben, daß ich, nachdem ich diese Aufklärung erhalten habe, auf Lybo bleiben werde?« fragte Nanny.

»Und warum solltest du dies nicht thun?« Erichs Gesicht nahm einen milden, fast bittenden Ausdruck an.

»Und das fragst du mich?« Nannys Gesicht wurde purpurroth und ihre Augen blitzten. » Ich das Gnadenbrod in deinem Hause essen, ich meinen Unterhalt von dir empfangen! Nein, niemals! Eher gehe ich bei Anderen betteln. Du wußtest, daß das hätte vorkommen können, und deshalb suchtest du mich durch eine edelmüthige Betrügerei zu hintergehen. Ich kann und will die 5000 Thaler, die du Karl geschenkt hast, nicht als mein Eigenthum ansehen.«

»Nanny, dein Mann erhielt dieses Geld; es gehörte ihm, als er starb und ist jetzt dein Eigenthum.«

»Mag sein, daß es gesetzlich mir gehört, aber moralisch nicht. Ich gebe es an Lybo zurück. Könnte ich voraussetzen, jemals reich zu werden, so würde ich alles zurückzahlen, was du für Karl ausgegeben hast. Jetzt kann ich es nicht und verlasse deshalb dein Haus.«

»Nanny, du hast dem Verstorbenen versprochen, hier zu bleiben,« rief Erich aus; »du kannst nicht fortziehen, du bist an dein Versprechen gebunden!«

»Das Versprechen wurde auf Grund einer Unwahrheit gegeben und hat in Wahrheit gar keine Gültigkeit. Sprich mir nicht davon, ich solle hier bleiben; es ist dies jetzt eine Beleidigung.«

»Du verlassest also Esther, die dich anbetet? du gibst eine Heimath auf, wo deine Gegenwart das einzige Band des Zusammenhaltens gewesen ist? Nanny, ich bitte dich, gib deinem Stolze nicht so viel Raum, wie du es jetzt thust.«

Nanny antwortete nicht, sondern ging nach der Thüre mit den Worten:

»Ich reise in nächster Woche ab.« Ihre Hand ruhte schon auf der Thürklinke. Erich legte die seinige darauf und sagte:

»Ehe du gehst, sage mir: wer hat das Geheimniß meines Vaters und meines verstorbenen Bruders verrathen? Ist es Roman?«

»Er sagte mir, ich sei eine arme Wittwe, und hierauf wurde es mir leicht, die Wahrheit herauszufinden. Du weißt, ich besaß schon als jung große Anlage, die Wahrheit zu erfahren.«

»So, er sagte dir, du seiest arm, und warum sagte er es?« Erichs Hand faßte kräftig die Nannys. »Willst du, daß ich es dir sagen soll?«

»Sehr wohl.« Nanny zog ihre Hand weg und sah den Schwager ruhig an.

»Er will dich zur Frau haben und glaubte, es würde seine Absichten fördern, seinen Reichthum deiner Armuth gegenüberzustellen. Ich kenne den Mann, er kann mit seinem Golde um sich werfen, und glaubt, es könne demselben niemand widerstehen. Nun, Nanny, reichst du ihm deine Hand?«

»Das ist eine Sache, die mich und Roman allein angeht, wofern deine Vermuthung richtig ist. Es kann aber möglich sein, daß du dich irrest.«

»Vielleicht, ich thue es aber nicht. Er hat mir selbst beinahe anvertraut, daß er es als einen Gewinn ansehen würde, dich zur Frau zu bekommen.«

Nannys Antwort war ein fast bitteres Lächeln.

»In einer Woche reise ich ab,« sagte sie. »Marianna ist dann in Kopenhagen und wünscht, mich zu treffen. Ich will ihren Wunsch erfüllen; aber ehe ich dich verlasse,« fügte sie hinzu, »bitte ich dich, auf einen Rath zu hören, denn das, was ich dir zu sagen habe, berührt nicht nur dein eigenes Wohl, sondern auch dasjenige einer andern Person. Du hast mir zwar verboten, über diesen Gegenstand zu reden; ich achte aber ein solches Verbot nicht, wenn meine Pflicht fordert, daß ich rede. Das Schicksal hat dir ein liebenswürdiges Kind zur Frau gegeben, launisch und verzogen zwar, aber im Grunde so reich begabt, daß du den dir anvertrauten Schatz hüten mußt. Sie wird sich dir niemals nähern, wird niemals gute Eigenschaften bei dir suchen, niemals etwas thun, was eure gegenwärtige Stellung ändern wird, weil sie meint, du habest falsch und eigennützig gehandelt. Als sie heirathete, glaubte sie geliebt zu sein und liebte wieder. Diese Liebe war die Knospe, woraus eine Blume hätte werden können, aber durch Unachtsamkeit konnte diese Knospe sehr leicht zerstört werden. Die Liebe, die schon im Keime erstickt, kann den Samen zu einer anderen Liebe hinterlassen, die aber nicht für dich, sondern für einen Andern blühen wird. Versuche es, ihre Kälte zu besiegen, erforsche, was ihr Freude machen kann, sei aufmerksam, gut und interessant und überlasse das arme Kind nicht seinen Träumereien, denn sie könnten euch Beiden verderblich werden. Erich, du bist vor Gott für deine Gattin verantwortlich; siehe zu, daß du sie schuldlos erhältst. Ich habe dich jetzt gewarnt, höre auf die Warnung, wenn du deine Ehre nicht beflecken willst, und verhöhne sie nicht, wie du es früher schon ein Mal gethan hast.«

Nanny verließ das Comptoir und ging über den Hof, so daß sie in den Wald gelangte. Sie setzte sich unter eine hohe Tanne und versank in Gedanken.

Sie konnte zwischen zwei Wegen für ihre künftige Wanderung wählen. Der eine Weg führte zum Reichthum, der andere zur Arbeit.

Welchen sollte sie wählen? Die Abhängigkeit hatte für Nannys Stolz und Eitelkeit etwas Niederschmetterndes; aber ihrem Selbstgefühle war es ebenso zuwider, sich einem reichen Manne zu verkaufen. Sie überlegte nicht lange; ihr Entschluß war bereits gefaßt, und sie dachte nur noch darüber nach, wie sie auf würdige Art den mühsamen Pfad wandern könne. – Schwere Schritte ließen sich vernehmen. Ein Mann mit breitrandigem Hute hatte sich genähert – es war Gunnar.

»Guten Morgen, Nanny,« grüßte er und blieb stehen. »Ich bin soeben auf einer Entdeckungsreise nach dir begriffen, da ich gerne einige Worte mit dir reden möchte. Du hast wenig angenehme Entdeckungen hinsichtlich Karls gemacht; ist es nicht so?«

Gunnar setzte sich und blickte, das Kinn auf seinen Stock stützend, Nanny mit seinen schlauen Augen an.

»Der Onkel hat richtig gerathen. Ich weiß, daß er ein Pflegekind und die Armuth mein Erbtheil war. Ich habe das Gnadenbrod in diesem Hause gegessen; hier zu bleiben ist nicht möglich, und fortzukommen ist auch schwer, da ich ohne Mittel bin und nichts von euch annehmen kann.«

»Immer derselbe Stolz,« flüsterte der Alte.

»Ist mein Stolz auch jetzt am unrechten Platze?« fragte Nanny, den alten Mann anblickend. » Kann ich anders handeln?«

»Gewiß kannst du es, allein du thust es nicht,« fiel Gunnar ein. »Du bist eine gute, uneigennützige und aufopfernde Frau, aber gar zu stolz. Du glaubst, du müssest unbedingt diese Heimath verlassen, weil du das Brod, das du issest, nicht bezahlen kannst. – Liebes Kind, müßte Erich dir bezahlen, was er dir schuldet, so würde all sein Hab und Gut nicht hinreichen. Von Gnadenbrod kann für dich im Hause des Sohnes deines Schwagers nie die Rede sein. Es ist ferner beinahe deine Pflicht, Lybo nicht zu verlassen; ohne dich wird es mit Esther ganz und gar schlimm sein, und Erich wird so unglücklich, daß es Jammerschade um ihn wäre. Bleibe doch und erhalte das Gleichgewicht zwischen den beiden Gatten!«

Nanny schüttelte den Kopf.

»Ich habe auch einst geglaubt, dies würde gelingen, jetzt aber sehe ich ein, daß meine Gegenwart zu nichts nützt. Ich glaube meine Abwesenheit wird von größerem Vortheil sein. Es gibt Augenblicke, wo Esther sich der Eifersucht nicht erwehren kann. Sie will diesem Gefühle keinen Raum geben, kann aber doch den Widerhall von dem, was man ihr über mich gesagt hat, nicht los werden. Die Zweifel kehren wieder, und sie hat keine Kraft, sie zu verjagen. Ich muß reisen.«

Eine Pause entstand. Gunnar überlegte, was er gesagt hatte und äußerte dann:

»Du hast vielleicht Recht. Die Malmbergs lieben die verbotenen Früchte. Wie viel Geld brauchst du?«

»500 Thaler. – Ich werde nicht sogleich einen passenden Platz finden können, und bis dahin muß ich existiren.«

»Wirst du Marianne nicht aufsuchen?«

»Wir werden uns in Kopenhagen treffen, aber nur kurze Zeit beisammen sein. Meine Verwandten brauchen mich nie zu unterhalten, ich will selbst für meinen Unterhalt arbeiten. Marianne soll ebenso wenig von ihrer Schwester belästigt werden, als Erich von seiner Schwägerin.«

»Gut, dann will ich dir die 500 Thaler, welche du nöthig hast, vorstrecken. In acht Tagen kannst du sie bei mir abholen.«

Nanny reichte Gunnar schweigend die Hand. Sie war zum Sprechen zu aufgeregt, jedoch der Alte verstand die stumme, aber beredte Danksagung.


Während Nanny mit Gunnar sprach, war Esther von Lybo abgereist. Sie besuchte Tante Karolina zu Grythamra. Als Esther nach zwei Tagen zurückkehrte, kutschirte sie der Vater. Sie sah sehr froh und zufrieden aus und zankte Nanny, die nicht hatte mitreisen wollen, aber sie that dies auf eine Weise, daß Nanny argwöhnte, sie sei diesmal gern allein gereist. Sie war entzückt, Nanny nach so langer Trennung wieder zu sehen und meinte, das Leben sei ihr ohne sie unerträglich. Trotz dieser Versicherungen lag eine gewisse Unsicherheit in Esthers Blick, was Nannys Argwohn bestärkte. Man sah, sie habe etwas auf dem Gewissen; Nanny war zu hellsehend, um ihre Scheu nicht sogleich zu bemerken, und sie sah ein, daß die Lust, welche Esther plötzlich angewandelt hatte, nach Grythamra zu reisen, einen andern Beweggrund gehabt habe, als das Verlangen nach der Tante.

Einige Fragen zu stellen fiel Nanny nicht ein. Sie wußte aus bitterer Erfahrung, daß es wenig nütze, wenn man Jemanden mit Worten von dem Genusse der verbotenen Frucht abzuhalten suche, und daß andere Mittel angewendet werden müßten, um denjenigen, der davon einmal gekostet habe, davon abzuhalten.

»Esther hätte nöthig, den Reisestaub abzuwaschen, wie mir scheint,« sagte Roman, als Esthers Freude, Nanny wiederzusehen, sich gelegt hatte. »Inzwischen gestattet mir Nanny, allein mit ihr zu reden.«

Nanny willigte ein, und Esther eilte in ihre Zimmer.

Erich und Ludwig waren von dem Eisenwerke noch nicht heraufgekommen, so daß der Augenblick zu einem Gespräche unter vier Augen günstig war.

Wir brauchen dem Gespräche zwischen Roman und Nanny nicht zu lauschen, da es uns nicht so sehr interessirt, als Ludwig, der unter den offenen Fenstern stehen blieb, um zu horchen. Seine Bemühungen waren aber nicht sehr erfolgreich, denn er hörte nur die letzten Phrasen, welche gesprochen wurden, und diese waren nicht sehr verständlich. Er hörte nämlich Roman sagen:

»Meine Zuneigung ist und bleibt unerschüttert, vergiß nie, daß du dich in jeder Lage darauf verlassen kannst.«

»Wie dankbar bin ich nicht für diese Versicherung,« antwortete Nanny.

»Er hat das Jawort erhalten,« dachte Ludwig. »Meine schöne Schwägerin verleugnet ihren Charakter nicht, und ich Thor, ich glaubte schon, bei dessen Beurtheilung einen Irrthum begangen zu haben.«

Ludwig trat in den Salon.

Nanny saß jetzt an einem der Fenster und sprach mit Esther, die sehr betrübt aussah.

Erich und Roman spazierten im Saale auf und ab. Es kam Ludwig vor, als habe Romans Stimme, während er sprach, einen eigenthümlichen Klang.

Der Salon war, wie gewöhnlich am Abend, hell erleuchtet, dennoch aber ruhte ein dunkler Schatten auf Nannys Gesicht, über den man sich nicht Rechenschaft geben konnte.

»Ludwig,« rief Esther und winkte ihm zu sich her, »weißt du, daß Nanny mich und Lybo verlassen will?«

»Ich ahnte in der That so etwas,« antwortete Ludwig. »Nannys Trauerjahr ist ja vorüber, es ist also ganz natürlich, daß sie einen anderen Mann nimmt.«

Nanny blickte hinaus in die mondhelle Augustnacht, ohne zu antworten. Esther that dies an ihrer Stelle.

»Es ist nicht wahr, Nanny heirathet nicht!«

Ludwig lachte laut auf.

»Du bist ein albernes Kind, liebe Esther. Glaubst du, daß Nanny irgend jemand in ihre Plane einweihen werde, so irrst du dich.«

»Doch, mich, nicht wahr, Nanny? Du hast keine Geheimnisse vor deiner Esther?«

Die junge Frau neigte sich vorwärts und sah Nanny in die Augen.

»Du, Esther, solltest es am besten wissen, daß man vor einer Freundin keine Geheimnisse haben kann,« antwortete Nanny, indem sie aufstand und sich auf das Sopha setzte. Sie nahm eine Arbeit zur Hand.

»Ludwig, hilf mir Nanny überreden, damit sie von ihrem Entschlusse, fortzugehen, absteht,« sagte Esther, der Schwägerin folgend.

»Erlaube mir, es nicht zu thun,« bat Ludwig. »Nannys Entschluß, fortzureisen, ist sehr klug, und Gott behüte mich, ihr davon abzurathen.«

Esther wurde böse. Ludwig mußte jetzt den Ausbruch ihres Zornes über sich ergehen lassen. Sie vergaß, daß sich ihr Vater und ihr Mann im nächsten Zimmer befanden und erklärte mit lauter Stimme, daß Ludwig der unhöflichste Mann von der Welt sei, der sein Benehmen gegen Nanny weder vor Gott, noch Menschen verantworten könne und daß man ein Malmberg sein müsse, um sich so aufführen zu können, wie er. Als sie dieses gesagt hatte, eilte sie zu der Thüre hinaus.

Nanny war stille gewesen und hatte keinen Versuch gemacht, Esther zu unterbrechen. Sie fuhr fort zu arbeiten, wie wenn nichts vorgefallen wäre.

Erich und Roman hatten ihre Promenade unterbrochen, um den Worten der jungen Frau zu lauschen; jetzt setzten sie ihren Spaziergang wieder fort, ohne über den Auftritt sich zu äußern.

Ludwig saß noch neben dem Sopha und unterhielt sich damit, Garn abzuschneiden, das er von einem Knäuel abwickelte. Nur die Schritte und die Stimmen der Herren im nächsten Zimmer störten die Ruhe auf einige Augenblicke.

Endlich legte Nanny ihre Arbeit weg und sagte mit sonderbarem Lächeln:

»Ich will gehen, um Esther zu beruhigen und zu besänftigen, da es dein Angriff gegen mich war, der sie erzürnte.«

Nanny stand auf.

»Bleibe einen einzigen Augenblick,« bat Ludwig.

»Was hast du mir zu sagen?«

»Ist es zwischen dir und Roman abgemacht?«

»Ja.«

»Du wirst …« Ludwig bückte sich, um den Knäuel, den er verloren hatte, aufzuheben.

»Nicht seine Frau,« antwortete Nanny ruhig.

Das Blut stieg Ludwig zum Kopfe, wahrscheinlich, weil er sich bückte; es machte ihm Mühe, den Knäuel zu finden, und als es ihm endlich glückte und er sich aufrichtete, hatte Nanny das Zimmer verlassen.


Einige Tage später kamen mit der Post Briefe für Esther und Nanny. Die Familie war im Salon versammelt. Esther erröthete, als sie den ihrigen empfing und steckte ihn unerbrochen in ihre Tasche, was Nanny, die ihren Brief öffnete und las, nicht entging.

»Hier ist ein Brief von meiner Tante, der Oberstin von Gyllenspets, die nach ihrer langen Krankheit blind und lahm geworden ist,« sagte Nanny. »Sie hat mir schreiben lassen, um bei mir anzufragen, ob ich jetzt nicht zu ihr kommen und sie pflegen wolle, da sie so unglücklich geworden ist.«

»Welche Antwort willst du geben?« fragte Esther.

»Es kann wohl nur die eine Antwort geben, daß ich kommen wolle,« entgegnete Nanny. »Sobald ich meine Schwester getroffen habe, reise ich zu der armen Blinden. Sie nahm mich auf, als mein Vater starb, und ich kann somit jetzt eine alte Schuld einlösen und eine christliche Pflicht erfüllen.«

»An was denkst du?« fiel Erich ein; »Frau von Gyllenspets war während deiner Kindheit sehr ungut gegen dich, und sie ist wohl im Alter nicht liebenswürdiger geworden. Ich bitte dich, Nanny, bringe nicht ein Opfer, das dir dein Leben verbittern wird.«

»Verzeihe mir, Erich, Opfer können nicht verbittern, sondern nur Zufriedenheit mit sich bringen,« sprach Nanny. »Ich will die Alte pflegen, bis sie keiner Pflege mehr bedarf, und dies wird mir einen nützlichen Wirkungskreis verschaffen. Zuerst will ich aber Marianne sehen.«

Zwischen Erich und Nanny entstand jetzt ein Meinungsstreit.

Er versuchte es, sie zu überreden, von diesem freiwilligen Märtyrerthum abzustehen, und sie suchte ihm zu beweisen, daß es keines sei.

Während dessen hatte Esther das Zimmer verlassen und war ins Kabinet gegangen, wo sie den eben erhaltenen Brief las.

Er war mit all der leidenschaftlichen Glut, die einem verliebten Jüngling zu Gebot stehen kann, geschrieben. Der Briefschreiber befand sich unter dem Einfluß einer so exaltirten Stimmung, daß diese den Kulminationspunkt fast erreicht zu haben schien. Er betheuerte, wie so sehr und wie so treu seine Liebe sei. Es wäre angenehm, zu wissen, daß weder Zeit noch Umstände auf seine Liebe einwirken würden. Esther sah auch voraus, daß der Tag nicht mehr ferne sei, an dem sie auf Andreas die Liebe übertragen werde, die sie nicht für ihren Mann gefühlt hatte. Sie hätte sich dann gerächt. Die Bande, die sie an diesen unwürdigen Gatten fesselten, würden zerreißen, und dann würde Erich einsehen, daß sie eines anderen Interesses, als desjenigen des Eigennutzes werth gewesen sei.

So dachte Esther, nachdem sie den Brief von Andreas gelesen hatte.

Sie betrachtete ihn als eine Quelle der Freude, allein er war nur ein Balsam für ihre verletzte Eigenliebe und ein Mittel, wodurch sie hoffte, sich an dem Manne rächen zu können, der sie betrogen hatte.


Nanny machte Abschiedsbesuche. Als sie in die Nähe des Eisenwerks kam, bemerkte sie Ludwig, der ihr entgegen kam. Er winkte dem Kutscher zu, stille zu halten.

»Erlaubst du, Nanny, daß ich mit nach Hause fahre?« fragte er.

Nanny bejahte seine Frage, und Ludwig nahm in dem Wagen Platz.

»Du reisest morgen?« begann Ludwig.

»Das thue ich, und du billigst meine Abreise?«

»Wie wird Esther ohne dich leben können?«

»Gut, hoffe ich. Du hast ja gesagt, es würde besser werden, wenn ich nur fort sei.«

»Nanny, ich weiß in diesem Augenblicke nicht, was ich von dir denken soll; habe ich dir Unrecht gethan oder bist du …«

»Eine berechnende Frau,« unterbrach ihn Nanny. »Nimm das Letztere an, so läufst du nicht Gefahr, meinen Charakter idealisirt zu haben.«

»Ich fürchte, dies nicht thun zu können,« antwortete Ludwig mit erzwungenem Lächeln.

»Man kann, was man will, und es pflegt nicht schwer zu sein, Schlechtes von seinen Nächsten zu denken.«

»Du bist mir böse?«

»Nicht im Geringsten, aber ich wünsche, du möchtest deine Auffassung festhalten. Du mußt sie auf solche Beobachtungen gegründet haben, daß sie nicht erschüttert werden kann; sonst hättest du wohl nicht so oft Anderen von deinen Gedanken über mich Mittheilung gemacht.«

»Nanny, jetzt bist du ungerecht. In letzter Zeit habe ich dich nicht angegriffen. Was mein Urtheil über dich betrifft, so habe ich mir nur Eines von der Frau bilden können, die in Erich verliebt war und, obgleich sie Gegenliebe gefunden, Karl heirathete, weil sie ihn für den am meisten begünstigten Sohn hielt. Du warst ferner die Ursache, daß Erich in das Ausland geschickt wurde, um sich zu trösten, und trotz alledem machtest du deinen Mann nicht sehr glücklich.«

»Ich glaubte nicht, daß du so kurzsichtig sein würdest,« äußerte Nanny gleichgültig; »es ist aber recht gut, daß es so ist. Ich werde mich unterdessen wegen deines harten Urtheils über meine Handlungen zu trösten suchen.«

»Nicht so, Nanny,« rief Ludwig aus und nahm sie bei der Hand. »Ich kann mich geirrt haben, und du bist vielleicht die edelste unter den Frauen.«

»Vielleicht,« wiederholte Nanny und blickte Ludwig an. Sein Gesicht wurde purpurroth, als er von ihrem Blicke getroffen wurde.

»Einst, da ich als Wittwe in deines Bruders Haus kam, wünschte ich, wir sollten Freunde werden, du und ich, jetzt aber halte ich es für das Beste, daß Alles so bleibt, wie es während meines Aufenthaltes hier gewesen ist.«

Der Wagen blieb an der Treppe stehen, und Ludwig half Nanny aus demselben.

»Du bist sehr scharfsinnig, Nanny,« sagte er; »ich billige deine Worte. Wir können keine Freunde werden, laß uns also fortfahren, Feinde zu sein.«

Er sah sie an. Sie lächelte statt der Antwort.

Am nächsten Tage hatte Nanny Lybo verlassen, und Esther war in Trauer und Verzweiflung.

 

Brief Esthers an Nanny.

»Lybo, September …

Theure, geliebte Nanny!

Du hast drei Wochen verfließen lassen, ohne mir Nachricht von dir zu geben. Glaubst du vielleicht, ich habe diese Zeit dazu verwendet, um mich über den erlittenen Verlust zu trösten? Wie schlecht kennst du mich, wenn du so etwas voraussetzen kannst!

Ich sollte mich darüber trösten, dich nicht täglich zu sehen? Weshalb sollte ich es thun?

Meiner Umgebung zu Gefallen? Unmöglich.

Ich will Keinem von ihnen zu Gefallen sein. Die ganze Welt ist mir gleichgültig; ich liebe nur dich, meinen Vater und Andreas. Ja, ich liebe ihn, und du darfst nicht darob zürnen.

Du willst wissen, wie ich während dieser Wochen gegen meinen Mann gewesen bin und ob ich mein dir beim Abschied gegebenes Versprechen gehalten habe. Geliebte Nanny, ich habe es versucht, es ist aber das zweite Mal, daß ich ein dir gegebenes Wort gebrochen habe.

In der ersten Woche nach deiner Abreise war ich gegen meinen Mann sehr artig; ich redete ihn an, wenn wir uns trafen; ich sang, wenn er mich darum bat und fragte ihn artig beim Frühstück, ob er mehr Kaffee wünsche. – Ich strengte mich an, so aufmerksam als möglich zu sein; zärtlich und herzlich konnte ich nicht sein. Es war sehr anstrengend, artig zu sein; Gott weiß, ich hätte es nicht ausgehalten, wenn der Gedanke an dich mir nicht Muth eingegeben hätte.

Nun kommen die Folgen meiner Artigkeit, und diese waren recht traurig.

Erich fing an, dieselbe Rolle zu spielen, wie zur Zeit unserer Verlobung. Er lobte meinen Gesang, küßte meine Hände und sagte, er habe mich lieb.

Schöne Sachen wurden nach Hause gebracht, und ich erhielt Alles, womit er mir eine Freude zu machen glaubte. Immer that er zärtlich mit mir; dies verstimmte mich, weil seine Herzlichkeit mich daran erinnerte, wie gut er als Freier seine Rolle gespielt hatte. Ich war sehr gereizt. Ich konnte mich mit dem besten Willen nicht enthalten, Worte zu sprechen, die nicht so ganz freundlich waren.

Du weißt, daß ich Konfekt sehr gerne esse. Mein Mann ist kein einziges Mal in der Stadt gewesen, ohne mir welches heimzubringen. So machte er es auch während unseres Brautstandes. Jedes Mal, wenn er mir eine solche Düte gab, fühlte ich das Blut auf meinen Wangen brennen und den Schmerz in meiner Brust erwachen. Ich nahm dennoch die Geschenke an. Es fiel mir nicht ein, einen Bissen zu essen, sondern ich gab Alles den Gärtnerskindern.

Eines Tages kam er von G. zurück und hatte eine schöne Schachtel voll des ausgezeichnetsten Konfekts bei sich. Er gab sie mir, küßte meine Hand und sah mich mit demselben zärtlichen Ausdruck an, womit er einst mein Herz eroberte.

Dies betrübte und schmerzte mich. Ich verabscheue allen Schein, alle Falschheit und eilte von ihm hinweg, um nicht versucht zu sein, Worte auszusprechen, die du nicht gebilligt hättest.

Auf dem Hofe sah ich alle unsere Tauben umherspazieren. Sogleich warf ich ihnen die hübschen Bonbons zu, und als die Schachtel leer war, rief ich das Töchterlein des Gärtners herbei und schenkte sie ihr.

Ich hatte keine Ahnung davon, daß ich beobachtet wurde, und mein Erstaunen war groß, als Erich neben mir stand und mich fragte:

»Warum verschenktest du die Schachtel und gabst ihren Inhalt den Tauben?«

»Weil ich es nicht selbst haben wollte,« antwortete ich.

»Und der Grund dazu?«

Ich dachte nicht daran, einen zu erdichten, sondern sagte ihm ehrlich, es sei mir unangenehm, Zärtlichkeitsbezeugungen von ihm anzunehmen. Sie erinnerten mich auf peinliche Weise an die Zeit, wo er Gefühle, die seinem Herzen fremd waren, geheuchelt habe.

Theure Nanny, sei nicht betrübt, wenn du diesen Brief liesest; du wirst zugeben, daß Erich fragte und ich antworten mußte. Diese Antwort wurde mit der größten Ruhe gegeben. Der Gedanke an dich hielt alle bitteren Worte zurück. Ich sprach eine Wahrheit aus, das war Alles.

Er stand lange schweigend da. Endlich sagte er, ohne mich anzusehen:

»Es giebt also keinen Ausweg für mich, um unsere unnatürliche gegenseitige Stellung zu verändern. Ich habe gleichwohl die Hoffnung genährt, daß du mir den Mangel an Liebe, den ich bei unserer Heirath empfand, verzeihen könntest und daß durch deine Zärtlichkeit meine Neigung sich zu dem entwickeln werde, was sie vom Anfang an nicht war. Diese Hoffnung kann also nicht verwirklicht werden?«

»Nein, niemals,« erwiderte ich.

Jetzt sah er mich an. Liebste Nanny, sein Blick war so betrübt, daß es mir leid um ihn that. Allein diese Regung von Mitleiden war nur vorübergehend; ich wandte mich ab, da ich mich erinnerte, wie dieses Gesicht gelogen, wie diese Augen mich betrogen hatten, und ich dachte: »Er spielt nur eine Rolle.«

»Du willst nicht versuchen, deinen Unwillen zu überwinden?« fragte er.

»Ich wünsche, daß wir so mit einander verkehren, wie wir es seit unserer Hochzeit gethan haben,« war meine Antwort. Er entfernte sich, ohne etwas hinzuzufügen.

Ich war weder mit Erich noch mit mir selber zufrieden; aber ich konnte weder lügen, noch heucheln, wie er es kann. Weißt du, liebe Nanny, ich blieb noch lange da und grübelte. Es war mir unmöglich, meine Stellung als Erichs Frau in demselben Lichte zu sehen, wie du sie mir vorgestellt hattest. Ich werde nie vergessen, daß es meine Pflicht ist, einem Manne, dem ich mißtraue, Aufmerksamkeit zu erweisen. In diesem Falle werde ich mich derselben Falschheit, welche er mir gegenüber an den Tag legte, schuldig machen. Giebt es wirklich eine Nothwendigkeit, die uns zur Heuchelei zwingt? Ich glaube es nicht. Mir scheint es sogar unmoralisch zu sein, daß Erich und ich vor den Augen der Welt die Ehegatten spielen, da wir doch vor Gott und uns selbst es nicht sind. Ich werde ihm nie glauben können, sondern in jedem Worte, in jeder Miene Verstellung sehen. Wenn er sich freundlich zeigt, so argwöhne ich immer, daß hinter seiner Freundlichkeit ein verborgener Wunsch lauere, den Pakt, welchen Papa vorsichtigerweise aufgesetzt hat, zu umgehen. Solcher Argwohn erbittert meine Gesinnung. Als sich Erich entfernt hatte, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, seine Betrübniß habe ihren Grund im Mißlingen dieses Versuchs.

Nanny, es sind jetzt bald zwei Jahre, seitdem ich mich verheirathete. Ich war damals erst achtzehn Jahre alt, ein vertrauensvolles Kind, dem jede Erfahrung mangelte. Jetzt komme ich mir vor, wie eine alte Frau, die ihre Illusionen und ihren Glauben an die Menschheit verloren hat. Das Mißtrauen ist jetzt eben so groß, als meine Arglosigkeit es damals war. Um meinen Mann nicht zur Heuchelei zu zwingen, werde ich versuchen, den Pakt aufzuheben. Was kümmert mich dieses Geld, das mein Unglück verursacht hat! Mag er es besitzen und die Früchte seines Betruges genießen; meinetwegen, aber er soll mich nur mit seiner falschen Zärtlichkeit verschonen. Morgen reise ich in die Stadt, spreche mit meinem Vater und dem Bürgermeister, damit der Pakt aufgehoben werde; dann mag er mein Geld nehmen und sich des Besitzes desselben erfreuen.

Warum hast du mich verlassen, Nanny? Ich habe jetzt niemand mehr, an welchen ich mich anschließen kann, wenn mein Herz der Hingebung bedürftig ist. Es giebt jetzt niemand mehr, der dieses abscheuliche Lybo erträglich macht. Erich hat mehrere meiner früheren Jugendbekannten eingeladen; aber sie langweilen mich, und ich habe mir diese Besuche verbeten. Ich liebe die Einsamkeit, sie ist mein einziges Glück.

Tante Juliana und Hilma G., die Nichte der Tante, kamen letzten Sonnabend nebst Frau Granstedt und ihren Töchtern zu mir. Es war ein fürchterlicher Tag. Sie blieben beim Mittagessen, da sie behaupteten, von Erich eingeladen zu sein. Die Pfarrfamilie blieb bis spät Abends, die Tante und Hilma sind noch hier.

Frau Granstedt und die Tante Juliane erzählten die Lebensgeschichte eines Menschen nach der anderen und ermüdeten mich so, daß ich kaum höflich bleiben konnte. Die Pröpstin versuchte es mehrmals, das Gespräch auf dich und Papa zu lenken; ich aber machte diesen Versuchen ein Ende, so daß dieselben nicht erneuert wurden. Wenn man jemanden so lieb hat, wie ich dich, so ist es einem zuwider, den theuern Namen von solchen Lippen nennen zu hören. Als die Frau einsah, daß sie nicht, ohne meinen Unmuth zu erregen, von dir sprechen konnte, befaßte sie sich mit Erichs Stiefmutter. Ich war ein Kind, als mein verstorbener Schwiegervater deine Schwester Marianne heirathete, und ich befand mich stets auf Grythamra, wo ich erzogen wurde. Nach meiner Konfirmation zog ich in die Stadt, und da war der alte Malmberg schon todt. Das ist der Grund, daß ich mich deiner Schwester nicht erinnern kann, obgleich Papa und der alte Malmberg intime Freunde waren. Alles, was ich von ihr gehört habe, beschränkt sich darauf, daß sie ungewöhnlich schön, fröhlich und angenehm sei.

Die Pröpstin sprach auch von ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit, beschrieb, wie verliebt mein verstorbener Schwiegervater und wie prächtig es damals auf Lybo gewesen sei. Die Worte der Frau Granstedt enthielten nur Lob, was ich vorher nie gehört hatte. Marianne Malmberg war also eine ganz ungewöhnliche Persönlichkeit. Die Pröpstin gab mir zu verstehen, es habe sich im letzten Jahre manche geheimnißvolle Begebenheit auf Lybo zugetragen, besonders während der Zeit, wo du da warst.

Ihre Erzählung beunruhigte mich, und so bald ich nur an die Stiefmutter meines Mannes dachte, war es mir, als müßte ich sie fürchten. Vergebens las ich die Briefe, die sie mir geschrieben und die mich entzückten, als ich sie empfing; sie konnten mich nicht beruhigen, und ich träumte die ganze Nacht von Marianne Malmberg.

Am folgenden Morgen machten Tante Juliane, Hilda und ich einen Spaziergang. Wiederum drehte sich das Gespräch um die Stiefmutter Erichs.

»Sie ist die schönste Frau, die man sich denken kann,« erklärte Tante Juliane feierlich; »und von so ausgezeichnetem Charakter, daß man mit ihr niemand vergleichen kann. Sie ist froh und witzig, gegen Alle, Männer und Frauen, liebenswürdig, so daß ihr alle mit Freude den ersten Platz einräumen. Wenn du ihr doch ähnlich wärest, liebe Esther! dann wäre deine Ehe anders geworden, als sie jetzt ist. Meine persönliche Ueberzeugung ist es, daß Mariannes Stiefsöhne nie als verheirathet glücklich werden können, weil sie immer Vergleichungen zwischen ihren Frauen und Marianne anstellen müssen, und diese fallen stets zum Nachtheile der letzteren aus.«

So sang die Tante der Abwesenden ein Loblied während der ganzen Dauer des Spaziergangs, und als sie schwieg, stimmte Hilda in den Lobgesang über dasselbe Thema ein. Ich wurde immer unruhiger. Vielleicht war es der Neid. Marianne schien mir Die gewesen zu sein, welche durch ihre Vollkommenheit verursacht habe, daß Erich mich nicht liebe, und ich dachte mit Schrecken daran, daß sie einmal auf Lybo auftreten und von allen als ein höheres Wesen angebetet würde.

Liebe Freundin, sage mir etwas von deiner Schwester. Es ist mir, seitdem man von ihr gesprochen hat, als wandelte ich in einer unerklärlichen Finsterniß, worin sich etwas verbirgt, das ich wissen sollte. Was ist es? Sage es mir, du, die einzige Freundin, der ich glaube und zu der ich volles Vertrauen habe. Vertrauen? Hab ich es immer zu dir gehabt? Liebe, liebe Nanny, ich bin nicht immer aufrichtig gewesen. Kannst und willst du mir dies verzeihen? Ich hoffe es, sonst wäre ich zu bedauern.

Lasse mich beichten.

Ich weiß kaum, mit welchen Eigenschaften mich die Natur begabt hat; ich weiß nur, daß sie mir ein großes Bedürfniß gegeben hat, zu lieben und ein inniges Verlangen, geliebt zu werden.

Du hast die Geschichte der vieljährigen Neigung meines Vetters Andreas zu mir gehört. Als sie zuerst auftauchte, war ich ein Kind, und später nahm Erich, schon lange, ehe er um mich warb, alle meine Gedanken in Anspruch. Ich dachte an Andreas nicht öfter, als dann, wenn er mich mit seiner Liebe quälte, denn diese war mir recht zuwider. Ich sagte ihm tausendmal, ich werde nie einen Anderen, als Erich lieben können, und da behauptete er, ich verschwende meine Bewunderung an einen Unwürdigen. Ich lächelte darüber. Der arme Andreas schien mir sehr kühn zu sein, weil er hoffte, ich könne ihn lieben.

Bei unserer Nachhochzeit hatte ich mit Andreas ein kurzes Zwiegespräch. Ich war betrübt, und er schwor, es liebe mich Keiner auf der Welt so wie er.

Da ich in meiner ersten Liebe betrogen worden war, so enthielt diese Versicherung für mich einen süßen Trost und rettete mich vor Verzweiflung. Ich dachte seither oft an ihn, und endlich, als seine Mutter krank war, schrieb ich ihm. Als du unsern Briefwechsel entdecktest, hatte er schon lange bestanden. Ich vergaß meine unglückliche Ehe und war sogar glücklich, als ich seine Briefe las. Sie machten all meine Freude aus. Du zwangst mir das Versprechen ab, nicht mehr zu schreiben.

Meine Freundin, dies zu halten, wurde mir unmöglich. Ich schrieb und habe Briefe von ihm empfangen. Ich begreife nicht, wie ich, getrennt von dir, sonst hätte leben können. Wen beleidige ich dadurch? Meinen Mann? Kann er wirklich fordern, seine Frau solle an Den zu schreiben aufhören, welchen sie lieb hat? Nicht doch. Ich gebe ihm ja das Recht, Briefe zu wechseln, mit wem er will, und ich vermuthe, er habe Verstand genug, um ebenso liberal gegen mich zu sein, besonders, da er mich nicht einmal gefragt hat, von wem ich Briefe erhalte.

Soll ich denn des einzigen Trostes, den mir das Leben bietet, beraubt sein? Nein, das wäre zu weit gegangen.

Es ist für mich ein Bedürfniß, zu erfahren, daß ich geliebt werde, und Andreas' Briefe gewähren mir diese Gewißheit. Du hast mich lieb, ich weiß es, aber nicht so, wie Andreas. Ich bin sein Alles. Nimm diese süße Gewißheit hinweg, und ich werde nicht mehr leben können.

Mein Herz schlägt unruhig, weil es fühlt, daß du sehr mißmuthig wirst; ich muß aber dennoch die ungeschminkte Sprache der Wahrheit reden. Du wirst mir deine Freundschaft nicht entziehen, weil du eine solche Grausamkeit nicht wirst begehen können, und ich flehe deshalb: verzeihe deiner armen Esther, die gewiß nie mehr den Frieden und das Glück, welches sie vor ihrer Heirath genoß, wiederfinden wird.

Glaube auch nicht, daß meine Aufrichtigkeit gegen Erich ihn unglücklich gemacht hat. Nein, er scheint vergnügter und zufriedener zu sein, seitdem er die Rolle des liebenden, zärtlichen Gatten nicht mehr zu spielen braucht. Jetzt geht Jedes von uns seine eigenen Wege; wir treffen uns bei den Mahlzeiten und sind dann höflich, wechseln einige gleichgültige Worte, und dann ist es zu Ende. Erich ist immer guter Laune und wird gewiß noch froher sein, wenn der Pakt aufgehoben ist. Er erhält dann das Geld zur Verfügung, um damit die Angelegenheiten des Eisenwerkes zu ordnen, die, wie ich gehört habe, diese Hülfe sehr nöthig haben.

Sei wegen Erichs nicht betrübt und auch nicht wegen der Korrespondenz mit Andreas. Ersterer ist am glücklichsten, je weniger er an mich zu denken braucht; des Letzteren ganzes Glück machen meine Briefe aus.

Andreas bedarf meiner Aufmunterung, ich bedarf seiner Verehrung; wir sind einander unentbehrlich!

Schreibe mir sogleich. Ich brenne vor Ungeduld, einen ausführlicheren Brief von dir zu erhalten, als denjenigen, den du mir von Kopenhagen aus schriebst, wo du deine Schwester getroffen hast. Ich adressire diesen nach Stockholm, wie du mich ersucht hast.

Vergiß nicht, daß ich die Tage zähle, bis ich einige Zeilen von dir erhalte.

Deine Esther.

P. S. Papa ist nur ein einziges Mal hier gewesen, seitdem du fort bist; aber ich habe Tante Karolina mehrmals besucht. Wie lieb ist mir jetzt Grythamra geworden, wo ich meine glückliche Kindheit verlebte! Ich wäre glücklich, wenn ich dorthin zurückkehren könnte!«


»Wie nachdenklich du während des Lesens jener Epistel ausgesehen hast, liebe Nanny,« äußerte Marianne Malmberg zu ihrer Schwester, als sie in ihrem gemeinsamen Zimmer in Rydbergs Hotel beisammen saßen. »Von wem ist der Brief?« setzte Marianne hinzu, sich gegen die Rücklehne des Sophas zurückbeugend.

»Von Esther,« antwortete Nanny und steckte den Brief in die Tasche.

»Die Frau meines Sohnes!« Marianne brach in ein schallendes Gelächter aus. »Gestehe, daß dies komisch klingt.«

Nanny antwortete nicht, sondern sah zum Fenster hinaus.

»Nun, was schreibt das liebe Kind? Sie ist ja hübsch und, wie ich vermuthe, auch glücklich?«

»Glaubst du?« Nanny sah die Schwester an.

»Warum sollte ich daran zweifeln?« Mariannas helle, strahlende Augen schauten in die Nannys. »Du wirst dir doch nicht einbilden, Erich seufze noch nach dir? Meine Schwester mit ihrem scharfen Verstande sollte so etwas nicht voraussetzen.« Marianne streckte die Hand aus und konnte das Lachen nicht halten.

»Komm, sage mir, warum du mich so mißmuthig ansiehst.« Nanny setzte sich zu der Schwester. Marianne zog sie mit sanfter Gewalt zu sich nieder.

»Was macht dich so mürrisch? Bist du über deine Schwester erzürnt?«

»Gott gebe, ich könnte es sein; aber du hast seit unserer Kindheit denselben Einfluß auf mich, wie auf alle Andern ausgeübt. Ich liebe dich deshalb, wenn ich auch deinen Charakter und deine Handlungen nicht billigen kann.«

»Was mißbilligst du eigentlich? Meinen Wunsch, das Verhältniß meines Stiefsohnes zu seiner jungen Frau zu erfahren? Er heirathet, ohne mich um meinen Rath zu fragen, und ich kenne seine Frau nicht. Ich bin neugierig, das ist Alles. Er hat eine junge, reiche und hübsche Frau; ich vermuthe, daß er glücklich ist, und das findest du so entsetzlich? Ah, ma chère, ich glaube, daß dich sein Glück ärgert und daß du mir deshalb grollst?«

»Sprechen wir von etwas Anderem,« unterbrach sie Nanny.

»Meinetwegen,« sagte Marianne. »Ich kann meine Neugierde leicht zügeln, obwohl ich gerne Erich als Ehemann kennen lernen möchte. Er hat einen großmüthigen Charakter und ich liebe ihn wegen seines Edelmuthes gegen dich und deinen Mann. Apropos, ich möchte nun wissen, ob du in deiner Halsstarrigkeit noch immer nicht bei mir bleiben, sondern dich zu der Tante Gyllenspets begeben willst?«

»Du solltest mich kennen und wissen, daß ich kein Gnadenbrod annehmen werde, nicht einmal von meiner Schwester.«

»Du bist närrisch, Nanny,« rief Marianne ungeduldig und stieß sie von sich. »Ich kann einigermaßen verstehen, daß du nicht bei Erich bleiben wolltest, obgleich ich auch in dieser Beziehung dein Zartgefühl nicht ganz begreifen kann; aber daß du dich weigerst, bei deiner Schwester zu bleiben, ist mir unbegreiflich. Nennst du es ein Gnadenbrod annehmen, wenn die eine Schwester ihren Ueberfluß mit der andern theilt? Das wäre unwürdig. Denke dir das Verhältniß umgekehrt, so würde es mich nicht im Geringsten drücken, mit dir zu theilen, und es geht über meine Fassungskraft, wie du anders raisonniren kannst. Also, du gehst mit mir nach Paris, wo ich den Winter über zu bleiben gedenke. Im Sommer machen wir eine Reise in die Schweiz und kehren im Herbste nach Schweden zurück. Ich werde dann ein Landgut in unserer Heimath, das schöne Blekinge, kaufen, und dort lassen wir uns nieder und verbringen ein idyllisches Leben. Wir werden Lybo besuchen und unsere Zeit sehr angenehm zubringen. Nun, Nanny, ist die Sache abgemacht? Du wirst mich böse machen, wenn du dich meinen Wünschen widersetzest. Du wirst wohl einsehen, daß es mir angenehmer wäre, wenn du bei mir sein würdest, als wenn ich allein bin. Ich liebe dich trotz aller deiner Eigenschaften.«

»Ich danke dir, Marianne,« fiel Nanny ein und küßte die Wange der Schwester; »ich gehe nicht mit dir. Ich habe versprochen, zu der Tante zu gehen und halte immer, was ich versprochen habe. Die Alte ist blind und braucht Gesellschaft. Es ist meine Pflicht, sie zu pflegen, da sie in meiner Kindheit sich meiner annahm.«

»Ach was!« rief Marianne lachend aus. »Du hast eine wahre Leidenschaft für das Märtyrerthum. Die Tante Gyllenspets nahm sich freilich deiner an, als unser Vater starb, aber du kannst wohl nicht vergessen haben, wie sie dich während der Zeit behandelte, als du unter ihrer Leitung warst. Man hat das Himmelreich verdient, wenn man einmal mit ihr zusammengelebt hat; allein man verdiente es auch, nie in den Himmel zu kommen, wenn man den Versuch noch einmal wagt. Freiheit und Freude, ein angenehmes Leben an meiner Seite werden dir angeboten, und du ziehst es vor, die Krankenwärterin der Oberstin Gyllenspets zu werden. Nanny, du hast mich mit dieser Wahl tief verletzt, deine Liebe zu mir ist nicht viel werth.«

Marianne stand auf und trat ans Fenster, wo sie stehen blieb. Nanny blieb sitzen.

»Marianne, du vergissest, daß die Alte blind ist und mich braucht, und du bist gesund und kannst ohne mich froh und glücklich leben.«

»Verschone mich mit den Romanenphrasen, an die ich nicht glaube!« rief Marianne. »Du hast deine Wahl einmal getroffen, und wir wollen nicht mehr davon reden. Heute Abend gehen wir in die große Oper, morgen ist das Frühstück beim Consul, und übermorgen reise ich. Ich bin eine ganze Woche hier geblieben in der Hoffnung, dich überreden zu können. Diese Hoffnung schlug fehl, und deshalb verlasse ich diese unerträgliche Stadt, die mich nur immer an das letzte Lebensjahr meines armen Vaters erinnert. Wie viel klüger wäre es nicht gewesen, wenn ich auf Lybo einen Besuch gemacht hätte.«

Marianne klingelte, ein Kellner trat herein; sie bestellte einen Wagen, da sie im Thiergarten zu Mittag essen wollte.

»Du leistest mir wohl Gesellschaft?« fragte Marianne, ohne nach der Schwester sich umzusehen.

»Gewiß thue ich es,« antwortete Nanny und ging auf sie zu. »Bist du erzürnt?« fragte sie mit weicher Stimme.

»Wozu würde das dienen?« entgegnete Marianne, halb lächelnd. »Du hast Freude am Bizarren, und ich lerne dich nie verstehen; bisweilen ärgert es mich, aber du bleibst doch immer meine gleich liebe Schwester.« Sie küßte Nanny auf die Stirne und setzte hinzu: »Ja, richtig, Monsieur Brigue und unser Vetter Gyllenspil begleiten uns zum Thiergarten, ich habe sie eingeladen.«

Marianne ging in ihr Zimmer hinein.

Ein strenger Zug zeigte sich auf Nannys blassem, feinem Gesicht, als sie leise sagte:

»Weshalb liebe ich sie? Flüchtig, eitel und oberflächlich, wie sie ist, versteht sie blos Eroberungen zu machen, nicht aber zu lieben.« Nannys Gesicht klärte sich auf, als sie hinzufügte: »Trotz aller ihrer Fehler ist sie aber gut und aufrichtig.«

Auch Nanny ging jetzt in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Seitdem sie ihre Tochter verloren hatte, kleidete sie sich vorzugsweise schwarz, aber man kann Schwarz auf verschiedene Art tragen. Der dunkle Anzug kann einen anderen Charakter annehmen, je nachdem die verschiedenen Persönlichkeiten es verstehen, demselben ein individuelles Gepräge zu geben. Nanny sah immer elegant aus, hauptsächlich deshalb, weil ihre Gestalt etwas äußerst Harmonisches hatte und ihr Anzug einfach war.

Marianne befand sich bereits in dem Salon, als Nanny heraustrat. Ihre Toilette war ebenso prachtvoll, wie ihre Schönheit. Sie liebte gewisse Farben und all den Flitter, den ihre Schwester verschmähte. Marianne liebte es, sich sehen zu lassen, und ihr Anzug war dem entsprechend und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre Person.

 

Brief Nannys an Esther.

»Mein unvernünftiges Kindlein! Obgleich nur vier Jahre älter als du, komme ich mir dennoch einige Jahrzehnte älter vor, und doch könnte ich nie so mißtrauisch sein, wie du es gegen deinen Mann bist. Dein Mann! Armer Erich, worin soll wohl sein häusliches Glück bestehen! In nichts, da du über deinen halsstarrigen Sinn nichts vermagst. Ich werde auch nicht mehr von euch als einem Ehepaar reden.

Du beschuldigst ihn der Verstellung, wenn er gegen dich freundlich ist. Ungerechte Esther! Erich wünscht nicht, den Pakt zu umgehen, sondern dein Herz zu erobern, damit euere gegenseitige Stellung innig und freundschaftlich werden möchte, was sie aber nicht ist.

Freundschaft und Herzlichkeit sind jedoch nicht nach deinem Geschmack. Du magst es also so haben, wie du es wünschest. Einst, Esther, wirst du deine eigenen Pflichten in einem anderen Lichte sehen, und dann – wird es vielleicht zu spät sein, das unnatürliche Verhältniß zwischen euch zu ändern.

Danke Gott, daß Erich sich auf die Arbeit verlegte. Er hätte seine Neigung auf einen andern Gegenstand richten können, was für euch Beide ein Unglück gewesen wäre. Ich sage dir noch einmal: Erich Malmberg ist eine edle Natur trotz seiner Fehler, und du solltest dir Mühe geben, ihn kennen zu lernen. Denke doch nicht so unaufhörlich an seine Fehler; beschäftige dich mit seinen guten Eigenschaften und halte dich nicht für so sehr übervortheilt, um berechtigt zu sein, ihn zu verurtheilen. Doch, was schreibe ich jetzt? Worte, welche verhallen werden, ohne den geringsten Eindruck zu hinterlassen. Wir wollen daher das Blatt umwenden.

Du erschrickst, weil meine Schwester, die Stiefmutter deines Mannes, von Allen, die Pröpstin mit inbegriffen, gelobt wird. Ich dagegen wurde gefürchtet, weil ich verleumdet und als ränkevoll und berechnend geschildert worden bin.

Was willst du, daß ich von meiner Schwester sagen soll, die ich so lieb habe? Daß sie schön ist, obgleich sie mehrere Jahre älter ist, als ich, daß sie lustig, witzig, angenehm und unwiderstehlich, daß sie gut und aufrichtig ist – aber dies Alles hat man dir schon gesagt. Ich kann daher nur in das allgemeine Lob über sie einstimmen. Sie rechtfertigt Alles, was man von ihr sagt; und daher kommt es eben, daß sie von Allen, Männern und Frauen, Guten und Schlechten, geliebt wird. Wo Marianne ist, da flieht die Langeweile, denn die Freude ist immer an ihrer Seite. Ihr Mann liebte, bewunderte, vergötterte sie als das höchste Gut im Leben. Ihre Stiefsöhne beteten sie an, und die Dienstleute betrachteten sie als einen Engel.

Dies, mein Liebling, ist Alles, was ich dir von der Stiefmutter deines Mannes zu erzählen habe. Daß auf Lybo Begebenheiten vorgefallen sind, welche nur die Mitglieder der Familie kennen, dies ist gewiß; doch so ists überall in der Welt, und diese Begebenheiten haben nichts mit der Gegenwart zu schaffen. Nun kommen wir zum Schlusse des Briefes, zu deiner Beichte. Ich gestehe, daß sie mich schmerzte und sehe meine Ohnmacht bekümmert ein. Du hast, trotz deines Versprechens, den Briefwechsel mit Andreas fortgesetzt. Das war treulos, Esther. Deine Freundschaft für mich, das Vertrauen, welches du in die Richtigkeit meines Urtheils setztest: Alles scheint deinem Interesse für ihn untergeordnet zu sein, da du nicht von einer Handlungsweise abstehen kannst, welche deine Vernunft und dein Pflichtgefühl mißbilligen müssen. Ich bedaure, daß dies der Fall ist, es ist aber auch das Einzige, was ich thun kann. Ich glaubte jedoch, deine Anhänglichkeit an mich werde dich von Allem abhalten, was mit deinen Pflichten als Gattin in Widerspruch ist. Ich habe mich geirrt. Sie hat nichts zu deinem und Erichs Glück beigetragen, sie ist also von keinem Werthe, sie ist ein Spielzeug, mit welchem du dich in Ermangelung eines andern belustigst. Es ist daher gut, daß wir getrennt sind.

Daß du dich für meine Person interessirst, weiß ich, wiewohl du mich nicht so liebst, wie ich hoffte; und deshalb will ich dir erzählen, wie es mir geht. Bei meiner Tante angekommen, fand ich diese sehr verändert, nicht blos körperlich, sondern auch geistig. Meine Anwesenheit war ihr sehr vonnöthen, denn sie hatte nur gemiethete Pflegerinnen, der harte, herrschsüchtige Sinn war gebrochen, und sie fühlte es tiefer, als irgend jemand, daß sie hülflos und von Anderen abhängig sei.

Die Pflicht, welche ich übernahm, ist sehr schwer; ich hoffe jedoch, sie werde innere Zufriedenheit mit sich bringen. Seitdem Gott mein Kind mir genommen, besitze ich niemand, für den ich zu leben habe; so will ich denn meine Kräfte dieser armen blinden und lahmen Alten widmen. Einige Tage sind seit meiner Ankunft verflossen, und ich fühle mich in der Ausübung meiner Pflicht zufrieden. Meine Anwesenheit ist hier von größerem Nutzen, als sie auf Lybo war.

Schreibe mir, sobald dein Herz dich daran mahnt, und erinnere dich zuweilen an die Rathschläge, die dir gegeben wurden von deiner Freundin

Nanny.«


Zur gleichen Zeit, als obiger Brief von Upsala abging, sandte Nanny dem Kandidaten der Medizin, Berg, ein Billet folgenden Inhalts:

 

»Herr Kandidat! Wenn Ihre Beschäftigung es Ihnen erlaubt, so erbitte ich mir auf heute Nachmittag um 5 Uhr Ihren Besuch. Ich wohne bei meiner Tante, der Oberstin Gyllenspets.

Mit Achtung
Nanny Malmberg.«

 

Die Oberstin Gyllenspets machte ihr Nachmittagsschläfchen, als sich der Kandidat Berg bei Frau Malmberg melden ließ. Er wurde in ein Kabinet geführt, das im Geschmacke des achtzehnten Jahrhunderts möblirt war. Dicke, gelbe Seide bedeckte die weißlackirten, mit vergoldeten Ornamenten verzierten Möbel. Nanny saß in einem der großen Lehnstühle. Sie nahm sich besonders hübsch aus an der hellgelben Tapetenwand. Andreas sah sie nicht zum ersten Male, es kam ihm aber doch so vor, weil er sich nicht erinnern konnte, sie bei Esthers Nachhochzeit auch nur mit einem einzigen Blicke gesehen zu haben. Er hatte damals nur für Esther Herz und Sinn.

Als sich Nanny bei seinem Eintritt erhob, blieb Andreas wie geblendet von ihrer Erscheinung, stehen. Hätte man ihn gefragt, ob er Nanny schön finde, so würde er es gewiß verneint haben; und doch machte sie auf ihn einen Eindruck, wie niemand sonst zuvor. Er konnte sich seine Gefühle nicht klar machen; es kam ihm vor, als müsse er sie entweder hassen oder lieben. Nanny blieb auch, die Augen auf Andreas gerichtet, einen Augenblick stehen.

Sie hatte schon einmal früher dieses Gesicht gesehen, aber blaß und entstellt von Gemüthsbewegung. Damals schien es ihr mehr häßlich als schön zu sein und seine ganze Gestalt hatte etwas Knabenhaftes und nichts Männliches an sich gehabt. Die Jahre, welche dazwischen lagen, hatten Andreas sehr verändert. Die Gesichtszüge waren jetzt ausgebildet, das Kinn bärtig, die Brust gewölbt und die Schultern breit. Die Stirne war wolkenlos und die Augen ruhig und ernst. Er war ein stattlicher junger Mann geworden.

Nach Verfluß von einigen Sekunden trat ihm Nanny ein paar Schritte entgegen und sagte mit verbindlichem Lächeln:

»Meine Art, Sie zu begrüßen, muß Ihnen sonderbar erscheinen; allein ich muß in Ihre Augen blicken, um zu erforschen, wie viel Sie von dem Charakter Ihrer Mutter besitzen. Mir schien dies nothwendig, ehe ich Sie willkommen heiße.«

»Und ich,« sagte Andreas in weniger sicherem Tone, »wünschte die Gesichtszüge derjenigen, die meine Mutter während ihrer Krankheit so zärtlich verpflegte, kennen zu lernen. Ich habe es Ihnen zu verdanken, daß meine Mutter vom Tode gerettet wurde.«

Andreas küßte ehrerbietig die kleine Hand, die ihm gereicht wurde.

»Hüten Sie sich, Herr Kandidat, unsere Bekanntschaft mit Danksagungen zu beginnen, denn Sie könnten sie vielleicht damit beschließen, mich zu verabscheuen.«

»Ich fürchte beinahe, daß dieses der Fall sein wird,« sprach Andreas lächelnd. »Ich weiß nicht, was Sie mir zu sagen haben, aber als ich vor Ihnen stand, sagte mir eine innere Stimme, daß Sie entweder die Schöpferin oder die Zerstörerin meines Glückes werden würden.«

»Ich bin überzeugt, daß das Letztere der Fall sein werde. Ich habe Sie gebeten, hierher zu kommen, um Ihnen etwas zu rauben, was jetzt Ihr Glück ausmacht.«

Andreas' Gesicht nahm eine lebhaftere Färbung an. Er lehnte sich zurück auf den Rand des Stuhles, worauf er Platz genommen hatte. Nanny betrachtete ihn einen Augenblick und sagte dann ohne jede Einleitung:

»Sie lieben Esther und wechseln Briefe mit ihr. Sie vergessen selbst und lassen auch sie es vergessen, daß dieser Briefwechsel mit ihren Pflichten als Gattin im Widerspruch ist; darum müssen Sie aufhören, an Ihre Cousine zu schreiben.«

» Müssen? Dieses Wort steht nicht in meinem Wörterbuch,« antwortete Andreas stolz. »Esther ist die Tochter meines Onkels, und ich trete Niemand zu nahe, wenn ich ihr schreibe.«

Nanny lächelte.

»Sie hoffen also, daß ich glaube, Sie schreiben nur an Ihre Cousine Esther?« sagte Nanny. »Mag sein. Wir wollen das Thema einstweilen verlassen und von etwas Anderem reden. Haben Sie die Mythe von der verbotenen Frucht vergessen? Es liegt Vieles darin, was Beherzigung verdient. Denken wir einen Augenblick darüber nach. Der Mensch war glücklich, schuldlos und gut, so lange er ohne Bewußtsein des Bösen lebte, aber mit der Erkenntniß desselben entfloh das Glück und die Freude. Er wurde aus dem Paradiese vertrieben, wo er reine Freuden genossen hatte und verurtheilt, friedlos in der Welt umherzuirren, getrieben von seinen Leidenschaften und schwer um sein Dasein kämpfend. Der Engel mit dem Flammenschwerte bewachte die Pforte des Paradieses, und er steht noch immer da und ruft den Menschen zu: ›Die Pforte des Glückes bleibt demjenigen verschlossen, der von der verbotenen Frucht kostet.‹ Die Stimme des Engels wiederhallt in unseren Herzen, wenn wir das Verbotene erstreben, und Frieden und Glück entfliehen vor dem Flammenschwerte der Gewissensbisse. Nun, Herr Kandidat, was verdient wohl der Mann, der eine Frau aus dem Paradiese ihrer Unschuld lockt? Verdient er je, eine irdische Freude zu genießen, von seinen Mitmenschen geehrt, von den Seinigen geliebt zu werden? Ich glaube es nicht. Wenn ein solcher Mann eine Mutter hätte, so müßte sie über ihn weinen, weil er der Sclave seiner Leidenschaften geworden ist und ein schuldloses Wesen an den Rand des Verderbens gebracht hat. In jedem Lande und bei jedem Volke wird der Mann, der mit der Frau eines Andern verliebt spricht, als ehrlos bezeichnet. Man thut wohl daran, denn er hat seine Ehre befleckt und die Geliebte beschimpft, indem er sie von dem Wege der Pflicht abwandte. Sie, Herr Kandidat, haben sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht.«

»Ich?« rief Andreas und sprang empor. Sein Antlitz war zornglühend.

»Sie haben verliebt mit Esther gesprochen, obwohl sie die Frau Malmbergs ist,« fuhr Nanny fort. »Sie haben mit ihr Briefe gewechselt ohne Vorwissen des Mannes; und Sie haben in Ihren Briefen von Gefühlen gesprochen, die für den Gatten beleidigend sind, dem Esther freiwillig Liebe und Treue zugeschworen hat. Sie kann Ihre Briefe ihrem Manne nicht zeigen, wenn er es verlangen würde; Sie haben sie also zur Verstellung genöthigt, und Sie sind im Begriffe, das moralische Gefühl Esthers gänzlich zu verderben, was ein Mann mit nur mittelmäßigen Begriffen von Ehre und Pflicht sich niemals erlauben würde.«

»Sie gehen etwas zu weit, wenn Sie in so schonungsloser Weise unseren Briefwechsel zu etwas Unrechtem stempeln,« rief Andreas.

»Ich stemple ihn zu nichts Anderem, als wie Sie auch!« unterbrach ihn Nanny. »Was würden Sie sagen, wenn Erich Malmberg diesen Brief gefunden hätte?« Nanny zog einen Brief hervor und zeigte ihn Andreas, indem sie hinzufügte: »Ich habe ihn aus Esthers Chiffonnière genommen, ehe ich Lybo verließ, weil ich einsah, daß ich, um Esther schützen zu können, Sie mit Ihren eigenen Waffen bekämpfen müsse.«

Andreas biß sich in die Lippen.

Nanny fuhr fort:

»Was würde wohl Ihre Mutter sagen, wenn ihr der Inhalt dieses Briefes bekannt wäre? Sie, die auf ihren Sohn stolz, würde sich seiner schämen müssen. Was glauben Sie, daß Esthers Mann thun würde, wenn ich ihm dieses Schreiben schickte? Er würde die Frau verstoßen, welche vergessen hat, was sie sich selbst und dem Namen, den sie führt, schuldet. Was würde endlich Esthers Vater sagen, wenn der beleidigte Gatte die Tochter verstieße? Sie haben um einer flüchtigen Freude willen nicht nur Ihren und Esthers Frieden auf das Spiel gesetzt, sondern auch den Ihrer Mutter. Sie haben Esther zu künftiger Reue und Scham, ihren Gatten und Vater zu unverdienter Demüthigung, Ihre Mutter zu bitterem Kummer verurtheilt. Wollen Sie noch behaupten, daß dies als ein rechtschaffener Mann handeln heiße?«

Erbleichend hatte Andreas die Worte der strengen Richterin angehört. Er fuhr mit dem Taschentuche über die Stirne und brachte mit Anstrengung hervor:

»Sie sind sehr strenge. Als ebenfalls jung, sollten Sie verstehen, was ein starkes Gefühl vermag und dem zu Folge milder urtheilen.«

»Milde gibt es nicht, wenn es das Wohl oder Wehe eines Menschen gilt. Kein empfindsames Mitleiden soll mich davon abhalten, zu sagen, was die Pflicht fordert. Ihre Pflicht, Herr Kandidat, ist, nicht mehr an Esther zu schreiben.«

»Ich kann dieser einzigen Freude meines Lebens nicht entsagen,« stotterte Andreas.

» Können Sie es nicht? In diesem Falle haben wir einander nichts weiter zu sagen. Ich weiß, wie ich handeln muß, wenn Sie kein Mann sein können. Es schmerzt mich, Ihrer Mutter Kummer bereiten zu müssen, allein es handelt sich hier darum, Esther zu retten, und ich habe keine andere Wahl, als mich an Tante Karolina zu wenden.«

»Was wollen Sie thun?« rief Andreas aus.

»Ihre Mutter benachrichtigen, daß Sie, ihr Stolz und ihre Hoffnung, die guten Lehren, welche sie Ihnen einzupflanzen suchte, so schlecht begriffen haben, daß Sie es nicht vermögen, eine unerlaubte Leidenschaft dem, was recht ist, zu opfern.«

»Sie können meine Mutter sich nicht in solche Dinge einmischen lassen,« erklärte Andreas in gereiztem Tone.

»Was würde mich wohl abhalten können? Sie weigern sich, der Stimme des Gewissens zu gehorchen. Für Sie kann ich mich nicht schämen, und die Scham für Ihre Mutter muß zurücktreten. Es ist besser, daß sie den Fehltritt ihres Sohnes beweint, als daß sie einmal sich der Demüthigung schämen muß, welche er Esther bereitet hat. Ihre Mutter wird zwischen Sie und ihre Nichte treten und verhindern, daß Briefe wie dieser hier, geschrieben werden. Sind Sie wirklich ein solch großer Egoist, daß Sie eine sündhafte Liebe nicht aufgeben können, um der Mutter würdig zu sein, die so Vielem für Sie entsagt hat?«

Nanny blickte ihn an. Sie fühlte, daß sie siegen werde, aber sie bemerkte, daß der Sieg Andreas einen harten Kampf kosten werde, und daß er das entscheidende Wort nicht sogleich auszusprechen vermöge. Nanny fügte deshalb nach kurzem Schweigen mit wunderbar milder Stimme hinzu:

»Fällt es Ihnen denn so schwer, der Frau, die Sie lieben, ein hochherziges Opfer zu bringen? Ich glaubte, die Liebe veredle und sie vernichte die Selbstsucht, so daß die eigenen Wünsche zurücktreten müssen, wenn sie der Geliebten Schaden bringen.«

Andreas sah empor. Wie erhaben schön war sie doch in diesem Augenblicke; sie, welche ihm unbarmherzig sein einziges Glück rauben wollte!

»Sie haben mich besiegt,« sagte er nach einer kurzen Pause. »Ich werde Ihnen diesen Sieg, den ich jetzt anerkenne, gewiß niemals verzeihen, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort darauf gebe, niemals mehr an Erich Malmbergs Frau zu schreiben, um dieselbe nie mehr daran zu erinnern, wie heiß ich sie liebe. Sind Sie zufrieden?«

»Vollständig, da ich keine Ursache habe, zu bezweifeln, daß Sie ihr Wort nicht halten werden. Sollten Sie das thun, so …«

»Bitte, setzen Sie nichts Weiteres hinzu,« unterbrach sie Andreas. »Ich halte immer mein Versprechen. Erlauben Sie, daß ich mich entferne?«

»Gerne. Sie verlassen mich also mit unversöhnlicher Bitterkeit im Herzen? Der Tag wird jedoch kommen, wo Sie derjenigen dankbar sind, welcher Sie jetzt zürnen, und dann werden Sie mich aufsuchen.«

»Nicht eher?« unterbrach sie Andreas barsch. »Dann fürchte ich, daß es niemals geschehen wird. Sie haben mich tief verletzt. Nichts kann die Wunde heilen.« Andreas verbeugte sich und ging.

Nanny lächelte und sah ihm mit einem Blicke nach, der deutlich sagte, daß sie seinen Worten nicht glaube. »Er kommt bald wieder,« dachte sie.


Der Versucher, welcher die ersten Menschen verleitete, von der verbotenen Frucht zu essen, geht noch immer umher, um die armen Sterblichen zu verleiten, in den weltbekannten Apfel zu beißen. Dies sollte Andreas erfahren. Niemals waren ihm Esthers Briefe theurer gewesen, als nach seiner Rückkehr von Nanny. Das Leben schien ihm ein Grab zu sein, nachdem er versprochen hatte, Esther niemals mehr zu schreiben. Ein Brief lag auf seinem Schreibtisch. Er war von Esther und während seiner Abwesenheit angekommen. Derjenige, welcher liebte, versteht, was Andreas empfand, als er Esthers Brief erblickte und sich von einem heiligen Versprechen gebunden fühlte, ihn nicht zu beantworten. Er nahm den lieben Brief und küßte ihn leidenschaftlich. Vielleicht enthielt er das lang ersehnte Bekenntniß. Wie glücklich müßte er nicht sein, wenn darin stehen würde, daß er geliebt werde.

Alles war bei diesem Gedanken vergessen. Der Umschlag wurde aufgerissen. Es war ein langer Brief. Er betrachtete einige Augenblicke die wenigen hübsch geschriebenen Worte, ohne im Stande zu sein, ihren Sinn zu errathen, aber gleich darauf verschlang er den Inhalt. Dieser bestand aus Phrasen, welche eine ungezügelte und exaltirte Einbildung diktirt hatte; Worte, welche nur in den Augen eines Verliebten von einiger Bedeutung sein konnten, jedoch in Wirklichkeit keine tiefere Bedeutung hatten. Esther sprach davon, wie sehr sie ihren Mann geliebt habe, wie unglücklich sie gewesen sei, bis Andreas sie gelehrt hatte, daß das Leben ihr noch Glück zu bieten vermöge. Sie habe ihr Geschick beweint, doch jetzt ertrage sie es, weil sie Andreas liebe.

Was waren in diesem Augenblicke alle Gelübde für Andreas? Nichts, gar nichts. Für ihn existirte nur die Gewißheit, von ihr geliebt zu werden, die er seit seinen Jünglingsjahren anbetete. Ein Schwindel erfaßte ihn. Er las und las immer wieder diesen für sein Leben so bedeutungsvollen Brief, und setzte sich dann hin, um ihn zu beantworten. Andreas hatte schon drei Seiten geschrieben und die vierte angefangen, als Jemand an seine Thüre klopfte und er sich genöthigt sah, den bezeichneten Brief bei Seite zu legen, um »herein« zu rufen.

Ein Mann mit breitrandigem Hute trat ein.

»Onkel Gunnar!« rief Andreas aus. Esthers Hochzeitsabend tauchte sofort in seiner Erinnerung auf. Der alte Gunnar hatte ihn damals verhindert, sich unter den Wagen zu werfen, der die Neuvermählten hinwegführte. Diese Erinnerung war so lebhaft, daß ihm das Blut zum Kopfe stieg, da er sich gleichzeitig an das Versprechen, welches er Nanny gegeben hatte, erinnerte.

»Guten Abend, lieber Junge!« sprach Gunnar, einen forschenden Blick im Zimmer umherwerfend. »Ich bin stets in Allem pünktlich, und komme auch dieses Jahr, wie in den vorhergehenden, um dir Geld zu bringen. Ich habe jedesmal, so oft ich hier war, erfahren, daß du auf dem Wege zur Wissenschaft vorwärts schreitest und so eben habe ich gehört, daß du auf dem Wege nach deinem Ziele, dem Doktorhut, nicht zurückbleibst. Dies freut mich besonders um deiner ausgezeichneten Mutter willen.«

Andreas schüttelte die ihm dargebotene Hand. Gunnar hatte einen Brief und ein Packet von der Mutter bei sich, welche er Andreas übergab.

»Es geht deinem Onkel sehr zu Herzen, daß du dich geweigert hast, Unterstützung von ihm anzunehmen,« sprach Gunnar weiter, »aber es hat mich gefreut, daß du die Ausdauer besitzest, dir mit dem Wenigen, was du hast, fortzuhelfen. Ein junger Mann sollte seinen Weg allein gehen, ohne von reichen Verwandten Unterstützung anzunehmen. Wahr ist es, daß du bei mir in Schulden gerathen bist, doch kannst du diese nach und nach abbezahlen, wenn du Arzt bist, und das wird nicht so schwer halten, nachdem du das Stipendium erhalten hast.«

Nun zog Onkel Gunnar das Geld heraus, welches er Andreas vorzustrecken gekommen war. Es wurde gezählt und sollte quittirt werden; Andreas öffnete das Portefeuille, worin der Brief von Esther lag, und Gunnar hatte somit Gelegenheit, einen flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen des Briefes zu werfen. Da hieß es: »Theure, geliebte, angebetete Esther!« Das Portefeuille wurde geschlossen, und Gunnar konnte nichts weiter auffangen. Er nahm seine Tabaksdose hervor.

»Von Lybo kann ich dir Grüße bringen,« sagte er, indem er eine gewaltige Prise nahm. »Merkwürdige Begebenheiten tragen sich dort zu.«

»Esther ist wohl nicht erkrankt, seitdem … seitdem … ich zuletzt von ihr hörte!« fiel Andreas heftig ein.

»Erkrankt? Wer wird in ihrem Alter krank werden? Wenigstens derjenige nicht, der bei unseren Gruben und Bergwerken aufgewachsen ist. Es ist etwas Schlimmeres, als das; sie hat ihren Vater beinahe zu Tode erschreckt. Wenn Roman gestorben wäre, so würde Malmbergs Verlust sicher nicht so groß gewesen sein, allein so ist es doch ein unangenehmes Vorkommniß gewesen.«

»Was hat denn Esther gethan, das den Onkel so hat erschrecken können?« fragte Andreas, und legte die Feder weg.

»Zum Ersten hat sie den Pakt aufgehoben, zum Zweiten hat sie in vollem Ernste dem Vater vorgeschlagen, er solle mit Erich wegen der Ehescheidung reden. Sie erklärte, sie wolle ihrem Manne ihr mütterliches Erbtheil schenken, wenn sie ihrer ehelichen Bande ledig würde. Ich war auf Grythamra, als Esther diesen tollen Vorschlag ihrem Vater machte. Du kennst ihn; seine Stellung als geachteter Mann geht ihm über sein Geld und über Alles. Er fürchtet nichts so sehr, als die Verbindung seines Namens mit Etwas, das einem Skandal ähnlich sieht, und nun kommt seine Tochter und will einen herbeiführen, der ein rechtes Aufsehen machen würde. Ich glaubte, der Schlag treffe ihn. Roman betrachtet eine Ehescheidung als ein Verbrechen, ähnlich dem Diebstahl oder Morde. Er wurde so böse, daß ich glaube, er hätte die Tochter handgreiflich zurechtgewiesen, wenn ich nicht dazwischen getreten wäre. Das Ende des Auftritts war, daß Roman Esther feierlich erklärte, sie dürfte ihm nie mehr vor sein Angesicht kommen, wenn sie sich von ihrem Manne scheiden ließe. Er würde sie enterben und sie nicht als sein Kind anerkennen. Nun entstand ein Weinen und Zähneklappern. Esther fand es grausam, daß der Vater sie nöthigen wolle, mit einem Manne zu leben, der sie aus Eigennutz geheirathet habe, aber was half das Weinen, da Roman unerbittlich blieb? Esther wurde von deiner Mutter nach Hause begleitet; sie sollte bei der jungen Frau bleiben, bis sich diese beruhigt haben würde. Es ist schade, daß Nanny Lybo verlassen hat; seitdem sie weg ist, hat sich Esther ihren fantastischen Launen gänzlich hingegeben. Hätte nicht Roman, der alte Tölpel, so ungestüm um Nanny angehalten, so hätte diese nie erfahren, daß Karl ruinirt war, sondern sie wäre bei Malmbergs geblieben, und dann wäre Esther nicht so verrückt geworden. Nun wollte das stolze Weib kein Gnadenbrod verzehren, und so kam Alles auf Lybo durcheinander.«

Gunnar warf dann und wann einen verstohlenen Blick auf Andreas, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten. Der wechselnde Ausdruck in dem Gesicht desselben bewies, daß er mit gespannter Theilnahme auf die Erzählung höre. Als der Alte schwieg, nahm Andreas die Feder und schrieb die Quittung fertig, aber ehe sie richtig ausfiel, mußte er sie zweimal umschreiben. Er dachte an die arme, unglückliche Esther, die in ihrer Verzweiflung sich an den Vater gewandt hatte, um die Scheidung ihrer Ehe zu bewirken. Gab es überhaupt ein Gelübde, das ihn abhalten durfte, ihr zu schreiben und durch seine Liebe den Versuch zu machen, ihren Muth aufrecht zu erhalten? Ja, er wollte sie zur Geduld und Ergebung ermahnen. Als Andreas dem Alten die Quittung gab, sagte dieser:

»Nun, lieber Andreas, du begleitest mich wohl heute Abend, da ich nur bis übermorgen in Upsala bleibe? Es ist jetzt zu spät, um Nanny zu besuchen, darum wollen wir ein Glas Punsch zusammen trinken.«

Es war unmöglich, dies abzuschlagen. Der Brief konnte an dem Tage nicht abgehen, denn die Poststunde war schon vorüber. Die weiße Mütze wurde vom Nagel genommen, und so gingen sie fort.

»Hörst du den Ruf des Wächters, der auf der Dombrücke steht?« sangen einige ausgelassene Studenten vor der Wohnung des Andreas, als er um 11 Uhr sein Licht anzündete. Von dem Scheine gelockt, welchen dieses Licht auf die Straße warf, beschlossen die frohen Sänger, zu dem alten Philister Berg hinaufzugehen, um ihn mit etwas Gesang und Scherz zu erheitern. Ob sie willkommen seien oder nicht, bekümmerte sie wenig. Sie eilten die Treppe hinauf und zu unserem Kandidaten herein, der, als er ihre Tritte hörte, es für gut fand, das Portefeuille eilig einzuschließen. Die Thüre ging auf, und es stürmten acht Studenten herein, die alle ziemlich angeheitert waren.

»Guten Abend, Berg,« grüßten sie, die Mützen wegwerfend, »Hast du Punsch im Hause?«

»Seid ihr denn verrückt, mich so etwas zu fragen?« entgegnete Berg.

»Gänsewein meinen wir,« rief Einer. »Gieb die Flasche her, wir wollen sie auf deine Gesundheit leeren, du heiterer, lebenslustiger Philister!«

Die ungebetenen Gäste nahmen auf dem Bett, den Stühlen, dem Tisch und dem Schreibtische Platz, so daß ihrem Wirthe nur die Commode zum Sitzen übrig blieb, wenn ihm das Stehen etwa lästig geworden sein würde.

Derjenige, welcher Gänsewein verlangt hatte, füllte das Glas mit Wasser und klopfte auf den Tisch, worauf er saß, zum Zeichen, daß er Ruhe wünsche; hierauf wandte er sich an Andreas mit folgenden Worten:

»Der Mensch ist ein Thor, wenn er sich die Freude versagt, sein Leben zu genießen; das ist eine unbestreitbare Wahrheit; folglich ist Andreas Berg ein Thor. – Der Student ist ein Thor, der auf der Akademie nichts Anderes thut, als einpauken und dabei die Freuden des geselligen Lebens verachtet, wie Andreas Berg es macht; folglich ist er auch ein Thor. Berg ist ein guter Sänger, ein braver Kamerad und ein Kandidat von angenehmem Aeußern, weßhalb wir, seine Schul-, Gymnasial- und Studienkameraden, ihn auffordern, nicht länger ein Thor und ein Narr zu sein, sondern ein anderer und besserer Mensch zu werden, der die Kunst zu leben lernt. Um das Werk sogleich zu beginnen, haben wir beschlossen, daß du, Andreas Berg, mit uns gehen und eine Serenade bringen helfen sollst. Ist dies geschehen, so gehen wir in's Wirthshaus, trinken eine Schale Punsch und dann gute Nacht. Deine Gesundheit, Bruder Berg, ich bringe sie aus!«

Er leerte das Glas und warf es dann zu Boden. Die Uebrigen lachten und riefen durch einander:

»Komm, Berg, jetzt gehst du mit uns ohne Einwendungen!«

Es war nicht zum ersten Male, daß Andreas so in Versuchung kam. Der Scherz der Kameraden schien ihm nicht im Geringsten lästig zu sein.

»Ich unterstütze euch gerne bei der Serenade,« sagte er, »in das Gasthaus aber gehe ich nicht.«

»Du wirst schon sehen. Wir sind deiner fortwährenden Weigerungen, an einem frohen Gelage Theil zu nehmen, müde, und diesmal geht es nicht an, daß du dich weigerst,« schrie derjenige, welcher die Rede gehalten hatte.

»Schweige Rydgren!« rief Andreas aus, »sonst leihe ich dir keinen Heller mehr. Glaubst du, ich werde deinem Beispiele folgen und als armer Bursche meine Zeit hier mit Saufen vergeuden? Nein, es gelingt nicht, mich dazu zu verleiten. Ich will ein ordentlicher Mensch bleiben und kein Taugenichts. Nun, wenn ihr mich mithaben wollet, ›vorwärts marsch!‹« sang Andreas, der sich an die Spitze der lustigen Kameraden stellte, die nunmehr den »Heimmarsch« aus Wennerbergs Glundar anstimmten.

Sie sangen gut, denn sie waren nicht so betrunken, daß dies auf den Gesang Einfluß gehabt hätte. Rydgren ging Arm in Arm mit Andreas, bis man vor einem Wirthshause stehen blieb, das unserem Kandidaten bekannt war. Er war an demselben Tag da gewesen.

Außer der Oberstin, der Tante Nannys, wohnte da eine Frau S., die Mutter zweier schöner Mädchen, die allgemein die Studentenflammen genannt wurden.

Wem der Gesang galt, das bekümmerte Andreas wenig, um so weniger, als es ihm nicht einfiel, daß er an einer Serenade Theil nehme, welche der Frau, auf die er so erbittert war, gelten könnte. Die Serenade begann.

Es war dunkel in der Wohnung der Frau D. und in der der Oberstin, als aber der erste Gesang zu Ende war, zeigte sich Licht in zwei Fenstern der Letzteren. Als die Serenade aus war, fragte einer der Studenten:

»Hat Rydgren den Fräulein S. gesagt, daß wir nicht ihnen die Serenade bringen, da dieselben wußten, daß unser Gesang nicht ihnen gelte?«

»Gewiß,« antwortete Rydgren, »sie hätten sonst die ganze Wohnung beleuchtet, sie glauben, jede Serenade die in dieser Straße gebracht wird, gelte ihnen.«

»Aber wie wußte sie, daß es ihr galt?« forschte ein Anderer.

»Frage Rydgren, ich kann verd – sicher sein, daß er es vor den Mägden der Oberstin erzählt hat. Ihr wißt ja, daß er mit allen Mägden der Stadt intim ist!«

Der Einfall wurde mit Beifall ausgenommen, und Rydgren war einen Augenblick die Zielscheibe von mehr oder weniger witzigen Scherzen und Ausfällen. Er nahm dies ganz ruhig hin.

Vor dem Gasthofe wurde wieder Halt gemacht. Die Kameraden versuchten nochmals, jedoch vergebens, Andreas zu überreden, mit ihnen einige Gläser zu trinken. Endlich mußten sie ihn gehen lassen, aber ehe er sich von ihnen trennte, fragte er:

»Wem galt die Serenade?«

»Der schönen Wittwe, Frau Malmberg, die bei der alten Gyllenspets wohnt.«

Andreas hatte also zu Ehren derjenigen, die ihm so bittere Wahrheiten gesagt hatte, gesungen. Das war ein Hohn auf ihn selbst.

In der Nacht träumte er von Esther, und immer schien es ihm, als stände Nanny dazwischen, wenn er nach der Geliebten die Hand ausstreckte. Er sah Nanny so deutlich, wie er sie während des Zwiegesprächs gesehen hatte; als er erwachte, stand ihr Bild ganz lebendig vor ihm, und es war, als hätte sie die durchdringenden Augen auf ihn gerichtet.

Andreas zog sich an, um sogleich den angefangenen Brief zu vollenden und sich dann in den Secirsaal zu begeben.

Auf dem Tische lag der Brief seiner Mutter noch uneröffnet.

Er riß den Umschlag auf, legte aber den Brief wieder weg und fing an, auf- und abzugehen.

Erinnerungen aus seinen Knaben- und Jünglingsjahren stiegen in ihm auf. Mit jeder derselben war die Mutter verknüpft. Ueberall fand er ihre grenzenlose Liebe, ihren innigen Wunsch wieder, den Sohn zu einem rechtschaffenen gewissenhaften Mann zu machen, der alles Große, Edle und Sittliche achte! Es waren Bilder aus vergangenen Zeiten, welche die fleißige, arbeitsame und für ihr Kind strebende Mutter in einem so hellen und schönen Lichte darstellten, daß der von seinen Gefühlen irregeleitete Sohn genöthigt war, demüthig das Haupt zu beugen und zu bekennen, daß er es ihr nicht so gelohnt habe, wie er hätte thun sollen.

Eine thörichte Leidenschaft beherrschte Andreas; aber dieses Gefühl vermochte nicht, die Liebe zu der Mutter zu unterdrücken. Die Erinnerungen, welche sich ihm aufdrängten, mußten seine edleren Triebe wachrufen. Er sah endlich ihren Brief an und erkannte, daß er einen Weg betreten habe, der ihn zu einem ganz anderen Ziele führen würde, als dasjenige, das sie ihm vor Augen gehalten habe. Er sah auch ein, daß es ihm schwer werden würde, ihre Blicke auszuhalten, wenn sie von seinem Briefwechsel mit Esther Kenntniß erhalte. Durch diesen hatte er sich der Opfer, welche die Mutter sich auferlegt hatte, um aus ihm einen guten Menschen zu machen, unwürdig gezeigt. Er war ja nahe daran gewesen, ein ernstliches Gelübde zu brechen, ein Gelübde, dessen Erfüllung Esthers Wohl zum Zwecke hatte.

Andreas legte die Hand auf seine Stirne, gleichsam, um die aufsteigende Röthe zu verbergen.

Es ist sehr gefährlich für eine Frau, wenn der Mann, der sie liebt, sich der Handlungen schämt, wozu ihn die Liebe verleitet. Darin liegt eine Demüthigung, und der Mann verabscheut es, sich gedemüthigt zu sehen und wäre es auch nur in seinen eigenen Augen.

Als Andreas die Hand von seiner glühend heißen Stirne führte, geschah es, um den Brief Esthers aus dem Portefeuille zu nehmen und in Fetzen zu zerreißen. Dann erhob er das Haupt, als wäre es von einer drückenden Last befreit. Er betrachtete das zerfetzte Papier und fühlte etwas wie Schmerz und Erleichterung zugleich. Ein Seufzer hob seine Brust; es war ein Abschiedsseufzer nach der unmännlichen Schwäche, die ihn so lange gefesselt hatte. Er entfaltete nun den Brief der Mutter. Der Inhalt desselben sollte ihm ein Ersatz für das Opfer sein, das er ihren Lehren und seiner eigenen Gewissensruhe darbrachte. Andreas war auch, nachdem er den Brief gelesen, vollständig beruhigt; er hatte sich selbst besiegt, und dies machte ihn zufrieden.

Gunnar besuchte ihn um die Mittagszeit, und sie speisten zusammen. Am Nachmittage reiste Gunnar ab. Beim Abschiede sagte er zu Andreas:

»Diesmal reise ich zufriedener ab, als das Jahr zuvor, denn es kommt mir vor, wie wenn ich es dir ansehen würde, daß du jetzt so vernünftig geworden seiest, um einzusehen, daß der Mann seine Leidenschaften muß beherrschen können, wenn er Achtung vor sich selbst haben soll. Ich werde deiner Mutter sagen, sie könne sich über ihren Sohn freuen. Lebewohl, mein lieber Andreas!«

Gunnar stieg in den Wagen und winkte dem jungen Kandidaten, welcher sich hierauf in die Wohnung der Oberstin Gyllenspets begab, ein letztes Lebewohl zu.

Er verlangte Frau Malmberg zu sprechen. Nach kurzem Warten wurde er in dasselbe kleine Kabinet eingeführt, wo er Tags vorher Nanny getroffen hatte.

Es kam Andreas vor, als ob Nannys Haut noch durchsichtiger, ihre Haare und Augen dunkler, ihre Haltung stolzer seien, als am Tage vorher. Tags zuvor verließ er sie verletzt und erbittert; jetzt stand er ganz reuevoll vor ihr.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie zu stören wage,« sagte er: »aber es sind 24 Stunden seit unserem letzten Gespräche vergangen, und in dieser Zeit kann sich vieles ereignen. Ich erhielt gestern bei meiner Heimkunft einen Brief, der mich nöthigt, mir eine Abänderung des gegebenen Versprechens von Ihnen zu erbitten.«

»Die Abänderung eines gegebenen Versprechens ist nicht wohl möglich,« antwortete Nanny. »Ich befürchtete jedoch sofort, Sie meinen, das mir gegebene zu umgehen suchen.«

Andreas biß sich in die Lippen. Er hatte es nicht nur umgehen, sondern einfach brechen wollen; dieses Bewußtsein hielt ihn von jedem Ausbruch verletzten Stolzes ab.

»Wenn ich auch einen Augenblick versucht war, mein Wort zu brechen,« antwortete er, »so ist mein jetziger Besuch und der Vorschlag, den ich Ihnen machte, ein Beweis, daß ich in keine weitere Versuchung kommen werde. Es handelt sich hier nicht um mich und meine Gefühle, sondern um Esther. Der Inhalt des Briefes, den ich empfing, ist ein solcher, daß ich einige Zeilen antworten muß. Ich bitte um Ihre Erlaubniß, dieselben hier zu schreiben, und darum, daß Sie solche lesen und an meine Cousine absenden möchten.«

Nanny sah Andreas an. Es schien ihr, daß eine große Veränderung mit ihm vorgegangen sei, und seine Stimme nunmehr kräftiger klinge, als Tags vorher. Sie blickte ihm forschend in die Augen, konnte aber keine Verstellung in denselben entdecken.

Nanny brachte schweigend Papier, Tinte und Federn.

»Hier ist das zum Schreiben Nothwendige,« sagte sie.

Andreas schrieb Folgendes:

 

»Esther! Ich habe deinen Brief erhalten; er hat mich belehrt, wie unwürdig ich handelte und wie nothwendig es sei, daß jeder Briefwechsel zwischen uns aufhört. Verzeihe, allein Ehre und Gewissen fordern uns auf, einander nicht mehr zu schreiben. Suche das Glück in deiner Ehe und vergiß

Andreas.«

 

Nanny saß etwas entfernt von ihm, als er hastig diese Zeilen niederschrieb. Sie sah, daß seine Hand zitterte und Andreas nur mit Mühe soviel Gewalt über seine Nerven hatte, daß er die wenigen Worte, welche er schrieb, unterzeichnen konnte. Andreas legte den Brief zusammen, schrieb die Adresse und reichte denselben Nanny unversiegelt.

»Ich übergebe diesen Brief in Ihre Hände; lesen Sie ihn und senden Sie ihn dann ab. Sie können sich überzeugen, daß kein Wort darin steht, das einen Bruch meines Gelübdes enthalten würde.«

Nanny nahm den Brief und versiegelte ihn.

»Befördern Sie ihn selbst auf die Post,« sagte sie und übergab ihm denselben.

»Ich danke Ihnen für diesen Beweis des Vertrauens,« stammelte Andreas, verbeugte sich und verließ schnell das Zimmer.

»Ich werde mich hüten, diese Frau wieder zu sehen,« dachte Andreas, indem er sich auf die Post begab.

»Wird er wohl wiederkehren?« fragte sich Nanny.


Die Zeit verfloß, ohne daß Nanny etwas Weiteres von Andreas hörte. Sie vermuthete, daß er nach seinem Zusammentreffen mit ihr ihre Bekanntschaft genugsam gemacht habe, allein dies hielt Nanny nicht ab, oft an den jungen Mann zu denken, und zu sich selbst zu sagen:

»Ich dachte doch, er würde wiederkehren, um etwas von Esther zu erfahren; aber vielleicht hält er es für klüger, Alles zu meiden, was an sie erinnert.«

Nanny nahm an dem geselligen Leben Upsalas wenig oder gar nicht Theil. Sie brachte ihre Tage bei der kranken Tante zu, und zu dieser kamen keine Besuche. Die Bekanntschaften der Alten hatten sich zurückgezogen, als Krankheit und Leiden bei der gestrengen Dame einkehrten, und Nanny mußte ganz allein versuchen, die schwer Geprüfte zu zerstreuen. Nanny hatte einige Jugendbekanntschaften, die sie zuweilen, aber sehr selten, besuchte. Ihr Leben verfloß sehr einförmig und wurde mit der Pflege der Blinden, einem Spaziergange des Nachmittags und einer Stunde Lektüre zur eigenen Unterhaltung, während die Alte schlief, zugebracht.

Dem thätigen Geiste Nannys kam es manchmal niederdrückend vor, die Tage in diesem Schneckengange zu verleben, aber sie besaß die Fähigkeit, sich in Alles zu fügen und suchte Erholung in dem Vergnügen, welches ihr die zeitweilige Berührung mit andern Personen, als denjenigen, mit welchen sie zusammenlebte, gewährte. Das Bewußtsein, der Blinden nützlich zu sein, war ihr eben ein großer Trost. So schwanden Wochen und Monate, und mit wenigen Ausnahmen war der eine Tag wie der andere gewesen. Der Schnee lag hoch aufgethürmt und begann schon an den milden Strahlen der Frühlingssonne zu schmelzen. Nanny ging an einem schönen, sonnenhellen Frühlingstage am Flusse spazieren und betrachtete aufmerksam das Wasser, welches die Eisdecke brechen wollte. Plötzlich stand sie vor einem Manne, der so in Gedanken versunken war, daß er sie nicht eher gewahrte, als bis er auf eine solch unhöfliche Weise auf die junge Frau stieß. Sie blickten sich Beide etwas verwundert an. Augenblicklich nahm der Mann den Hut ab; Nanny befand sich Andreas gegenüber.

»Es scheint, wir können uns nicht treffen, ohne zusammenzustoßen,« sagte Nanny lächelnd.

»In der That,« antwortete Andreas und setzte den Hut auf.

Nanny verbeugte sich und wollte vorbeigehen, um den Spaziergang fortzusetzen, aber Andreas schien das Sichverabschieden, welches in dieser Bewegung lag, nicht zu bemerken, sondern folgte ihr.

»Ich habe einen Brief von meiner Mutter erhalten; dieselbe bittet mich, Sie zu grüßen und macht mir Vorwürfe, daß ich mir die Erlaubniß nicht ausgebeten habe, Sie besuchen zu dürfen, Frau Malmberg,« sagte Andreas.

»Ich hoffe, die Tante befindet sich wohl?« Nanny warf diese Frage hin, als hätte sie die letzten Worte nicht gehört.

»Vollkommen.«

Sie gingen lange schweigend neben einander her.

Andreas hatte, wie Ludwig, eine gute Gelegenheit, Nannys schönes Profil zu bewundern, denn sie wandte ihm kein einziges Mal das Gesicht zu, sondern blickte vor sich hin und schien nicht geneigt, das Schweigen zu unterbrechen, was Andreas äußerst peinlich war. Er wußte, daß er eine lächerliche Figur vorstelle, wenn er wie ein Stummer an der Seite einer jungen Dame gehe. Was sollte er aber sagen? Er fand keinen Stoff zur Einleitung eines Gespräches.

»Der Frühling scheint dieses Jahr sehr bald einzutreten,« sprach er endlich ganz ärgerlich darüber, daß ihm nichts Anderes als vom Wetter zu sprechen in den Sinn kommen wollte.

»So scheint es,« antwortete Nanny, und das Gespräch kam wiederum in's Stocken. Andreas fühlte sich versucht, Abschied zu nehmen, allein dies wäre auch lächerlich gewesen.

»Erlauben Sie, daß ich eine Frage an Sie stelle,« begann Andreas; »wünschen Sie, daß ich mich entferne?«

»Ich wünsche, daß Sie in diesem Falle nur Ihrem eigenen Wunsche folgen,« antwortete Nanny.

»Dann würde ich sogleich gehen und nicht an Ihrer Seite bleiben; die Erinnerung an einen großen Schmerz und eine große Selbstüberwindung knüpft sich an Ihre Person. Der Sieg kam mich jedoch theurer zu stehen, als Sie zum Voraus annehmen konnten.«

Nanny wandte sich um und sah den jungen Mann an. Andreas war blaß und mager geworden.

»Jeder Sieg, den wir über uns selbst davon tragen, freut unseren Stolz,« sagte sie, »und ich müßte dann in Ihren Augen eine sehr angenehme Persönlichkeit sein, weil ich an einen Triumph erinnere.«

»Der Schmerz, wie die Freude, hat seinen Reiz; und ich bin dem Zufall dankbar, daß er uns auf's Neue zusammenführte. Ich selbst hätte nie den Muth gehabt, Sie aufzusuchen.«

»Sind Sie über mich so aufgebracht gewesen?«

»Nein, allein Ihr Anblick würde die Wunde, die mir mein Herz bluten machte, wieder aufgerissen haben, der Schmerz wäre zu heftig gewesen, um dies erdulden zu können. Nun haben wir uns getroffen; ich habe den so sehr gefürchteten Augenblick erlebt, ohne daß …«

»Ihr Unwillen größer geworden wäre.«

Andreas nickte bejahend und Nanny lächelte sanft.

»Wann werden Sie Doktor?« fragte sie.

»In einem Jahre, hoffe ich.«

»Sie besuchen Ihre Mutter nicht vorher?«

»Meine Mutter wird mich in diesem Frühjahre besuchen. Ich gedenke so lange in Upsala zu bleiben, um zu studieren, so daß ich dieses Jahr fertig werden kann.«

Nanny konnte nun mit Leichtigkeit ein Gespräch anknüpfen. Sie sprach von Frau Berg und ihrem seltenen Charakter und ging dann zu Betrachtungen über die von Andreas gewählte Laufbahn über. Sie stellte den Beruf des Arztes so hoch, daß es Andreas vorkam, als habe er vorher nie die Pflichten verstanden, die er zu übernehmen im Begriffe stand. Sie setzten ihren Spaziergang eine Zeit lang fort. Es war die erste angenehme Stunde, welche Andreas erlebte, seitdem er den Briefwechsel mit Esther abgebrochen hatte.

In der darauf folgenden Zeit hatte er sich keine Minute Ruhe gegönnt, sondern eifrig und ununterbrochen gearbeitet. Er war ein finsterer Einsiedler geworden, der die Kameraden zurückwies und nicht mehr am Gesange Theil nahm. Da er wortkarg und unzugänglich war, ließen ihn die Kameraden in ungestörter Einsamkeit seinen Studien und seinem Kummer obliegen. Er fühlte sich jetzt aufgeheitert durch das Gespräch mit einer gebildeten und denkenden Frau und vergaß seinen Kummer, während er ihren Worten lauschte. Er hatte, seitdem er auf der Akademie war, wie ein Sclave gearbeitet und sich auf das Aeußerste angestrengt, ohne von brennender Wißbegierde oder von leidenschaftlicher Liebe für seinen künftigen Beruf geleitet zu sein, sondern nur von dem Wunsche beseelt, das Ziel bald zu erreichen, seiner Mutter die Freude zu bereiten, ihn als Doktor zu sehen.

Als er Nanny Lebewohl sagte, kam ihm seine Wirksamkeit als Arzt so schön vor, daß er fühlte, daß das Glück in gewissenhafter Pflichterfüllung liegen müsse. Er gedachte am nächsten Vormittag der Worte Nannys, und als diese ihren gewöhnlichen Spaziergang machte, traf sie ihn wieder. Als sie sich trennten, bat Andreas, sie besuchen zu dürfen, was sie ihm auch erlaubte.

Er kam jetzt oft in die Wohnung der Blinden und konnte stundenlag mit der Alten über ihr Leiden sprechen, ihre Klage anhören und im Stillen Nannys Geduld bewundern.

Bald war Andreas der Alten ein lieber Gast und für Nanny eine angenehme Unterbrechung ihrer tödtlichen Langeweile, aber ohne daß sich ein lebhafteres Interesse zwischen ihr und dem Kandidaten zu entwickeln schien.

Wir verlassen sie jetzt, um zu erfahren, wie es bei Esther ging.


Esther hatte, nachdem sie die Ehescheidung vorgeschlagen, ihre Tage zu Lybo in peinlicher Aufregung zugebracht. Sie hatte Andreas geschrieben und gesagt, sie liebe ihn. Dies gewährte ihr übrigens keine innere Befriedigung, sondern rief eine ungeduldige Sehnsucht nach seiner Antwort hervor.

Tante Karolina blieb nicht lange bei der Nichte, weil sie sofort einsah, daß ihre Gegenwart nichts nütze, sondern daß andere Mittel angewandt werden müßten, um Esther ihre Pflichten ins Gedächtniß zu rufen.

Esther begrüßte es mit Freude, daß die Tante abreiste, da sie ja nicht von Andreas sprach, sondern beständig Erichs Lob auf den Lippen hatte. Die Vorstellungen, wie glücklich Esther sein könnte, wenn sie sich ihrem Manne nähern würde, mißfielen Esther, und als die Tante abreiste, brauchte sie wenigstens derartige Reden nicht mehr mit anzuhören.

Nach Abgang ihres Briefes an Andreas lebte Esther in beständiger Angst. Sie konnte die Stimme nicht unterdrücken, welche ausrief: »Du hast unrecht gehandelt« und sie konnte keine Ruhe haben, ehe sie von Andreas Antwort erhielt. Nicht einmal mehr die lieben Romane konnte sie lesen, denn ihre Gedanken vermochten nicht den Worten zu folgen; sie drehten sich in einem ewigen Kreislaufe um Andreas und sein Glück, wenn er lesen werde, daß sie ihn liebe.

Der Tag kam endlich, an dem die Post von Upsala eintraf. Esthers Vater war beim Mittagessen auf Lybo, und die kleine Familie befand sich im Vorzimmer, als Ludwig die Posttasche empfing und einen Brief an Esther aus derselben herausnahm.

»Du stehst mit Upsala in lebhaftem Briefwechsel,« sagte er mit sarkastischem Lächeln.

Roman sah die Tochter an. Sie war dunkelroth geworden, und ihre Hand zitterte, als sie den Brief empfing. Esther eilte aus dem Zimmer.

»War der Brief von Nanny?« fragte Erich, der Esthers Bewegung auch bemerkt hatte.

»Ich vermuthe es,« antwortete Ludwig, indem er den ihm dargebotenen Kaffee nahm.

Ludwig und der Ingenieur entfernten sich hierauf. Roman sagte zu seinem Schwiegersohne:

»Ich habe dir schon ein paarmal gesagt, daß es nicht angeht, daß du Esther ihren Launen zu folgen gestattest, und ich wiederhole es jetzt: du mußt sie zwingen in ihrem Hause Hausfrau zu sein, die Haushaltung zu besorgen und mit den Nachbarn zu verkehren. – So, wie es jetzt ist, wird sie vor lauter Romanlesen verrückt, sie und du Gegenstand des Klatsches und ich bin der Gefahr ausgesetzt, sehen zu müssen, wie mein einziges Kind Scandal verursacht. Mit Esther ist es jetzt so weit gekommen, daß sie an Ehescheidung denkt. Ich fordere jetzt von dir, du sollest als Mann handeln und ihr begreiflich machen, daß dein Wille mehr gilt, als der ihrige. Dadurch setzest du dich in Respekt, und es wird allen Chicanen vorgebeugt.«

Erich schwieg und ging im Zimmer auf und ab. Roman fuhr indessen fort, energisch darauf hinzuweisen, daß eine Aenderung nothwendig sei. Der stolze Vater fürchtete nichts in der Welt mehr, als daß seine Tochter, sein Schwiegersohn und er selbst der Gegenstand des Klatsches im Orte werden könnten. Er wollte, daß Malmberg diesem Uebelstand vorbeugen solle.

Währenddem der Vater es versuchte, den Gatten zu seinen Ansichten zu bekehren, verriegelte Esther ihre Thüre und betrachtete mit klopfendem Herzen und glühenden Wangen den Brief von Andreas.

Enthielt derselbe Alles, was sie hoffte? Schilderte Andreas in überschäumender Freude sein Glück, geliebt zu sein? Gewiß war dies der Fall. Der Umschlag wurde aufgerissen und offen lag der Brief vor ihr; sie hatte ihn beim Anblicke der wenigen Zeilen auf ihren Schoß fallen lassen. Einen Augenblick tanzte es ihr vor den Augen, hierauf nahm sie das Papier und las. Esther rieb sich die Augen. Wachte sie? War es möglich, daß er das geschrieben hatte, was sie jetzt las? War es Andreas, der ihr so oft gesagt hatte, daß es sein Lebensziel wäre, ihre Liebe zu erringen und der jetzt erklärte, ihr Briefwechsel müsse aufhören? Esther glaubte lange, sie sei verwirrt in ihren Sinnen und verstehe nicht, was sie lese.

Die Wahrheit hat jedoch das an sich, daß man ihr nicht entfliehen kann. Esther überzeugte sich auch bald, daß Andreas in der That das geschrieben, was sie nicht fassen wollte. Bei diesem Bewußtsein brach sie in heftiges Weinen aus. Sie warf sich aufs Sopha und rang die Hände.

War sie nicht die Unglücklichste aller Unglücklichen? Es war niemand auf Erden, dessen Schicksal mit dem ihrigen verglichen werden konnte. Sie hatte nicht Thränen genug für ihre Schmerzen. Umsonst klopfte ihr Vater an die Thür, um sie zu sprechen. Sie antwortete, sie sei unwohl und wolle ungestört sein.

Roman, welcher fürchtete, die Aufmerksamkeit der Dienstleute auf Esthers eigenthümliches Betragen zu lenken, ging, um Erich aufzusuchen.

»Hast du keinen zweiten Schlüssel zu Esthers Zimmer?« fragte er.

»Man kann durch die Zimmer meines verstorbenen Vaters, die unbewohnt sind, dorthin gelangen. Warum aber diese Frage?«

»Weil Esther sich eingeschlossen hat und nicht öffnen will. Man muß wissen, was sie so aufgeregt, und ich denke …«

»Ich verstehe,« unterbrach ihn Erich. »Werden Sie abreisen oder da bleiben, Vater?« fügte er hinzu und stand vom Pulte auf, um das Comptoir zu verlassen.

»Nein, ich bleibe,« antwortete Roman und setzte sich auf Erichs Platz, um einige Briefe zu schreiben.

Esther hörte den Vater sich entfernen und ließ ihren Thränen wieder freien Lauf; den Kopf in die Sophakissen verborgen, zerknitterte sie den Brief mit den Fingern. Sie hatte nur mit ihrer Bekümmerniß zu schaffen. »Wie konnte er so etwas schreiben? Wie konnte er es?« jammerte sie unaufhörlich, bis sie endlich bei dem Klange einer hellen Stimme ganz erschreckt in die Höhe fuhr.

»Was ist geschehen, daß du so betrübt bist?« hörte sie fragen und Erich stand vor ihr. Sein Anblick reizte Esther, denn sie dachte, wenn er sie geliebt haben würde, so hätte sie sich nie um Andreas bekümmert und brauchte jetzt nicht zu weinen.

»Wie bist du in mein Zimmer gekommen? Mit welchem Rechte dringst du wieder meinen Willen herein?« fragte sie, statt zu antworten.

»Mit meinem gesetzlichen Rechte,« antwortete Erich ruhig und entschieden. »Was ist dies für ein Brief, den du in der Hand hältst? Was enthält er, daß er dich so aufregt?« Erich streckte die Hand nach dem Papiere aus. »Ich wünsche dieses Schreiben zu sehen,« versetzte er.

Esther zog eilig die Hand zurück, zerriß den Brief in Stücke und erklärte mit großer Heftigkeit, daß es vermessen von ihm sei, ihre Briefe lesen zu wollen. Jetzt brach all ihr Zorn über Erich los. Er war ja die Ursache aller ihrer Leiden. Ein unbedachtes Wort um das andere kam über ihre Lippen. Erich ließ sie reden; er ließ sie ohne Unterbrechung allen Unsinn reden, den der Zorn ihr eingab und Anschuldigung auf Anschuldigung häufen. Aber jeder Zornesausbruch hat einen Anfang und ein Ende, und Esthers Leidenschaftlichkeit ließ endlich nach. Jetzt nahm Erich sie beim Arm, führte sie zum Sopha und reichte ihr ein Glas Wasser mit den Worten:

»Trinke, daß du ruhig wirst. Was ich dir jetzt zu sagen habe, macht es nothwendig, daß du deiner Sinne völlig mächtig bist, um es zu verstehen.«

Esther stieß das Glas so heftig weg, daß Erich mit der Hälfte des Inhalts überschüttet wurde.

»Trinke,« wiederholte er demungeachtet, aber mit so gebieterischer Stimme, daß es selbst auf Esther einen bemerkbaren Eindruck machte. Sie blickte ihn an. Sein Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.

»Ich will nicht trinken,« erklärte sie. Erich stellte das Glas weg.

»Ich werde dich nicht dazu zwingen, aber ich befehle dir, mich mit Aufmerksamkeit anzuhören.«

Esther sprang auf.

»Du befiehlst?« rief sie. »Nein, keine irdische Macht wird mich jetzt zwingen, dich anzuhören.«

Sie eilte zu der Thüre, wurde aber von Erich aufgehalten, der sie faßte und so sicher festhielt, als stäke Esther in einem Schraubstock.

»Meine Geduld ist nun zu Ende, Esther,« sagte er. »Ich bin müde, den Narren zu spielen; dies muß ein Ende nehmen. Du mußt einsehen lernen, daß ich dein Mann bin, daß du meinen Willen achten und dich in denselben fügen mußt. Jahre lang habe ich Nachsicht mit dir gehabt, deine Wünsche erfüllt und dir völlige Freiheit gelassen – alles in der Hoffnung, daß du einmal einsehen würdest, was dir deine Stellung als Gattin gebietet. Schweige, unterbreche mich nicht!« rief er aus, als Esther die Lippen öffnete. »Vergiß nicht, daß du in meiner Hand ein schwaches Rohr bist, welches ich zerbrechen kann, wenn du mich zum Zorne reizest. Du hast die Scheidung unserer Ehe gewünscht, da ich dies aber nicht will, so bleibst du als meine Frau bei mir. Reise fort, und ich lasse dich mit Hülfe des Gesetzes zurückholen. Siehst du jetzt meine Macht über dich ein –« seine Hand schloß sich fester um Esthers Arm – »du bist mein, und das Gesetz gibt mir solche Rechte, daß du nichts vermagst. Jetzt mußt du deine Lebensweise ändern. Ich heirathete nicht, um eine romanlesende Puppe im Haus zu haben, sondern eine Hausfrau. Du mußt in der Haushaltung Hand anlegen, dies ist mein bestimmter Wille. Der von dir abgebrochene Verkehr mit meinen Nachbarn soll wieder angeknüpft werden, und du mußt dich der Armen des Ortes annehmen. Sie haben lange genug jemand vermißt, der sich ihrer annähme. Auftritte, Thränen, Klagen und Vorwürfe dienen zu nichts. Du hast meine Freundlichkeit zurückgewiesen, jetzt muß du nach meinen Befehlen dich richten. Zum Beweise dessen will ich, daß du deine Thränen trocknest und mir zu deinem Vater folgst.«

Erichs Stimme, Haltung und Gesichtsausdruck belehrten Esther, daß der geringste Versuch, sich seinem Willen zu widersetzen, zum Aeußersten führen müsse. Sie hatte in Thränen ausbrechen wollen, aber wagte es nicht, so strenge und zornig sah er aus. Es überkam sie ein Gefühl der Furcht vor dem Manne, den sie geringschätzen zu dürfen glaubte, ohne daß sie ein Recht dazu hatte, sich über ihn zu beklagen. Sie sah, daß es hier keine andere Wahl gäbe, als zu gehorchen. Schweigend wusch Esther ihre vom Weinen geschwollenen Augen und folgte Erich in den Salon. Zum Glücke für Esther war der Vater nicht da, und Erich verließ sie, jedoch mit dem bestimmten Verbote, das Zimmer zu verlassen, ehe der Vater sie angetroffen habe.


Auf diesen Tag folgte eine Zeit, wo alles auf Lybo anders wurde.

Erich hatte aus einem gutmüthigen und nachgiebigen Ehemann sich in einen strengen Herrn verwandelt, der alles in seinem Hauswesen ungeordnet fand und seiner Frau deshalb Schuld gab. Er verlangte von ihr, von welcher er früher nichts gefordert hatte, viel; er war unverträglich und ungeduldig, wenn es nicht nach seinem Wunsche ging. Er interessirte sich übrigens mehr als je für sein Eisenwerk und dessen Angehörige, was zur Folge hatte, daß er haben wollte, daß Esther sich fürsorgend derselben annehme. Der Verkehr mit den Nachbarn wurde erneuert. Bei allen Veranstaltungen und Einladungen auf Lybo wurde Esther genöthigt, diejenige zu sein, die alles anordnete. Mißlang etwas, so wandte Erich sich nicht an die Haushälterin, sondern an Esther und gab ihr sein Mißvergnügen zu erkennen. Wenn Erich eine Einladung annahm, so war Esther genöthigt, mitzugehen, sie mochte wollen oder nicht. Sie hatte sich zwar ein paarmal gegen seine Strenge aufgelassen, aber da war Erich so böse geworden, daß ihr alle Lust verging, den Versuch zu wiederholen. Sie klagte es dem Vater. Er antwortete, sie selbst habe es soweit gebracht und müsse sich jetzt in ihr Schicksal fügen. Endlich beugte sich Esther unter den Willen ihres Mannes, wie der Gefangene sich der Kette fügt, der er nicht entfliehen kann.

Sie hatte kein einziges Wesen in ihrer Nähe, das sie tröstete oder mit Güte aufmunterte. Sie beweinte jetzt bitterer als je ihr Unglück, von diesem Erich, der sie unterdrücke, nicht geliebt zu werden. Esthers Zeit wurde so in Anspruch genommen, daß die Romane bei Seite blieben. Sie sollte nach den Hüttenarbeitern sehen, in deren Wohnungen gehen, ihre Frauen aufmuntern, ihr Hauswesen in Ordnung zu halten, sich danach erkundigen, wie sie ihre Kinder pflegten und dabei ihre eigene Haushaltung versehen. Sie mußte auch die Fabrikschule besuchen und bei der Austheilung von Kleidern und Belohnungen an die armen Kinder zugegen sein. Erich hatte plötzlich die ganze Last eines weitläufigen Fabrikhaushalts auf sie gewälzt, ohne ihr irgend welchen Widerspruch zu gestatten. Sein Benehmen hatte sich so vollständig verändert, daß alle in seiner Umgebung darüber staunten.

Erich war als ein guter, gerechter und gewissenhafter Hausvater bekannt, der von jedem Schein von Despotismus seinen Leuten gegenüber frei war. Gegen seine Leute war er stets derselbe, und sie hielten auf »den jungen Herrn« vielleicht noch mehr, als sie auf »den alten« gehalten hatten. Gegen Esther allein war er gebieterisch und zeigte sich herrisch und streng gegen sie – er, der während der ersten Jahre geduldig alle ihre Launen ertragen hatte.

Esther konnte Abends, wenn sie in ihren Zimmern allein war, stundenlang über diese Verwandlung nachgrübeln. Endlich kam sie zu dem Schlusse, daß Erich, seitdem der Pakt aufgehoben worden war, glaube, er könne jetzt ohne Vorbehalt zeigen, daß er für seine Frau keine Zuneigung fühle und daß er sie deshalb quäle.

Esther machte es, wie die Menschen es gewöhnlich machen: sie suchte den Fehler nicht bei sich, sondern bei Anderen. Wäre Esther in dieser Hinsicht nicht verblendet gewesen, so hätte sie eingesehen, daß sie es selbst war, welche die Dinge so weit kommen ließ.

Als Esther die Last zu schwer vorkam, wandte sie sich an Tante Karolina, um zu weinen und zu klagen, allein diese gab ihr keinen anderen Trost, als daß sie durch Sanftmuth und Zärtlichkeit das Herz ihres Gatten zu gewinnen suchen solle. Frau Berg predigte die Lehren der Unterwerfung, der Güte und der Liebe; aber da Esther dieselben nicht verstehen wollte, so konnte sie dieselben auch nicht anwenden. Esther schrieb an Nanny und erhielt die freundschaftlichste Antwort, worin Nanny bedauerte, daß es zwischen Esther und Erich so weit gekommen sei, und in welcher sie die junge Frau auf dieselbe Weise ermahnte, wie Frau Berg gethan hatte.

Unter diesen traurigen Umständen betrachtete Esther einmal mit bitterem Schmerze den Perlenring, der die Stelle des Trauringes einnahm und flüsterte:

»Perlen bedeuten Thränen, und Thränen habe ich mehr als die Meisten vergossen.«

Sie zog den Ring vom Finger, aber nur, um ihn am folgenden Morgen wieder anzustecken. Esther sah blaß und leidend aus, als es wieder Frühjahr wurde.

Achtzehn Monate waren seit Nannys Abreisen von Lybo vergangen. Sie fühlte sich mit jedem Tage unglücklicher, denn in Allem glaubte sie den Unwillen des Gatten zu verspüren. Obgleich ihre Zeit beständig in Anspruch genommen war, so wurde sie doch von Langeweile gequält. Sie konnte kein Interesse für das empfinden, wozu die Furcht sie zwang, und konnte sich durchaus nicht in ihr Schicksal finden, da sie kein liebevolles Wesen zur Seite hatte. Vor Erich hatte sie eine solche Furcht, daß sie bei seinem Eintritte Herzklopfen bekam und beunruhigt darüber war, es möchte etwas nicht in Ordnung sein, so daß er zornig werden könnte. Ludwig war zwar freundlich wie immer, allein auch er huldigte dem Grundsatze, daß es für Esther nützlich sei, an Vieles denken und viel besorgen zu müssen.

Malmbergs sollten die Pfingsttage auf Grythamra zubringen, wohin Roman mehrere Freunde eingeladen hatte.

Erich half Esther in den Wagen steigen, und Ludwig nahm ihr gegenüber Platz.

»Hast du Esther Nannys Brief gegeben?« fragte Ludwig den Bruder. »Das habe ich ganz vergessen,« antwortete Erich und nahm einen Brief aus der Tasche, den er seiner Frau gab, indem er hinzufügte: »er kam schon vorgestern an, ich habe beinahe vergessen, ihn dir zu geben.«

»Nach dem schwarzen Siegellack zu schließen, scheint es, daß Nanny in Trauer versetzt worden wäre,« äußerte Ludwig. »Du hast recht, darauf habe ich nicht Acht gegeben; wer mag wohl gestorben sein?« fragte Erich, sich an Esther wendend, um Antwort auf seine Frage zu erhalten. Die Unruhe stand auf seinem Gesichte geschrieben. Esther bemerkte dies nicht, sondern erbrach den Brief und las ihn leise für sich.

»Nun, was schreibt Nanny?« fragte Erich.

Esther gab keine Antwort, da sie zu sehr von dem Inhalt des Briefes in Anspruch genommen war.

Erich faßte sie bei der Hand und wiederholte die Frage in einem so ungeduldigen Tone, daß ihn Esther erschrocken ansah.

»Warum siegelt Nanny mit schwarzem Lacke? Hörtest du nicht, daß ich dies zu wissen wünsche?« fragte er.

»Ihre blinde Tante ist gestorben,« antwortete Esther und schaute ihren Mann ganz verwundert an. Was regte ihn denn auf? Wessen Tod hatte er gefürchtet? Es existirte also Jemand, dessen Leben und Tod ihn interessirten, ihn, diesen Mann, dem Esther alle Gefühle absprach.

»Gott sei Lob, daß es niemand Anderes war!« murmelte Erich, lehnte sich in die Wagenecke zurück und fuhr mit dem Taschentuch über die Stirne.

»Niemand Anderes,« wiederholte Esther für sich selbst. »Wäre es möglich, daß er eine andere Frau liebt, dieser harte, herrische Gatte?« Ein Fieberfrost schüttelte sie bei diesem Gedanken. »Ich gäbe mein Leben darum, wenn ich Gewißheit hierüber bekäme,« dachte sie, und Nannys Worte fielen ihr dabei ein. »Er hat geliebt, aber mich nicht.« Nanny kannte also diejenige, die seine Zuneigung besessen hatte und vielleicht noch immer besaß.

»So, die Alte hat ihr Leben geendet?« rief Ludwig aus. »Nun, hat ihr Tod einige Vortheile für Nanny gebracht?«

»Nanny erbt der Oberstin ganzes Vermögen,« bemerkte Esther und faltete den Brief zusammen.

»Erbt das ganze Vermögen?« rief Ludwig aus.

»Das ganze!«

»Nanny wußte wohl, was sie that, als sie der Aufforderung Folge leistete,« sagte Ludwig ironisch. »Sie sah vorher, daß der Lohn für ihre Mühe nicht ausbleiben werde.«

»Wie bösartig du immer bist,« unterbrach ihn Esther mit Entrüstung, »aber so ist es; wer selbst eigennützig ist und nur immer mit eigennützigen Menschen zusammen war, glaubt, alle Andern seien mit demselben Fehler behaftet. Die Oberstin Gyllenspets wird übrigens kein so großes Vermögen gehabt haben, denke ich.«

»Wenigstens so viel, als dein mütterliches Erbtheil ausmachte,« gab Ludwig zur Antwort.

Esther wurde durch diese Nachricht sehr erfreut. Jetzt war ihre geliebte Nanny unabhängig; nun hatte sie Hoffnung, dieselbe bald wieder zu sehen. Nanny versprach in ihrem Briefe, bald nach Lybo zu kommen und dann konnte Esther erfahren, wen Erich geliebt hatte. Die Gewißheit, bald an Nannys Brust zu ruhen, gab einen Luftdruck ab, der ihre Freude über den Besuch in der lieben Heimath, wo sie so glücklich gewesen war, noch bedeutend erhöhte, obgleich der Gedanke an Erichs Liebe zu einer Anderen wieder schmerzlich in ihr auftauchte.

Ludwig und Esther sprachen auf dem ganzen Wege von Nanny. Ersterer sagte vieles Anstößige, was Esther Gelegenheit gab, Nanny zu vertheidigen. Erich schwieg und gab nicht Acht auf das, was sie sagten. Um die Mittagszeit kamen sie auf Grythamra an, wo Tante Karolina sie mit vieler Herzlichkeit bewillkommte. Sie sah so äußerst froh und zufrieden aus, daß man sagen konnte, ihr Gesicht strahle vor Freude.

»Seht Ihr nicht, wie freudestrahlend Karolina aussieht?« rief Roman. »Nun, sie hat auch Veranlassung dazu, ihr Junge ist jetzt Doktor; er hat sein Examen mit Glanz bestanden. Ich hatte ihn zum Pfingstfeste hieher eingeladen, allein er nahm die Einladung nicht an.«

Auf Esthers Wangen wechselte Roth mit Weiß. Roman sah seine Tochter an und runzelte die Stirn.

Man beglückwünschte Frau Berg, welche mit Freudenthränen in den Augen lächelte.

Gunnar Bengtson meinte, daß, da Andreas eine so gute Mutter habe, es nur recht und billig sei, derselben Ehre zu machen.

Der Festtag verfloß fröhlich und angenehm. Esther vergaß ihre ausgestandenen Leiden, um darüber nachzugrübeln, wen ihr Mann wohl geliebt habe.

Erich ließ sie nach Belieben sich zerstreuen und schien auf seine Rolle als Ehedespot verzichtet zu haben.

Tante Juliane und die ganze Verwandtschaft war da. Alle sprachen davon, wie blaß Esther sei, so daß endlich die junge Frau selbst nachzusinnen begann, ob sie nicht vielleicht aus Kummer leidend geworden wäre.

Frauen haben im allgemeinen die Gewohnheit, einander bei der Begegnung zu sagen, ob sie dick oder mager geworden seien. Sie beschäftigen sich stets mit Ab- und Zunahme des Fettes.

Diesmal hatten sie übrigens Recht, wenn sie von Esthers Magerkeit sprachen. Sie war abgefallen und Roman wurde daher bei diesen Reden für die Gesundheit seines Kindes besorgt.

Frau Granstedt flüsterte allen, die es hören wollten, zu, sie wisse, daß Herr Malmberg seine junge Frau schlecht behandle und daß Esther aus Kummer sich die Lungenschwindsucht zugezogen habe.

»Der alte Roman wird gewiß auch die einzige noch lebende Tochter erben,« flüsterte sie einer Freundin zu. »Da die Ehe Esthers kinderlos ist, so bekommt der Mann nur einen geringen Theil des Vermögens; das Uebrige fällt dem Vater zu. Roman wußte wohl, was er that, als er das Mädchen dem Erich Malmberg gab, ja, das wußte er. Karolina Berg weiß wohl, warum sie so stolzen Sinnes ist, ja das weiß sie. Wenn Esther fort ist, erbt sie und Andreas den Roman. Sie hat wohl deswegen den Alten abgehalten, Nanny zu heirathen und es bewirkt, daß das arme Geschöpf von Lybo fortkam. Jetzt soll Nanny irgendwo auf dem Lande als Haushälterin dienen, ja so ist es.«

Die Freundin nickte den weisen Worten der Frau Granstedt Beifall zu und die Damen sparten keine Mühe, die Gastfreundschaft des Wirthes mit eifrigen Verleumdungen zu belohnen.


Frohe Ueberraschungen gehören im allgemeinen nicht zu alltäglichen, aber dennoch erfährt man solche zuweilen.

Als Esther einige Tage nach dem Pfingstfest nach Lybo zurückkehrte, erlebte sie eine ungeahnte Freude: Nanny war am Morgen desselben Tages angekommen.

Alle begrüßten sie freudig, sogar Ludwig. Es schien, als sei ihre Ankunft ihm sehr angenehm.

»Nun bin ich wieder hier,« sagte Nanny, als Erich ihr die Hand gab, »aber nur auf kurze Zeit. Ich bin gekommen, um Esther zu besuchen, die Schulden meines verstorbenen Mannes an das Eisenwerk abzutragen und um Esther den Vorschlag zu machen, mit mir nach Marstrand zu gehen. Der Arzt meiner verstorbenen Tante hat verordnet, ich solle einige Wochen in diesem Bade zubringen, und es wäre mir lieb, wenn Esther bei mir wäre.«

»Meine liebe Nanny,« fiel Erich ein, »Bruder Karl war dem Eisenwerk gar nichts schuldig, du hast also nichts zu bezahlen. Was aber Esthers Reise an die Westküste betrifft, so mag meine Frau selbst entscheiden. Ich für meinen Theil glaube, es würde ihr gut thun. Ich hoffe, daß wir während deines Aufenthalts hier weiter darüber reden können.«

Esther fand, daß ihr Mann vorher nie so liebenswürdig gegen Nanny gewesen sei. War es darum, weil sie ein großes Vermögen geerbt hatte? Ganz gewiß war dies der Grund. Sie mußte eine derartige Huldigung, welche dem Golde dargebracht wurde, auf's Höchste verachten, und dies verbitterte die Freude, welche sie bei Nannys Umarmung empfand. Esther und Nanny saßen die halbe Nacht beisammen und plauderten. Esther erkundigte sich ganz nebenbei nach Andreas und erhielt zur Antwort, er befinde sich wohl. Hierauf begann Esther eine traurige Schilderung ihres eigenen Lebens zu geben. Welche Bürde von Sorgen und Anstrengungen hatte nicht Erich auf sie abgeladen! Sie fühlte sich unglücklicher als je.

Nanny hörte sie stillschweigend an. Als Esther zu reden aufhörte, kam kein einziges Wort des Mitleids über Nannys Lippen; diese sagte vielmehr sanft lächelnd:

»Wir müssen deine Leiden etwas aufmerksamer betrachten, mein kleiner Liebling. Ich fürchte, sie gehören zu den eingebildeten. Du bist übrigens blaß geworden, seitdem ich dich verließ, und daher wird die frische Luft von Marstrand dir gut thun; vielleicht wirst du dann dein Schicksal anders beurtheilen als jetzt.«

Esther meinte, wie schon oft, Nanny sei sehr kalt, dieselbe verstehe sie nicht; auch hatte sie den Muth nicht, um sich über Erichs Liebschaft zu erkundigen. Nanny hätte dies mißverstehen und daraus auf ein Interesse für den Gatten schließen können, das Esther nicht hatte.

Nanny blieb drei Wochen auf Lybo. Sie lernte während dieser Zeit Esthers neue Pflichten kennen, half ihr nicht bloß mit Rath und Aufmunterung, sondern nahm auch an ihren Beschäftigungen Theil.

Am Abend erklärte Nanny mit der aufrichtigsten Miene von der Welt, sie wäre die glücklichste Frau auf Erden, wenn sie einen solchen Wirkungkreis wie Esther hätte. Es kam auch Esther weniger schwieriger vor, sich mit solch materiellen Dingen zu befassen, seitdem Nanny an denselben Theil nahm. Die Zeit verfloß sehr angenehm bis zur Abreise der beiden Frauen, aber Esther hatte sich unterdessen noch nicht entschließen können, einige Fragen an Nanny zu richten, und dennoch war sie in Gedanken immer damit beschäftigt, zu erfahren, wen Erich einst lieb gehabt habe.

Erich blieb jetzt nach den Mahlzeiten länger im Salon, als sonst; seine Gemüthsart war nicht so reizbar und heftig; sein Unmuth war gänzlich verschwunden. Er sprach nicht ausschließlich vom Eisen und seiner Verarbeitung, sondern von andern Dingen, welche auch die Frauen interessirten.

Wir wissen nicht, was Erich und Nanny unter einander abmachten; wohl aber, daß Letztere in dem Etablissement auf Lybo 50,000 Reichsthaler placirte, also so viel, als ihr Mann daraus entnommen hatte.

Endlich reisten Nanny und Esther ab. Die Letztere war ganz vergnügt darüber, erstmals in die Welt hinauszukommen und außer der Stadt und dem Anwesen ihres Mannes und ihres Vaters auch einmal etwas Anderes zu sehen.

Esther hatte am Tage vor der Abreise bei ihrem Vater einen kurzen Abschiedsbesuch gemacht. Sie hatte von ihrer Tante etwas gehört, was der Reise ein noch größeres Interesse verlieh, als diese schon vorher gehabt hatte, allein sie hütete sich wohl, zu erzählen, was die Tante gesagt hatte.

Als der Wagen mit Nanny und Esther forteilte, rief Letztere aus:

»Wie glücklich wäre ich, wenn ich nie mehr in diesen abscheulichen Ort zurückzukehren brauchte, nie den Mann wiedersehen müßte, an den ich gefesselt bin und vor welchem ich Widerwillen empfinde!«


Ist man reich und nicht gar zu krank, sondern jung und rüstig genug, um sich zu vergnügen, so kann man dies in einem großen Badeort recht wohl thun.

Nanny und Esther waren beide jung und reich. Die Erstere war freilich nicht ganz gesund, aber auch nicht so unwohl, daß man von einem ernsteren Leiden sprechen konnte. Sie fühlte gewissermaßen das Bedürfnis der Zerstreuung auf das einförmige und düstere Leben hin, das sie geführt hatte und wünschte auch, Manches zu vergessen, was sie nicht so leicht vergessen konnte. Sie suchte sich deßhalb ihren Aufenthalt im Badeorte so angenehm wie möglich zu machen. Sie hatten eine bequeme Wohnung und wollten nicht nur ihrer Gesundheit pflegen, sondern auch an den Zerstreuungen theilnehmen, die ihnen gefielen.

Nanny hielt es für nothwendig, daß Esther mit ihrer unruhigen Phantasie und ihrem Lebensüberdruß sich zerstreue und die Welt, in welcher sie lebte, kennen lerne, so daß sie sich keine fantastischen Vorstellungen mehr über dieselbe zu machen brauche.

Esther war während der Reise und bei der Ankunft in Marstrand so heiter, daß Nanny sie nie so vergnügt gesehen hatte. Sie war wie ein Vogel, der seinem Käfig entschlüpfte und der in der Freude über die wiedererlangte Freiheit jeden Gedanken an die Zeiten der Trauer und des Zwangs während seiner Gefangenschaft bei Seite läßt.

Die großen Wasserflächen, über die man fuhr und die felsige Küste waren nicht unschön in ihren Augen, denn sie betrachtete sie durch den Verschönerungsspiegel der Romane Emilia Carléns.

Die zwei ersten Tage nach der Ankunft in Marstrand wurden mit der Einrichtung der Wohnung, dem Besuche beim Arzt, der Einzeichnung in die Badeliste u. s. w. zugebracht. Esther wollte in Bälde auf die Promenadeplätze und in die Gesellschaft kommen. Sie legte eine fast nervöse Ungeduld an den Tag, wenn irgend ein Hinderniß diesen Wünschen sich in den Weg stellte. Nanny bemerkte dies, ohne den Grund einsehen zu können.

Eine Woche war bereits vergangen, als Esther eines Tages mit beinahe strahlendem Gesichte vom Bade zurückkehrte.

»Weißt du, Nanny,« sagte sie, »die Badefrau hat mir erzählt, daß wir hier einen neuen Arzt bekommen haben; kannst du errathen, wen?«

Nannys blasses Gesicht erröthete leicht, aber sie konnte den Namen des jungen Arztes nicht errathen.

»Andreas Berg,« antwortete Esther mit einem so triumphirenden Lächeln, daß Nanny erkennen konnte, welche Freude ihr diese Nachricht bereitet habe. Wie ein Blitz ging Nanny der Gedanke durch den Kopf, daß Esther schon vor ihrer Abreise von Lybo darum gewußt haben müsse.

»Esther, du wußtest dies, als wir von zu Hause abreisten!« rief Nanny aus. »Vielleicht hat Andreas selbst dich davon in Kenntniß gesetzt?«

Einige Damen kamen eben auf Besuch, und Esther hatte somit nicht nöthig, diese Frage zu beantworten. Nannys Badezeit war eingetreten, während Besucher da waren, so daß sie gehen mußte. Die Gäste plauderten eine Weile mit Esther, worauf auch sie sich verabschiedeten. Esther ging unruhig im Zimmer auf und ab. Ermüdet setzte sie sich endlich nieder, um zu schreiben und hatte eben angefangen, als die Saalthüre geöffnet wurde und Jemand hereintrat. Esther befand sich in dem Zimmer auf der rechten Seite des Salons. Sie legte den angefangenen Brief weg im Glauben, es sei Nanny, und ging in den Salon, der Freundin entgegen. Mitten im großen Zimmer stand ein stattlicher junger Mann, anscheinend im Zweifel darüber, ob er seine Schritte nach rechts oder links lenken solle. Sein Gesicht war etwas auf die Seite gekehrt, aber beim Rauschen von Esthers Kleid drehte er sich rasch um.

Sie sahen sich einige Augenblicke an, worauf Esther mit erregter Stimme hervorbrachte:

»Mein Gott, es ist ja Andreas! Ich habe dich nicht sogleich erkannt! Wie du dich verändert hast.«

Sie eilte auf ihn zu, indem sie mit leiser Stimme hinzufügte: »Sei willkommen! Wie freut es mich, dich wiederzusehen!«

Andreas, der mehr bestürzt als fröhlich aussah, erholte sich jedoch bald und begrüßte diejenige, die er so viele Jahre lang aus jugendlicher Schwärmerei geliebt hatte, herzlich, froh und freundlich.

Er hatte dieses Zusammentreffen nicht erwartet und brauchte daher einige Minuten, um seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Ich danke dir, Esther, daß du mich mit Vergnügen wiedersiehst,« sagte er und küßte ihre Hand. Seine Stimme klang entsetzlich ruhig und entbehrte jeden Hauchs jener Leidenschaftlichkeit, womit er als Jüngling mit ihr zu sprechen pflegte.

Esther war wie vom Froste geschüttelt. Sie hatte sich dieses Wiedersehen in ihrer Einbildung so oft ausgemalt, wie Andreas in jubelnder Freude zu ihren Füßen stürzen und ihr mit glühenden Worten sein Glück, sie endlich wiederzusehen, schildern werde, so daß es ihr jetzt vorkam, wie wenn sie aus dem hellen Himmel in ein dunkles, kaltes Grab gestürzt wäre. Sie klagte das Schicksal an, welches ihre Erwartungen fortwährend zu nichte machte, und sie verurtheilte, ein langes und trauriges Leben unter getäuschten Hoffnungen zu verbringen.

Eine kurze Pause entstand. Andreas unterbrach sie mit den Worten:

»Du findest mich also sehr verändert?«

»Ja, sehr,« antwortete Esther, und setzte sich in ein Fauteuil.

Andreas rückte einen Stuhl heran und setzte sich ebenfalls.

»Du, Esther, bist ganz dieselbe geblieben,« sagte er. »Die vergangenen Jahre haben dein Aeußeres nicht im Geringsten verändert.« Er betrachtete sie mit großen, dunkelblauen Augen, wie wenn man einen alten Bekannten und guten Freund anblickt, nicht so, wie ein Liebender den geliebten Gegenstand betrachtet. Esther sah ihn an und bemerkte dies. Sie seufzte, mußte aber im Stillen gestehen, daß Andreas bei Weitem nicht so hübsch sei, wie Erich und auch dies grämte sie.

»Ich muß mich in der That sehr verändert haben,« äußerte sie; »ich war und bin noch immer sehr unglücklich.«

»Unglücklich, du? Unmöglich!«

»Unmöglich, sagst du? Wie sollte es unmöglich sein, da mein Mann nicht …«

»Esther!« unterbrach sie Andreas, ihre kleine Hand fassend und in die seinige schließend, »gieb mir das Recht, dein Bruder, dein Freund zu sein, und ich hoffe, dich überzeugen zu können, daß dein Unglück mehr in der Einbildung, als in Wirklichkeit vorhanden ist.«

Das Herz der jungen Frau pochte heftig, scheinbar wie vor Zorn.

»Ich glaube nicht, daß Jemand in der ganzen weiten Welt mir wird beweisen können, Schwarz sei Weiß, und du wirst es auch nicht können – du, der du der alte Andreas nicht mehr bist.«

»Ich danke dir, Esther, für deine letzten Worte. Ja, ich hoffe in der That, nicht mehr der schwache und verächtliche Sklave meiner Leidenschaften zu sein, der ich einst gewesen bin.«

Esther preßte die Lippen zusammen.

»Du kannst mich jetzt ohne Anstand für deinen Bruder ansehen,« setzte Andreas hinzu.

»Das habe ich wohl stets gethan,« sagte Esther in etwas gereiztem Tone. »Ich glaube aber dennoch, daß du mir eine Erklärung schuldig bist über dein sonderbares Benehmen in letzter Zeit. Du hast mich beleidigt, und eine solche Handlung ist schwer zu rechtfertigen.«

Andreas spielte mit den Fransen des Lehnstuhles.

»Ich wünsche, daß du uns Beiden alle Erklärungen ersparen möchtest,« sagte er. »Es giebt nicht Schmerzlicheres, als erkennen zu müssen, daß man egoistisch gegen die Frau, gegen die man hochherzig und edelmüthig sein sollte, gewesen ist. Man muß ein Mann sein, um das Erniedrigende eines Egoismus, wie der meinige es war, einsehen zu können.«

»Und du bist jetzt ein Mann geworden?« fragte Esther mit zitternder Stimme.

»Ich glaube, es zu sein und will mir jetzt deine Achtung erwerben, welche ich beinahe verscherzt habe. Meine Freundschaft für dich, Esther, ist so groß, daß ich mich sehr unglücklich fühlte, wenn du mich verachten würdest.«

Freundschaft und Achtung für Esther, die geliebt sein wollte! Sie wandte sich von ihm ab, ohne zu antworten. Zorn und verletzte Eitelkeit kämpften in ihrem Innern.

»Du sahst wohl meine Mutter, ehe du abreistest?« fragte Andreas, da Esther fortwährend schwieg. »Wie gefällt dir deine Tante, seitdem du sie kennen lerntest?«

»Sehr gut,« antwortete Esther kurz.

Andreas sprach von seiner Mutter und nur von ihr. Es wurde ihm auch nicht schwer, das Gespräch auf diesen Gegenstand zu beschränken, denn Esther beschränkte sich darauf, das, was er sagte, anzuhören. Zum Glück übrigens für Andreas, falls dessen moralische Kraft wirklich eine Probe zu bestehen hatte, trat Nanny in den Salon.

Andreas' Aussehen veränderte sich während ihrer Anwesenheit sichtlich. Er stand auf und grüßte so ehrerbietig, als hätte er eine geliebte und angebetete Herrin vor sich, deren leisester Wunsch ihm Befehl sei.

Nanny sah dagegen aus, als hätte sie einen Feind erblickt, den sie anzugreifen und zu vernichten sich gelobt.

»Guten Tag, Doktor,« sagte sie, ohne Andreas zu erlauben, ihre Hand zu ergreifen. »Was hat dich hiehergeführt?«

»Ich kam zu dir, um einen Besuch zu machen und traf Esther zu meiner großen Ueberraschung. Nach Marstrand aber bin ich deshalb gekommen, weil man mich als Arzt hieher berufen hat.«

»Auf eigenes Verlangen, natürlich?« Nanny sah ihn mit drohendem Blicke an.

»Ich suchte eine Stelle und habe diese erhalten. Du warst hier, Nanny, und ich suchte dich auf.« Andreas blickte Nanny fest in die Augen.

»Für diese Aufmerksamkeit bin ich sehr erkenntlich, aber ich erlaube mir, zu erklären, daß ich dieselbe nicht auf mich beziehe.«

Esther war überrascht von Nannys Benehmen gegen Andreas und von der auffallenden und demüthigen Haltung des Letztern.

»Die Zeit wird es lehren, ob Nanny mich jetzt richtig beurtheilt,« sprach Andreas kalt.

»Gewiß; erlauben Sie mir aber gleichwohl die Frage: wie wußten Sie, daß ich hier sei?«

»Euer Arzt G. sagte mir, er habe dir die Reise an die Westküste anempfohlen. Das Erste, was ich bei meiner Ankunft that, war, die Badeliste durchzusehen und ich fand in derselben, daß du hier seiest, aber der Name meiner Cousine stand nicht darin.«

Nanny lachte und erklärte, die Luft der Westküste müsse die Augen des Doktors angegriffen haben, da er nicht gesehen habe, daß deutlich in dem Verzeichniß stand: »Frau Malmberg – Frau Malmberg.«

Esther mischte sich jetzt in das Gespräch, aber demungeachtet sagte Nanny dem Andreas fortwährend ein verletzendes Wort um das andere, und trotzdem blieb er eine gute Weile da und nahm ganz geduldig alles hin. Als er endlich den Damen Lebewohl sagte, bemerkte Nanny:

»Ich bitte dich, nicht wiederzukommen, weil es mir lieber ist, wenn du es nicht thust! Ich kann dir zwar meine Thüre nicht verschließen, da Esther und ich eine gemeinschaftliche Wohnung haben, allein ich bedaure, daß ich dies nicht thun kann. Sei deßhalb so galant und komme so selten, wie möglich.«

»Ich bedaure es aufrichtig, nicht so galant sein zu können,« antwortete Andreas.

»In diesem Falle zwingst du mich, abzureisen.«

»Nanny kann Esther nicht verlassen.«

»Und ich, ich werde bleiben,« erklärte Esther, welche in Nannys Furcht vor Andreas' Besuchen einen Beweis dafür zu sehen glaubte, daß ihre Schwägerin wisse, daß er Esther noch immer liebe. »Mir ist Andreas stets willkommen,« fügte sie hinzu.

Der Doktor entfernte sich mit einer Verbeugung.

»Esther,« rief Nanny aus, als sie allein waren, »ich fürchte, du bist treulos und falsch, aber es wird dir nicht gelingen, mich so zu erniedrigen, daß ich die Zuschauerin deiner erneuerten Liebschaft mit Andreas sein werde. Ich reise fort und lasse Erich wissen, warum ich mich entferne. Du bist es, welche Andreas hieher zu kommen aufgemuntert hat, du hast ihm geschrieben und ihn ersucht, eine Anstellung hier zu suchen, und deßhalb reistest du so gerne hierher, deßhalb warst du so fröhlich. Du hast mich also von Anfang bis zu Ende betrogen, und dennoch behauptest du, daß du mich aufrichtig liebest.«

Nanny war selten heftig, und Esther konnte sich nicht erinnern, sie jemals so aufgebracht gesehen zu haben. Es that Esther weh, so von ihrer geliebten Nanny angeredet zu werden; aber es empörte sie auch, daß sie und Andreas beschuldigt wurden, Handlungen begangen zu haben, deren sie sich nicht schuldig gemacht hatten. Esthers Antwort war gereizt. Sie wies die ungerechten Beschuldigungen zurück und beschuldigte Nanny zugleich, daß sie den Vetter und sie schlecht behandelt habe. Esther wurde nun ihrerseits heftig, was zur Folge hatte, daß Nanny ihre Gelassenheit wieder erlangte.

Auf diese kleine Scene zwischen den Schwägerinnen erfolgte die feierliche Versöhnung, und Esther kleidete sich an, um eine kleine Bootsfahrt mit einigen Badegästen zu machen.

Nanny hatte keine Lust, dabei zu sein, sondern blieb zu Hause. Esther suchte sie zu bewegen, an der Bootsfahrt Theil zu nehmen, allein Nanny antwortete:

»Ich muß in der Einsamkeit darüber nachdenken, wie thöricht es ist, heftig zu werden. Ich bin ohne Zweifel nervös geworden, weil ich so unvernünftig habe sein können, mich zu vereifern. Gehe nur, mein Liebling, und suche dich zu zerstreuen, damit du unseren kleinen Zwist vergissest.«

Esther ging. Am Sammelplatze traf sie Andreas. Er sprach lebhaft mit zwei jungen Damen, die er jedoch sogleich verließ, um auf Esther zuzueilen. Seine erste Frage war:

»Geht Nanny nicht mit?«

»Sie zieht es vor, zu Hause zu bleiben,« antwortete Esther, welche glaubte, Andreas würde sich freuen, von Nannys ihm weniger angenehmen Gesellschaft befreit zu sein. Esther setzte hinzu: »Du wirst wohl mein Begleiter bei der Bootsfahrt sein?«

»Ich gehe nicht mit,« erklärte Andreas.

Esther wandte ihm den Rücken und fand abermals, daß Andreas bei Weitem nicht so hübsch sei, wie Erich. Die arme Esther war sehr übler Laune, als sie in das Boot stieg. Nichts konnte ihr die herbe Gewißheit benehmen, daß sie weder von ihrem Manne, noch von ihrem Vetter geliebt werde.

Andreas stand lange da und starrte auf die forteilenden Segelboote, ohne sie zu sehen. Er sah nur das reizende blasse Gesicht mit der durchsichtigen Haut und den scharfen Augen, das schon beim ersten Anblick einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Sie war es ja, welche die Binde des Irrthums von seinen Augen genommen und ihn darüber zur Besinnung gebracht hatte, was Pflicht und Ehre forderten. Sie hatte ihn gelehrt, seinen Beruf als Arzt richtig aufzufassen und in seiner Seele den Drang nach höherer menschlicher Entwickelung, welcher sich jetzt in ihm regte, erweckt. Wie viel schuldete er jetzt dieser edlen Frau, und doch hatte sie ihn so sehr verkannt! Diese intelligenten Augen, die ihn während des letzten Jahres so freundlich angeblickt hatten, richteten sich jetzt mit Zorn und Verachtung auf ihn. Dies war mehr, als Andreas ertragen konnte und wollte. Er mußte sie davon überzeugen, daß sie ihn verkenne. Mit diesem Entschlusse entfernte er sich vom Ufer und schlug den Weg zu Nannys Wohnung ein.

Er stieg die Treppe hinauf und trat in den Salon. Nanny saß schreibend am offenen Fenster. Seine Erscheinung überraschte sie einigermaßen.

»Es kommt Nanny sonderbar vor, daß ich wiederum dies Zimmer betrete und zwar einige Stunden, nachdem ich so gut wie fortgewiesen wurde.«

»Ich bin in der That überrascht,« fragte Nanny und schob das Tischlein mit den Schreibmaterialien auf die Seite.

Andreas legte den Hut weg und setzte sich ihr gegenüber.

»Glaubst du, ich könne der Person zürnen, der ich Dankbarkeit schulde?« fragte Andreas.

»Ich vermuthe, du könnest es, obgleich ich nie Gelegenheit hatte, dies zu erfahren.«

»Dann bist du glücklich. Heute bin ich so weit gekommen, diejenige, welche ich verehre, betrüben zu müssen, und du, Nanny, bist daran Schuld; du hast mich tödtlich beleidigt,« setzte Andreas mit bitterem Ernst hinzu.

»Womit?« fragte Nanny. »Doch nicht, weil ich vermuthete, du seiest hierher gekommen, um die Frau wieder zu sehen, welche du liebtest?«

»Eben damit. Wenn ich gewußt hätte, daß Esther hier sein würde, so hätte ich diese Anstellung ausgeschlagen.«

»Das kannst du noch thun,« sagte Nanny, den Kopf zurückwerfend.

»Und ich würde es auch thun, wenn mich nicht zwei Gründe nöthigten, hier zu bleiben.«

»Ich glaube nicht an vorgeschützte Gründe,« fiel Nanny ein; »deine Liebe zu Esther hat größere Macht über dich, als …«

»Nanny, kein Wort mehr!« rief Andreas mit bleichen Lippen aus.

Nanny erschrak ob dem Ausdrucke seines Gesichts.

»Ich erlaube nicht einmal dir, an meiner Ehre zu zweifeln, ehe du den Beweis hast, daß ich sie mit einem Meineide zu beflecken beabsichtige. Der tägliche Verkehr mit mir während eines ganzen Jahres hätte dich belehren können, daß ich mich dessen nicht schuldig machen kann, was du voraussetzest. Vernunft und Klugheit gebieten mir jetzt, hier zu bleiben.«

Nanny zog ganz unmerklich die Augenbrauen in die Höhe. Andreas' Blut floß schneller durch die Adern. Sein Stolz war so verletzt, daß er diese mißtrauische Frau zwingen wollte, ihn wegen ihrer Zweifel um Verzeihung zu bitten. Nach kurzem Stillschweigen sprach er, nicht ohne große Anstrengung weiter:

»Du glaubst also, daß Esther für mich ein Interesse hat, das sich in Liebe verwandeln könnte?«

Nanny spielte mit den Blumen in einem Topfe und sagte, ohne Andreas anzusehen:

»Ich nehme nur das an, was du früher hofftest.«

»Ich hoffte damals auf eine Unmöglichkeit, und wenn du auf das hören willst, was ich zu sagen habe, so wirst du dies auch einsehen.«

»Ich werde dich anhören.«

»Esthers Interesse für mich entstand aus verletztem Selbstgefühl, aus Verzweiflung darüber, nicht geliebt zu sein und aus überreizter Einbildung. Ich kam, um ihr Lebewohl zu sagen, gerade als ihr Herz bei der Entdeckung, welche sie gemacht hatte, am meisten blutete, und ich redete mit ihr so, wie meine eigenen erregten Gefühle es mir eingaben. Meine Worte erregten ihre Phantasie. Meine Liebe konnte die ihr zugefügte Beleidigung rächen, und so wurde ich ihr Phantasiegebild. Meine Liebe, die sie vorher verhöhnt und verschmäht hatte, schmeichelte jetzt ihrer Eigenliebe; ihr Herz hat an ihrer eingebildeten Zärtlichkeit für mich keinen Antheil gehabt. Es gehört noch heute Erich Malmberg. Er besitzt alle die äußerlichen Vorzüge, die den Mann zieren; sie hat ihn geliebt mit dem ganzen poetischen Gefühle eines jungen Mädchenherzens, und sie liebt ihn noch heute mit der verschmähten Liebe des gekränkten Weibes. Wenn sie an mich denkt, so geschieht es nur, um aus ihrem Leben einen Roman zu machen und Rache an ihm zu nehmen. Ich bin derjenige nicht, dessen Zuneigung sie besitzen will, ich bin nur eine Puppe, die sie braucht, um eine Rolle in ihrem geträumten Drama auszufüllen.«

Andreas schwieg.

»Du hast vielleicht ganz Recht, aber dies alles beweist noch nicht, daß dies nicht doch noch zu etwas führen kann, was noch nicht der Fall ist. Esther hat das Bedürfniß, zu lieben und geliebt zu werden; dieses Bedürfniß will sie befriedigt haben, und es kann dahin führen …«

»Zu allem, nur nicht dazu, daß sie mich liebt!« unterbrach Andreas. »Eben der tägliche Umgang wird mich als das Gegentheil von dem, was sie sich von mir vorgestellt hat, erscheinen lassen. Ich bin unter allen Männern gerade derjenige, den Esther am allerwenigsten lieben würde.«

»Hast du immer so gedacht?«

»Nein, es gab eine Zeit, wo ich mich für den einzigen Mann hielt, der Esther glücklich machen könne.«

»Was hat dich in dieser Hinsicht so vollständig auf andere Gedanken gebracht?«

»Ich habe meine Ansicht nach und nach geändert, seit der Zeit, als ich anfing, ruhig und besonnen ihren Charakter und den meinigen zu beurtheilen. Lasse Esther einige Wochen mit mir verkehren, und ich wage die Behauptung, daß sie sich so vollständig in mir täuschen werde, daß alle ihre Illusionen verschwinden. Erich wird dann in einem vortheilhafteren Lichte erscheinen, und sie wird ohne Zögern auf die Stimme ihres Herzens hören.«

»Es liegt etwas Wahres in dem, was du sagst, allein es wäre sehr gewagt, Glauben darein zu setzen,« sagte Nanny gedankenvoll. »Kannst du mit der Hand auf dem Herzen mir versichern, daß du dich stark genug fühlst, nie das Gefühl zu verleugnen, das du für Esther hegst?«

»Niemals wird ein einziges Wort von Liebe mir Esther glauben machen, daß sie von mir geliebt werde; dies gelobe ich bei dem Frieden und dem Glücke meiner Mutter. Bist du mit dieser Versicherung zufrieden?«

»Ich bin durch dieselbe befriedigt, aber ich kann dir voraussagen, daß ich eine scharfe Beobachterin bin, die auf jeden Blick, jede Bewegung und jedes Wort von dir Acht gibt. Solltest du dich aber im Bezug auf ihre Gefühle oder deine eigene Kraft täuschen, so werde ich unserem hiesigen Aufenthalte ein schnelles Ende machen.«

»Ich bin es zufrieden,« erklärte Andreas, »aber,« setzte er hinzu: »Eines muß Nanny mir versprechen, und das ist: von allen ehrenrührigen Angriffen abzustehen. Du weißt es ganz gut, daß ich eine verwundbare Stelle habe; greife mich nicht an derselben an, denn du weißt, daß ich in diesem Falle mich nicht gegen dich vertheidigen könnte.«

»Bedingungen und Vorbehalte sind überflüssig,« antwortete Nanny. »Da ich nicht zweifle, so habe ich keinen Grund, dir zu nahe zu treten. Alles hängt von dir selbst ab.«

»In diesem Falle wirst du nie Ursache haben, mich zu beleidigen.«

Nanny reichte ihm die Hand.

»Meine Absicht,« sagte sie, »ist es nie gewesen, dich zu kränken, sondern nur, Esther vor Verirrungen zu bewahren, die ihr eine bittere Reue verursachen müßten. Lasse uns als Freunde über ihr zukünftiges Glück wachen.«

»Ich und du Freunde?« sagte Andreas wehmüthig lächelnd. »Dies werden wir nie sein!«

Er verbeugte sich und verließ eilig das Zimmer. Als Andreas von Nanny fortging, kam es ihm vor, als hätte er einen ganz neuen Weg eingeschlagen.

»Und wenn ich mir das Herz aus der Brust reißen müßte,« dachte Andreas, »so muß sie doch zugeben, daß ich als Mann meine Pflicht erfüllt und mich ihrer Achtung würdig gezeigt habe.«

Nanny blieb am Fenster sitzen und blickte hinaus auf die nackten Felsen und das tiefblaue Meer, als suche sie etwas, was sie nicht finden konnte.

»Liebt er sie noch immer?« fragte sie sich. »Wenn er liebt, kann er dann so räsonniren, wie er es that? Möglich, aber dennoch unglaublich. Hat er eine solche Gewalt über seine Gefühle erlangt, oder sind seine Gefühle erkaltet? Das Letztere ist das Wahrscheinlichste. Was hat denn diese Veränderung bewirkt?«

Nanny sprang auf, fuhr mit der Hand über die Stirne und flüsterte:

»Warum sinne ich darüber nach? Sei auf deiner Hut, Nanny, und vergiß nie, wie Erich einst und zwar in deiner frühen Jugend, dich lehrte, den Männern zu mißtrauen. Sie reden die schönsten Worte, nur um uns Frauen zu betrügen. Du irrst dich, Andreas, wenn du meinst, mich hintergehen zu können. Ich bin nicht mehr 16 Jahre alt, wie dazumal; die Jahre haben meinen Sinn geschärft!«

Sie setzte sich wieder und zog den Tisch zu sich her, um ihren Brief zu endigen. Wir nehmen uns die Freiheit, ihn über ihre Schulter zu lesen und mitzutheilen, was wir auf diese Weise auffangen.

 

»Erich! Ich will dir etwas erzählen. In einem Badeorte zerstreut man sich auf das Beste, und ich will mich damit unterhalten, dir einen kleinen Zug aus der Wirklichkeit zu erzählen. Es war einmal ein junger Mann, den die Natur reichlich mit Eigenschaften, welche das Leben glücklich zu machen pflegen, ausgestattet hatte. Er besaß ein vortheilhaftes Aeußeres, einen im Grunde edlen Charakter und eine gute Erziehung. Als Sohn reicher Eltern brauchte er nur auf der Bahn, welche sein Großvater und Vater betreten hatten, weiter zu schreiten, um in ökonomischer Beziehung unabhängig zu bleiben. Nun, dieser Mann wurde, trotz alledem, nicht glücklich. Er hatte einen Fehler, und dieser wurde der Feind seines Glückes. Weißt du, was dies für ein Fehler war? Der, daß er immer den Weg verfehlte, welchen er einschlagen mußte, um an das ersehnte Ziel zu gelangen. Darum geschah es, daß er sich unaufhörlich auf Irrwegen befand und zu einem Ziele kam, das seinen Wünschen entgegengesetzt war. Sein böser Genius lachte, der gute weinte. Der Erstere flüsterte ihm eines Tages ins Ohr, nachdem ihm der Letztere nach Möglichkeit hatte helfen wollen: »Heirathe nach Geld!«

Er heirathete. Er bekam eine junge und schöne Frau, die ihn liebte, welche aber bei der Entdeckung, daß er sie nicht liebe, sich zurückzog. Sein guter Genius ermahnte ihn, es zu versuchen, die verlorene Liebe wieder zu gewinnen, allein er schlug abermals den unrechten Weg ein.

Zuerst war er gleichgültig, dann nachgiebig, jedoch ohne Erfolg, und dann wurde er despotisch gegen die, welche Nichts verbrochen hatte und nur ein Opfer seines Egoismus war. Was war die Folge?

Die Phantasie der jungen Frau beschäftigte sich mit Anderen, ihr Herz suchte einen Gegenstand, den sie lieben könne, und es wurde ihrem Mann immer unmöglicher, ihre Liebe wieder zu erlangen. Was that er? Er hat durch eine Heirath aus Berechnung eine reine und unschuldige Natur verderbt und in ihr eine Sehnsucht nach der verbotenen Frucht erweckt.

Sein böser Genius mußte sich freuen. Die Thränen des guten mußten aber gleichwohl Reue und Unfrieden in seiner Seele erwecken, und da wird all sein Gold ihn nicht von den Qualen befreien können, die er sich bereitet hat.

Denke daran und suche zu ergründen, wie dieser Mann handeln muß, um seine Fehler wieder gut zu machen. Er hätte sich nicht gleichgültig, nicht nachlässig, nicht despotisch und noch weniger erkünstelt zärtlich zeigen sollen, weil die durch die Umstände mißtrauisch gewordene Gattin in der nicht aufrichtigen Zärtlichkeit einen neuen Zug von Eigennutz erblickte, zumal da eine gewisse Klausel aufgehoben wurde. Nein, er hätte gut, aber nicht schwach, freundlich, aber nicht zärtlich, entschieden, jedoch ohne unterdrücken zu wollen, sein sollen. Er hätte danach streben sollen, sich die Achtung seiner Frau zu erwerben.

Hätte ich diesen Mann vor mir, so würde ich ihm den Rath geben, sofort seine Geschäfte ruhen zu lassen, um den Badeort, wo sich seine Frau befindet, zu besuchen. Seine Erscheinung würde die junge Frau überraschen und einen vortheilhaften Eindruck auf sie machen. Sie würde sehen, daß er nicht gleichgültig ist, wie sie jetzt annimmt. Er würde durch seine Lebensstellung und sein vortheilhaftes Aeußeres beliebt und gefeiert sein, was nie verfehlen kann, auf eine Frau einen guten Eindruck zu machen. Die Gattin würde genöthigt sein, seine guten Eigenschaften entdecken zu müssen, und unbemerkt würde ihre Erbitterung verschwinden. Das Bewußtsein, er sei etwas mehr, als ein eigennütziger Eisenmensch, würde die Liebe, mit welcher sie jetzt zurückhält, wieder erwecken, und die beiden Gatten könnten das werden, was sie nicht sind – glücklich! Es ist vergebens, daß Andere ihr Interesse für ihn einzuflößen suchen, wenn er es nicht selbst thun will. Bedenke dies!

Die Bäder thun Esther gut. Sie fühlt sich froh und zufrieden, amüsirt sich von ganzem Herzen und scheint zum ersten Male ihre Jugend und Schönheit zu genießen. Sie wird sehr gefeiert, ja sogar am meisten unter allen hiesigen Damen.

Doktor Andreas Berg ist über die Badezeit Arzt hier. Er hat mich soeben verlassen.

Der bleiche Jüngling ist nun ein breitschultriger und stattlicher Mann von hervorragendem Aeußern, welches ihm vortheilhaft ansteht.

Ich vermuthe, daß es auf dem Eisenmarkt gut steht, daß die Hämmer in Thätigkeit sind und die Geschäfte blühen. Länger zu schreiben, wäre kein Vergnügen; ich schließe deßhalb und gehe Esther entgegen, welche jetzt von einer Segelfahrt heimkehren wird.

Deine Schwägerin
Nanny.«

 

Sie las den Brief durch und dachte, als sie ihn zusammen faltete:

»Wird er die Ermahnung verstehen?«


Als dieser Brief nebst einem aus Kopenhagen in Lybo ankam, war Erich verreist. Ludwig hatte mehrere Tage lang den Verdruß, daß diese Briefe nebst einigen andern auf Erichs Schreibtisch unerbrochen liegen blieben. Der Anblick von Nannys Handschrift versetzte Ludwig in die übelste Laune.

Er hielt es für ränkesüchtig und abscheulich, daß sie dem Bruder schrieb, und als Erich endlich zurückkam, vergaß Ludwig, ihm Nannys Brief zu geben, den er in seine Brusttasche gesteckt hatte.

Als Ludwig ihm den Brief aus Kopenhagen gab, sagte er: »Ich sehe, daß dies ein Brief von unserer Stiefmutter ist; will sie hierher kommen?« Ludwig warf einen forschenden Blick auf Erich, der mit dem Brief in der Hand dasaß.

Bei den Worten des Bruders blickte er rasch empor, riß das Couvert auf und durchflog das Schreiben.

»Marianne hat die Absicht, sich in Schweden niederzulassen,« sagte er. »Sie wird uns recht bald besuchen, sagt aber nicht, wann, sondern nur, daß dies der Fall sei, ehe das Laub von den Bäumen fällt. Sie reist von Kopenhagen nach Blekinge.«

Ludwig schaute zufrieden darein.

»Hier ist es gegenwärtig ganz infam langweilig,« sagte er; »es wird ein Fest sein, wenn Marianne ankommt. Wann kommt Esther nach Hause?«

»In fünf Wochen, vermuthe ich,« entgegnete Erich. »Es ist meine Absicht, sie abzuholen.«

»Ich glaubte, du wolltest auch Seebäder nehmen,« sagte Ludwig ironisch; »hast du nicht gefunden, daß deine Gesundheit angegriffen ist?«

»Was beabsichtigst du mit diesem Spotte?« fragte Erich ungeduldig.

»Dir deine Blindheit zu benehmen. Du willst nach Marstrand, um in Nannys Gesellschaft zu sein. Dieser Engel hat dich wohl beim Abschiede dazu aufgemuntert, und du geriethest sogleich in die Schlinge. Wann wirst du Nanny kennen lernen und es vermögen, dich von ihrer Macht über dein Herz zu befreien? Kannst du nicht einsehen, wie erbärmlich es ist, dich als verheiratheter Mann von ihr beherrschen zu lassen? Du hast doch ins T– Namen Pflichten gegen Esther, sollte ich meinen! Nannys Plan ist offenkundig. Sie hofft, falls du nach Marstrand kommst, zwischen dir und Esther eine Trennung zuwege zu bringen, die zur Folge haben soll, daß Nanny deine Frau wird. Der Plan ist feiner ersonnen, als du glaubst, aber man kann viel von der Frau erwarten, die schon im Alter von 16 Jahren Karl heirathete, weil sie glaubte, er wäre der reichste von uns Dreien. Sie wußte es so schlau einzurichten, daß unser Vater selbst es sein mußte, der sie dazu überredete. Gestehe es, daß sie zum Diplomaten geboren ist.«

Erich hatte, während Ludwig sprach, Mariannens Brief in der Hand gehalten und sehr aufmerksam betrachtet.

»Du thust Nanny Unrecht,« rief er aus, »ich kenne kein edleres Weib, als sie. Es ist nicht wahr, daß sie mich liebt; sie würde dann mich und nicht Karl geheirathet haben. Sie zog ihn freiwillig vor, jedoch nicht, weil sie ihn für reicher hielt, sondern aus weit edleren Beweggründen; aber ich bitte dich, Ludwig, laß uns dieses Thema abbrechen, da es für mich sehr peinlich ist: es ruft schmerzliche Erinnerungen hervor, die ich am liebsten vergessen möchte. Ich reise morgen nach Marstrand, du magst darüber sagen, was du willst.«

Erich stand auf, um hinauszugehen, als gleichzeitig die Thüre geöffnet wurde und eine Frau von stattlicher Gestalt und strahlender Schönheit auf der Schwelle erschien.

»Marianne!« riefen die beiden Brüder aus und eilten auf sie zu. Sie reichten ihr die Hände und Ludwig küßte zärtlich eine derselben, indem er sagte:

»Welche Freude und welches Glück, daß du wieder da bist!«

»O Marianne, ich habe keine Worte, um meine Gefühle auszudrücken,« stammelte Erich, und drückte ihr ganz aufgeregt die Hand, ohne sie zu küssen.

»Ich danke Euch, meine lieben Stiefsöhne, für den herzlichen Gruß; es freut mich recht, zu erfahren, daß Ihr mich mit Vergnügen wieder sehet; aber, mein lieber Erich, ist es wahr, daß deine Frau nicht zu Hause ist?« Jetzt erst blickte Marianne den ältesten Stiefsohn an.

»Esther ist mit Nanny in Marstrand und gebraucht die Bäder; hat Nanny nichts davon geschrieben?« fragte Erich.

»Wohl möglich, aber in diesem Falle habe ich ihren Brief nicht erhalten,« antwortete Marianne, indem sie sich wieder an Ludwig wandte und ganz scherzhaft beifügte: »Nun, mein kleiner Junge, willst du deine Mama in die Zimmer führen, die sie während ihres Aufenthalts hier bewohnen soll? Ich bin ungeheuer bestaubt, habe einen großen Durst und sehne ungemein mich nach dem Mittagessen.«

»Meine Frau Mutter soll selbst befehlen, wo sie zu wohnen wünscht; das ganze Haus steht zu deiner Verfügung,« erklärte Ludwig heiter.

»Räume mir dann drei Zimmer im oberen Stockwerk ein, und lasse uns gehen. Ich schicke mein Kammermädchen und meine Koffer hinauf; sie sind im Korridor, da ich Euch zuerst überraschen wollte, ehe ich nach meiner künftigen Wohnung sah. Auf baldiges Wiedersehen, Erich; wenn wir so bald als möglich speisen können, so machst du deiner Mutter Vergnügen.«

Marianne ging auf die Thüre zu; sie hatte bereits Ludwig am Arme ergriffen.

»Willst du nicht deine eigenen Zimmer bewohnen, Marianne?« fragte Erich etwas verlegen. »Sie sind noch ganz so, wie du sie verlassen hast. Man hat sie während dieser Zeit stets in Ordnung gehalten, um dich jederzeit empfangen zu können. Während deiner Abwesenheit sind sie nicht benützt worden.«

Mariannens Augen schimmerten in wunderbarem Glanze. Sie lächelte den liebenswürdigen Stiefsohn an, führte den Zeigefinger an die Lippen und warf ihm eine Kußhand zu.

»Ich bin dir für diese feine Aufmerksamkeit dankbar; ich werde mit Freude meine ehemalige Wohnung wieder beziehen.«

Sie und Ludwig verließen das Zimmer. Erich ließ sich auf einen Stuhl nieder und murmelte, die Stirn auf seine Hand gestützt.

»Ich werde reisen; ich kann und darf nicht bleiben; meine Pflicht, meine Ehre gebieten mir, dies nicht zu thun.«

Er ballte die Fäuste und fügte in dem Tone der Verzweiflung hinzu: »Ich habe mehr, als mein Leben geopfert. O Marianne, Marianne, du ahnst nicht, was ich für dich und für ihn gelitten habe!«

Marianne hatte in der That keine Ahnung davon, daß Erich so aufgeregt war.

Auf Ludwigs Arm gestützt, schritt sie durch den Korridor, ohne daran zu denken, daß es auch etwas Anderes, als nur Lust und Freude in der Welt gäbe.

Scherzend und plaudernd ging sie nach der Thüre zu ihren Zimmern, wo Frau Grönbäck mit einem gewaltigen Schlüsselbunde in der Hand die ehemalige, so sehr geliebte Herrin erwartete.

»Guten Tag, liebe Frau Grönbäck,« sagte Marianne, »hier bin ich wieder, und, wie ich vernehme, wollt Ihr mir meine alten Zimmer einräumen. Habt Dank für die vergangenen Zeiten,« fuhr Marianne mit ernstem Lächeln fort, klopfte der Alten auf die Schulter und blickte so herzlich gut darein, daß der Fran Grönbäck Thränen in die Augen kamen.

»Es ist doch etwas Anderes, die Frau des seligen Herrn zu sehen, anstatt der jungen des Herrn Erich,« dachte die alte Frau, indem sie die Thüre zu den drei Zimmern öffnete, die zu Mariannens Privatwohnung bestimmt waren. Sie waren einst mit all dem Luxus, den ein reicher, verliebter Mann sich erlauben kann, um seiner Auserkorenen zu gefallen, tapezirt, möblirt, eingerichtet und dekorirt worden. Es war die liebste Beschäftigung der Frau Grönbäck gewesen, die Zimmer der bei Allen beliebten Herrin auszustäuben und auszulüften. Marianne fand sie im besten Stande, mit Drahtfenstern, um frische Luft einzulassen, nebst Spiegeln, Vergoldungen und überzogenen Möbeln.

Die Rouleaux wurden aufgezogen und Frau Grönbäck erklärte, sie wolle, während die Herrschaft beim Mittagessen sei, die Vorhänge aufmachen und die Ueberzüge der Stühle, Sophas, Spiegel und Kronleuchter abnehmen.

Die Reiseeffekten wurden hereingebracht und, nachdem sich Ludwig entfernt hatte, machte sich die Kammerfrau an die Arbeit, um ihre Herrin zum Mittagessen anzukleiden, nachdem sich diese mit Liqueur und Wasser erfrischt hatte.

Es ist für eine schöne Frau keine Kleinigkeit, Toilette zu machen, sondern etwas sehr Wichtiges. Marianne legte keinen geringen Werth darauf, sich so zu kleiden, daß ihre Schönheit im vortheilhaftesten Lichte erschien. Sie wußte, daß sie schon in den dreißiger Jahren, also nicht mehr in ihrer ersten Jugendblüthe sei; aber sie wußte auch, daß man nicht an ihr Alter dachte, wenn man sie sah.

Als sie mit ihrer Toilette fertig war, öffnete sie die Fenster im kleinen Salon, zündete eine Cigarette an und begann zu rauchen.

»Geh zu Frau Grönbäck hinunter und erkundige dich, wann das Mittagessen aufgetragen wird,« befahl sie der Kammerjungfer. Als sie allein war, versank sie in tiefes Nachdenken. Sie erinnerte sich an die Vergangenheit, und diese rief ihr so viele heitere, angenehme und glückliche Erinnerungen ins Gedächtniß, daß sie einmal über das andere lächelte, und ihren Lippen endlich die Worte entschlüpften:

»Ich bin sehr glücklich gewesen und habe Ursache, zufrieden zu sein. Er hat mein Andenken in Ehren gehalten und seine alte Zuneigung treu bewahrt.« Ein leichter Seufzer hob ihre Brust und sie flüsterte: »Schade, daß er der Sohn meines verstorbenen Gatten und daß Nanny da ist.«

Es klopfte an der Thüre. Ludwig fragte, ob er hereinkommen dürfe.

»Gerne,« rief Marianne und nickte dem Stiefsohne zu.

»Ist die Frau Mama sehr hungrig?« fragte er.

»Sehr,« gestand Marianne lachend und sprach, indem sie auf seinen schwarzen Frack deutete: »ich glaube, das Kind hat sich umgekleidet?«

»Es war ja immer dein Wunsch, daß wir beim Mittagessen geputzt sein sollen; glaubst du, wir hätten einen einzigen Wunsch vergessen, den du geäußert hast?«

»Ich sehe, daß du dich daran erinnerst,« sagte Marianne, »und dies macht mir herzlich Freude.«

Ludwig küßte ihre Hand.

»Das Mittagessen wird erst in einer halben Stunde fertig,« sagte er, »und wenn du unterdessen nicht zu verhungern fürchtest, so wollte ich bitten, diese dreißig Minuten damit zuzubringen, über Erich zu plaudern.«

»Du weißt von früheren Zeiten her, daß ich ein kleines unschuldiges Gespräch liebe, und ich vergesse meinen Hunger gerne, um ein solches anzuhören,« erklärte Marianne fröhlich. »Was hat denn der arme Erich so Arges gethan, daß du dich gleich nach meiner Ankunft über ihn beklagen willst?«

»Es ist seine Absicht morgen fortzureisen,« sagte Ludwig mit großem Nachdruck.

Marianne nahm ihre Cigarette aus dem Mund und warf sie zum Fenster hinaus.

»Es ist nicht möglich, daß Erich verreist, wenn ich nach mehrjähriger Abwesenheit hierherkomme!« rief sie aus.

»Er ordnet Alles zu seiner Abreise,« belehrte sie Ludwig.

Mariannens Augen wurden dunkel wie eine Gewitterwolke, aus welcher es wetterleuchtet.

»Und wohin reist er?«

»Nach Marstrand, um seine Frau abzuholen.«

Mariannens Gesicht klärte sich wieder auf. »Nun, dies ist ja eine Aufmerksamkeit gegen mich.«

»Die Reise war beschlossen, ehe du ankamst. Erich reist nicht ab, um Esther zu holen, sondern um Nanny zu sehen. Seine Liebe zu ihr ist größer und nicht geringer, als sie gewesen ist. Sie beherrscht alle seine Gedanken und Empfindungen so vollständig, daß nur Gleichgültigkeit gegen seine Frau daraus entspringt.«

Marianne stützte den Kopf mit der Hand. Ludwig fuhr fort:

»Nanny hat ihm geschrieben; ich habe ihm aber den Brief nicht gegeben.« Ludwig nahm denselben aus seiner Tasche. »Mir ist es zuwider, ihm das Schreiben zu geben; willst du den Brief deiner Schwester nehmen und damit machen, was dir gefällt?« Er übergab ihr den Brief. »Rathe von der Reise ab; du hast von jeher einen großen Einfluß auf deine Stiefsöhne gehabt; mache denselben bei Erich geltend. Er kann an Esther schreiben. Deine Ankunft hier ist eine passende Gelegenheit hiezu. Nanny, welche Seeluft nöthig hat, kann ja in Marstrand bleiben.«

Ludwig sprach mit großem Eifer und Marianne hörte ihm mit gedankenvoller Miene zu, indem sie den Brief in der Hand herumdrehte.

Marianne war noch immer gedankenvoll, als sie in den Speisesaal trat, aber ihr Gesicht nahm den gewöhnlichen heiteren und unbekümmerten Ausdruck an, als sie Erich und den Ingenieur begrüßte. Während des Mittagsmahles ging es lebhaft zu; Marianne scherzte und plauderte. Da sie witzig und lustig war, so verstand sie es, das Mahl zu würzen. Sie aß und trank mit gutem Appetit und es schien, als ob sie der Tafelfreude nicht abhold sei, aber dies stand ihr trotzdem nicht schlecht an. Sie war so schön, daß ihre Anwesenheit der Mahlzeit gleichsam ein edleres Gepräge zu geben schien.

Erich konnte sich ihrem Einflusse eben so wenig als die Anderen entziehen, und wenn er auch nicht so aufgeräumt, wie Ludwig und der Ingenieur war, so wurden bei ihm doch alle unangenehmen Gedanken durch die Freude des Augenblicks zurückgedrängt.

Als Erich Marianne in den Salon führte, traf sie daselbst zwei ihrer vertrautesten Freundinnen aus jener Zeit, in der sie Hausfrau auf Lybo war. Sie wohnten in der Stadt X. und wurden von Erich eingeladen, um ihr eine angenehme Ueberraschung zu bereiten. Etwas später am Abend kamen Roman, der alte Gunnar und zwei intimere Freunde des alten Malmberg, lauter Personen, die von Marianne geschätzt wurden. Somit war am ersten Tage, an welchem sie auf Lybo verweilte, eine ausgewählte kleine Gesellschaft versammelt, um sie zu bewillkommnen und ihre Freude über ihre Ankunft zu bezeugen. Der Abend war, wie Ludwig behauptete, der fröhlichste, den man erlebt hatte, seitdem Marianne von Lybo abgegangen war.

Wenn Nanny das häusliche Leben angenehm gemacht hatte, so besaß Marianne die Gabe, alle Traurigkeit zu verbannen und Heiterkeit hervorzurufen. Sie hielt die Freude fest, so daß dieselbe nicht weichen konnte.

Marianne saß außen auf der Terrasse. Sie war allein. Die Gäste hatten sich entfernt und die Zurückgebliebenen einander gute Nacht gesagt; Marianne war in den Garten gegangen. Mit dem Kopf auf der Lehne des Stuhles ruhend, beobachtete Marianne die Rauchwolken ihrer Cigarette und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit dem Brausen des Wasserfalles. Sie vernahm bald darauf die Schritte von jemand, der drinnen im Salon auf und abging. Die Fenster waren offen und der hohe Sockel des Hauses verursachte, daß Marianne, die in der Nähe saß, dem Spaziergänger drinnen verborgen blieb.

Die Cigarette ging zu Ende, nicht so das Umhergehen. Marianne fing an, halblaut ein Fischerlied zu singen, das sie in früheren Zeiten zum großen Vergnügen der Zuhörer zu singen pflegte.

Beim ersten Tone des Liedes hörten die Schritte auf, die Glasthüre nach dem Garten wurde geöffnet und Erich trat auf die Terrasse heraus. Er näherte sich Mariannen, die, ohne ihre Stellung zu verändern oder merken zu lassen, daß sie ihn sehe, zu summen fortfuhr. Erich blieb vor ihr stehen; Mariannens goldenes Haar, von allen Banden befreit, wogte um Kopf, Hals und Schultern. Sie glich einer Göttin Griechenlands in ihrem weiten Rock. Man hätte sie stundenlang betrachten können, ohne zu ermüden, und Erich blieb deshalb auch unbeweglich stehen, bis Marianne den Blick endlich auf ihn heftete. Sie richtete sich empor und lächelte.

»Du siehst, bester Erich, daß ich meiner alten Gewohnheit, nach dem Abendessen zu rauchen und zu träumen, treu geblieben bin.«

»Daß du deiner Gewohnheit treu bliebst, ist ein Glück für mich; ich hätte sonst abreisen müssen, ohne dir den Grund zu erklären, warum ich mich am Tage nach deiner Ankunft entferne.«

»Sollen wir mit Erklärungen anfangen, welche doch keine Erklärungen sind?« rief Marianne lachend aus. »Nein, Erich, ich bitte dich, unterlasse sie bis auf weiteres. Du gedenkst abzureisen?« Marianne reichte ihm die Hand. »Es ist aber noch nicht ausgemacht, daß ich es dir erlaube.«

»In diesem Falle muß ich ungehorsam sein,« sagte Erich.

»Gegen mich ungehorsam?« Sie sah ihn an.

»Ich reise, um meine Frau zu holen,« sagte er.

»Oder vielmehr um Nanny zu treffen,« fiel Marianne ein.

»Welche Beschuldigung, Marianne! Du kennst Nanny und weißt, daß, wenn ich reisen würde, um sie zu treffen, meine Reise vergebens wäre. Ich halte es aber für meine Pflicht, meine Frau zu besuchen.«

»Nanny hat dich wohl über diese Pflicht belehrt?« fiel Marianne ein. »Erich, du kannst ja deine Frau hieher holen lassen; es wäre passender, als mich, deinen Gast, zu verlassen.«

»Ich werde bald zurückkehren.«

»Ich bitte dich, reise nicht. Beauftrage Ludwig, Esther abzuholen. Kannst du, der Beste meiner Stiefsöhne, meine erste Bitte an dich abschlagen? Das wirst du nicht können, besonders, da sie mit deinem eigenen Interesse übereinstimmt.«

»Entschuldige mich, liebe Marianne, wenn ich deine Bitte abschlagen muß. Eine innere Stimme sagt mir, daß ich reisen müsse.« Erich sagte dies in ehrerbietigem, aber bestimmtem Tone. Marianne wandte das Gesicht ab.

»Sprechen wir nicht weiter davon. Ich verstehe dich und bedaure, daß Nanny und du noch immer auf demselben Fuße stehen. Nannys Macht ist ebenso groß, wie ehemals, merke ich. Sie sollte sie gleichwohl nicht in solcher Weise, wie sie es jetzt thut, gebrauchen.«

Marianne stand auf, reichte ihm nochmals die Hand und wünschte ihm Glück auf die Reise. Erich ging in das Haus und brummte vor sich hin:

»Nanny, Nanny, wie werde ich jemals das Leid, welches ich dir anthat, gut machen können? – Niemals!«


Es gibt Menschen, welche so glücklich an Leib und Seele beschaffen sind, daß sie nichts beunruhigt oder stört, und zu diesen gehörte Marianne. Sie schlief in dieser Nacht so sanft, wie jede Nacht, und dennoch war sie mißmuthig zur Ruhe gegangen. Sich lange von unangenehmen Empfindungen beherrschen zu lassen, gehörte nicht zu den Schwächen Mariannens. Es war gerade eine ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften, daß sie sich über das Unangenehme hinwegsetzte und immer bei guter und froher Laune war. Am folgenden Morgen stand sie früh auf und ließ fragen, ob Erich abgereist sei. »Noch nicht« hieß es; »die Pferde sind aber angespannt und warten.« Marianne legte eilig ein einfaches Morgenkleid an und ging in den Garten hinunter. Erich war noch nicht abgereist. Sie ging in den Park und durch denselben, so daß sie auf der Ostseite unterhalb des Eisenwerkes an die Stelle kam, wo die Landstraße vorbeiführte. Sie ging quer über diese bis zum Ufer des Flusses, der neben dem Wege dahinfloß. Hier setzte sich Marianne auf einen Stein und lauschte mit schalkhaftem Ausdruck im Blicke auf jedes Geräusch.

»Jetzt, meine liebe Nanny, wollen wir doch sehen, ob Marianne dich nicht einmal in ihrem Leben überlisten kann. Du hast mir den Sieg immer streitig gemacht, wenn ich ihn gerne errungen hätte, aber diesmal soll es dir doch nicht gelingen, da ich den Vortheil habe, auf dem Platze zu sein, und du davon entfernt bist.«

Jetzt hörte man das Geräusch eines Wagens. Als er so nahe war, daß sich Marianne überzeugte, daß es Erich sei, fing sie an zu rufen und mit dem Taschentuch zu winken. Der Kutscher hielt und beugte sich zum Wagen hinein. Er sagte einige Worte zu seinem Herrn, der, als er Marianne erblickte, aus dem Wagen sprang und gleich darauf an ihrer Seite stand.

»Bist du so früh auf, Marianne?« rief er aus. »Befiehlst du etwas?« Er stand mit entblößtem Haupte vor ihr.

»Ach, mein Freund, du mußt mich nach Hause führen, ich habe mir den Fuß verrenkt,« sagte Marianne und suchte sich vergebens zu erheben, spielte aber ihre Rolle so gut, daß es wirklich aussah, als könne sie nur mit großer Mühe auf dem Fuß stehen und müsse sich deshalb wieder setzen.

»Wie in Gottes Namen ist dies zugegangen?« fragte Erich erschrocken und faßte sie um den Leib. »Du hast dir sehr wehe gethan, wie ich sehe.«

Marianne bejahte dies mit mattem Lächeln.

»Es ist eine Strafe dafür, daß ich mich hieher begab, um in der Morgenstille mich in die Zeiten zurückzuversetzen, wo dies einer meiner Lieblingsorte war und wo du mich heimzuholen pflegtest, wenn ich mich hier vergessen hatte. Nicht gewöhnt, über Steine und Moräste zu gehen, stolperte ich, fiel und blieb dann sitzen. Das Schwierigste wird wohl sein, zum Wagen zu kommen.«

Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie Erich in seine Arme und trug sie zu Wagen, wo er die nicht gar leichte Bürde niedersetzte.

»Wende um und fahre nach Hause!« befahl er.

Es ging im Galopp. Marianne wurde in ihre Wohnung hinaufgetragen, und Erich fuhr selbst zu dem Arzte, der eine halbe Meile entfernt wohnte.

Der Arzt ging zu Marianne hinein, die im äußeren Zimmer auf dem Sopha lag. Sie sandte ihre Kammerjungfer fort, bat den Doktor, die Thüren zu schließen und reichte ihm dann die Hand mit den Worten:

»Lieber Doktor, sie waren in früheren Zeiten mein bester Freund, und ich verlasse mich darauf, daß Sie es noch immer sind.«

»Bis zum Tod!« erklärte der nicht mehr junge Arzt mit Wärme.

»Nun gut, ich habe meinen Fuß nicht beschädigt, mußte es aber vorgeben, um Erich zu bewegen, seine Reise nach Marstrand, wo sich Esther und Nanny befinden, aufzugeben. Sie waren in die früheren Verhältnisse eingeweiht und wissen, warum ich dieser Reise entgegenarbeite. Ich wünschte, daß man Esther holen lassen und daß Erich hier bleiben soll. Sie billigen dies gewiß, ich sehe es Ihnen an, und Sie finden, daß mein Fuß nothwendig der Ruhe bedarf, nicht wahr?«

»Gewiß; ich fürchte nur, Ihr Fuß wird kein hinreichend genügendes Hinderniß sein, um Erich von der Reise abzuhalten,« wandte der Doktor ein.

»Ich aber glaube das Gegentheil. Sie wissen, wie zuvorkommend meine Stiefsöhne immer gegen mich waren, und ich bin überzeugt, daß Erich jetzt nicht abreisen und mich der Langeweile überantworten, sondern sogleich an Esther Nachricht gelangen lassen wird. Kommt sie allein hieher, so wird es mir nicht schwer werden, ein herzlicheres Verhältniß, als es nunmehr der Fall zu sein scheint, zwischen den Gatten herbeizuführen.«

»Ich habe die Gewißheit, daß Ihnen dies gelingen wird, wenn nur Nanny nicht mitkommt. Ihre Gegenwart hier ist von jeher unheilbringend gewesen.«

Der Doktor und Marianne sprachen noch eine Weile mit einander; der verrenkte Fuß wurde umwickelt, und der Arzt erklärte, daß Marianne wenigstens einige Wochen lang sich ruhig verhalten müsse und daß man sie während dieser Zeit unterhalten solle. Die Anwesenheit der »Hausfrau« sei ganz nothwendig, weil sonst die Patientin sich zu Tode langweilen müsse, meinte der Doktor.

Erichs Reise wurde aufgegeben. Er schrieb an Esther und bat sie, Marstrand sogleich zu verlassen und zu Marianne, welche zu Lybo sich befinde und krank sei, nach Hause zu kommen. Der Verwalter mit den Pferden sollte an einem bestimmten Tag ihr nach G. entgegenkommen.

Als der Brief abgesandt worden, ging Erich zu Marianne hinauf. Sie sah finster aus, suchte ihre Traurigkeit aber durch eine angenommene Heiterkeit zu verbergen.

Erich versuchte es mit Musik, Lektüre, Gästen und Allem, was die Zeit vertreiben konnte, um Marianne zu zerstreuen. Den größten Theil des Tages brachte er vorlesend, plaudernd oder musicirend bei ihr zu. Er war nur dann in seinem Comptoir, wenn sonst Jemand an seiner Stelle bei der Kranken war.

Die beiden Brüder wetteiferten mit einander, Mariannens Wünsche zu errathen und ausfindig zu machen, was ihr Freude machen konnte. Ihr Wohnzimmer wurde täglich mit frischen Blumen versehen; Erich verschrieb aus der Hauptstadt die seltensten Früchte und that Alles, was menschenmöglich war, um die Langeweile aus Mariannens sogenanntem Krankenzimmer zu verbannen.

Die Zeit verging, und bald waren die Tage zu Ende, welche herumgehen mußten, bis Esther zurück sein konnte. Jetzt erwartete man stündlich die Ankunft der jungen Frau, aber daheim war niemand, der dieser Ankunft anders, als mit Gleichgültigkeit entgegengesehen hätte. Esther hatte es nicht verstanden, sich beliebt zu machen.

Der Tag verging und ebenso der folgende, ohne daß der Wagen zurückkam. Am Abende des dritten Tages kam er endlich mit dem Verwalter zurück, aber ohne Esther. In G. hatte der Verwalter drei Dampfschiffe erwartet, ohne daß Esther auf einem derselben gewesen wäre, und nach drei Tagen reiste er wieder nach Hause.

Allgemeine Verwunderung in Lybo.

War ihr etwas zugestoßen oder was war wohl der Grund, warum sie nicht kam?

Marianne erklärte, sie sei beunruhigt wegen der »Frau ihres Sohnes«. Ludwig solle nach Marstrand gehen, meinte sie.

Am Abend kam Roman nach Lybo und erklärte, er werde selbst seine Tochter abholen, wenn keine Nachricht mit der Post käme. Am folgenden Tage kam ein Brief von Esther folgenden Inhalts:

 

»Bester Erich! Ich finde deinen Vorschlag, daß ich Marstrand sogleich verlassen soll, unpassend, da Nanny unwohl ist. Ich bleibe deshalb, bis sie wieder gesund und die Badezeit zu Ende ist. Ich lege einige Zeilen an deine Stiefmutter bei und appellire an sie als Schwester, daß sie mir verzeihen möge, wenn ich nicht komme, um sie zu pflegen. Sie wird gewiß, da sie von Jedermann als gut geschildert wird, ein gutes Wort für mich bei meinem Manne einlegen.

Grüße meinen geliebten Vater von seiner liebenden
Tochter Esther.

 

Erichs Blut kam in Wallung, als er diesen Brief las, dessen Inhalt die Anwesenden anscheinend mit Spannung zu erfahren wünschten.

»Nun?« fragte endlich Roman und unterbrach sein Gespräch mit Marianne, welche aufmerksam die Mittheilung des Inhalts erwartete.

Erich reichte ihm Esthers Brief und gab Marianne ein kleines Billet, das demselben beigeschlossen war.

»Esther wünscht Nanny zu pflegen, welche unpäßlich ist,« sagte er und verließ das Zimmer.

Roman las das Schreiben seiner Tochter, ohne sonderlich davon erbaut zu sein. Er legte den Brief zusammen und sagte:

»Esther ist ein gutes Kind, obgleich etwas verwöhnt, dem …«

»Wir nicht böse sein können,« fiel Marianne ein, nachdem sie das Billet durchgelesen hatte. »Ihre Güte legt sie dadurch an den Tag, daß sie meine arme Schwester pflegt. Wie schade, daß ich nicht zu Nanny reisen kann!«

Ludwig trommelte auf der Fensterscheibe und sah aufgebracht aus. Seiner Meinung nach hätten Esther und Nanny wegen ihres Betragens Schläge verdient, aber so konnte er sich nur darüber ärgern.

Etwas später, als er und Marianne allein waren, konnte er sich nicht enthalten, zu sagen:

»Glaubst du, Nanny sei krank? Ich glaube, es ist nur eine List, um Esther zu verhindern, nach Hause zu kommen.«

Marianne antwortete nichts.

Nach diesem Tage schien es, als wäre man zu Lybo dahin übereingekommen, nicht von Esther zu reden, sondern sich ohne sie zu unterhalten, das heißt, Marianne zu unterhalten.

Besuche kamen täglich.

Alle nahmen an Mariannens Befinden Antheil, deshalb folgte Besuch auf Besuch.

Frau Granstedt befand sich auch darunter, weil sie es als ihre Pflicht ansah, wenigstens einmal in der Woche nach Lybo zu fahren, und Tante Juliana war ebenso gewissenhaft. Beide waren stets mehr und mehr über Marianne entzückt. Sie hörte ihnen zu und hatte nie etwas einzuwenden, wenn sie Bemerkungen über ihre Nebenmenschen machten. Sie war ein Engel, dies war ausgemacht, und sie fanden es ganz natürlich, daß Herr Malmberg bei seiner liebenswürdigen Stiefmutter war und ihr Gesellschaft leistete.

Dagegen sei nichts einzuwenden, meinte Frau Granstedt.


Wochen waren vergangen, seitdem Andreas und Nanny mit einander im Reinen waren. Esther hatte an allen möglichen Belustigungen Theil genommen, sie war täglich mit Andreas zusammen gewesen, aber ohne daß ein Wort oder Blick von ihm ihr Veranlassung gegeben hätte, anzunehmen, daß er sie immer noch liebe.

Andreas war gegen seine Cousine höflich und freundlich, aber zurückhaltend und kalt.

Esther ihrerseits versuchte es anfänglich, das gegenseitige Verhältniß anders zu gestalten, aber da ihre Bemühungen erfolglos waren, so wurde sie von einer Unruhe gequält, welche sie antrieb, den Vergnügungen nachzujagen.

In Marstrand waren einige Bekannte von Erich, die für ihn besonders eingenommen waren. Mit diesen brachte Andreas seine Cousine in Berührung. Esther hörte, wie sehr der Charakter ihres Mannes gelobt wurde und lauschte mit einem gemischten Gefühle von Freude und Schmerz diesem Lob aus dem Munde der Fremden.

Sie war in ihrem Innersten davon überzeugt, daß er der schönste Mann sei, den sie je gefunden habe; sie gab auch zu, daß er liebenswürdig sein könne, aber was sie im Grunde ihres Herzens nie zugeben konnte, war, daß er einen edeln Charakter habe; es lag jedoch ein schmerzliches Behagen für sie darin, dies von Anderen sagen zu hören.

Ueber Andreas sprach man sich nicht so lobend aus. Er war der Liebling der Damen nicht. Sie nannten ihn allgemein den Grobian und bedauerten Esther, daß sie einen so wenig liebenswürdigen Vetter habe.

Andreas hoffte, dies Alles würde endlich zum Vortheile Erichs ausschlagen, allein er war noch zu unerfahren, um die Heilmittel richtig anwenden zu können, welche das Uebel, an welchem Esther litt, heilen konnten. Dieses forderte größere Menschenkenntniß.

Esthers Liebe zu ihrem Manne wurde wieder wach gerufen, ohne daß übrigens ihr Glaube an ihn zurückkehrte. Je unaufhörlicher ihre Gedanken wieder auf ihn sich richteten, desto heftiger loderte ihr Zorn darüber, daß sie nicht geliebt werde, und ihre Eifersucht gegen die Unbekannte, die er geliebt hatte, auf. Esther würde viel darum gegeben haben, wenn sie hätte erfahren können, wen er geliebt hatte, aber es war ihr zuwider, Nanny zu fragen oder nur Erichs Namen in ihrer Gegenwart zu nennen.

Sie grübelte darüber nach, als Erichs Brief ankam. Nanny hatte sich einige Tage lang etwas unwohl gefühlt, und Esther beschloß, ohne ihr den Inhalt des Briefes mitzutheilen, der Aufforderung ihres Mannes nicht zu gehorchen. Nanny sollte Erichs Brief zwar späterhin zu lesen bekommen, zuvor aber genesen, während Esther selbst von Erichs Bekannten etwas über seine frühere Liebschaft und über diese heimlich verabscheute Marianne in Erfahrung bringen wollte.

Einer von Erichs Jugendfreunden hatte eines Tages, als er und Esther von Marianne sprachen, geäußert:

»Ich glaubte einst, daß Erich in seine Stiefmutter sich verliebt habe, erfuhr aber später, ich sei im Irrthum gewesen.«

Mehr bedurfte es nicht, um Esthers Einbildung zu erhitzen und die unruhige, finstere Eifersucht zu erwecken. Ja, sie war es, diese gepriesene Marianne, welche er liebte.

Sie wurde sofort in eine gereizte Stimmung versetzt, welche bewirkte, daß ihr Alles unerträglich wurde.

Ihr ganzer Lebensroman war verfehlt, und sie sah einem langen Leben ohne Liebe und ohne Glück entgegen.

Unter dem Einflusse ihrer Empfindungen der Eifersucht, dem Zorn, dem Schmerz und der Hoffnungslosigkeit preisgegeben, begab sich Esther in Gesellschaft Nannys und des größeren Theils der Badegäste zu einer Bootsfahrt.

Es war ein schöner, aber etwas windiger Tag. Man vertheilte sich in drei Boote. Andreas befand sich mit Esther und Nanny in demselben Boote.

Die Abfahrt ging ganz glücklich von Statten. Alle waren heiter und lebhaft, Esther ausgenommen, welche traurig und niedergeschlagen war. Sie nahm an der Unterhaltung wenig oder keinen Antheil.

Die Gesellschaft sprach allgemein von einem Skandal, der sich in Marstrand zugetragen habe, indem eine junge Frau von ihrem Mann fortgegangen sei. Alle sprachen sich mißbilligend über die Entflohene aus.

Esther trat jetzt als Vertheidigerin der armen Frau auf und behauptete, dieselbe müsse sehr unglücklich gewesen sein, wenn sie einen solchen Schritt habe unternehmen können.

Andreas unterbrach sie und sagte in mißbilligendem Tone:

»Wie kannst du eine solche Handlung vertheidigen, die einen Eidbruch in sich begreift? Sie hatte gelobt, des Lebens Freude und Leid mit dem Manne zu theilen und hatte kein Recht, ihn zu verlassen, den sie selbst erwählt hatte. War sie mit ihm unglücklich, so gebot ihr die Pflicht, ihr Schicksal geduldig zu ertragen; aber sie hat vielleicht, wie mit ihr manche andere, nur dazu beigetragen, die unglückliche Ehe noch unglücklicher zu machen, und ihr Entschluß, zu entfliehen, scheint dies anzudeuten. Ich kann sie nicht nachsichtig beurtheilen, das gestehe ich.«

»Kannst du dies nicht?« fragte Esther, sich über den Rand des Bootes lehnend. Andreas' Worte verletzten sie.

»Nein, es ist mir unmöglich. Man weiß ja, daß sie in der Liebe zu einem Anderen einen Trost für ihre unglückliche Ehe suchte, und das ist beinahe unverzeihlich genug. Wenn ich auch selbst die Rolle des Liebhabers in einer solchen traurigen Liebesgeschichte spielen sollte, so würde ich dennoch mich und sie verachten.«

Die letzten Worte wiederhallten in Esthers Ohren. Sie war sehr aufgeregt, denn sie wurden ja von demselben Andreas ausgesprochen, dem sie einst, von ihren romantischen Grillen verleitet, geschrieben hatte, sie liebe ihn. Sie empfand jetzt eine solche Scham über diese angeblichen Gefühle, welche sie nie gehegt hatte und die eine Verletzung ihrer Pflichten bedeuteten, daß ihre Verzweiflung nur noch größer wurde. Von Niemanden geliebt, sondern verachtet und betrogen – welchen Werth konnte das Leben für sie haben? Sie beugte sich über Bord und blickte in die leicht gekräuselten Wellen hinab. Wie glücklich wäre derjenige, welcher von ihrer kühlen Umarmung umfangen würde! Der Wind erfaßte im selben Augenblicke ihren Hut und nahm ihn von ihrem Kopfe; in der nächsten Sekunde schaukelte er auf den Wellen. Esther wurde hiedurch aus ihren traurigen Träumereien erweckt und rief aus: »Mein Hut!«

Andreas suchte ihn mit seinem Stocke aufzufangen, aber da es weder ihm, noch einem der anderen Herren gelang, den Flüchtling zu erhaschen, so machte Esther eine Bewegung, um ihn aufzufangen, verlor aber dabei das Gleichgewicht und fiel mit einem Ausruf des Entsetzens ins Wasser.

Nanny, welche sah, wie unvorsichtig sich Esther vorgebeugt hatte, faßte sie an, was die unglückliche Folge hatte, daß Esther sie im Falle mit sich zog.

Augenblicklich sprangen zwei Herren ins Wasser, um die beiden Damen zu retten. Der, welcher Esther erfaßt hatte, erreichte sogleich wieder das Boot und war nach wenigen Augenblicken mit der Geretteten an Bord; aber der, welcher Nanny retten wollte, war kein so geübter Schwimmer, so daß es beinahe unmöglich für ihn zu sein schien, sie ohne fremde Hülfe herauszuziehen. Er vermochte nur, sich und sie über dem Wasser zu halten.

Der Ohnmächtige, mit den Wellen Kämpfende war – Andreas Berg. Esther sah sein Ringen, sah, wie blaß Nanny war und hörte, wie man voll Angst ruderte, so schnell es ging, um ihm zu helfen, sie zu retten.

Es waren entsetzliche Augenblicke für die junge Frau. Es war einer jener Momente, die entscheidend in das menschliche Dasein eingreifen und es aus der Verblendung des Egoismus aufwecken.

Endlich war man Andreas zu Hülfe gekommen; er und Nanny wurden aus dem Wasser gezogen, letztere ohne Bewußtsein. Esther warf sich weinend über sie und rief verzweifelt aus:

»Ich habe sie getödtet, ich bin daran Schuld! Ach mein Gott, warum bin ich nicht in dem Grabe geblieben, das ich aufsuchte!«

Man machte alle möglichen Versuche, um Nanny wieder zum Bewußtsein zu bringen. Andreas selbst, der nach den schweren Anstrengungen ganz athemlos war, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf sie, und als kein anderes Mittel half, öffnete er ihr eine Ader. Sie athmete wieder zu großer Freude Aller, welche an der Fahrt Theil genommen hatten.

Nachdem man an der Brücke gelandet hatte, wurde Nanny in ihre Wohnung getragen. Das Blut war ihr in den Kopf gestiegen, und sie phantasirte die ganze folgende Nacht. Andreas und Esther, beide gleich beängstigt, wachten. Als sie am andern Morgen nach kurzem Schlummer erwachte, wurde ihnen die Freude zu Theil, sie bei voller Besinnung, wenngleich sehr schwach und an einer heftigen Beklemmung auf der Brust leidend, zu finden. Sie, welche von Natur aus keine starke Brust hatte, konnte die Angst und Ueberanstrengung nicht aushalten, sondern wurde sehr ernstlich krank.

Andreas pflegte sie mit einer Unruhe, die Jedermann auffiel, allein er wagte nicht, sich auf sich allein zu verlassen, sondern zog einen älteren Arzt bei.

Esther bot ein Bild der Verzweiflung und der Reue dar. Sie hatte keine Thränen für ihren Schmerz, keine Worte für ihre Klagen, sondern war stumm und niedergeschmettert. Wer dachte jetzt an sie? Andreas jedenfalls nicht; für ihn gab es nur Nanny, die, wie er, dem Tode nahe gewesen war, und dies Esthers wegen.

Nanny lag mehrere Tage sehr krank darnieder und hatte so schwere Athmungsbeschwerden, daß man jeden Augenblick fürchtete, sie werde ersticken.

Esther saß den ganzen Tag an ihrem Bette, beobachtete ängstlich die Symptome und befürchtete, daß ihre liebste Freundin sterben werde und zwar durch ihre Schuld.

Welche Stunden der Selbstanklage, der Reue und des Bewußtseins, ihren Beruf mißverstanden zu haben, verlebte nicht die junge unglückliche Frau! Wie schämte Esther sich nun der Vergangenheit, wie verächtlich erschien ihr ihre Unversöhnlichkeit dem Gatten gegenüber, und wie verbrecherisch kam sie sich jetzt selber vor!

Wollte Esther, wenn Nannys Leben erhalten werden würde, sich bemühen, ihr Verschulden zu sühnen?

Ja, sie wollte eine gute, nachsichtige und liebevolle Gattin werden und mit Geduld die Prüfung ertragen: wissen zu müssen, daß ihr Mann diese gefürchtete Marianne liebe, nur, um dadurch Gottes und Nannys Vergebung zu erlangen.

Schließlich besserte sich Nannys Zustand, und Esther durfte endlich ihren Schmerz und ihre Freude an der Freundin Brust ausweinen. Sie dankte inbrünstig dem allgütigen Gotte für jeden Tag, an welchem Nannys Zustand sich besserte, und sie hätte mit Freude ihr Leben zum Sühnopfer hingegeben, als Nanny wieder so rüstig war, daß sie das Krankenzimmer verlassen konnte.

Nanny war zum ersten Mal in der frischen Luft gewesen und saß hernach blaß und matt in einem Lehnstuhl am offenen Fenster, als Esther ihr Haupt an ihre Brust lehnte und leise schluchzend flüsterte:

»Wenn du gestorben wärest, Nanny, so hätte ich nicht leben können, denn ich wäre deine Mörderin gewesen. Jetzt weiß ich, was die Gewissensqual zu bedeuten hat. O mein Gott, wie viel habe ich nicht zu bereuen, zu beweinen und gut zu machen! Nanny, ich gelobe dir in diesem Augenblicke, ein edleres Wesen zu werden, als ich bisher gewesen bin. Ich will versuchen, eine gute und rechtschaffene Frau zu werden und nicht eine leichtsinnige Egoistin, die in ihrem Uebermuth das Leben anderer und ihr eigenes ewiges Heil aufs Spiel setzt.«

Nanny beruhigte sie damit, daß sie keine vorsätzliche Schuld an dem Geschehenen habe, allein Esther wurde nicht beruhigter. Zwar hörten die Seufzer auf, die Thränen aber flossen womöglich noch reichlicher.

»Du weißt nicht, was ich verschuldet habe,« stammelte Esther, »und wenn du es erfährst, wirst du mich wahrscheinlich nicht mehr lieben.«

»Ich werde dich stets gerne haben, mein Liebling,« erklärte Nanny.


Einige Tage später kam ein Brief von Lybo an Nanny. Sie betrachtete die Adresse und flüsterte, indem sie ein wenig lächelte:

»Der Brief ist von Ludwig; dann kann ich darauf gefaßt sein, daß lauter Komplimente darin enthalten sind.«

Sie erbrach den Brief und las Folgendes:

 

»Liebe Nanny! Alles in dieser Welt hat seine Grenze, also auch deine Intriguen. So lange sie sich nur um deine Sehnsucht nach Reichthum drehten, hatten sie ein praktisches Ziel, und man mochte sie mißbilligen, ohne dich gerade zu verachten. Jetzt haben sie ein anderes Ziel, und man kann sich nicht enthalten, mit der größten Entrüstung an dein Benehmen zu denken.

Du allein bist es, die Esther gegen den Willen ihres Mannes in Marstrand zurückhält. Esther ist ja nur eine willige Sklavin deiner Wünsche.

Es ist leicht begreiflich, weshalb du sie nicht nach Hause reisen lässest, ebenso wie die Ursache, warum du ihre Schwärmerei für Andreas Berg begünstigst. Glaube aber nicht, daß diese Ränke dich zum Ziele führen werden. Nein, du bist weiter davon entfernt, als du ahnst, weil du nicht länger freien Spielraum hast. Marianne ist auf Lybo, und du weißt, daß sie mit ihrem makellosen Charakter dir entgegen arbeiten muß. – –«

 

Nanny ließ den Brief aus der Hand fallen und rief aus:

»Ist sie auf Lybo, so ist Alles verloren!«

Nach einigen Augenblicken las sie weiter:

 

»Auch der klügste Kopf kann sich bisweilen verrechnen, und du hast dich nun verrechnet und unverzeihlich unvorsichtig gehandelt, indem du Esther davon abhieltest, eine Pflicht der Höflichkeit gegen deine Schwester, unsere Stiefmutter, zu erfüllen.

Marianne hat mehrere Wochen hier zubringen müssen in Folge einer Verletzung am Fuße, und Esther will nicht auf Erichs Aufforderung hierher!

Du mußt zugeben, daß dies dumm von dir war, als du sie abhieltest, ihre Pflicht als Wirthin hier zu erfüllen.

Du fürchtetest wohl Mariannes wohlthuenden Einfluß auf Esther und hofftest, deine Schwester werde abreisen, ehe Esther nach Lybo zurückkehrt.

Marianne reist nicht ab. Sie hat über unser ganzes Hauswesen einen Freudenschimmer verbreitet, welcher während ihrer Abwesenheit entbehrt wurde, und Erich ist wieder der heitere und lebensfrohe Erich geworden, welcher er in seinen jüngeren Jahren gewesen ist.

Marianne, welche die Menschen weniger durch die Brille der Leidenschaften und der Phantasie, als mit dem ungetrübten Blicke des Verstandes betrachtet, hat die wahre Natur deines Charakters und das Verächtliche deiner selbstsüchtigen Intriguen kennen gelernt. Es macht mir auch Vergnügen, dir zu sagen, daß ich ihr half, deine wahre Natur zu entdecken.

Was Erich betrifft, so hat er niemals, seitdem er dich zum ersten Male sah, so wenig, wie gegenwärtig, an dich gedacht.

Verlasse dich deshalb nicht darauf, daß Esthers verlängerter Aufenthalt in Marstrand zu dem von dir ersehnten Ziele führen werde. Ihr Vater, der alles Tadelnswerthe fürchtet, fängt an zu argwöhnen, daß in Marstrand etwas vorgehe, was zu einem Skandale führen könnte, und er hat deshalb im Sinn, seine Tochter selbst abzuholen und zwar bälder, als ihr ahnet. Vielleicht werden auch der Tante Karolina die Augen geöffnet, und sie wird dann ihren Sohn an das erinnern, was seine Ehre erfordert.

Diesmal, Nanny, hast du mir, deinem Gegner so viele Vortheile eingeräumt, daß es zu verwundern wäre, wenn es mir nicht endlich gelingen sollte, dir die Maske der Vollkommenheit, die du so lange vorzuhalten dich bemüht hast, um einfältige Seelen zu bethören, abzunehmen. Sie ist doch nicht natürlich genug gewesen, um den Argwohn zu verscheuchen, daß sie andere Eigenschaften, als die, welche du an den Tag legtest, verberge.

Schwache Köpfe, wie der Esthers, können sich verdrehen lassen; allein Lügen, so schön verblümt sie auch sein mögen, verrathen früher oder später ihren höllischen Ursprung.

Alle waren auf deiner Seite, als du Lybo verließest. Marianne kam, und alle sind gegen dich.

Hier hat man beschlossen, Esther nicht länger unter deinem Einflusse zu belassen; sie soll sogleich nach Hause kommen. Diesmal kannst du sie nicht zurückhalten, dies versichert

Ludwig.«

 

Nanny warf den Brief weg, legte die Hände auf ihre Brust und rief aus:

»Beschimpft und verläumdet, beschmutzt, erniedrigt – und warum? Weil ich mehr, als Andere, das Gute und Moralische geliebt habe. Esther muß noch heute reisen. Und ich, die ich von Mariannes Anwesenheit auf Lybo nichts gewußt habe! O mein Gott, man könnte versucht sein …«

Ohne sich die Sache zu überlegen, ging sie zu Esther hinein, welche noch nicht aufgestanden war. Nannys Aussehen war kalt und strenge, als sie ihr den Brief überreichte.

»Du hast wieder Geheimnisse vor mir gehabt,« sagte sie. »Du hast durch das Verschweigen der Wahrheit dein eigenes Wohl auf das Spiel gesetzt und mich dem abscheulichsten Verdachte preisgegeben. In diesem Augenblicke, Esther, bin ich nahe daran, die Stunde zu verfluchen, da ich Freundschaft und Theilnahme für dich fühlte. Diese Theilnahme mußte mir bittere Leiden und unverdiente Schande bereiten. Warum sagtest du mir nicht, daß Marianne auf Lybo sei und daß Erich deine Rückkehr wünschte? Hätte ich es gewußt, so würdest du zur Abreise veranlaßt worden sein. Nun, Esther, weißt du selbst nicht, welchem Unglück du dich preisgegeben hast. Der Höchste erbarmt sich selten derer, die, wie du, die Bedeutung ihres Lebens nicht verstehen wollen, sondern er sucht diese Halsstarrigen so mit Prüfungen heim, daß sie einsehen lernen, zu was sie als Menschen und Christen verpflichtet sind. Sage mir, Esther, warum verschwiegst du mir, daß Erich dir schrieb, Marianne sei auf Lybo?«

»Ach, Nanny, du kannst mir keine so harten Worte geben, da ich eine solche Härte nicht verdiente,« sagte Esther und beugte das Haupt. »Ich schwieg deshalb, weil ich bleiben wollte, weil ich den Gedanken, mit Marianne zusammenzuleben, nicht ertragen konnte. Jetzt will ich abreisen, dir aber zuvor anvertrauen, wie schuldvoll ich vor Gott und Menschen bin. Nanny, geliebte Nanny, versuche es, mir gut zu sein, obgleich ich es nicht verdiene, sonst wird mir der Muth gänzlich sinken, wenn ich dir meine Fehler eingestehe.«

Esther streckte ihre Hände nach Nanny aus.

»Armes Kind, was willst du wohl, daß ich thun soll? Lese den Brief deines Schwagers, und du wirst einsehen, daß meine Seele mit Bitterkeit erfüllt sein muß.«

Nanny setzte sich auf den Rand des Bettes und streichelte Esthers Wange, indem sie wehmüthig das junge hübsche, aufgeregte Gesicht betrachtete. Esther schmiegte sich weinend an sie an.

»Bleibe ich damit verschont, den Brief zu lesen?« bat sie.

»Nein, Esther, du mußt es thun, du mußt jetzt, da das Bewußtsein deiner Fehler in deiner Brust erwachte, einsehen, welche schädlichen Folgen es haben kann, seinen Launen nachzugeben. Du hast mich lieb, und dennoch warst du diejenige, welche durch ihre Handlungsweise einen Schatten auf meinen Charakter geworfen und mich zum elendsten aller Weiber gestempelt hat.«

Esther entfaltete lautschluchzend den Brief. Als sie diese verletzenden und für Nanny so erniedrigenden Beschuldigungen las, vermeinte sie die Schuldbeladenste aller Sterblichen zu sein.

Hätte Esther in diesem Augenblicke blutige Thränen über sich selbst weinen können, so hätte sie es gethan. Was sollte sie thun, um Nanny zu rechtfertigen? Alles erzählen und darlegen, wie schuldbeladen sie selbst sei? Ja, das wollte sie thun, dann wäre Nanny gerechtfertigt und würde die verdiente Achtung wieder erringen, sie aber würde von Allen verabscheut werden.

Ach, Esther ahnte nicht, wie unmöglich es ist, denjenigen zu rechtfertigen, der einmal verkannt worden ist.

Als sie sich müde geweint hatte, wurde sie etwas ruhiger und äußerte mit bebender Stimme:

»Verzeihe mir, ich fühle, daß ich sehr schuldig bin, und daß ich alles das Schlimme, das ich dir zugefügt habe, nie wieder gutmachen kann; aber höre mich dennoch an, Nanny, und beurtheile mich dann so nachsichtig, als es dir möglich ist.

Von der Stunde an, wo Erich erklärte, er habe mich ohne Liebe geheirathet, war es, wie wenn ich ein schlechter Mensch geworden wäre. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, das mein Herz an ihn fesselte und verachtete diese Schwäche. Ich nahm zu der Erinnerung an die Liebe des Andreas meine Zuflucht. Je mehr ich daran dachte, desto tröstlicher wurde mir der Gedanke, daß er wenigstens mich liebe. Anfangs war es nur eine Beschäftigung für meine Einbildung, die mich den Kummer meines Herzens vergessen ließ. Nach und nach entstanden andere Wünsche, und Andreas' Neigung zu mir schien mir ein Mittel zu sein, mich an Erich rächen zu können. Er, der mein Geld, nicht meine Person liebte, sollte erfahren, daß seine Frau um ihrer selbst willen so geliebt werde, daß sie dieser Liebe wegen die Bande, welche sie an ihn fesselten, zerreißen würde. Ich malte mir diese Rache so aus, daß sie mir zum Phantasiegebilde wurde, und es kam mir vor, als müsse Erichs Liebe in dem Augenblicke erweckt werden, von dem an ich für ihn verloren sein würde. Jahr aus, Jahr ein habe ich in der Einbildung diese Begebenheiten durchlebt; ich habe den Ruf Erichs gehört, als wir uns trennten: »Esther, ich liebe dich und du gibst mich auf!« und ich war glücklich bei diesen Vorstellungen, denn ich sollte gerächt werden. Ich habe dir schon gesagt, daß ich keine Pflichten gegen denjenigen, der Liebe geheuchelt hatte, um mein Geld zu erhalten, zu haben glaubte. Alles, was du gegen diese meine Ansicht gesprochen hast, hast du tauben Ohren gepredigt. Mein Verstand und mein Gefühl konnten nicht begreifen, was du sagtest. So standen die Dinge, als Andreas unsern Briefwechsel aufgab. Mein Verdruß war anfangs groß; ich beruhigte aber mein verletztes Selbstgefühl mit dem Gedanken, daß er es aus Ehrgefühl gethan habe. Mein Mann änderte sein Benehmen und wurde streng. Es gelang ihm, mir Furcht einzuflößen. Meine Erbitterung gegen ihn wuchs, da ich trotz alledem fühlte, daß mein Herz ihm noch immer anhing. Ich war eifersüchtig, ohne es einsehen zu wollen, und ich fürchtete, du oder sonst jemand könne der Meinung sein, daß ich ihn liebe. Als du den Vorschlag machtest, ich solle mit nach Marstrand, war ich froh, von daheim fortzukommen und den Mann nicht mehr sehen zu müssen, dessen Anblick mich innerlich empörte. Am Abend vor unserer Abreise erzählte Tante Karolina, Andreas sei nach Marstrand berufen. Meine Einbildung wurde wieder rege. Ich sollte Andreas treffen und mein geträumter Roman sich verwirklichen; die Qual, mit Erich, den ich gleichzeitig liebte und verabscheute, zusammen zu leben, sollte wohl jetzt ein Ende nehmen, woferne mich Andreas immer noch liebte.

Andreas und ich trafen wieder zusammen. Wie oft hatte ich nicht an diese Begegnung gedacht und ihn überglücklich mir zu Füßen stürzen sehen! Dieses Zusammentreffen und der Augenblick, in welchem Erich mit Betrübniß meine Verbindung mit Andreas hätte erleben sollen, bildeten Glanzpunkte in dem Romane meines Lebens.

Meine Begegnung mit Andreas machte jedoch allen meinen Illusionen ein Ende. Dieselbe war kalt, und er vermied jede Hindeutung auf andere Gefühle, als die einer bloßen Freundschaft, wie sie unter Verwandten zu bestehen pflegt. Ich fühlte mich wiederum enttäuscht.

Das Gaukelspiel meiner Einbildungskraft hatte aufgehört, und ich war nunmehr überzeugt, daß Andreas mich zu lieben aufgehört hatte. Meine Gedanken koncentrirten sich jetzt um meinen Mann, und ich hörte ihn von allen, die ihn kannten, loben.

Erichs Brief mit der Aufforderung, ich sollte wegen Marianne nach Hause reisen, ärgerte mich. Ich war eifersüchtig und wollte mich mit dieser Marianne nicht vor meinem Manne sehen lassen.

Ich fühlte mich sehr unglücklich und wurde es noch mehr, als mir an dem Tage, wo die Bootsfahrt stattfand, gesagt wurde, Erich sei in seine Stiefmutter verliebt gewesen.

Du weißt, wovon während der Wasserpartie die Rede war. Andreas' Worte verstärkten nur das Gefühl von Widerwillen gegen mich selbst, mein Leben und meine Zukunft, womit meine Brust erfüllt war.

Mein Hut wurde vom Winde fortgeweht, und ich faßte den ungeheuerlichen Gedanken, allen meinen Leiden ein Ende zu machen. Ich langte nach dem Hute, damit ich dessen Schicksal theilen sollte.

Nanny, ich that es mit Absicht.«

Esther schwieg, ebenso auch Nanny, welche durch dieses Bekenntniß in Bestürzung versetzt wurde. Als sie sich von dieser Bestürzung erholt hatte, sprach sie langsam:

» Du, Esther, wurdest zuerst gerettet, allein ich und Andreas waren nahe daran, umzukommen. Die Vorsehung ertheilte dir eine ernste Zurechtweisung.«

»Es war eine fürchterliche Lection,« flüsterte Esther. » Dein Leben hatte ich auf's Spiel gesetzt; hierin lag etwas Gräßliches.«

Esther drückte die eine Hand auf die glühende Stirne und umfaßte mit der anderen Nannys Arm.

»Kannst du dir etwas Schrecklicheres vorstellen, als den Menschen, welchen man grenzenlos liebt, dem Tode nahe zu sehen und dabei sich selbst sagen zu müssen, daß man mit Vorbedacht dieses Leben und das anderer auf das Spiel gesetzt hat? Ich werde nie vergessen, was ich empfand, als man rief: ›Gottlob, sie sind gerettet!‹ Mir verging während einiger Augenblicke Hören und Sehen, und als ich wieder begreifen konnte, was um mich vorging, sah ich dich leblos daliegen. Nanny, Nanny, es war wieder ein schrecklicher Augenblick und dann diese Qualen, Leiden und Gefahr für dich! Mein ganzes Leben lang werde ich nicht vergessen und wieder gut machen können, was ich gethan habe. Ich will auch ein neues Leben anfangen und eine demüthige Büßerin werden, die durch die Erfüllung ihrer Pflichten ihre Schuld zu sühnen sucht. Ich will mich geduldig darein fügen, daß Erich nicht mich, sondern vielleicht eine andere liebt. Nanny, du hast ja gesagt, daß, wenn ich eine gute Gattin werde, du mich doppelt lieben würdest. Sage jetzt, du glaubest, mein reuevolles Leben könne sühnen, was ich verbrochen habe.«

»Das glaube ich,« sagte Nanny, indem sie Esthers verweinte Augen küßte, »wenn du nur diese guten Vorsätze nicht zu spät gefaßt hast. Du hast an deinen Gefühlen einen mächtigen Feind, der es dir schwer machen wird, siegreich aus dem Kampfe hervor zu gehen, welcher deiner wartet. Wir wollen aber hoffen, daß du jetzt ebensoviel Seelenstärke und Seelengröße besitzest, wie du früher kleinlich und schwach gewesen bist. Nun, Esther, mußt du dich ankleiden, damit du in zwei Stunden von hier abreisen kannst. Ich würde dir folgen, wenn ich kräftig genug wäre, aber du mußt eben allein reisen. Sobald ich hinreichend gekräftigt sein werde, bin ich bei dir in Lybo.«

»Ich möchte von Andreas mich verabschieden,« sagte Esther.

»Er wird in einer Stunde hierher kommen,« erwiderte Nanny. Esther kleidete sich an, und eine Stunde nach ihrer Unterredung mit Nanny öffnete letztere die Thüre zu Esthers Zimmer und sagte:

»Andreas ist im Salon, falls du ihn treffen willst. Ich will deine Schmucksachen einpacken, während du mit ihm redest.«

Esther näherte sich der Thüre des Salons und dachte dabei:

»Ich kann nicht reisen, ohne Andreas Lebewohl zu sagen, aber ich kann es jetzt thun, ohne mich durch seine Gegenwart aufregen zu lassen oder den Schmerz der Trennung zu empfinden. O mein Gott, wie verändert kommt mir alles vor im Leben! Ich kann nicht mehr begreifen, wie meine Phantasie eine solche Macht über mich hat ausüben können!«

Sie öffnete die Thüre und trat in das große, luftige Zimmer. Andreas stand an einem Fenster und wandte sich um, als er Esthers Schritte vernahm. Sie reichte ihm die Hand mit den Worten:

»Ich wollte dir Lebewohl sagen, da ich Marstrand verlasse.«

»Reisest du?« rief Andreas ganz fröhlich aus.

»Ja, ich reise,« antwortete Esther, »aber ehe wir uns trennen, bitte ich dich, Andreas, daß du mir verzeihen möchtest.«

»Warum?« Andreas sah sie verwundert an.

Ueber Esthers Wangen flossen unaufhörlich Thränen.

»Sage mir, daß du mir nicht böse seiest, und ich reise mit erleichtertem Herzen ab.«

Andreas ergriff ihre Hand.

»Dir, Esther, kann ich nie zürnen, und ich habe auch keine Ursache dazu. O, möchtest du nur halb so glücklich werden, wie ich es wünsche!«

»Ich danke dir für das, was du soeben gesagt hast, Andreas. Bitte Nanny, dir zu sagen, was ich verbrochen habe, und vergiß, daß ich einmal außer Acht gelassen habe, was mir die Pflicht gebot.«

»Esther,« fiel ihr Andreas in die Rede, »magst du auch gethan haben, was du willst, so ist dennoch meine Schuld dir gegenüber am größten. Verzeihe du mir, daß ich einst dein Herz mit Worten entweihte, die ein ehrenhafter Mann nicht zu einer verheiratheten Frau sagt, und sei überzeugt, daß du jetzt an mir einen zuverlässigen Freund und Bruder hast.« Er küßte ihr demüthig die Hand.

Eine Stunde später befand sich Esther an Bord des Dampfschiffes.


Marianne versuchte auf Erichs Arm gestützt, den nicht verrenkten Fuß zu gebrauchen. Es ging bedeutend besser, als Erich zu hoffen gewagt hatte. Deßhalb wurde vorgeschlagen, einen Spaziergang an die Brücke zu machen.

Hier sollte sie ausruhen. Erich richtete alles so bequem, wie möglich für seine schöne Stiefmutter her.

Der Hochsommer hatte seine volle Pracht entfaltet, und ein außerordentlich herrlicher Abend war auf den drückend heißen Tag gefolgt.

»Mein bester Erich, du verwöhnst mich,« erklärte Marianne, als Erich einen Schemel unter ihre Füße stellte. »Ja so,« fügte sie bei, indem sie das einen Augenblick unterbrochene Gespräch wieder aufnahm, »du meinst, Nanny werde von allen verkannt? In wiefern? Ich meinestheils liebe sie zu sehr, um sie unparteiisch beurtheilen zu können, und zu mir kommt man nicht, um von ihren Fehlern zu reden. Wessen wird Nanny eigentlich beschuldigt?«

»Der Ränkesucht. Gewiß, Marianne, ist diese Beschuldigung auch dir zu Ohren gekommen.« Erich lehnte sich an den Gartenstuhl, auf welchem Marianne saß.

»Wenn man etwas Derartiges über meine Schwester zu sagen gewagt hat, so habe ich dies bereits vergessen. Ich spreche sie von diesem Fehler frei. Sie ist immer klug und scharfsinnig gewesen, das ist wahr, allein dies bedeutet wohl noch nicht, daß sie intrigant sei. Verwechselt man diese Eigenschaften, so begeht derjenige einen Fehler, welcher dies thut.«

Marianne deutete auf einen Gartenstuhl und sagte:

»Setze dich, Erich! Ich wünsche, mit dir ein kleines Verhör anzustellen.«

Erich nahm etwas zögernd auf dem Stuhle Platz. Er hatte wenig Lust zu dem Verhör, allein er weigerte sich nie, der Stiefmutter zu gehorchen.

»Viele Jahre sind vergangen, seitdem du und ich an dieser Stelle saßen, und es ist die Erinnerung an das letzte Mal, als wir hier waren, welche mich bestimmt, unumwunden mit dir zu reden.«

Erich verbarg die Stirne mit seiner Hand.

»Ich bitte dich, Marianne, beschwöre die Vergangenheit nicht wieder herauf,« sagte er.

»Ich muß es,« unterbrach ihn Marianne freudig, »und jedenfalls, Erich, keine traurige Miene! Die Vergangenheit ist nicht mehr unser. Wir können darüber als etwas für uns ganz Gleichgültiges reden. Sie berührt uns selbst nicht mehr, sondern vergangene Zeiten, über welche wir Urtheile fällen, wie über ein zu Ende gelesenes Buch. Also, mein lieber, guter Erich, weßhalb wurde aus Nanny und dir nicht ein Paar, da ihr euch doch gegenseitig liebtet?«

Erich war es gelungen, eine scheinbare Gelassenheit zu erzwingen. Er hatte diese Frage erwartet.

»Nanny hat mich nie geliebt,« entgegnete er mit Bestimmtheit.

»Hat sie dies nicht? Und doch weiß ich, daß deine Behauptung unrichtig ist. Nanny war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie zu mir nahm. Sie ist freilich immer verschlossen gewesen, aber dennoch bemerkte ich bald, daß ihr junges Herz an dir hing. Es glückte mir sogar einmal, ihr das Bekenntniß zu entlocken, du seiest ihr lieber als alle Andern. Es ist möglich, daß Nanny dir dies nicht gesagt hat, obgleich es unglaublich zu sein scheint, aber sicher ist es, daß sie mir dieses Geständniß gemacht hat.«

»Nanny hat mir nie zu verstehen gegeben, daß sie mich überhaupt liebe,« versicherte Erich.

»Ich muß dir wohl glauben.« Marianne spielte eine Weile mit ihrer Uhrkette, und sah in ihrer Verlegenheit allerliebst aus. Sie blickte plötzlich empor.

»Begehrtest du niemals Nannys Hand von deinem Vater?«

»Niemals.«

»Und die Ursache? Du liebtest sie und thatst doch nichts, um sie zur Frau zu bekommen, sondern gestattetest, daß sie deinen Bruder heirathete, den sie nicht liebte. Gestehe es, Erich, daß dies alles sehr sonderbar erscheinen muß. Wenn ich daran denke und deiner wilden und eigensinnigen Art und Weise mich erinnere, wenn Nanny irgend einem Anderen den Vorzug zu geben schien, so verstehe ich dein Benehmen nicht.«

Erich bewahrte seine Ruhe vollständig, während Marianne so sprach und selbst dann noch, als er zur Antwort gab:

»Mein Bruder liebte Nanny, und du, Marianne, weißt wohl am besten, wie unmöglich es war, sich gegen Karls Leidenschaften aufzulassen. Mein Vater sandte mich in's Ausland und gab mir den Rath, Nanny zu vergessen. Ich gehorchte ihm.«

»Das Alles würde sehr wahrscheinlich klingen, wenn ich Nanny nicht kennen würde. Ich weiß aber, daß sie sich nicht so leicht zu etwas überreden läßt, was ihr zuwider ist, und es war ihr zuwider, Karl zu heirathen. Es war ein mächtigerer Beweggrund, und du kennst ihn ebenso gut, als Nanny, obgleich ihr ihn mir nicht anvertrauen wollet.«

»Könnte ich eine andere Erklärung abgeben, als die bereits ausgesprochene, so würde ich es thun, allein dies ist unmöglich. Uebrigens, liebste Marianne, mußt du zwei Umstände in Betracht ziehen; erstens, daß Nanny erst sechzehn Jahre alt, und zweitens, daß sie für ihren Schwager sehr eingenommen war.«

»Mit sechszehn Jahren war Nanny charakterfester, als ich es je sein werde. Das Alter thut bei der Beurtheilung dieses Schrittes nichts zur Sache. Was ihre Hinneigung zu meinem Manne betrifft, so konnte dieselbe sie doch wohl nicht bewegen, Karl zu heirathen.«

Marianne blickte Erich an. Er sah kälter und verschlossener aus, als sonst.

»Du willst mir keine weiteren Aufschlüsse über die Vergangenheit geben, über welche ich während der inzwischen verflossenen Zeit beständig gegrübelt habe. Ich wünschte, klar zu sehen und kann es nicht. Es thut mir wehe, daß du so wenig Vertrauen zu mir hast.«

Marianne nahm das Taschentuch vor die Augen. Sie weinte. Dies kam selten vor und machte deßhalb einen tiefen Eindruck.

Erich faßte ihre Hände und zog sie von ihrem Gesichte weg, indem er sagte:

»Gute, engelgleiche Marianne, verzeihe mir, weil ich diese Thränen hervorgerufen habe, gebiete mir, für dich zu sterben, und ich werde es freudig thun, aber verlange nie, daß ich dir die Gründe angeben soll, warum Nanny die Frau meines Bruders wurde. Glaube mir, sie waren edel, und wirf den Schleier der Vergessenheit über diese Periode unseres Familienlebens.«

»Unmöglich, denn mit diesen Ereignissen stehen andere im Zusammenhang, die ich mir ebensowenig erklären kann. Z. B. unsere plötzliche Abreise von Lybo, unser langer Aufenthalt in der Schweiz und endlich das Versprechen, welches mir dein Vater auf seinem Sterbebette abnahm, daß ich nicht eher nach Schweden zurückkehren, keines von euch zu mir einladen, oder früher mit euch zusammenkommen soll, als bis du dich verheirathet hättest. Ich mußte auch versprechen, alles mit Nanny zu theilen, wenn sie je in Noth käme. Mein Kopf schwindelt mir, wenn ich diesen Knoten von Gelübden, Bedingungen und Geheimnissen zu lösen suche. Nachdem ich gewissenhaft mein Versprechen gehalten habe, komme ich hieher. Alles hier läßt mich annehmen, daß deine Ehe nicht glücklich ist. Ich suchte den Grund davon zu erfahren, und man sagte mir: ›Die Liebe zu Nanny steht Erich und seiner jungen Frau im Wege.‹ Ist das wahr?«

Erich erhob sich hastig. Er war jetzt wieder ruhig geworden. »Bei Esther und mir herrscht Mangel an Liebe. Wo kein Kapital ist, kann es auch keine Zinsen geben. Ich hatte die besten Vorsätze und sehr viel Zuneigung für meine Braut, als ich sie heimführte, allein sie brachte keine Verträglichkeit und Nachsicht für meine Fehler mit, da sie entdeckt hatte, daß ich sie nicht liebe. Wir sind jetzt ein Paar zusammengekettete Menschen, die einander kaum ausstehen können.«

»Und deine Liebe zu Nanny ist wieder erwacht,« fiel Marianne in die Rede. Erich schwieg.

»Du antwortest nicht. Ich muß dieses Schweigen als ein Zugeständniß ansehen, aber mein Gott, Erich, was hält dich davon ab, diese unglückliche Ehe scheiden zu lassen und Nanny zu heirathen?«

»Hätte ich Nanny heirathen können, so würde ich Esther nie genommen, sondern Armuth, Arbeit und Entbehrung an ihrer Seite vorgezogen haben; ich hätte …«

»Hier sind sie!« rief eine Stimme, welche Erich das Wort abschnitt, so daß er seine Meinung nicht heraussagen konnte. Es war Romans Stimme. Erich ging seinem Schwiegervater entgegen, sah aber sehr erstaunt aus, als er Esther an des Vaters Arm erblickte.

Erichs Stirne hatte sich umwölkt, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und er begrüßte seine Frau mit eisiger Kälte. Die arme Esther würde in diesem Augenblicke ganze Jahre ihres Leben darum gegeben haben, wenn der Mann ihr freundlich entgegengekommen wäre.

»Ich hoffte wirklich nicht, daß du vor dem Herbste zurückkehren würdest,« sagte Erich und stellte sodann seine Frau Marianne vor.

Esther sah blaß und niedergeschlagen aus, aber als sie Mariannens strahlendes, lächelndes Gesicht gewahrte, kam es der jungen Frau vor, wie wenn man ihr eine scharfe Waffe in's Herz bohren würde. Sie ließ sich jedoch alsbald von den nach ihr ausgestreckten Armen umschließen und empfand einen unwiderstehlichen Drang, in Thränen auszubrechen, als Marianne sie auf die Stirne küßte und liebkosend sprach:

»Sei willkommen, Flüchtling, der uns so lange auf sich hat warten lassen. Dein Mann ist sehr ergrimmt, ich weiß aber gewiß, daß er in der Freude darüber, dich hier zu sehen, den Aerger vergessen und nur die Freude reden lassen wird. Nun, mein Sohn, umarme deine schöne Frau.«

Marianne sah Erich an. Er that, wie gewünscht wurde. Die Umarmung war kalt, und Thränen rannen über Esthers Wangen.

Ueberall, wohin sie kam, entfloh die Liebe vor ihr. Jetzt kam sie sich aber auch so fehlerhaft vor, daß sie sich geduldig jeder Buße unterwerfen mußte, auch dem Schmerz, den ihr die Kälte des Mannes verursachte.

Nach der ersten Aufregung suchte sie sich zu beruhigen und erzählte nun, daß Nanny beinahe ertrunken wäre, daß sie auf diesen Unfall hin, sehr krank geworden und noch immer so schwach sei, daß sie nur ganz kurze Spaziergänge machen könne.

Esther hatte einen Brief von Nanny an Marianne und als letztere denselben gelesen hatte, rief sie aus:

»Wie traurig, daß mir mein Fuß nicht gestattet, zu Nanny zu eilen! Mein Gott, was für ein Unglück, wenn sie ertrunken wäre!«


Nach dem Abendessen begaben sich die beiden Frauen in ihre Privatzimmer. Esther stand lange am Fenster und dachte an Mariannens Zaubergewalt. Es überkam sie eine große Unruhe und ein bestimmter Verdacht, daß es Marianne wäre, welche von Erich geliebt werde. Sie erkannte mit Bestimmtheit, daß Marianne gefährlich sei.

»Sie ist mehr als schön, sie ist hinreißend,« dachte Esther ganz muthlos. »Wo Marianne ist, kann es keine Andere geben. Sie ist Allen überlegen. Wäre ich, wie sie, so würde Erich mich lieben; jetzt aber muß ich im Vergleiche mit ihr so unbedeutend erscheinen, daß Erich mir nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken wird. Wie artig war er nicht gegen sie und ebenso Ludwig. Sie haben mir nie eine solche Aufmerksamkeit geschenkt, und selbst Papa sah und hörte nur Marianne. Ich bin sehr unglücklich, ich, welche so dankbar sein würde, wenn Erich jetzt ein wenig Zärtlichkeit gegen mich an den Tag legte. Ich vermag es nie, sie zu lieben; nein, ich empfinde Abneigung und Widerwillen gegen sie, und doch konnte ich nicht umhin, ihre Liebenswürdigkeit anzuerkennen. O Nanny, warum bist du nicht hier, um meinen Muth aufrecht zu erhalten?«

Esther setzte sich nieder, um an Nanny zu schreiben. Sie war müde, hatte aber dennoch keine Lust, sich zur Ruhe zu begeben, ehe sie ihr Herz vor der Freundin, der durch ihre Schuld so sehr verkannten, ausgeschüttet haben würde.

Während Esther schrieb, spazierte Marianne in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Sie sah nichts weniger, als unruhig oder traurig aus. Mariannens Gefühle waren nicht so tief, daß sie ihr großen Kummer bereiten konnten, aber gleichwohl konnte es vorkommen, daß dieselben ihre gewöhnliche Heiterkeit trübten und ein vorübergehendes Mißbehagen verursachten.

In diesem Zustande befand sich Marianne nunmehr. Sie wurde durch etwas in der Ausführung eines lange gehegten Planes gestört und dachte nun darüber nach, wie dieser Plan trotz des Hindernisses gelingen könne.

Sie stand am Fenster, öffnete es und athmete die balsamische Luft der Julinacht eilt. Sie blickte hinaus in die durchsichtige Dunkelheit und dachte:

»Sie ist schön, sehr schön und auch sehr jung.« Marianne seufzte. »Im Kampfe mit sehr jungen Frauen ist der Sieg stets ungewiß. Wir Dreißigjährigen können uns mit einem wohlentfaltenen Aeußern u. s. w. trösten, allein es fehlt uns dennoch dieses poetische Etwas, welches der Jugend eigen ist. Die fatale Drei vor der Null wirkt unvortheilhaft. Erich und Esther sind bald vier Jahre lang verheirathet. Erich hat noch nicht einsehen gelernt, daß seine Frau entzückend ist. Was kann wohl die Ursache sein?

»Nanny!« Marianne schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich muß wissen, ob es Nanny ist, die er liebt, oder ob …«

Sie schloß das Fenster, zündete die Lichter auf dem Toilettentische an und betrachtete ihr in üppigem Glanze strahlendes Bild.

»Trotz ihrer Jugend sollte ich doch das Spiel gewinnen,« sprach sie lächelnd, »denn wenn man mich sieht, denkt man nicht an meine Jahre. Ihre Schönheit hat mich geärgert. Allein was bedeutet dies? Nichts. Ich bin auf alle Jugend ein wenig eifersüchtig, weiter nichts, aber diese Eifersucht reizt mich. Etwas muß man doch thun, um sich zu zerstreuen und Revanche zu nehmen, wenn man einmal das Spiel verloren hat. – Es ist mir ein Bedürfniß, angebetet zu werden, und darin liegt nichts Schlimmes,« setzte sie mit einem übermüthigen Lächeln hinzu: »Also, scharfsinnige Nanny, junge, blühende Esther, ich fordere euch zum Kampfe; wir wollen sehen, wer von uns dreien die Gefährlichste ist. Ich glaube, daß es keine von euch ist …« Sie lachte.

Marianne hatte in jener Nacht einen unheimlichen Traum. Es war, als reiche ihr Nanny einen Spiegel, und, als sie sich darin erblickte, war ihr Gesicht von Blattern entstellt. Sie war abscheulich häßlich. Bei diesem Anblick stieß sie einen Angstschrei aus und erwachte.


Esther hatte, ohne von ihrem Manne aufgefordert zu sein, das thätige Leben wieder begonnen, das sie vor ihrer Abreise geführt hatte und legte jetzt ein weit größeres Interesse dafür an den Tag, als vorher. Marianne lobte sie und suchte die Stunden, welche die Familie gemeinschaftlich zubrachte, so angenehm als möglich zu machen. Alle, Esther ausgenommen, sehnten sich nach den Abenden, wo man an der Freude, die Marianne um sich verbreitete, Theil nehmen konnte.

Esther bemerkte sehr wohl, daß sie in ihrem eigenen Hause nichts sei; Marianne war Alles. Alle, von ihrem Mann an bis zu dem geringsten Diener, betrachteten Marianne als die allein befehlende Herrin, deren leisester Wink erfüllt werden mußte. Alle Ergebenheit bezog sich auf Marianne, und Esther fühlte, was sie nie an Nannys Seite empfunden hatte, nämlich, daß sie vernachlässigt und nie zu einer andern Rolle vom Schicksale ausersehen, als zu der einer Null. Nicht einmal ihr Vater bekümmerte sich um ihre Wünsche, wenn solche nicht mit Mariannes Wünschen übereinstimmten. Esthers Niedergeschlagenheit und Eifersucht steigerten sich, und wenn sie Abends in der Einsamkeit das Alles überlegte, so weinte sie, von ihrer Eifersucht verzehrt, so, wie sie nie zuvor geweint hatte. Sie wachte oft ganze Nächte hindurch, aber wenn der Morgen kam, so eilte sie mit fieberhafter Ungeduld an ihr Geschäft, um während desselben ihre Leiden zu vergessen.

Esther trug diese schweren Prüfungen mit einer Seelenstärke, die man nie von ihr erwartet hätte. Sie war zwar niemals heiter, aber stets freundlich und aufmerksam und unterdrückte alle Ausbrüche ihrer Eifersucht.

Marianne dagegen lebte nur dem Vergnügen und war unermüdlich in der Auffindung neuer Zerstreuungen und in Anwendung aller Mittel, welche ihr zu Gebote standen, um sich und ihre Umgebung zu belustigen. Man trank den berauschenden Nektar der Freude und achtete nicht darauf, ob Esther traurig oder fröhlich sei. War sie traurig, so war es um so schlimmer für sie, dann war sie langweilig, und Marianne hatte den Vortheil, doppelt angenehm zu erscheinen. Sie lobte Esthers häuslichen Sinn, aber sie erbot sich nicht an, ihre Mühe zu theilen, sondern behauptete, sie wolle Esther die Lorbeeren nicht rauben, welche sie mit Recht verdiene.

»Ich bin,« sagte sie, »eine Faullenzerin, deren Aufgabe es ist, das Leben meiner Umgebung zu erheitern, aber Esther gehört zu denjenigen, welche für das Nützliche leben und ich bewundere sie.«

Erich schwieg, als sie so redete und arbeitete jetzt eben so eifrig, wie vor ihrer Ankunft zu Lybo, aber wenn die Arbeitszeit vorüber war, widmete er sich mehr dem geselligen Verkehre. Stets aufmerksam, gab er sich Mühe, um Mariannen bei jeder Gelegenheit zu zeigen, daß es sein Wunsch sei, zu errathen, was ihr Freude machen könnte.

Er sprach mit Interesse von Allem, was eine gebildete Frau unterhalten konnte. Nie hatte ihn Esther, selbst als Bräutigam nicht, sein Aeußeres so im Stande halten sehen oder ihn so glücklich in seiner Art gefunden. Er war schön und liebenswürdig. Welch ein großes Glück wäre es gewesen, wenn er sie geliebt hätte!

Esther vergaß seinen Eigennutz und seine Falschheit, über die sie Jahre lang gegrübelt hatte und wurde von dem brennendsten Verlangen beseelt, Marianne verdringen zu können.

Erichs Benehmen gegen Esther war kalt, aber nicht grob, wie es vor ihrer Abreise nach Marstrand gewesen war.

Es kam ihr vor, als erinnere er sich ihrer nicht eher, als bis sie ihm durch ihre Anwesenheit dazu Veranlassung gab. Wenn sie sich auch den ganzen Tag bemühte, das zu thun, was sie ihm in den Augen anzusehen glaubte, so gab er doch nicht Acht darauf.

Zuweilen nöthigte ihn Marianne, Esthers Bemühungen anzuerkennen, allein dann ärgerte es Esther, weil sie Marianne für ein solches Lob zu danken hatte.

Esther sah mit Entsetzen, daß sie ihrem Manne jeden Tag mehr entfremdet wurde und daß sie ihm jetzt weit ferner stand, als vor ihrer Reise. Damals hatte er sie wenigstens gequält, jetzt dachte er gar nicht mehr an sie.

Die Tage vergingen, und Nanny kam nicht, obgleich sie von Esther auf das Dringendste ersucht worden war, bald nach Lybo zu eilen. Nicht eine einzige Zeile hatte die arme Esther erhalten, um sich trösten zu können, sondern mußte ganz allein die trüben Stunden verleben und harte Kämpfe bestehen.


Marianne war in einem Nachbarhause auf Besuch und wurde erst gegen Abend daheim erwartet.

Gegen 7 Uhr sah Esther ihren Mann zu Pferde steigen und nach der Richtung zu eilen, von wo Marianne kommen sollte. Sie stand auf dem Balkon, und Erich mußte sie wohl bemerkt haben, als er vorbei galoppirte, aber dessen ungeachtet sandte er ihr keinen Abschiedsgruß.

Einige Monate lange hatte sie kein Gewicht auf derlei Dinge gelegt; jetzt aber schmerzte sie sein Benehmen sehr.

»Esther!« rief ihr Ludwig vom Hofe aus zu, »hast du Lust, auszufahren? Ich soll nach Lilliefors, und du kannst wohl mit, da du dich doch entschlossen hast, die alte Lona zu besuchen!«

Esther hatte durchaus keine Lust, auszufahren, aber der Name der alten Lona gab ihr Veranlassung hiezu, und sie antwortete, sie wolle mit.

Esther setzte sich in den Wagen mit dem lobenswerthen Vorsatze, so wenig als möglich liebenswürdig gegen Ludwig zu sein, der nie etwas Anderes that, als Nanny tadeln.

Dies war ein sehr einfältiger Vorsatz, welcher Mariannes Heiterkeit erregt haben würde, im Falle sie ihn hätte aussprechen hören. Darin lag eben Mariannes Macht, daß sie stets gegen Jedermann einnehmend war, mochte man ihr nun gefallen oder nicht. Sie huldigte dem Grundsatze, daß es nichts Thörichteres gebe, als den Leuten zu zeigen, wie unerträglich man sein könne.

Beim Beginn der Fahrt schwieg Esther eigensinnig. Ludwig hatte das Thema »Marianne« in allen möglichen Tonarten variirt. Er hatte sie gepriesen, als das vollkommenste weibliche Wesen, und Esther hörte ihm mit gesteigertem Schmerz zu.

Ludwig wurde endlich ärgerlich über Esthers Schweigen und fragte, ob sie nicht auch glaube, daß Marianne das aufrichtigste und unbefangenste Geschöpf sei, daß sie je gefunden habe.

»Nein, das glaube ich gewiß nicht,« antwortete Esther in etwas gereiztem Tone. »Schön ist sie, das gebe ich gerne zu; aber aufrichtig ist sie nicht.«

Ludwig sah Esther an, als ob er ihr gerne eine Ohrfeige als Antwort auf diese Bemerkung gegeben hätte. Er brachte Beweise von Mariannes Offenheit vor, und Esther konnte ihm nicht widerlegen, was ihr sehr unangenehm war.

»Ich bin dennoch überzeugt, daß Nanny weit aufrichtiger und weniger gefallsüchtig ist, als Marianne,« sagte Esther.

»Du bist nicht gescheidt, wenn du so reden kannst, Nanny und Marianne gleichzeitig nennen und sie noch dazu mit einander vergleichen, heißt aus Schwarz Weiß machen wollen.

Nanny ist nicht würdig, Mariannes Schuhriemen zu lösen. Sie ist eine Intriguantin, die es einzig und allein Mariannen und meinem verstorbenen Bruder zu verdanken hat, daß sie in unserer Familie geduldet wird und die …«

Esther unterbrach ihn plötzlich. Sie vertheidigte Nanny eifrig, und ließ Worte über Marianne fallen, welche nicht geeignet waren, Ludwig zu beruhigen, sondern ihn nur reizten.

»Ja so, Nanny hat dir auf diese schändliche Weise ihre Schwester geschildert!« brauste er auf. »Nun, von ihr kann man Alles erwarten, aber wenn dem so ist, so bin ich geneigt, sie mit gleicher Münze zu bezahlen und dir zu zeigen, was sie in der That für eine Frau ist.«

»Wenn du fortfährst, Nanny zu verleumden, so springe ich aus dem Wagen!« rief Esther aus.

»Auch wenn ich dir Beweise gebe, daß sie in deinen eigenen Mann verliebt ist?«

Diese Worte waren kaum ausgesprochen, als Esther schon aus dem Wagen war, trotzdem, daß Ludwig sehr schnell fuhr.

Esther hatte ihre Drohung verwirklicht, ohne die Folgen ihres Thuns zu bedenken; sie beschädigte sich sehr und konnte lange nicht aufstehen. Ludwig erschrak, hielt die Pferde an, sprang aus dem Wagen und beeilte sich, sie aufzuheben. Esther hatte mehrere Wunden an Armen und Händen, Mund und Zähne bluteten. Einen wirklichen Schaden hatte sie jedoch nicht genommen.

Ludwig holte Wasser aus einem Bächlein und als Esther zu bluten aufgehört hatte, sollte sie wieder in den kleinen Jagdwagen steigen; sie machte es aber zuvor zur Bedingung, daß Ludwig nicht wagen dürfe, ein einziges mißbilligendes Wort über Nanny zu reden.

Ludwig gab das verlangte Versprechen, und Esther setzte den Fuß auf den Tritt, um in den Wagen zu springen, als sie ihn plötzlich zurückzog und horchte. Ein Wagen näherte sich, und, wenn Esthers Gehör nicht trügte, auch ein Reiter.

Marianne und Erich wurden bald sichtbar.

Erstere fuhr in dem Wagen, der zu ihrer Verfügung gestellt worden war, und Letzterer ritt ihr zur Seite. Beide schienen heiter und aufgeräumt zu sein.

Dies gab Esther einen Stich ins Herz.

»Was, mein Sohn,« rief Marianne Ludwig zu, als sie ihn und Esther am Wagen stehen sah; »hast du mit deiner schönen Schwägerin umgeworfen und die Gelegenheit benützt, ihr eine Liebeserklärung zu machen? Ei, ei, Ludwig, das sieht sehr verdächtig aus. Erich hat Ursache, eifersüchtig zu werden; aber was ist das, mein lieber Engel, du hast ja eine Schürfung im Gesichte.«

Letztere Worte waren an Esther gerichtet.

Mariannes Kutscher hielt stille und sie stieg aus.

Liebkosend streichelte sie Esthers vor Zorn, Verlegenheit und Eifersucht glühende Wange, und Esther wurde so ergrimmt darüber, daß sie in die schöne Hand hätte beißen mögen; sie begnügte sich jedoch damit, die Lippen zusammenzupressen. Sie hatte Gott, Nanny und sich selber gelobt, durch Geduld und Ergebung ihre Fehler gut zu machen.

Diese Begegnung schloß damit, daß Marianne Esther zu überreden suchte, mit ihr nach Hause zu fahren; aber Esther mußte nothwendig die alte Lona besuchen. Erich hatte sie ja gerade heute gebeten, sie möchte nach der Alten sehen. Trotz ihres Aergers wollte sie ihrem Manne doch zeigen, daß sie seine Ermahnung nicht vergessen habe und schlug deßhalb Mariannens Anerbieten aus. Esther sah Erich an, während sie dies that, er schien aber ihren Worten keine Aufmerksamkeit zu schenken, und einige Minuten später fuhren die beiden Eheleute nach verschiedenen Richtungen ab.


»Deinem Weibchen liegt es sehr daran, dir zu Willen zu sein,« sagte Marianne.

»Um aufrichtig zu sein, muß ich sagen, daß ich hievon nicht überzeugt bin,« antwortete Erich.

»Nicht! wie undankbar seid ihr doch, ihr Ehemänner!« rief Marianne aus. »Wenn man euch zu Gefallen sein will, so ist dies verlorene Mühe.

Esther hat dich z. B. kaum den Wunsch aussprechen hören, sie solle die alte Lona besuchen, als sie sich schon zu ihr begiebt, und zum Lohn für ihre Bereitwilligkeit erkennst du nicht einmal ihr Bestreben an, deine Wünsche zu erfüllen. Mein bester Erich, ich finde dein Benehmen sehr tadelnswerth. Sie sucht vom Morgen bis zum Abend das zu thun, was dir angenehm zu sein scheint. Sie, die jung, schön und reich ist, beschäftigt sich mit der Haushaltung, spricht bei den Arbeitsleuten herum, befaßt sich mit Sachen, die ihr gewiß unangenehm vorkommen müssen. Wenn sie zum Lohne hiefür sich geliebt und verehrt sehen würde, so wäre ja Alles recht; nun aber begegnest du ihr mit so großer Kälte, daß es mir im Herzen wehe thut. Ich denke an deinen Vater, wie zärtlich, liebevoll und gut er gegen mich war und wie er mir für das Geringste, was ich that, dankbar war.«

»Marianne nenne deinen und Esthers Namen nicht zu gleicher Zeit,« fiel Erich ein. »Hätte sie mich mit derselben Zärtlichkeit behandelt, wie du meinen Vater behandelt hast, so hätte ich sie endlich lieben gelernt. Nun stand aber ihr Benehmen im stärksten Gegensatz zu dem, was ich im Hause meines seligen Vaters sah. Die Vergleiche, die ich anstellte, machten statt eines guten und freundlichen Ehegatten einen Despoten aus mir. Es ist nur die Furcht vor meinem Willen und nicht der Wunsch, mir zu gefallen, was Esthers Bemühen veranlaßt. Sie hat für mich weder Liebe, noch Freundschaft, noch Achtung. In ihren Augen bin ich nur ein habsüchtiger Egoist, den sie dulden muß, aber im Herzen verachtet.«

»Sollte ihre Auffassung nicht bis zu einem gewissen Grade richtig sein?« fragte Marianne.

Das Blut stieg Erich heftig in den Kopf und verschwand eben so plötzlich, so daß er beinahe so weiß wie Marmor aussah, als er sagte:

»Könnte mich etwas mehr in Erbitterung versetzen, als es schon der Fall ist, so wäre es der Gedanke, daß meine Verheirathung mit ihr mich auch in deinen Augen zu einem eigennützigen und elenden Menschen stempelt.«

»Aus dem Grunde, weil in meinem Urtheil etwas Wahres ist?«

»Marianne, ich bitte dich, sprich nicht weiter.«

Der Wagen fuhr jetzt in den Hof ein und das Gespräch wurde abgebrochen. Erich half Marianne aus dem Wagen, sie nahm seinen Arm mit den Worten:

»Jetzt wollen wir eine Weile auf der Terrasse ausruhen, um das Gespräch fortzusetzen.«

»So lieb auch deine Gesellschaft ist, so verzichte ich doch lieber auf diese Freude, als daß ich das Gespräch weiter führen würde.«

»Wie es dir gefällt. Ich gehe allein dahin.«

Marianne gab ihrem Kammermädchen Mantel und Sonnenschirm und ging durch die Glasthüre in den Garten hinaus.

Erich blieb einen Augenblick unentschlossen stehen; dann warf er einen Blick auf seine bestaubten Reiterstiefel und ging in das Haus hinein, um sein Aeußeres in Ordnung zu bringen.

Marianne setzte sich auf einen niedrigen Gartenstuhl und betrachtete die langsam dahin ziehenden Wolken. Was sie dachte, »weiß Freya,« wir wissen es nicht; daß aber ihre Gedanken keineswegs unangenehmer Art waren, deuteten die lächelnden Lippen an. Eine Viertelstunde verging. Erich näherte sich unschlüssig.

»Angenommen, Erich,« sprach Marianne, als er nahe genug herangekommen war, um hören zu können, was sie sagte, »daß du keine Andere liebtest, als du Esther geheirathet hast, so mußt du doch bekennen, daß du in diesem Falle größere Geduld mit ihr gehabt hättest. Deine Neigung zu Nanny ist dein und deiner Frau Unglück geworden, und dies ist um so mehr zu bedauern, als du geheirathet hast, weil Karl die Geschäfte in Verwirrung brachte. Du hast deiner blinden Leidenschaft viel geopfert. Daß meine Schwester der Gegenstand derselben war, hat mir manche bittere Thräne gekostet.«

»Hast du über meine Liebe zu Nanny geweint?« fragte Erich.

»Ja, das habe ich,« antwortete sie mit leiser Stimme. »Ich fühlte gleichsam eine nagende Gewissensqual, wenn ich dachte, daß ich dadurch, daß ich Nanny in mein Haus nahm, so vielen Schmerz und Kummer verursachte. Nimm aus meinem Leben deine Liebe zu Nanny hinweg, und ich werde die Glücklichste unter den Sterblichen sein.«

Marianne blickte Erich mit ihren lebhaften, strahlenden, himmelblauen Augen an. Er schaute in dieselben.

»Sei glücklich, Marianne; hat …«

»Erich!« sprach eine Stimme hinter ihm.

In dem gesenkten Tone, womit dieser Name ausgesprochen wurde, lag eine Warnung und eine Anklage.

Der junge Mann wandte sich geschwind nach Derjenigen um, die seinen Namen genannt hatte. Ein blasses, wunderbares Gesicht blickte ihm entgegen.

Marianne verlor ihre hübsche Farbe und blickte die Närrin finster an.

Nanny stand da, wie der Engel mit dem Flammenschwerte. Trauer, Schmerz, Vorwurf und Mitleid lagen in ihrem Blicke.

»Woher kommst du, meine liebe Nanny?« fragte Marianne. »Man könnte glauben, du wärest vom Himmel gefallen, so plötzlich erscheinst du. Sei indeß willkommen, es freut mich von Herzen, dich nach der Probe des Ertrinkens so vollständig wiederhergestellt zu sehen. Wir sprachen eben von dir.«

»Ich hörte es,« antwortete Nanny.

»Setze dich,« fuhr Marianne, welche ihr gewöhnliches heiteres Aussehen wieder angenommen hatte, fort. »Sieh doch nicht so entsetzlich feierlich aus. Obgleich du jetzt doppelt so reich bist, als ich, kannst du doch gnädig gegen mich sein. Deine Aufopferung für die Tante war sehr einträglich.«

Nanny legte ihre Hand in die der Schwester, jedoch mit anscheinendem Zaudern. Marianne zog sie zu sich her, umarmte sie und küßte sie auf die Stirne.

Als Nanny sich wieder erhob, war Erich verschwunden.

»Ist Erich seiner Wege gegangen?« rief Marianne aus.

»Wie du siehst,« entgegnete Nanny, »und wenn ich vom Himmel gefallen bin, so scheint er in die Erde gesunken zu sein, ohne irgend eine Spur zu hinterlassen.«

»Ich merke es wohl. Nun, mein Schwesterlein, wann kamst du hier an?«

»Vor einer Stunde etwa. Ihr waret ausgegangen und ich bat die Dienerschaft, nichts von meiner Ankunft zu sagen, weil ich euch durch mein Erscheinen überraschen wollte.«

»Das hast du auch gethan,« erklärte Marianne lachend. »Erich wäre beinahe in eine Salzsäule verwandelt worden, und ich war so erstaunt, daß ich drei ganze Sekunden lang nicht wußte, ob ich träume oder wache.«

»Meine Ueberraschung, als ich dich und Erich hier allein beisammen sitzen sah, war ebenso groß,« erklärte Nanny, »und sie wuchs bedeutend, als ich euer Gespräch vernahm.«

»Warst du eifersüchtig?« fragte Marianne.

»Marianne, ich liebe es nicht, dich so scherzen zu hören.«

»Dann muß ich es wohl unterlassen, da du, obgleich du jünger bist, stets die Rolle einer Hofmeisterin gespielt hast.«

»Warum verweilst du noch hier?« fragte Nanny. »Hast du vergessen, was du deinem seligen Manne versprachst?«

»Gewiß nicht, aber Erich ist jetzt verheirathet und, wie ich glaubte, glücklich. Ich bin an kein Versprechen mehr gebunden. Uebrigens habe ich das Gelöbniß niemals begreifen können, und man kann nicht ewig Befehlen gehorchen, die man nicht begreift.«

»Jetzt begreifst du es gewiß,« fiel Nanny ein, »und du wirst auch einsehen, daß du abreisen mußt.« Nanny sprach mit Entschiedenheit.

»Ah, du willst mich fort haben, um …«

Nanny legte ihre Hand auf den Mund der Schwester.

»Rede keine unüberlegten Worte, sprich keine schmählichen Beschuldigungen aus, die du wissentlich für unrichtig halten mußt, sondern gehorche deinem besseren Gefühl und reise ab. Reise, Marianne, wenn du den geringsten Funken von Selbstachtung und die geringste Spur von Liebe für das Andenken unserer geliebten Mutter besitzest.« Die letzten Worte wurden in flehendem Tone gesprochen.

Marianne schien etwas erregt, aber nur einen Augenblick lang; in der nächsten Sekunde stieß sie Nanny von sich und sagte anscheinend ungeduldig:

»Ich werde gewiß abreisen, aber jetzt nicht. Du bist da, und es gelüstet mich, den Beweggrund deiner Anwesenheit kennen zu lernen. Ich reise nicht eher ab, als bis ich mit Sicherheit weiß, wen von uns Beiden Erich liebt. Ach, Nanny, es könnte ja sein, daß man Recht hätte, wenn man behauptet, daß dein Herz an ihm hängt, daß du es bist, die ihn davon abhält, eine Andere zu lieben und daß du mit neidischen Augen jede seiner Handlungen bewachst. In diesem Falle würde die Maske abgenommen, die du so viele Jahre lang getragen hast, und der Heiligenschein würde verschwinden. Ich bleibe.« Marianne sprach diese Worte mit Bestimmtheit.

Nanny wandte sich von ihr weg und blickte in die Ferne. Ihr Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen.

»Ich bleibe auch,« sagte sie. »Du weißt, Marianne, daß man mich nicht so leicht betrügt. Wo ist Esther?« fragte sie sodann, als ob nichts passirt wäre.

»Sie ist mit Ludwig und macht Armenbesuche,« antwortete Marianne, nahm eine Cigarrette und fing an zu rauchen. Nachdem die Cigarrette angezündet war, nahm sie das Gespräch wieder auf und führte dasselbe in dem gewohnten leichten Tone, unbekümmert darum, ob Nanny Theil daran nehme oder nicht. Sie scherzte, lachte und erzählte so lustige Sachen, daß alle, außer ihrer Schwester, ihre Freude daran gehabt hätten. Nanny aber saß stumm und gleichgültig da gegen das, was Marianne sagte.

Esthers Heimkehr unterbrach das Zwiegespräch der Schwestern.

Die junge Frau war vor Freude außer sich, als sie Nanny umarmte. Sie bedeckte ihr Gesicht und ihre Hände mit Küssen, sie lachte und weinte zugleich.

Marianne betrachtete dies Alles mit Mißbehagen. Sie fand es nicht in der Ordnung, daß Esther Nanny so lieb hatte, so daß Marianne ihres Unwillens nicht Herr werden konnte.

Sie war übrigens zu klug, um sich auszusprechen, meinte jedoch, daß die Freundschaft zwischen Esther und Nanny ihrem Interesse nicht förderlich sei.

Ludwig machte kein Geheimniß daraus, wie unwillkommen ihm Nanny sei. Marianne bemerkte es deutlich an seiner nichts weniger als höflichen Begrüßung, daß Niemand ihren Plänen besser Vorschub leisten könne, als der junge Mann, und er wurde der Gegenstand ihrer Freundlichkeit sowohl an diesem Abend, als an den folgenden Tagen. Man hätte glauben können, daß sie Erich nicht bemerke und sein verändertes Benehmen nicht beachte, sie that es aber dennoch. Sie sah, daß er sich nicht mehr mit den Frauen unterhielt, sondern bis spät Abends in dem Comptoir blieb. Marianne erkundigte sich nicht, was der Grund dieses plötzlich entstandenen Eifers sei; sie beschäftigte sich nur mit Ludwig und war heiter und froh, wie immer. Bisweilen suchte sie Esther und nöthigte derselben ihre Gesellschaft auf, wenn sie die Armen besuchte. Es geschah nicht selten, daß sie mit ihr und Nanny bis tief in die Nacht hinein plauderte. Marianne hatte sich Anfangs nur dann um Esther bekümmert, wenn die junge Frau ihr in den Weg kam; jetzt suchte sie dieselbe mit Sturm zu erobern, es gelang ihr aber nicht.

Nanny legte gegen Esther nicht mehr Zärtlichkeit an den Tag, als gewöhnlich, sondern ließ Marianne Alles thun, um deren Zuneigung sich zu erwerben und Nannys Einfluß zu vermindern. Trotz ihrer scheinbaren Ruhe und Gleichgültigkeit achtete Nanny dennoch ganz genau auf ihre Umgebung. Sie bemerkte, daß Ludwig und Marianne gegen sie konspirirten, daß Erich schweigsam war und sich so viel wie möglich von der Berührung mit Frauenspersonen ferne hielt. Roman kam oft nach Lybo, war aber nicht mehr so freundlich, wie sonst. Es entging Nanny auch nicht, daß Alle im Hause sie mit mißtrauischen Blicken beobachteten.

Als sie eines Abends zu Esther ins Zimmer kam, traf sie die junge Frau mit dem Gesicht auf dem Sophakissen ruhend und heftig weinend an.

»Was regt mein Estherchen so auf?« fragte Nanny liebkosend.

Esther blickte empor, schlang ihre Arme um Nanny und rief heftig aus:

»Es soll ihnen nie gelingen, mir Mißtrauen gegen dich einzuflößen, nein, nein! Ich weiß besser, als die ganze Welt, wie gut und wohlmeinend, wie edel und großmüthig du bist.«

Es fiel Nanny nicht ein, irgend eine Frage an Esther zu richten, sondern sie sagte nur:

»Du wirst niemals Ursache haben, mir zu mißtrauen. Ich bin deine Freundin und will dir wohl, das siehst du ein, wenn auch Andere meine Handlungen anders beurteilen wollen.«

Esther lehnte ihr Haupt an die Brust der Freundin und fühlte sich wieder beruhigt. Sie sagte nicht, was Ludwig gesprochen, auch nicht auf was Marianne angespielt hatte, war aber der Meinung, daß niemand auf der Welt so ungerecht beurtheilt werde, wie ihre geliebte Nanny. Wie erbittert fühlte sich da Esther gegen diese Marianne, die mit ihren Anspielungen Zweifel über den Charakter der Freundin hervorzurufen suchte.


Am folgenden Morgen übersandte Nanny einen Brief an Erich. Sie hatte keinen Grund, dies zu verheimlichen, sondern gab den Brief einem Diener, der Mariannens Kammerjungfer begegnete, als er eben damit zu seinem Herrn hineingehen wollte.

»Was ist das für ein Brief?« fragte die Kammerjungfer.

»Er ist von Frau Nanny an den Herrn,« war die Antwort.

Die Kammerfrau lächelte und eilte zu ihrer Herrin.

Am Nachmittag schlug Marianne vor, einen Spaziergang zu machen. Esther willigte ein, Nanny aber wollte zu Hause bleiben.

»Hast du einen besonderen Grund, uns nicht zu begleiten?« fragte Marianne, die Schwester fixirend.

»Das habe ich,« war die Antwort.

»Willst du ihn mir sagen?«

»Nein.«

Marianne und Esther gingen. Nanny blieb im Salon sitzen.

»Wir wollen hinunter nach dem Eisenwerke gehen und dann durch den Wald und den Park,« sagte Marianne.

In der Allee begegnete ihnen Erich, welcher, als er im Vorübergehen einige Worte mit ihnen gewechselt hatte, seinen Weg nach dem Hof hinauf fortsetzte.

»Erich pflegt das Comptoir um diese Zeit nicht zu verlassen,« sagte Marianne gleichgültig. Hatte er wohl eine besondere Veranlassung, es dennoch zu thun? Es war übrigens doch gut, daß Nanny zu Hause geblieben ist, falls er ein Anliegen haben sollte.« Esther fühlte sich warm werden. Nicht durch Worte, sondern durch die Betonung gab Marianne zu verstehen, sie vermuthe, daß Erich und Nanny diese Begegnung verabredet hätten. Es war also Esther unmöglich, Nanny zu vertheidigen, da Marianne mit ihren Worten sie nicht beschuldigt hatte. Der beste Beweis für Nannys Unschuld würde gewesen sein, wenn Marianne und Esther zurückgekehrt wären, damit Erstere hätte sehen können, daß Erich und Nanny keine Zusammenkunft haben. Esther sann über einen Vorwand nach, um Marianne zur Umkehr zu bewegen, als diese äußerte:

»Es ist windig und ich muß mir einen Shawl umlegen. Wenn du hier warten willst, so werde ich schnell einen holen.«

Esther wollte mitgehen; aber Marianne ließ sich nicht darauf ein, sondern antwortete, daß, wenn Esther doch umkehren wolle, sie den Shawl ja mitbringen könne. Marianne setzte sich indessen auf eine Bank der Allee und erklärte lachend, daß sie Esther vielen Dank schuldig sei, weil sie ihr eine Mühe erspare.

Esther eilte hastig in den Hof hinauf. Sie wollte Nanny bitten, mit ihr auszugehen, um Marianne zu überführen, daß kein heimliches Einvernehmen zwischen der Ersteren und Erich stattfinde. Anstatt in Mariannens Zimmer hinein zu gehen, eilte Esther durch ihre Zimmer, um in den Salon zu gelangen, wo sich Nanny befinden sollte.

In dem Eckzimmer, welches vor demselben gelegen war, blieb sie stehen und lauschte. Ihr Herz pochte heftig. Alles war still. Esther sah hinein. Das Zimmer war leer. Sie durcheilte die ganze Wohnung, ohne Nanny zu finden.

Esther nahm Mariannens Shawl und frug im Vorbeigehen einen Diener nach dem Werksbesitzer. Man habe ihn nicht gesehen, seitdem er am Nachmittag nach dem Eisenwerke gegangen sei. Frau Nanny sei ausgegangen, man wisse aber nicht wohin, erklärte der Diener. Esther eilte zu Marianne zurück, die immer noch auf der Bank saß.

Marianne scherzte über Esthers langes Ausbleiben, und behauptete, es sei ihr eine Idee in ihrer Gedankenlosigkeit gekommen, sie habe nämlich einen anderen Plan für den Spaziergang ausgedacht. Sie schlug nun vor, längs des Flusses zu einem Berge zu gehen, von welchem man eine weite Aussicht hatte.

Ohne sich erkundigt zu haben, erfuhr Marianne von Esther, daß Nanny gar nicht zu Hause sei und also auch keine Zusammenkunft zwischen ihr und Erich stattgefunden hatte.

Esther suchte eifrig ihre Freundin zu rechtfertigen, aber damit war das Gespräch über das Kapitel »Nanny« eingeleitet. Marianne verweilte dabei und fing an, von Nannys kurzem Aufenthalt in ihrem Hause und davon, wie verliebt Karl in dieselbe gewesen sei, zu reden. Es war eitel Lob, was Marianne sagte, und dennoch wurde Esther gereizt dadurch.

Als sie den Gipfel des Berges erreicht hatten, setzte sich Marianne.

»Hier war Nannys Lieblingsplatz während ihrer Kinderzeit,« sagte sie. »Sie und Erich saßen hier oft beisammen und wurden von mir überrascht. Er hatte sie damals sehr lieb.«

Esther nahm ihren Hut ab. Diese Marianne war unermüdlich, sie zu quälen.

»Ich glaubte damals nie,« sagte Marianne, »daß Erich Nanny vergessen könnte, und Gott weiß, ob er es gethan hat trotz seiner Verheirathung!« Marianne machte sich näher an Esther und fügte mit mütterlicher Zärtlichkeit hinzu: »Willst du mir erlauben, dir einen Rath zu geben?«

»Recht gerne, wenn er nichts enthält, was Nanny berührt,« sagte Esther.

Marianne that, als hätte sie die Bedingung überhört.

»Der Rath lautet: überrede Nanny, abzureisen! Es ist deinem und Erichs Glücke nicht förderlich, daß sie hier ist. Dein Mann ist nicht mehr derselbe, seitdem sie nach Lybo zurückkehrte. Er wird ja, wie man sieht, von einer Unruhe beherrscht, die ihn aus dem Hause treibt. Er redet mit Niemand, weicht aus und fürchtet, daß man sein Geheimniß entdecken möchte. Glaube mir, er muß darunter leiden, Nanny alle Tage zu sehen!«

»Marianne,« rief Esther heftig und mit thränenden Augen aus, »es ist ein schreckliches Unrecht, solche Beschuldigungen gegen die beste und edelste aller Frauen auszusprechen!«

»Was ist das?« unterbrach sie Marianne.

Esther folgte der Richtung, welche Marianne mit der Hand andeutete und sah eine Frau und einen Mann am Flußufer einhergehen. Es bedurfte nur eines Blickes, um Nanny und Erich zu erkennen.

Sie blieben stehen. Nanny setzte sich am Fuße einer hohen Ulme; Erich ließ sich nach einer Weile neben ihr ins Gras und Esther kam es vor, als küsse er ihr die Hand.

Einen Augenblick lang schwindelte es ihr vor den Augen, dann empfand sie einen heftigen Schmerz. Sie hätte sich vom Felsen herabstürzen mögen, um Nanny zu fragen, ob sie es wirklich wäre; aber nach einigen Minuten war der Schmerz entflohen und das Mißtrauen auch. Sie erinnerte sich, wie Nanny durch ihre Schuld beinahe ums Leben gekommen wäre, und dachte in vollem Vertrauen wahrer Zuneigung:

»Sie, die die Erste war, ihr Leben zu wagen, um das meinige zu retten, kann mich nicht betrügen. Ich werde sie nie durch einen einzigen mißtrauischen Gedanken erniedrigen.«

Esther sah die Stiefmutter ihres Mannes an und sprach mit ruhiger, kalter Stimme:

»Marianne, es wird dir nicht gelingen, mir Mißtrauen gegen Nanny einzuflößen. Ich kann an Allem zweifeln: an dir, an Erich, an meinem Vater, an ihr aber niemals.«

Marianne zuckte die Achseln und flüsterte:

»Verblendete, die nicht sehen will, daß er es ist, welcher sie liebt!«

Esther antwortete nicht, sondern schlug Marianne vor, hinabzugehen, um Erich und Nanny zu treffen; als sie aber am Fuße des Berges angekommen waren, hatten sich Nanny und Erich schon entfernt. Die beiden Frauen kehrten schweigend nach Hause zurück.

Nanny war auf ihrem Zimmer, als Esther sie aufsuchte; sie saß da und schrieb. Als Esther hereinkam, sah Erstere empor, und nickte ihr freundlich zu.

»Wo bist du gewesen?« fragte Esther.

»Ich habe einen Spaziergang mit deinem Manne gemacht. Ich hatte meinem Schwager etwas zu sagen und ihn deßhalb gebeten, mich ein wenig zu begleiten.«

Esther ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Du mußt wissen, Nanny, ich bin heute einen Augenblick nahe daran gewesen, an dir irre zu werden; ich that es aber nicht, als ich mich besonnen hatte. Man hat mich überführen wollen, daß Erich dich liebt und du ihn, und daß Ihr eine Begegnung hattet. Ich sah Euch, aber ich hatte dennoch Glauben an dich, sobald das erste unfreiwillige Gefühl von Eifersucht meiner Liebe zu dir Raum gab.«

Nanny erhob sich, um auf Esther zuzugehen, aber die Thüre wurde gerade in demselben Augenblick von Roman geöffnet, der ohne Weiteres hereinkam. Er machte ein strenges Gesicht.

»Ich trete herein, ohne Einlaß begehrt zu haben, weil ich sogleich mit dir und Esther reden muß, um den Gerüchten, die im Umlauf sind, ein Ende zu machen. Ihr habt nette Abenteuer in Marstrand gehabt. Lese diesen Brief, den ich vom Propst Granstedt, der jetzt in Marstrand ist, erhalten habe.«

Esther nahm den Brief. Sie wagte es nicht, sich zu weigern, denselben zu lesen, obgleich sie wenig Lust hiezu empfand.

 

»Bruder Roman!« hieß es in dem Brief. »Ich halte mich für verpflichtet, dir mitzutheilen, daß sonderbare Gerüchte, die sich auf deine Tochter und Frau Malmberg beziehen, hier in Umlauf sind. Beide sollen in deinen Neffen, Doktor Berg, verliebt sein, welcher es mit beiden Damen hielt, aber dennoch nicht verhindern konnte, daß Esther eifersüchtig auf ihre Schwägerin wurde, welcher der Doktor in höherem Grade huldigte. In ihrer Eifersucht wollte sich Esther ertränken. Frau Malmberg stürzte sich nach ihr ins Wasser, und als der Doktor Letztere retten wollte, waren sie Beide dem Tode nahe. Frau Malmberg war lange krank, und der Doktor pflegte sie während dieser Zeit. Das Ereigniß erregte Aufsehen und verursachte Skandal, weßhalb ich es für meine Pflicht ansehe, dir die Sache mitzutheilen. Ich will dich zugleich als Freund und Geistlicher ermahnen, Notiz davon zu nehmen, was für einen Charakter die Schwägerin deines Schwiegersohnes eigentlich besitzt, denn es gehen sonderbare Gerüchte von ihr und dem jungen Ehepaare in unserer Gegend um. Es wäre an der Zeit, daß du die Ehre deiner Familie zu retten suchst, wenn es nicht zu spät ist. Die cirkulirenden Gerüchte sind ein Greuel vor Gott und den Menschen.

Dein Freund Granstedt.«

 

»Nun, was hast du darauf zu antworten?« fragte Roman. »Ist es wahr, daß du dich ertränken wolltest?«

Esther erinnerte sich in diesem Augenblicke an die entsetzliche Scene, wo sie die Freundin dem Tode nahe sah. Esther schnappte nach Luft und fühlte sich ganz niedergeschmettert bei der Erinnerung an ihre ausgestandenen Qualen und an ihre Reue.

»Du schweigst?« fuhr Roman fort. »Nun wohl, ich werde deinem Manne diesen Brief zeigen, und dann wirst du genöthigt, zu reden, undankbares Kind!«

»Rede, Esther,« ermahnte Nanny. »Dein Vater wird dich noch mit Milde beurtheilen.«

»Glaubst du?« fiel Roman ein. »Ich meinerseits bin anderer Ansicht. Wenn Esther den Skandal verursacht hat, der hier erzählt wird, so ist es am besten, die Bande zu lösen, welche sie an Malmberg knüpfen und sie weit fort von hier reisen zu lassen. Du, die du ihre Ausschreitungen begünstigt hast, wirst dein Ziel erreichen und seine Frau werden.«

»Halt, Papa!« rief Esther aus. »Wie wagst du es, so mit derjenigen zu sprechen, die ich beinahe gemordet habe. Wie kannst du sie anklagen, sie, welche die …«

»Gefährlichste Frau ist, die ich kenne,« unterbrach sie Roman ungenirt. »Mische dich übrigens nicht in das, was ich zu Nanny sage, sondern antworte mir: Ist die Geschichte mit dem Ertrinken wahr oder nicht?«

»Sie ist wahr,« sagte Esther, und blickte ihrem Vater fest in die Augen.

Roman betrachtete Esther mit einem Ausdruck des Schmerzes und brummte:

»Das hast du mir thun können, du, mein Kind? und sie, sie war es, welche dich auf falsche Bahnen geleitet hat!«

Bei dieser Klage des Mannes, der so selten seinen Gefühlen Worte verlieh, stürzte Esther ihm zu Füßen. Nanny war sehr erregt, als sie sagte:

»Onkel, Esther wird Ihnen Alles sagen. Sie ist unglücklich gewesen, und es wird Ihnen leicht sein, zu verzeihen, weil Sie selbst an ihrem Unglück nicht ohne Schuld sind.« Nanny ging nach der Thüre.

»Gehst du, ohne dich selbst zu rechtfertigen?« rief Roman und streckte die Hand aus.

»Es gibt Beschuldigungen, die so ungereimt sind, daß man sich nicht zu rechtfertigen braucht. Zu diesen rechne ich die, welche der Onkel gegen mich erhoben hat.«

Nanny legte die Hand auf die Thürklinke.

»Bleibe,« sagte Roman; »an wen ist dies geschrieben worden?« fragte er und reichte ihr ein sehr zerknittertes Papier. »Hier im Hause behaupten Alle, daß du und mein Schwiegersohn in einander verliebt seien. Der Brief da macht einen derartigen Argwohn keineswegs zu nichte. Es ist Erichs Handschrift, und man kann nur zwei Personen beschuldigen, diese Epistel empfangen zu haben. Von diesen ist die Eine ihr ganzes Leben lang über alle Intriguen erhaben gewesen, also bleibst nur du übrig.«

Nanny war blaß geworden, als sie das Schreiben entfaltete. Sie sah niedergeschmettert aus und neigte das stolze Haupt, als hätte sie ein Donnerschlag getroffen.

Nach einer Pause fragte Roman: »Ist der Brief an dich oder an Marianne?«

»An mich,« rief Nanny sogleich, verbarg das Papier an ihrer Brust und eilte aus dem Zimmer.

»An sie!« wiederholte Roman; »ich glaubte, er wäre an die Andere.«

»Was war das?« fragte Esther, und sah den Vater an.

»Ein Liebesbrief von deinem Manne an deine Schwägerin.«


»Stille, um Gottes Willen! sage dies nicht!« bat Esther, und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen.

Wir verlassen Vater und Tochter und lassen Letztere beichten, Ersteren aber vergessen und verzeihen.

Nanny wollte Marianne sofort aufsuchen, fand sie aber nicht in ihrem Zimmer, sondern unten im Salon. Der Hausarzt war da, sowie der Ingenieur, Ludwig und einige andere Herren, welche in Geschäften, die auf die Eisenindustrie Bezug hatten, umherreisten. Eine Weile nach Nanny kam auch Erich. Marianne war blaß, was bei ihr selten vorkam, dessen ungeachtet aber war sie heiter und lebhaft.

Nanny hatte sich an ein Fenster gesetzt und nahm nur dann an dem Gespräche Theil, wenn sie mußte. Sie schaute in das Weite hinaus, indem sie Romans Worte wiederholte:

»Alle im Hause glauben, du habest ein zärtliches Verhältniß mit meinem Schwiegersohne.«

Sie vermeinte dieser Gedanken nie ledig werden zu können, so ehrenrührig waren dieselben, und sie fühlte sich dadurch gänzlich niedergedrückt. Jedes Wort, jeder Blick der Herren verletzte sie und sie hatte große Lust, alle diese Menschen zu fliehen, die es wagten, ihre Ehre durch schnöden Verdacht zu beflecken, allein dennoch blieb sie sitzen. Was hielt sie zurück? Das Bewußtsein ihrer Unschuld.

Die Herren waren um Marianne versammelt, die mit ihren witzigen Einfällen und ihren blitzenden Augen sie bei sich festhielt.

Erich allein näherte sich Nanny, um einige Worte mit ihr zu wechseln, und es kam ihr vor, als wären aller Augen auf sie gerichtet. O, wie erbittert fühlte sie sich nicht in diesem Augenblicke gegen ihn, wegen dessen sie so ungerecht verleumdet wurde. Er hatte seine Gelübde gebrochen; sie hatte den Beweis dafür in Händen, und dennoch wagte er es, mit ihr zu sprechen!

Roman und Esther kamen beim Abendessen zum Vorschein. Auch Esther wich Nanny jetzt aus. Sie sah scheu und betrübt aus.

Endlich verabschiedeten sich der Ingenieur und die Fremden. Nanny wollte auf ihr Zimmer gehen, aber Marianne wandte sich mit den Worten an sie:

»Von Esthers Vater darum ersucht, muß ich eine unangenehme Pflicht erfüllen, und das ist, dich zu bitten, seinen und unseren Namen keiner weiteren Klatscherei preiszugeben. Du bist es in diesem Falle dem Andenken deines Mannes schuldig, das du nicht aus dem Gedächtniß schwinden lassen darfst, was du aber gleichwohl thust, wenn du mit Erich einsame Spaziergänge am Flusse machst und Zusammenkünfte mit ihm hast. Ich weiß, daß diese Spaziergänge und Zusammenkünfte unschuldiger Art sind, Andere aber wissen es nicht. Du bist durch böse Anspielungen ein Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden und mußt äußerst vorsichtig sein, ja so vorsichtig, daß du nicht länger in Lybo bleibst. Meine Bitte an dich in unserem allgemeinen Interesse ist die, daß du abreisest.«

Nanny war auf diesen Angriff der Schwester gänzlich unvorbereitet. Sie stand, die scharfen und durchdringenden Augen auf Marianne gerichtet, da. Diese Blicke schienen Marianne unbehaglich zu sein.

Esther beobachtete Nannys Angesicht scharf. Sie konnte kaum länger zweifeln, aber auch eben so wenig ertragen, daß Nanny, die sie so sehr bloßgestellt hatte, von dieser Marianne, die sie beinahe verabscheute, aus ihrem Hause gejagt werde. Sie sah Erich an, der Marianne mit seinen Blicken beinahe zu verschlingen schien.

»Haben sämmtliche hier Anwesende dir aufgetragen, Marianne, mir das zu sagen?« fragte Nanny ruhig.

»Herr Roman hat mir diesen unangenehmen Auftrag in meiner Eigenschaft als Erichs Stiefmutter und als deine Schwester gegeben. Da ich älter bin, als du, so halte ich mich auch für berechtigt, es zu thun, nachdem ich dich heute selbst auf einem heimlichen Spaziergang mit Erich betroffen habe. Nanny, ich beschwöre dich, reise, reise morgen schon ab!«

»Nanny darf und wird nicht abreisen!« rief Esther mit glühenden Wangen und funkelnden Augen aus. »Alles, was man über Nanny sagt, ist falsch, ich weiß es, wenn man mir auch tausend Beweise des Gegentheils liefern würde. Mein Vater und selbst die Stiefmutter meines Mannes mögen es sich deßhalb gesagt sein lassen, daß man meine beste Freundin nicht aus meinem Hause weist. Ich bin hier die Herrin, und ich weiß, daß ich ein Recht habe, mich dagegen zu widersetzen, daß man diejenige beleidigt, vor welcher ich Achtung habe.«

»Esther hat auch meine Ansicht ausgesprochen,« erklärte Erich. »Ich werde nie erlauben, daß man Nanny, gegen welche die ganze Familie Verbindlichkeiten hat und du, Marianne, nicht am wenigsten, beleidigt.«

»Soll dies so viel heißen, als ich solle fort?« fragte Marianne. »Ich werde es thun, da ich die schimpfliche Rolle einer Blinden da nicht spielen kann, wo ich klar sehe.«

»Und ich nehme meine Tochter mit mir, wenn Nanny Malmberg hier bleibt,« fiel Roman in die Rede.

»Aber ich folge dir nicht!« rief Esther und stellte sich neben ihren Mann. »Ich weiß, daß Erich mich nicht liebt, ich weiß aber auch, daß er viel zu verzeihen hat und daß ich mich nie von ihm trennen werde, wenn er es nicht befiehlt.«

Erich blickte seine junge, in diesem Augenblicke wunderbar schöne Gattin an. Er war gerührt. Nanny lächelte wehmüthig.

»Gute Nacht, Esther, du hast ein Herz von Gold, und Gott wird dich glücklich machen,« sagte sie und verließ das Zimmer.

Marianne wandte sich jetzt an Erich und warf ihm vor, er habe auf ihre Ermahnungen nicht eher gehört, als bis es so weit, wie jetzt gekommen sei.

Sie weinte, weinte über Nanny, über Erich, über sich selbst, weil sie mit ihrer Schwester so, wie geschehen, habe reden müssen.

Ludwig und Roman bestürmten sie mit Bitten, sie möchte sich beruhigen. Esther verließ das Zimmer, und Erich blieb kalt und stumm.

Ludwig würde sicherlich dem Bruder eine Kugel vor den Kopf geschossen haben, wenn sich Marianne nicht endlich hätte beruhigen lassen.


Esther eilte zu Nanny hinauf. Die Thüre war unverriegelt, und sie trat ein. Sie war nicht da. Esther wurde es unheimlich zu Muthe. Wo konnte Nanny hingegangen sein?

»Sie ist schrecklich beleidigt worden, auch wenn Papa die Wahrheit gesagt und der Brief eine Liebeserklärung enthalten hätte,« dachte Esther. »O mein Gott, wo ist sie!« Esther suchte im Garten, ohne sie zu finden.

Als Esther lange genug gesucht hatte, stand der Mond hoch am Himmel, und sie sah Erich auf der Terrasse auf und ab gehen. Er schien von seinen Gedanken so in Anspruch genommen zu sein, daß er sie nicht bemerkte. Esther zauderte einen Augenblick, ging aber alsdann zu ihm hin.

»Bist du so spät draußen?« fragte er mit sanfter Stimme.

»Ich suche Nanny,« antwortete Esther, »ich habe sie indeß nicht sprechen können und bin sehr beunruhigt.«

»Du bist sehr gut, Esther; Nanny ist aber auch deines Vertrauens würdig. Irre ich mich nicht, so ist sie in dem Parke. Ich sah eine weibliche Gestalt in dieser Richtung gehen, als ich auf die Terrasse heraustrat. Sie ist diesen Abend so tief beleidigt worden, daß ich nicht ohne Scham daran denken kann, daß dies in meinem Hause geschehen ist, wo sie wie eine Königin behandelt werden sollte. Glaube mir, Esther, wenn ich dir mein Ehrenwort darauf gebe, daß, wenn ich auch einst Nanny geliebt habe, diese Liebe schon längst erkaltet ist; keine unerlaubte Leidenschaft hat je das Herz deines Gatten beherrscht.«

Erich hatte Esthers Arm in den seinigen gelegt und sie wandelten jetzt ganz vertraulich mit einander einher. Esther lauschte bewegt auf seine Worte. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen, seitdem sie verheirathet waren.

Sie wurde von dem glühendsten Verlangen, seine Liebe zu erringen und die Schöpferin seines Glückes zu werden, beseelt. Indem sie diesem ihren edleren Gefühlen entsprungenen Verlangen nachgab, sagte sie:

»Ach Erich, wenn du nur in mir deine beste Freundin erblicken und volles Vertrauen zu mir haben wolltest, so würde gewiß Alles zwischen uns recht werden. Ich habe eine Zeit lang so viele Zweifel gehegt, daß die bitterste Gewißheit diesem unwichtigen Suchen nach der Wahrheit vorzuziehen ist. Sage mir deßhalb aufrichtig: hast du an Nanny einen Brief geschrieben, seitdem sie hierher kam?«

»Nein, keine einzige Zeile,« versicherte Erich mit Bestimmtheit.

»O, ich bitte dich, täusche mich nicht, denn mein Herz will dir glauben, und ich würde nicht leben können, wenn du mich auch jetzt bethörtest! Du behauptest, du habest Nanny nicht geschrieben, und doch gab mein Vater ihr einen Brief von dir, der, seiner Aussage nach eine förmliche Liebeserklärung enthielt. Auf die Frage, ob der Brief an sie wäre, antwortete sie bejahend.«

Erich blieb stehen und sah Esther so ernst an, daß sie nicht länger mehr zweifeln konnte, als er tief bewegt sprach:

»Esther, wenn Jemand auf Erden den Namen Engel verdient, so ist es Nanny. Hier habe ich den Brief, den dein Vater Nanny gab. Er ist nie an sie geschrieben, und nie an sie abgeschickt worden, seitdem ich verheirathet bin. Dies ist, bei Allem, was heilig ist, die Wahrheit.«

»An wen wurde er wohl geschrieben?« fragte Esther, deren Stimme zitterte. Sie stützte sich fest auf Erichs Arm. Er faßte ihre Hände und drückte sie fest.

»Bitte mich nicht, es zu sagen,« sprach er. »Einst, wenn Jahre vergangen und wir einander das geworden sind, was wir uns noch nicht sind, werde ich dir, wenn ich von dem Gelübde entbunden sein werde, das jetzt meinen Mund verschließt, unsere Familiengeschichte anvertrauen. Alles, was ich dir jetzt sagen kann, ist, daß ich Nanny nicht einen Augenblick dadurch erniedrigt habe, daß ich sie zum Gegenstand einer unerlaubten Liebe erkor.«

»Ich danke dir für diese Versicherung, welche mir Nanny wiedergiebt, die ich liebe und bewundere,« flüsterte Esther, unvermögend, ihre Thränen zurückzuhalten.

»Du weinst?« flüsterte Erich, indem er sich herunterneigte und in ihr thränenvolles Gesicht blickte. »Armes Kind, wie werde ich je dein hartes Loos erträglich machen können? Giebt es Nichts, wodurch ich dich glücklich machen kann?«

»Doch; lasse mich deine vertrauteste Freundin werden, da ich deine Geliebte nicht sein kann,« stammelte Esther. »Ach, Erich, wie glücklich wäre ich, wenn ich die Frau wäre, die du liebst; ich würde dann nicht vor dir zu stehen und um Verzeihung für meine Fehler zu bitten brauchen, sondern wir wären Beide frei von Schuld und glücklich gewesen.«

»Hast du etwas abzubitten, armes unschuldiges Kind? Unmöglich. Wenn dem auch so wäre, so brauchtest du doch nicht daran zu zweifeln, meine Vergebung für das Wenige, das du gethan hast, zu erhalten.«

Esther fühlte, wie der Arm ihres Mannes sie umschloß, und sie stieß ihn nicht von sich, sondern legte den Kopf an seine Brust und weinte. Er zog sie auf eine Bank nieder, die ganz in der Nähe stand und sprach so herzliche und aufmunternde Worte, daß ihm Esther ihr Herz völlig aufschloß. Sie beichtete ihm Alles, was sie gefühlt, gethan hatte, seitdem sie verheirathet waren.

Erich lauschte mit Staunen und Bestürzung der Schilderung, welche die junge Frau von ihren inneren Kämpfen, ihrer rastlosen Unruhe und ihren lebhaften Gefühlen, welche sie beinahe auf den Weg der Verirrungen geführt hatten, entwarf.

Erich hatte in der letzten Zeit und nach den neuesten Begebenheiten seine eigenen Fehler eingesehen. Er bemerkte jetzt auch mit Schrecken, daß die geschäftsmäßige Art, womit er im ehelichen Leben verfuhr, ihm beinahe eine schreckliche Verantwortung zugezogen haben würde, weil die ihm anvertraute Person durch ihn unglücklich, ja sogar schuldbeladen hätte werden können.

Er drückte Esther besorgt an seine Brust und sagte ihr, daß, wenn Jemand der Verzeihung bedürfe, er und nicht sie es sei.

Es war ein trauriger, aber lieblicher Augenblick im Leben des jungen Ehepaares, weil ihre Herzen in gemeinsamer Reue und in dem Wunsche, einander zu beglücken, sich zusammenfanden.

Esther schlang ihre Arme um den Hals ihres Mannes und weinte lange, aber im Stillen. Er sprach zärtlich mit ihr, und ihre Thränen versiegten endlich.

Dieser Abend versprach ihnen einen schönen Morgen.


Während sie auf der Terrasse waren, hatte sie Marianne hinter den geschlossenen Vorhängen von ihrem Fenster aus beobachtet. Sie konnte nicht auffangen, was sie sprachen, sah jedoch, daß ihr Gespräch zu einer vertraulichen Annäherung führe.

Als Esther ihre Arme um den Hals des Gatten schlang, hüllte sich Marianne dichter in ihren Schlafrock, wie wenn sie sich vor der Kälte hätte schützen wollen. Sie wollte vom Fenster weggehen, stieß aber einen leisen Schrei aus, als sie hiebei eine weiße Gestalt vor sich erblickte. Diese Gestalt nahm sie am Arme und wies sie nach dem Fenster, indem sie sagte:

»Betrachte diese und erkenne, daß es ein göttliches Gebot giebt, das jede Verletzung dessen, was recht ist, straft. Du hast sie trennen wollen und hast sie statt dessen vereinigt. Du hast mich beschimpfen und brandmarken wollen, aber dessenungeachtet hast du ihn auf immer von dir entfernt. Es wird dir nicht mehr gelingen, je wieder von ihm verehrt zu werden, weil du seine Hochachtung verscherzt hast. Marianne, diesen Abend hast du Alles auf eine Karte gesetzt und Alles verloren. Es bleibt dir nur übrig, abzureisen, um dir die Demüthigung deiner Niederlage zu ersparen.«

Marianne blickte schweigend auf Erich und Esther. Die Hand, womit sie sich aufs Fenstergesims stützte, zitterte. Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust, und Nanny hörte etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen.

»Du weinst?« sagte Nanny in milderem Tone; »sind meine Worte zu hart gewesen? Kann ich wirklich zu hart sein gegen dich, die mich so frevelhaft angegriffen hat? O Marianne, Marianne, wie konntest du mich so beschimpfen, wie du es gethan hast?«

»Ich konnte es darum, weil ich weiß, daß du einst zwischen mir und ihm, den ich liebte, im Wege standest. Ich konnte es, weil ich wissen will, ob … ob … er Nanny liebe. Ich bin ein eitles und oberflächliches Weib, das ist wahr, allein ich habe dennoch ein Herz gehabt, das einst liebte und dieses Herz hast du gebrochen.«

Marianne trocknete ihre Thränen und fuhr in verändertem Tone fort:

»Es ist thöricht, davon zu reden. Du und ich haben einander nie verstanden. Wann reisest du ab?«

»Ich reise nicht ab,« antwortete Nanny. »Wären die Beschuldigungen wahr, die man gegen mich erhoben hat, so wäre ich gegangen, ich bin aber unschuldig, und deshalb bleibe ich.«

»Aber ich bitte dich, reise ab; du weißt nicht, welche Gerüchte hier verbreitet sind; dein Name und deine Ehre sind in Gefahr, wenn du hier bleibst,« wandte Marianne ein.

»Wenn dem so ist, Marianne, so lasse uns Beide abreisen. Ohne dich verlasse ich Lybo nicht. Deine Macht ist aus, deine Gewalt über mich ist dahin, und ich bin hier, um zu sehen, welche Früchte der Sieg, den Esther diesen Abend errungen hat, bringen wird. Mein Name, meine Ehre sollen verwirkt sein, sagst du? Nein, es ist nicht so leicht, der Unschuldigen ihr höchstes Gut zu rauben, und wenn ich diesen Abend einen Augenblick lang schwach genug war, mir dies einzubilden, so ist diese Schwäche verschwunden. Daß Erich und Esther sich einander trotz meines Dableibens nähern, ist der beste Beweis von der Unwahrheit des Gerüchtes. Ich werde übrigens dennoch reisen, wenn du dich auch hiezu bewogen findest.«

»Ich verlasse Lybo nicht,« erklärte Marianne. »Nichts kann mich dazu bewegen.«

»Schlafe wohl,« antwortete Nanny und verließ mit diesen Worten das Zimmer.

Nanny blieb.

Ludwig war außer sich.

In dem Verhältnisse der handelnden Personen zu einander war keine Veränderung eingetreten seit dem oben erwähnten Abend, außer daß Erich sich beinahe ausschließlich mit Esther beschäftigte und noch freundlicher und herzlicher war, als in der letzten Zeit. Sie brachten jede freie Stunde mit einander zu, gingen und fuhren mitsammen spazieren und sahen froh und zufrieden aus.

Roman kam nicht nach Lybo. Er hatte Erich gesagt, daß er nicht eher das Haus seines Tochtermannes betreten werde, als bis Nanny fort sei, und da sie noch immer da war, so blieb Herr Roman weg.

Marianne war schön und heiter, wie immer, allein es schien doch, als verberge sich eine Blässe hinter der frischen Gesichtsfarbe der Wangen und ein heimlicher Schmerz hinter ihrem Lächeln.

Nanny schien vollkommen gleichgültig zu sein für Alles, was sich zutrug. Sie leistete den Anderen Gesellschaft, wenn es gewünscht wurde, zog aber die Einsamkeit vor.

Esther und sie standen wieder auf dem alten vertraulichen Fuße mit einander, nur war Nanny viel schweigsamer, als vorher. Sie lächelte wehmüthig, als Esther sie um Verzeihung bat, weil sie einen Augenblick ihren Charakter habe in Zweifel ziehen können.

»Giebt es wohl Jemand, der dies nicht gethan hätte?« hatte Nanny erwidert. »Du, liebes Estherchen, bist doch diejenige gewesen, welche an meine Freundschaft mehr, als Andere, geglaubt hat, und deshalb bist du mir theuer.«


Herr Roman wollte herkömmlicher Weise seinen Geburtstag zu Grythamra mit einem großen Mittagessen und einem Balle am Abend feiern.

Bereits einige Tage vorher ergingen die Einladungen. Auch nach Lybo gelangten einige, aber keine an Nanny.

Sie allein blieb von der Einladung ausgeschlossen.

Esther kam außer sich, und Erich war so erzürnt, daß er vorschlug, es solle von Lybo Niemand hingehen, aber Nanny erklärte bestimmt, daß, wenn sie daheim bleiben würden, man es als einen Beweis dafür ansehen möchte, daß Erich die umlaufenden Gerüchte bestätigen wolle. Erich und Esther mußten sich deshalb in Nannys Willen fügen.

Der große Festtag kam.

Sie waren alle zum Abgehen fertig. Marianne war schöner als je. Ein unfreiwilliger Ausruf der Bewunderung entschlüpfte den Anwesenden, als sie in vollem Schmucke vor ihnen stand.

Esther blickte zuerst die schöne Frau und dann ihren Mann an. Seine Augen ruhten auf Mariannen mit einem solchen Ausdrucke der Bewunderung, welcher Esther erzittern machte.

»Er hat sie geliebt!« rief eine Stimme in ihr.

Die Vergangenheit mit allen Irrthümern, die Gegenwart mit der Hoffnung auf eine innige Freundschaft zwischen ihr und Erich, die Zukunft mit ihren Erwartungen – Alles verschwand bei dieser Entdeckung. Esthers leicht erregbares Gemüth wurde ausschließlich von dem Gefühle einer solch heftigen Eifersucht beherrscht, daß sie etwas Aehnliches nie empfunden hatte. Sie hatte nicht so viel Macht über sich, um ihrem Manne, als er sie anredete, freundlich antworten zu können. Sie eilte unter irgend einem Vorwande aus dem Zimmer und zu Nanny hinein und stürzte, ohne auf ihren Anzug zu achten, in die Arme der Freundin mit dem Ausrufe:

»Die Schuppen sind mir von den Augen gefallen; ich weiß jetzt, daß Erich Marianne liebt!«

Nanny fuhr bei diesen Worten zusammen, als hätte sie einen Dolchstich bekommen. Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Esther unterbrach sie mit den Worten:

»Sage Nichts, lüge nicht, um die Wahrheit zu verbergen! In diesem Augenblicke weiß ich, daß es für mich keine Hoffnung auf zukünftiges Glück giebt; er wird sie ewig lieben und ich sie ewig hassen.«

»Esther, der Wagen ist vorgefahren,« tönte Erichs Stimme im äußeren Zimmer.

Es gelang Nanny nach einigen Augenblicken, Esther so weit zu beruhigen, daß sie nach zweimaliger Aufforderung den Mantel umwarf und in den Wagen stieg.

Nanny sah dem forteilenden Wagen mit einem schmerzlichen Blicke nach und flüsterte:

»Welche heftige Leidenschaften haben nicht in diesem Wagen Raum! Es sind darin zwei verliebte und eifersüchtige Frauen, ein Mann, der mit seinen Gefühlen kämpft, und Ludwig, welcher von einer erwachenden, noch unbewußten Liebe beeinflußt wird, welche ihn zum Sklaven der Launen einer Frau macht, die ihn zu weiter nichts als zum Werkzeuge benützt.«

Nanny wurde in ihren Gedanken durch das Geräusch eines Wagens, welcher sich eilig näherte, unterbrochen.

»Wurde etwas vergessen, weil sie umkehren?« dachte Nanny. Sie konnte das sich nähernde Fuhrwerk noch nicht entdecken, weil das Laub der Bäume den Weg verbarg.

Sie blieb jedoch auf der Treppe stehen.

Eine Kutsche fuhr in den Hof ein und blieb vor dem Hauptgebäude stehen.

Ueber Nannys Angesicht verbreitete sich ein rosiger Schimmer und Glück und Freude leuchteten aus demselben, als sie die Person erkennen konnte, welche im Wagen saß. Mit zwei raschen Schritten war der Ankömmling bei ihr.

»Du, mein Liebling!« flüsterte sie und reichte dem Fremden die Hand.

»Meine theure, meine angebetete Nanny,« antwortete der junge Mann und küßte die kleinen weißen Hände.

»Ich bin in der That ohne deine Erlaubniß gekommen, aber ich mußte dies, wenn ich nicht wollte, daß diese kurzsichtigen Menschen dich fortwährend falsch und ungerecht beurtheilen. Verzeihe mir, daß ich mich ungehorsam gezeigt habe!«

Was Nanny darauf sagte, sind wir nicht berechtigt, zu erfahren; wir eilen jetzt nach Grythamra, um zu erfahren, was sich dort zuträgt.


Nannys Ausbleiben verursachte unter Romans Gästen viel Geflüster und Gerede.

Man machte so ehrenrührige Anspielungen, als möglich, und als das Mittagessen vorüber war, hatte man, so gut es ging, der Abwesenden alle Ehre abzuschneiden versucht.

Der Propst Granstedt verweilte zwar in Marstrand; allein seine Frau war bei Roman eingeladen und tischte Allen, die ihr zuhören wollten, erbauliche Geschichten auf. Tante Juliane that auch ihr Möglichstes, um auf anschauliche Weise zu beschreiben, wie unverschämt Nanny auf Lybo das Regiment geführt habe. Sie und Frau Granstedt wetteiferten mit einander, die skandalösesten Unwahrheiten über eine Person zu verbreiten, die ihnen nie etwas zu Leide gethan hatte.

Esthers Eifersucht und üble Laune gab dem Geschwätze Nahrung, und man machte einander darauf aufmerksam, wie sie ihren Mann, der sich gar nicht um sie bekümmerte, mit den Blicken verfolge.

Das Schicksal wollte, daß es an diesem Tage sich immer fügen mußte, daß die Behauptungen stets einen Schein von Wahrheit hatten. Erich war nicht so gegen seine junge Frau, wie er in der letzten Zeit zu sein pflegte, und dies kam hauptsächlich daher, daß Esther ihm jedesmal unfreundliche Antworten gab und ihm den Rücken kehrte, so oft er sich an sie wandte.

Esther schien es, als ob alle Qualen der Hölle in ihrer Brust losgelassen seien. Sie konnte es nicht mehr aushalten, leben zu müssen, seit sie wußte, daß ihr Mann Marianne liebe. Sie folgte ihm mit neidischen Augen, und es schien ihr, als kehrte er stets zu Marianne zurück, wenn er sich einmal von ihr entfernt hatte.

Die Gesellschaft vertrieb sich die Zeit zwischen dem Mittagessen und dem Balle mit Gesprächen und Spazierengehen.

Esther hatte Ludwigs Arm ergriffen, und als sie sich allein befanden, sagte sie:

»Du, der du der eigentliche Urheber des Gerüchtes im Orte bist, daß mein Mann Nanny liebe, du wirst dich schwer vertheidigen können, wenn ich dir sage, daß du Nanny verleumdetest, und daß es Marianne ist, die er liebt.«

Ludwig lachte hell auf.

»Lache nur,« fuhr Esther fort; »es ist dennoch gewiß, daß ich die Wahrheit rede. Der Brief, den du auf eine etwas sonderbare Weise aufgefunden und meinem Vater gegeben hast, war nicht an Nanny, sondern an Marianne. Ach, jetzt durchschaue ich klar die ganze abscheuliche Intrigue!«

»Vermuthlich ist es Nanny, welche dich so hellsehend gemacht hat,« sagte Ludwig.

Esther antwortete nicht, sondern veranlaßte ihn, stehen zu bleiben und deutete auf einen Weg im Parke, der sich um einen Hügel schlängelte. Marianne ging daselbst Arm in Arm mit Erich spazieren. Sie sprachen lebhaft mit einander.

»Ich muß wissen, was sie sagen,« flüsterte Esther und drückte ihre Hände an die Brust.

»Ich muß Gewißheit haben, ob er mich betrügt. Sie gehen zu dem Gartenhaus. Komm, wir schlagen auch diesen Weg ein.«

Ludwig folgte ihr, aber nicht, weil er ihren Worten glaubte, sondern deshalb, weil er einem Instinkte gehorchte, der ihn antrieb, Esther nicht aus den Augen zu lassen.

»Komme auf den Hügel herauf,« flüsterte Esther, »und gehe leise.«

Das Gartenhaus wurde sichtbar; Erich und Marianne saßen darin.

Ersterer beugte sich vorwärts und beschrieb mit dem Stocke Figuren auf den Boden.

Marianne sprach, allein die Entfernung verhinderte Esther, zu hören, was gesagt wurde. Sie dachte nicht mehr an Ludwig, sondern schlich sich hinter einen Pfeiler des Gartenhauses und blieb da stehen.

»Ich kann deine Vorwürfe nicht verstehen,« hörte sie Marianne sagen. »Willst du, daß ich mit verschränkten Armen und geschlossenem Munde erlauben soll, daß meine Schwester da bleibt und fortwährend die Ursache ist, daß du und Esther getrennt leben? Ich hatte keine andere Wahl, als den Auftrag auszuführen, den mir dein Schwiegervater gab, als er mich bat, ich solle Nanny auffordern, von Lybo abzureisen. Ihr habt Beide meine Ermahnungen, welche ich euch gab, unbeachtet gelassen und seid es also, welche mir den Schmerz bereiteten, gegen meine Schwester auftreten zu müssen. Seitdem sind zwei Wochen verflossen – und Nanny ist noch immer da. Welch großen Kummer hat mir dies nicht bereitet!«

»Erlaube, daß ich das, was du sagst, unbeantwortet lasse,« sagte Erich und zeichnete verschlungene Figuren mit dem Stocke. »Ich muß zuerst eine Frage an dich richten: hast du jemals einen Menschen als Heiligen bewundert?«

»Es ist möglich, daß ich es that,« flüsterte Marianne.

»Wenn du sie Jahre lang für die Vollkommenste, die du je gesehen, gehalten hast, kannst du verstehen, was man fühlen muß, wenn man plötzlich entdeckt, daß sie nicht das fehlerfreie, erhabene, reine, anbetungswürdige Wesen ist, wofür man sie gehalten hat, sondern nur eine schöne und alltägliche Frau.«

»Ich verstehe, was du fühlen mußt,« sagte Marianne. »Hast du Nanny so hoch gehalten und glaubst dich nun betrogen, so bedaure ich dich.«

Erich blickte Marianne an.

»Es war nicht Nanny, die ich so bewunderte, daß ich, um sie vor einer andern Liebe zu bewahren, mein eigenes Glück auf das Spiel setzte. Nein, Marianne, es war die Frau meines Vaters; ich bewunderte dieselbe ohne allen Egoismus der Liebe, wie man ein höheres Wesen bewundert.«

Erich stand auf und fügte mit Nachdruck bei:

»Ja, Marianne, als du hierher kamest, warst du, was das Weibliche anbelangt, für mich noch die schönste und edelste Frau, die ich mir denken konnte, und du wärest dies wahrscheinlich bis zu deinem Tode geblieben, wenn nicht dein Streben, Nanny herunterzusetzen, einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht haben würde und mich an deiner Güte hätte zweifeln lassen. Dein Verfahren, durch Beschimpfung deine Schwester zur Abreise zu bewegen, bewies mir, daß du nicht die Marianne seiest, für die ich und alle Anderen dich angesehen haben. Man kann schwach sein, Marianne, wenn das Herz redet; man darf aber nie undankbar, niemals im Stande sein, die Wahrheit und das Rechtsgefühl absichtlich mit Füßen zu treten, und das hast du gethan. Dieser einzige Zug war genügend, um mir die Augen zu öffnen und mir die Wittwe meines geliebten Vaters in ihrem wahren Lichte zu zeigen. Und nun wollen wir gehen. Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt und habe nichts mehr hinzuzufügen.«

»Es ist nicht Alles gesagt,« fiel Marianne ein, und ihre Augen erglühten in wunderbarem Feuer. »Es gehört der Vergangenheit auch an, daß Marianne seit der ersten Begegnung mit Erich Malmberg ihn und nur ihn geliebt hat. Er war, er ist und wird ihr einziger Liebhaber verbleiben.«

Erich machte eine Bewegung, als wäre er von einem elektrischen Schlage getroffen worden.

»Marianne, was hast du gesagt?« rief er todesblaß aus.

»Eine Wahrheit, das ist Alles. Fasse genau die Zeit ins Auge, wo ich die Gattin deines Vaters war und gestehe, daß ich niemals verrieth, was mein Herz empfand; prüfe mein nachheriges Benehmen, und du wirst keinen Grund zu Bemerkungen finden. Gott verzeihe mir, wenn ich nach Allem, was ich erduldet habe, Gewißheit haben möchte, ob du mich oder Nanny liebtest. Dieser Wunsch trieb mich dazu, meine Schwester zu verletzen und zu beleidigen. Ich war eifersüchtig, Erich; darin liegt meine Entschuldigung. Jetzt ist Alles erklärt und Nichts mehr beizufügen nöthig. Du hast gesagt, ich wäre die vollkommenste Frau, die du gekannt habest, aber damit hast du nicht gesagt, daß du mich liebest. Ich weiß jetzt, daß es Nanny war, daß es jetzt Keine von uns ist. Nun können wir uns trennen und Jedes seinen Weg gehen.«

Marianne stand auf, indem sie hinzufügte:

»Die Vergangenheit liegt klar vor uns, die Gegenwart ist mir gleichültig, und die Zukunft unbekannt. Ich bin mit dem, was gewesen ist, zufrieden und gehe der Zukunft mit Ruhe entgegen. Gieb mir deinen Arm und lasse uns gehen.«

»Die Vergangenheit ist nicht aufgeklärt,« fiel Erich ein; »wenn es wahr ist, was du eben gesagt hast, wie soll ich mir dann dein Verhältniß zu Karl erklären? – O Marianne, du weißt nicht, was Andere durch ihn und dich gelitten haben!«

»Ich weiß, was ich selbst gelitten habe und daß es mein Tod gewesen wäre, wenn du Nanny geheirathet hättest.«

»Du hast also Karl nie geliebt?«

»Niemals!«

Schweigend bot ihr jetzt Erich den Arm.

Zwei gleich blasse, verstörte Gesichter wurden sichtbar, als sich Marianne mit ihrem Begleiter entfernte.

»Sie liebt ihn,« sagte Esther.

»Und ich habe Nanny verkannt und beleidigt!« brauste Ludwig auf. »Wie werde ich dies gut machen können?«

»Erich wird mich lieben,« flüsterte Esther. »O könnte ich mich nur dieses Glückes würdig zeigen!«

Die Anfangspolonaise wurde gespielt und Esther von dem angesehensten der Herren in den Tanzsaal geführt. Als sie an seinem Arm in denselben eintrat, war schon ein anderes Paar vor ihnen. Es war Nanny, welche von Herrn Roman geführt wurde. Das Licht der Kronleuchter überstrahlte die junge Frau, die Esther in diesem Augenblicke wirklich schön vorkam. Sämmtliche Tänzer schienen bei dieser Erscheinung sehr überrascht zu sein.

Tante Juliane, die ausgesagt hatte, daß Roman nie erlauben würde, daß Nanny seine Schwelle betrete, war so betroffen, daß sie eine halbe Stunde lang nicht ein Wort sprach.

Nach der Polonaise versammelten sich alle Matronen um die arme Juliane und bestürmten sie mit Fragen. Sie forderten eine Erklärung darüber, wie ihre Behauptungen in solch direktem Widerspruch mit der Wirklichkeit stehen konnten.

Daß Roman auf Nanny nicht böse sei, war klar.

Daß er sie für unwürdig halte, sein Haus zu betreten, konnte ebenso wenig wahr sein, denn er bewies ihr ja eine Achtung, die er Niemand sonst zu Theil werden ließ, und es schien eher, als wolle er ihr den Hof machen, als wie wenn er Unwillen gegen sie empfände. Es war der Tante Juliane weniger behaglich zu Muthe, und sie kam in schwere Verlegenheit, aus welcher sie sich nur mit großer Mühe ziehen konnte. Es wurde jetzt auch bemerkt, daß Erich sehr zärtlich gegen seine Frau sei, weit zärtlicher, als wie sie es verdiene, denn es sei doch ein entsetzlicher Skandal in Marstrand gewesen, wovon die Pröpstin erzählt habe. Während dies Alles abgehandelt und Tante Juliane von ihren Freundinnen bestürmt wurde, ertönte der erste Walzer. Die Neugierigsten mußten hinaus in den Tanzsaal, um zu sehen, mit wem Erich tanze. War es mit Nanny?

In diesem Falle sah es zweifelhaft aus, ob man Roman nicht Sand in die Augen gestreut hatte.

Erich tanzte den ersten Walzer mit Marianne. Das nächste Paar nach denselben war Esther und ein junger Mann, der zuerst unbekannt zu sein schien, aber schließlich zu größter Bestürzung als Andreas Berg erkannt wurde. Die werthen Damen sahen sich mit Blicken an, welche bewiesen, daß sie von Allem, was sich zutrug, nichts verstehen konnten.

Es ist indessen leicht, Anspielungen zu machen, und es währte nicht lange, bis welche gemacht wurden. Erich, der seine Frau nicht liebe, sondern ihr untreu sei, sollte Esthers Schwäche für Andreas übersehen, damit sie ihm denselben Gegendienst erweise. Und deshalb sei Doktor Berg trotz Allem, was sich zugetragen habe, erschienen. Aber Roman, der strenge, genaue Roman, wie konnte er dies Alles ertragen? Man sprach zu Anfang des Balles von nichts Anderem, als von diesen vier Menschenkindern, die schon lange der Gegenstand ungebührlicher Klatscherei gewesen waren. Man las es in Mariannens ungewöhnlich ernstem Gesichte, daß sie, die unschuldige, gute Frau unter diesen unangenehmen Verhältnissen leide, und später am Abende wurde es bekannt, daß sie im Sinne habe, Lybo zu verlassen.

»Sie kann nichts Gutes stiften, und deshalb reist sie,« sagte die Eine, und eine Andere meinte, daß Mariannen die Augen jetzt erst aufgegangen seien, und daß sie deshalb das Haus des Stiefsohnes verlasse.

Man wurde zwar dadurch etwas irre geführt, daß Andreas nach dem Walzer mit Esther keinen Augenblick von Nannys Seite wich, sondern während des ganzen Abends ihr treuer Begleiter war. Es sah sehr auffallend aus, besonders, da Roman und Frau Berg sich unaufhörlich zu Andreas und Nanny gesellten und an dem Gespräche Theil nahmen. Von was konnten sie zu reden haben? Als das Abendessen zu Ende war, wurden die Gläser mit Champagner gefüllt. Roman bat die Anwesenden, die Gläser zu ergreifen und mit ihm die Gesundheit des Doktor Andreas Berg und seiner Auserkorenen, Frau Nanny Malmberg, zu trinken. Allgemeine Bestürzung! Die Anwesenden starrten die Verlobten an, welche neben Roman standen. Die Gesundheit wurde ausgebracht und Glückwünsche folgten.

»Ach, Nanny, ich bin so glücklich in diesem Augenblicke,« sprach Esther, als sie die Hand der Freundin drückte; »ich weiß, daß du und Andreas für einander passen; Gott segne dich, du guter Engel meines Lebens.«

Der alte Gunnar, der sich auch unter den Gästen befand, war der Letzte, welcher den Gefeierten die Hand schüttelte.

»Du bist eine gute Doktorin, Nanny,« sagte er, »und ich wünsche, du möchtest so glücklich werden, wie du es verdienst, denn du bist ein stattliches Weib. Glück zu, mein lieber Andreas, deine Mutter hat doch zuletzt Freude an ihrem Sohne erlebt, und deshalb kannst du dieses Packet als Verlobungsgeschenk annehmen. Ich werde dich wohl doch einmal zu meinem Universalerben einsetzen müssen. Gott segne euch Beide, ihr habt mir eine recht frohe Stunde bereitet.«


Am folgenden Tage, als Mariannens Kammerjungfer damit beschäftigt war, die Kleider ihrer Herrin in Ordnung zu bringen, kamen Andreas und Gunnar nach Lybo. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, aber Marianne war noch nicht aufgestanden. Gunnars Besuch galt jedoch ihr; er setzte sich daher unter die Linden im Hofe, um den Augenblick zu erwarten, wo Marianne ihn empfangen könnte. Andreas suchte seine Braut auf.

Eine geraume Weile verging, ehe das Kammermädchen verkündigte, daß Gunnar eintreten könne. Marianne empfing ihn in ihrem Kabinette und begrüßte den Freund ihres verstorbenen Gatten mit einem holden Lächeln, wobei sie sagte:

»Sie sind herzlich willkommen, Onkel, und das in demselben Zimmer, aus welchem ich Sie einst aus Schmerz und Zorn gehen hieß. Alles ist seitdem anders geworden; wir selbst am meisten.«

»Mir scheint es ganz, als sei alles auf demselben Fleck,« sagte Gunnar und blinzelte verschmitzt. »Was dich betrifft, beste Marianne, so bist du heute ganz dieselbe, wie damals, und deswegen bin ich hier.«

»Doch nicht, um mich zu zwingen, Lybo zu verlassen?« rief sie heiter aus. »In dem Falle, Onkel Gunnar, haben Sie eine allzuschwere Aufgabe übernommen. Ich werde bleiben. Jetzt erst wird es recht gemüthlich werden, nachdem sich meine Schwester mit Andreas verlobt hat. Ihr Bräutigam hofft ja, hierher berufen zu werden, so lange Doktor G. im Auslande ist.«

»Das ist alles schön und gut, aber du, Marianne, hättest noch keine Pläne machen sollen, da zu bleiben, ohne mich zuerst um Rath zu fragen. Ich bin Lybos Kobold und stecke gerne meine Nase in Alles, was sich hier zuträgt. Jetzt wittert sie etwas, das ihr nicht gefällt, und deshalb habe ich dich aufgesucht.«

»Was hat Ihre Nase Unangenehmes gewittert, Onkel?« fragte Marianne, ihm eine Cigarette reichend; »ist es das, daß ich rauchen gelernt habe?«

»Ach nein, das magst du meinetwegen thun, wenn du nur nicht brennen willst.« Gunnar lächelte und sah die schöne Frau ganz schelmisch an.

»Hat sich der Onkel die Finger verbrannt?« fragte Marianne mit spöttischem Lächeln.

»Dazu bin ich mit der Hitze der Schmelzöfen zu vertraut,« antwortete Gunnar, zündete die Cigarette an und betrachtete sie sehr aufmerksam, während er mit eigenthümlicher Betonung fortfuhr: »Ich bin bei dir, liebes Kind, um den letzten Willen deines Mannes zu vollziehen. Er geht dahin, daß du nicht in Erichs Nähe bleiben und seinen häuslichen Frieden durch deinen gefährlichen Einfluß stören dürfest. Du bist Monate lang hier gewesen, und ich habe mich ruhig verhalten, da ich erwartete, du würdest abreisen. Ich habe Alles genau beobachtet und gefunden, daß du nicht länger in einem Hause bleiben darfst, wo deine Gegenwart den Frieden stört. Also, du mußt fort von hier, mein Kind.«

»Daraus wird nichts,« erwiderte Marianne. »Die Zeit ist vorbei, wo der Onkel mich einschüchtern konnte. Jetzt bin ich frei, jetzt thue ich, was ich will und lasse mir keine Gesetze vorschreiben. Ich fürchte Niemanden und folge nur meinem eigenen Willen.«

»Dann muß ich dich bitten, dieses Schreiben deines verstorbenen Mannes an mich zu lesen. Wenn du über dessen Inhalt im Klaren sein wirst, so wirst du gewiß wünschen, daß derselbe für Jedermann zu Lybo ein Geheimniß bleibe.«

»Lesen Sie, Onkel, mein Mann hat niemals etwas von mir geschrieben, was nicht die ganze Welt wissen darf,« erklärte Marianne.

Gunnar legte die Cigarette weg und entfaltete den Brief, den er nun ohne Weiteres vorlas.

Mariannens Gesicht wechselte die Farbe. Die Sorglosigkeit und der Uebermuth verschwanden und machten dem Ausdrucke der Betrübniß und der Niedergeschlagenheit Platz. Sie stand auf und ging auf Gunnar zu, indem sie einen Blick auf den Brief warf, um sich zu überzeugen, ob er wirklich von ihrem verstorbenen Manne geschrieben sei. Das Gesicht mit den Händen bedeckend, sank sie auf das Sopha nieder.

Ohne sich stören zu lassen, las Gunnar den langen Brief bis zum Schlusse.

»Welcher traurige Augenblick,« stammelte Marianne. »Sie haben mir den größten Schmerz bereitet, den ich je gefühlt habe. Mein Stolz und meine Freude bestand in der Ueberzeugung, daß ich Philipp glücklich gemacht habe, daß er an meiner Seite glücklich sei, und jetzt …«

»Erkennst du, daß er nicht von dir betrogen wurde,« unterbrach sie Gunnar. »Willst du, daß seine Kinder noch immer in dir die beste Gattin und in ihm den glücklichsten Ehemann sehen sollen?«

»Das will ich,« rief Marianne aus, »und Sie hätten auch mir diese Ueberzeugung lassen sollen. Ich war ihm, dem edelsten unter den Männern, wirklich ergeben, und ich werde es bitter beweinen, daß er nicht einsah, daß ich, abgesehen von meiner Gefallsucht, die innigste Freundschaft für ihn in meiner Brust hegte.«

»Du kannst dem Todten seine verlorene Ruhe nicht wiedergeben; aber du kannst es vermeiden, daß Jemand außer mir erfahren wird, was er ausgestanden hat. Alles hängt davon ab, ob du abreisen wirst oder hier bleibst. In letzterem Falle zeige ich diesen Brief seinen Söhnen.«

Marianne bedeckte abermals ihr Angesicht mit den Händen und weinte. Sie weinte vor Schmerz und Reue. Sie hatte die Wahrheit gesprochen, als sie sagte, sie sei ihrem verstorbenen Manne aufrichtig ergeben gewesen. Sie weinte lange; Gunnar trommelte indessen einen Marsch auf dem Tisch, ohne sie mit einem einzigen Worte des Trostes zu stören. Endlich trocknete Marianne ihre Thränen und blickte Gunnar an.

»Ich reise morgen,« sagte sie; »das Mindeste, was ich seinem Andenken zu Ehren thun kann, ist, das traurige Geheimniß seiner unglücklichen Ehe zu bewahren, da er in seiner unbegrenzten Liebe nichts so sehr fürchtete, als daß man ahnen könnte, daß er mit mir nicht glücklich sei. Sie haben mich jetzt zum zweiten Male aus Lybo vertrieben; ich werde nie wieder hieherkommen.«

»Ich danke dir für dieses Versprechen,« sagte Gunnar, steckte den Brief in die Tasche und erhob sich, um zu gehen.

»Onkel Gunnar, gehen Sie nicht, ehe Sie mir gesagt haben, was Sie von mir denken,« flehte Marianne. »Sie sind der Einzige, der mich so kennt, wie ich bin.«

»Schon wahr. Meine Ansicht von dir ist, daß die Natur dir manche und große Gaben verliehen hat, welche zu mißbrauchen du dich von deiner Eigenliebe und deiner Selbstsucht verleiten ließest. Du hast dem Verlangen, Eroberungen zu machen, dir von Allen gehuldigt und dich bewundert zu sehen, deine Pflicht und deine besseren Gefühle geopfert, du hast Alles, was dich freute, für erlaubt angesehen, und hast, um deine Wünsche zu befriedigen, Andere geopfert. Du hast nicht genug Herz gehabt, um auch auf Andere, als auf dich selbst, Rücksicht zu nehmen. Du warst eine liebenswürdige Gattin, weil es dir gefiel, vergöttert zu werden, und du fürchtetest, daß dein Mann dich nicht anbeten würde, falls du dich ihm nicht in einem schönen Lichte gezeigt hättest. Dein Gemüth ist von Natur friedlich, deine Manier ungezwungen und aufrichtig, so daß man nicht wohl an die Möglichkeit denkt, daß hinter dieser Offenheit Treulosigkeit verborgen sein könnte. Mit weniger Selbstsucht, weniger Gefallsucht und einem besseren moralischen Halt von Anfang an hättest du eine gute Frau werden können; aber so bist du nur eine geschickte Schauspielerin geworden. Und jetzt, lebe wohl, Marianne, die Welt ist groß; du bist reich und das Leben hat dir Vieles zu bieten, ohne daß du diesen Fleck Landes zum Felde für deine Experimente und für die Befriedigung deiner Eitelkeit zu wählen brauchst.«

Marianne saß unbeweglich da und ließ Gunnar fortgehen. Es schien ihr, als habe er sie gezwungen, in den Spiegel der Wahrheit zu schauen und sich darin zu erblicken, wie sie war, nicht, wie sie sich zu verstellen wünschte. Mißvergnügen und Unruhe erfüllten ihr Herz, und sie wünschte, der Erinnerung an den einzigen Menschen, für welchen sie Zuneigung gefühlt hatte und welcher durch sie unglücklich wurde, ledig werden zu können. Dieser Umstand verbitterte ihr die Gegenwart und breitete einen dunkeln Schatten über die frohen Tage ihres Lebens aus. Daß sie abreisen müsse, hatte auch darum etwas Schmerzliches an sich, weil sie nicht als Siegerin, sondern als Besiegte abtrat. Marianne hatte zwar beabsichtigt, noch einmal ein hohes Spiel zu wagen, was ihr aber jetzt unmöglich war. Sie sollte nie die Freude haben, Erich in sich verliebt zu machen, nie aus seinem Munde die Worte zu vernehmen: »Ich liebe dich!« Mit diesen drei Worten wäre Marianne zunächst zufrieden gewesen und hätte nie die Absicht gehabt, länger in Lybo zu verweilen, als bis sie diesen Triumph ihres Herzens errungen haben würde. Bewundert worden zu sein war nicht dasselbe, wie geliebt worden zu sein. Diese Bewunderung verloren und keine Gelegenheit zu haben, dieselbe wieder zu erringen, schien so schmerzlich, daß Marianne heftig weinte.

Sie wußte jedoch, daß Gunnar nicht mit sich spaßen lasse, und es blieb ihr nur übrig, den Befehl zum Einpacken zu geben.


An demselben Tage, an welchem Marianne abreiste, traf Nanny Esther singend in dem Garten. Dies war etwas so Ungewöhnliches, daß Nanny eine Bemerkung hierüber nicht unterlassen konnte.

»Ich bin viele Jahre lang nicht so fröhlich gewesen,« antwortete Esther, die Freundin umarmend. »Nein, seit meiner Heirath nicht.«

»Was hat diese Freude hervorgerufen?«

»Vieles, aber besonders Mariannens Abreise. Ach, Nanny, jetzt wage ich es wieder auf die Zukunft zu vertrauen, nachdem sie fort ist. Wie werde ich alle meine Fehltritte sühnen können, nachdem ich weiß, daß Erich es verdient, glücklich zu sein?«

»Weißt du es jetzt?«

»Ja, seit dem Balle bei Papa weiß ich es.«

»War es, weil ich mich mit Andreas verlobte, daß du zu dieser Ueberzeugung gelangtest?«

»Gewiß nicht, deine Verlobung freute mich nur wegen Andreas, aber sie betraf nicht Erich, meinen armen Erich, der dich geliebt hat und durch Marianne dir entfremdet wurde.«

»Hat er dir das gesagt?« fragte Nanny mit mißbilligender Miene.

»Nein, gewiß nicht, aber ich belauschte sein und Mariannens Gespräch.«

Esther erzählte, was passirt war.

»Jetzt begreife ich Mariannens plötzliche Abreise,« platzte Nanny heraus. »Arme Marianne!« fügte sie mit einem theilnehmenden Seufzer hinzu.

Erich war an diesem Tage sehr beschäftigt und kam spät von dem Comptoir.

Esther erwartete ihn mit fieberhafter Ungeduld. Sie wollte in seinem Gesichte ablesen, wie er Nannys Verlobung aufgenommen habe.

Erich sah ermüdet aus, war aber äußerst freundlich gegen seine Frau. Er lobte das Abendessen und sprach von manchem, was Esther interessirte. Nanny war von Andreas in Anspruch genommen und Ludwig abgereist.

Etwas früher, als gewöhnlich zog Erich sich auf seine Zimmer zurück. Dies that Esther so weh, daß sie beinahe weinte. Sie hatte übrigens die Zeit nicht, sich traurigen Betrachtungen hinzugeben, denn ein Diener eilte herein und sagte ihr, der Herr habe heftigen Schwindel bekommen und sei unwohl. Esther ging eilig zu ihrem Manne und fand ihn auf dem Bette liegend; sie erschrak an seinem Aussehen. Er klagte über Kopfweh, Schwindel und heftigen Fieberfrost. Andreas war Esther gefolgt und bemerkte sogleich, daß Erich sich eine tüchtige Erkältung zugezogen habe und daß er wahrscheinlich einige Tage lang ans Bett gefesselt sein werde. Seine Prophezeiung ging in Erfüllung. Der junge, rüstige und kräftige Erich mußte zum ersten Male in seinem Leben das Bett hüten und zwar mehrere Tage lang und erfahren, was es heiße, ernstlich krank zu sein.

Esther und nur Esther allein pflegte ihn mit der ganzen Hingebung eines liebenden Weibes.

Andreas war täglich mehrmals bei seinem ehemaligen Nebenbuhler, und nächst Gott hatte Erich es ihm zu verdanken, daß die Krankheit so bald geheilt wurde.

Erichs größte Freude während der Genesung war, Esther um sich zu haben und, wenn sie sich je einmal entfernte, so bat er sie, bald wieder zu kommen. Esther sah es ihrem Mann im Gesichte an, daß sie ihm während seiner Krankheit theurer geworden war, als je zuvor, und dieses Bewußtsein verlieh ihrem Wesen etwas so Sanftes und Liebenswürdiges, daß sie schöner zu sein schien, als je.

Als Erich zum ersten Male in das Eisenwerk hinuntergehen konnte, begleitete ihn Esther, und um die Zeit des Mittagessens ging sie ihm entgegen, um ihm ihren Arm zur Stütze zu reichen, da er noch sehr schwach war. Erich sagte, indem er ihren Arm nahm:

»Esther, ich danke Gott für meine Krankheit; ich habe während derselben dich recht lieben gelernt.«

»Hast du deine ehemalige Liebe zu Nanny ganz vergessen?« fragte Esther erröthend.

»Du weißt also? …«

»Daß du sie geliebt hast,« ergänzte Esther. »Ja, ich weiß es, allein ich weiß auch, daß der Tag kommen wird, wo du mich lieben wirst.«

»Der Tag ist bereits gekommen, Esther,« antwortete Erich und blickte seiner Frau in die Augen, indem er fortfuhr: »ich werde nicht sagen: ›Ich liebe dich,‹ weil ich diese Worte einst mißbraucht habe; aber ich werde Alles thun, damit du dies in meinen Augen, meinen Handlungen und meinem ganzen Leben bemerken kannst.«

Esther lächelte und sah es ihm an den Augen an, daß er sie liebe.


Gunnars Vermächtniß an Andreas.

»Es sind zehn Jahre her, seitdem ich deiner Hochzeit beigewohnt habe, mein lieber Andreas, zehn Jahre, seitdem ich dich als meinen Sohn und Erben angenommen habe. Du bist zehn Jahre lang der glückliche Gatte von Nanny Malmberg gewesen, und zehn Jahre lang haben Esther und Erich glücklich mit einander gelebt. Während deines Zusammenlebens mit Nanny hast du sie jeden Tagen mehr schätzen gelernt. Alles, was ich dir von ihr zu sagen hätte, kann also mit Recht als überflüssig angesehen werden, denn sie kann in deiner Liebe und Hochachtung schwerlich höher steigen, als es schon der Fall ist.

»Demungeachtet kann ich aus der Welt nicht scheiden, ohne dir auch ein moralisches Testament zu hinterlassen und dir die Vorfälle mitzutheilen, welche einst Nanny in ein schiefes Licht brachten und bewirkten, daß man sie für eine ganz andere Person ansah, als sie war.

»Wenn du dies lesen wirst, bin ich nicht mehr unter den Lebenden. Alle Verpflichtungen, zu schweigen, haben aufgehört, und deshalb magst du und Malmbergs erfahren, was ich aus vergangenen Zeiten weiß.

»Ich bin, wie ihr es wisset, sowohl mit Malmbergs als mit Roman verwandt.

»Philipp Malmberg und ich wurden zusammen erzogen, weil ich frühzeitig meine Eltern verlor. Der Vater Philipps war mein Vormund. Meine früheren und nachherigen Erlebnisse gehören nicht hierher, sondern es genügt zu sagen, daß zwischen mir und Philipp eine innige Freundschaft entstand, die von nichts getrübt wurde, sondern bis zu seinem Tode dieselbe blieb.

»Als ich eine andere Laufbahn eingeschlagen hatte und Bergmann geworden war, ließ ich mich hier nieder; ich wollte mein Kapital bei Malmberg placiren, allein er lehnte es ab, weil Lybo nicht so viel abwarf, wie ehedem; er rieth mir, mein Vermögen anderswo besser, als in der Eisenbranche, anzulegen. Ich war jedoch eigensinnig und legte mein Geld in Romans Eisenwerk Ekefors an, das Malmberg an ihn verkauft hatte.

»Roman war mein und Philipps gemeinschaftlicher Freund; aber der Selbstsüchtigste und Eigennützigste von uns dreien.

»Philipp dagegen hatte den edelsten Charakter, er wurde auch von Allen geliebt, die mit ihm in Berührung kamen. Mit Roman nach zwei Seiten hin verwandt, da dieser Malmbergs Cousine heirathete, hatte Philipp Gelegenheit auf denselben einen im höchsten Grade vortheilhaften Einfluß auszuüben. Er veredelte gleichsam Romans Erwerbssinn und gab ihm höhere Ideen und eine richtigere Auffassung des Lebens ein, als es das einseitige Streben nach großem Reichthum, das ihn sonst ganz und gar beherrscht hätte, mit sich brachte. Sie waren Beide noch jung, als sie sich geschäftlich verbanden, und Roman hatte es Malmberg zu verdanken, daß er, ein armer Verwalter, Philipps, des Prinzipals Nichte zur Frau bekam.

»Roman vertiefte sich gleich nach seiner Heirath in's Geschäftsleben, und dieses nahm sein Interesse so in Anspruch, daß fast alles Andere von untergeordnetem Werthe für ihn war.

»Sobald Roman eine eigene Heimath und eine unabhängige Stellung errungen hatte, lud er seinen Vater und seine Schwester ein, bei ihm zu leben; sie nahmen aber die Einladung nicht an. Karolina und der Alte kamen auf Besuch und blieben einige Monate auf Grythamra; als aber der Herbst herankam, gingen sie nach G. zurück, um sich durch ihre Arbeit zu ernähren, ohne irgend eine Unterstützung von Roman anzunehmen.

»Dieses kränkte ihn, er wagte es aber nicht, seinen Vater wissen zu lassen, wie demüthigend er es fände, daß sein Vater und seine Schwester von ihrer Hände Arbeit leben sollten. Karolina wurde von ihrem Bruder als die Hauptursache der Weigerung des Vaters angesehen, denn sie übte auf den Alten einen großen Einfluß aus. Nach und nach entstand bei Roman eine Abneigung gegen die Schwester, die sich endlich zu einem gründlichen Widerwillen steigerte. Die Veranlassung zu diesem Widerwillen gab Malmbergs Heirathsantrag an Karolina.

»Zu unserem allgemeinen Erstaunen gab Karolina dem Philipp einen Korb und zwar aus dem Grunde, weil sie schon im Alter von fünfzehn Jahren ihr Herz und ihre Hand dem Gustav Berg, welcher eben erst Pfarrer geworden war, versprochen hatte.

»Roman machte ihr Vorstellungen, aber vergebens. Er erklärte ihr, er würde sie nicht mehr als seine Schwester ansehen, sie solle sein Haus nie mehr betreten; er werde ihren Namen nicht mehr in den Mund bringen.

»Das Benehmen des Bruders gegen die Schwester reizte den Vater so, daß er im Zorne über seinen Sohn Grythamra verließ.

»Weder Karolina noch der Alte kamen wieder nach dort. Malmberg war ärgerlich darüber, daß sein Antrag so unerwartete Folgen gehabt hatte und suchte, obgleich vergeblich, eine Versöhnung herbeizuführen. In diesem Falle vermochte er nichts über Roman. Der abgewiesene Freier gab mir den Auftrag, dafür zu sorgen, daß Karoline und ihr Vater nicht allzu kümmerlich leben müßten; ich sollte sie unterstützen, ohne daß sie es inne würden, wer ihnen in ihrer Noth beistünde. Hiedurch kam ich mit deiner Mutter in Berührung, und von dieser Zeit her datirt meine Freundschaft für sie. Einige Jahre nach der Bewerbung um Karolina heirathete Malmberg seine erste Frau. Sie war ein zartes Geschöpf, weder schön, noch reich, aber herzlich und gut. Ihre Ehe war glücklich, und Malmberg lernte durch seine Gattin die Frauen von der liebenswürdigsten Seite kennen.

»In demselben Jahre, als Malmberg seine Ehe einging, wurde Berg Hilfsgeistlicher und heirathete, aber nicht Karolina, sondern ein, wie man glaubte, reiches Mädchen.

»Ich weiß, wie sehr deine Mutter sich hierüber grämte, aber ich weiß auch, daß sie unermüdlich war, sein Benehmen zu entschuldigen und daß ihre Liebe unverändert dieselbe blieb. Berg hatte sich übrigens getäuscht, das Mädchen, das seine Frau wurde, besaß nichts, denn der Vater machte kurz nach der Hochzeit Bankerott. Drei Jahre später starb die junge Frau und hinterließ den Mann mit zwei kleinen Kindern.

»Berg hatte seine Treulosigkeit bereut und wäre gerne auf den Gegenstand seiner ersten Liebe zurückgekommen, aber jetzt standen seine Angelegenheiten so schlecht, daß er sie nicht auffordern konnte, seine Armuth mit ihm zu theilen; da erfuhr Malmberg zufälliger Weise, daß Karolina die Frau ihres Gustav werden könne, wenn die Armuth nicht hindernd im Wege stehen würde. Er kannte Berg von Kindheit an, da sie Schulkameraden waren und reiste zu ihm, um sich zu überzeugen, ob Berg Karolina noch immer liebe. Das Resultat dieses Besuches war, daß Philipp den ältesten Sohn Bergs an Kindesstatt annahm unter der Bedingung, daß Berg niemals Ansprüche an ihn zu machen habe. Außerdem bezahlte Philipp Bergs Schulden, und übernahm es, Karolinas Vater zu bewegen, in diese Heirath einzuwilligen. So kam die Heirath zu Stande. Malmberg und seine Frau, der alte Roman und ich waren die einzigen Hochzeitsgäste. Karolinas Bruder kam nicht; er hatte ihr nicht verzeihen können, daß sie die Frau eines armen Pfarrers wurde, indem sie doch die Gebieterin in Lybo hätte werden können. Der Knabe, den Philipp als eigenes Kind angenommen hatte, war sein ältester Sohn Karl, Nannys Mann.

»Karolinas Vater starb bald nach ihrer Hochzeit, und einige Wochen später Bergs kleine Tochter. Fünf Jahre darauf folgte ihnen Berg im Tode nach. Karolina war jetzt eine Wittwe, die nichts besaß, als das Einkommen von zwei sogenannten Gnadenjahren und die Erinnerung an fünf glückliche Jahre.

»Sie zog in die Stadt X. und fing an, für sich und ihr Kind zu arbeiten. Malmberg half ihr heimlich durch mich und zwar manchmal auf ganz gründliche Weise. Er wirkte es aus, daß du, mein lieber Andreas, zu deinem Onkel kommen und bei ihm essen durftest, und als du, älter geworden, nach G. mußtest, war er es, der dir eine solch billige Wohnung verschaffte, daß deine Mutter darüber erstaunt war, allein der Grund lag darin, daß Malmberg zwei Drittheile der Miethe und deine Mutter nur ein Drittheil daran bezahlte. Ein Jahr, nachdem Malmberg Karl adoptirt hatte, schenkte ihm seine Frau einen Sohn und zwar nach mehrjähriger kinderloser Ehe, ohne daß übrigens Erichs oder Ludwigs Geburt Philipps Liebe zu Karl Eintrag gethan hätte. Als Frau Malmberg starb, glaube ich, daß niemand daran dachte, daß Karl ein Adoptivsohn sei, selbst seine Brüder wußten dies kaum.

»Malmberg betrauerte seine Frau und widmete sich jetzt ausschließlich der Erziehung seiner Söhne. Karl war, seltsam genug, sein Liebling, auf welchen er die größten Hoffnungen setzte. Er wurde Soldat, da dies sein Wunsch gewesen, obgleich die Wahl dieses Berufes seinem Vater nicht lieb war. Erich wurde schon in früher Jugend zu Philipps Nachfolger und zum Leiter des Werkes in Lybo und der damit verbundenen Eisenwerke bestimmt.

»Ludwig wollte Landwirth werden, was der Absicht des Vaters, daß seine Söhne einander in die Hände arbeiten sollten, entsprach. Erich durchlief die Bergbau- und Ludwig die Ackerbauschule.

»Alles schien Malmberg ein frohes, sorgenfreies Alter in Aussicht zu stellen, besonders da Karl, trotz seines Berufes, dieselbe liebenswürdige Natur blieb, welche er stets gewesen war. So stand es mit der Familie, als Malmberg eines Tages den Brief eines seiner Jugendfreunde, der in den letzten Zügen lag, erhielt. Dieser bat, Philipp möchte sich seiner Töchter annehmen und deren Vormund werden.

Rosenskiöld hinterließ beinahe kein Vermögen und war über das Schicksal seiner ältesten Tochter, die nunmehr ihre einzige Stütze verlor, in großer Besorgniß. Ueber die jüngere Tochter war er beruhigter, da ihre Pathin, Frau Gyllenspets, versprochen hatte, sich derselben anzunehmen. Sie war noch ein Kind und nach der Ansicht ihres Vaters schutzbedürftiger, als die größere in ihrem damaligen Alter. Rosenskiöld kannte außer Malmberg Niemand, an den er sich hätte wenden können und deshalb vertraute er dessen Obhut sein Lieblingskind an.

Seinem edlen Herzen gehorchend, das ihn stets demjenigen, welcher sich ihm anvertraute, beispringen hieß, reiste Philipp sogleich nach Stockholm, wo der sterbende Freund wohnte. Als er ankam, hatte Rosenskiöld den letzten Kampf bereits ausgekämpft, und an seiner Bahre standen zwei trauernde Mädchen, deren eine erwachsen und von strahlender Schönheit war. Dieses Mädchen war – Marianne, damals im Alter von 16 Jahren stehend.

Nanny war ein Kind, welches am Tage nach dem Begräbniß von Frau Gyllenspets aufgenommen wurde, um bei der gestrengen Dame in Upsala erzogen zu werden.

Malmberg nahm Marianne mit sich in die Stadt X., wo er sie bei einer der angesehensten Familien, Doktor F.s, unterbrachte. Er war der Vormund des Mädchens, und Niemand besser, als ich, wußte, daß seine Mündel nichts besaß. Marianne wurde bald bei Allen beliebt, und die Anbetung, die ihr der Vater entgegengebracht hatte, wurde ihr jetzt von Anderen zu Theil. Man bewunderte ihre Schönheit, ihren Witz, ihre Heiterkeit und ihre Güte. Diese letztere Eigenschaft schien mir jedoch zweifelhafter Natur zu sein, und ich entdeckte unschwer, daß das Mädchen sehr nach Beifall strebe. Sie legte ein unbegränztes Verlangen, anzuziehen und sich beliebt zu machen, an den Tag. Dieser Drang beschränkte sich nicht bloß auf Männer, sondern auch Frauen, Kinder, Jünglinge, Greise und Diener. Huldigungen waren ihr ein Genuß, und sie lächelte entzückt, wenn ein Kind oder ein altes Weib erklärte, sie sei ein Engel an Güte und Schönheit.

Der gute und stattliche Vormund wurde in erster Linie ein Gegenstand ihrer Gefallsucht, und es glückte ihr auch, ihn so einzunehmen, daß er zwei Jahre später eines Tages zu mir kam und sagte:

»Gunnar, ich habe einen verrückten Vorsatz gefaßt, welcher mich zum Narren macht, und ich komme nun, um mich dir anzuvertrauen.«

»Ist ganz unnöthig,« entgegnete ich: »Du hast dich schon seit lange in deine Mündel verliebt.«

Malmberg nickte Beifall.

»Nicht genug damit,« sagte er; »ich habe es mir auch in den Kopf gesetzt, daß sie meine Frau werden soll.«

»Du bist einige fünfzig Jahre alt; sie achtzehn. Deine Söhne sind einige Jahre älter als sie. Es paßt nicht,« erklärte ich.

»Was du da sagst, habe ich mir Alles schon tausendmal gesagt,« antwortete er. »Ich habe während dieser zwei Jahre mehrmals den Entschluß gefaßt, daß ich ihr junges Leben nie an mich fesseln wolle, aber dennoch ist mir immer wieder der Gedanke gekommen sie zu heirathen. Ich hätte mich doch nicht dazu entschließen können, wenn nicht gestern etwas passirt wäre, was mich gänzlich um meinen Verstand brachte, mich willenlos meiner Neigung folgen ließ.«

Er stützte den Kopf auf die Hand und saß so eine geraume Zeit schweigend da.

»Dir scheint es lächerlich, daß ich alter Mann von Gefühlen rede,« fuhr er fort, »aber, so sonderbar es scheinen mag, so muß ich doch bekennen, daß ich selbst damals, als ich zum ersten Male liebte, nicht so vollständig von meinen Gefühlen überwältigt war, als ich es jetzt bin. Es scheint, als ob mit den Jahren meine Empfindungen stärker und Wille und Vernunft schwächer geworden wären.«

»So scheint es wirklich, wenn du im Stande sein kannst, eine Thorheit zu begehen, wie du sie jetzt im Sinne hast,« fiel ich ein.

»Aber nimm an, daß mich Marianne sehr liebt, daß ihre Zuneigung zu mir so groß ist, daß sie es als ein Glück ansehen würde, meine Frau zu werden?«

»Du bist doch wohl nicht so närrisch, um dir einzubilden, sie sei in dich verliebt? Verliebt in einen Mann, der heirathsfähige Söhne hat? Bist du verrückt geworden oder bist du eben so eingebildet, wie alle andern verliebten alten Thoren, die solchen Unsinn glauben?«

»Das thue ich nicht,« unterbrach mich Malmberg. »Ich setze nicht im Geringsten voraus, daß Marianne für mich etwas Anderes, als einige Hingebung fühlt; allein ich weiß, daß sie an mich anhänglich ist. Sie hat es mir tausendmal mit ihrer entzückenden Aufrichtigkeit gesagt. Gestern, als ich ihr Lebewohl sagte, schmiegte sie sich an meine Brust und flüsterte:

›Warum darf ich nicht immer bei dir sein, lieber Onkel? Wie glücklich wäre ich da; ich würde deine leisesten Wünsche zu errathen suchen und froh sein, wenn ich dieselben erfüllen könnte. So glücklich werde ich aber nie.‹

»Weißt du, Gunnar, daß da mein moralischer Muth auf eine härtere Probe gestellt wurde, als je zuvor, denn es forderte einen Heldenmuth, sie zu verlassen, wie ich es that, ohne sie zu bitten, die meinige zu werden. Der Sieg hat mir jedoch wenig genützt. Während der Nacht ist mein Verlangen, sie zu meiner Frau zu machen, nur noch stärker geworden, und ich bin hier, um dich zu bitten, mit Marianne zu sprechen.«

Was auch Malmberg sonst mich gebeten hätte, würde ich mit Vergnügen gethan haben, aber eine innere Stimme flüsterte mir zu, daß für ihn kein Glück aus einer so thörichten Verbindung zu hoffen sei. Ich sagte ihm dies, jedoch umsonst. Das Ende war, daß er mir das Versprechen abnahm, mit Marianne zu reden. Ich sollte nicht in seinem Namen freien, sondern nur mich erkundigen, ob sie sich den Fall denken könne, seine Frau zu werden, und wie sie dies aufnehmen würde. Am Nachmittage ging ich zu F.'s und fand Marianne allein zu Hause. Als sie meiner ansichtig wurde, rief sie aus:

»Sind Sie es; ich glaubte, es sein mein Onkel!«

»Wer ist denn dein Onkel, liebe Marianne?«

»Sie wissen es ganz gut und ich brauche seinen Namen nicht zu nennen; ich kann Ihnen aber dennoch anvertrauen, daß es mir sehr leid thut, daß er nicht kam.«

Sie lehnte den Kopf auf die Seite und sah mich mit ihren gefährlichen Augen an, indem sie fortfuhr:

»Ich weiß jetzt, daß er sich nicht um mich bekümmert, sonst wäre er nicht fortgegangen, wie er es gethan hat und wäre heute nicht ausgeblieben. Ich will mich auch nicht mehr um ihn bekümmern, sondern nur noch um Sie, böser Onkel Gunnar.«

Sie hatte mit ihren Worten alle Einwendungen, die meine Vernunft gegen diese sinnlose Heirath einzuwenden hatte, entkräftet. Ihr betrübter Blick, ihre Worte, Alles bewies, daß es sie schmerzte, daß Philipp nicht kam. Ich lenkte das Gespräch auf Malmbergs eheliche Verbindung mit ihr, und gelangte zu der Ueberzeugung, daß Marianne meinen Freund mit ganzem Herzen liebe, und daß sie ihn glücklich machen werde. Ich muß auch zu ihrem Lobe gestehen, daß sie ihm so ergeben war, wie es ihr Naturell erlaubte.

Drei Monate darauf wurde ihre Hochzeit gefeiert. An diesem Tage sahen Erich und Ludwig ihre Stiefmutter zum ersten Male. Sie waren Beide fort gewesen: der Eine in Falun, der Andere in Schonen. Karl dagegen hatte ihre Bekanntschaft schon in Stockholm gemacht, wo er in Garnison lag. Er zeigte anfangs eine nicht geringe Abneigung gegen die Heirath des Vaters und war bei der Hochzeit düster und verschlossen.

Ich habe nie eine so bildschöne Frau gesehen wie Marianne als Braut. Karl konnte die Augen von dem bezaubernden Wesen nicht abwenden. Ich las in seinen Augen, daß es besser gewesen wäre, wenn er die Stelle des Bräutigam eingenommen hätte. Marianne wurde daheim von den Stiefsöhnen beinahe wie eine Königin begrüßt, und derjenige, welcher ihr vor Allen in Ehrfurcht huldigte, war Erich.

Sie gab ihm, der der Schönste und seinem Vater körperlich und geistig am ähnlichsten war, sogleich den Vorzug, allein so unbemerkt, daß er es selbst kaum inne werden konnte.

Ich meinerseits gedachte mit Sorgen der Zukunft meines Freundes.

Einige Tage nach der Hochzeit reisten Erich und Ludwig wieder ab. Der Erstere hatte noch ein Jahr auf der Bergakademie zu bleiben und sollte nicht vor der Beendigung des Kurses nach Hause kommen.

Die Neuvermählten machten eine Reise nach dem Kontinent und kamen vor Weihnachten nicht zurück. Ein glückliches Jahr ging zu Ende, und während dieser Zeit hatte ich nichts gegen Marianne einzuwenden. Karl war jetzt beständig zu Hause, was sonst nicht der Fall war; er war launisch und sonderbar, indem er bald Mariannens Gesellschaft mied, bald aufsuchte. Marianne zeigte die reinste Ergebenheit gegen ihren Mann, was Karl oft, wie es klar am Tage lag, zu schmerzen schien.

Nach einem Jahre, als Marianne alle die Vergnügungen, welche die Reisen, die Hauptstadt und die Heimat darbieten konnten, genossen hatte, nahm sie ihre Schwester Nanny zu sich.

Kurz darauf kam auch Erich nach Hause.

Karl war anfangs ebenso launisch, wie in der letzten Zeit und bewachte alle Handlungen der Stiefmutter. Er mißtraute ihr und Erich. Als er endlich merkte, daß Erich zwar artig gegen Marianne war, aber der fünfzehnjährigen Nanny huldigte, beruhigte er sich.

Ich war zu der Zeit mehrere Wochen lang zu Lybo und entdeckte endlich, daß Karl und Marianne Briefchen mit einander wechselten. Ich theilte dem jungen Mann meine Beobachtungen mit und bekam zur Antwort:

»Onkel, ich bin nahe daran, verrückt zu werden, denn ich liebe Marianne und habe sie geliebt, seitdem wir uns in Stockholm kennen lernten. Ich hatte damals Grund zu der Annahme, geliebt zu sein, muß aber jetzt die Wahrnehmung machen, daß sie sich und mich betrog.« Daß ich Karl einige ernste Worte sagte, versteht sich von selbst, und von nun an wich er Marianne aus und beschäftigte sich, wie Erich, mit Nanny.

Karl war seiner Art nach verschwenderisch und poetischer Natur, und es war ihm ein Genuß, Gutes zu thun und für alles Edle zu schwärmen. Der Umgang mit Nanny, die damals ein reizendes Kind war, verfehlte nicht, Eindruck auf ihn zu machen, und bald sah er in ihr die einzige Rettung vor dem Einfluß seiner unglückseligen Leidenschaft für Marianne, die, wie er wohl einsah, ihn manchmal verleitete, den von ihm geehrten und geliebten Vater zu täuschen. Karl sah zwar in Erich einen begünstigten Nebenbuhler, aber er wußte auch, daß er ihm nur zu sagen brauchte:

»Entsage Nanny, ich liebe Marianne und erblicke meine einzige Rettung nur in der Verbindung mit Nanny.«

Daß der Bruder in diesem Falle zurücktreten werde, war sicher, besonders da Erich argwöhnte, daß Marianne für Karl ein weitergehendes Interesse habe. Für Erich war es eine Gewissenssache, dem verehrten Vater allen Kummer zu ersparen, der ihm hiedurch hätte bereitet werden können.

Marianne sah mit Mißbehagen, daß sich Karl und Erich mit Nanny zu schaffen machten, wagte es aber nicht, diesem Mißbehagen Ausdruck zu verleihen.

Nanny liebte Erich, wie ein junges Herz liebt, ehe die Leidenschaft es befleckt. Sie war sanft und freundlich gegen Karl, ohne gegen ihn oder die Schwester Mißtrauen zu hegen.

Karl dagegen war auf Erich eifersüchtig, weil er glaubte, daß ihn Marianne begünstige. Dies reizte ihn und er beschloß, auszuforschen, wie es sich damit verhalte. Er spionirte, war jedoch einer solchen Rolle nicht gewachsen, sondern unternahm es eines Tages, Marianne direkt anzugehen und ihr vorzuwerfen, daß sie Erich an sich zu fesseln suche. Marianne antwortete weinend:

»Karl, denkst du nicht an die Vergangenheit, wenn du annehmen kannst, daß mein Herz nochmals zu lieben fähig sei? Du solltest Marianne kennen und wissen, daß, als ich aus Dankbarkeit meine Hand dem edelsten der Männer reichte, es mit dem festen Vorsatz geschah, niemals der Schwachheit meines Herzens nachzugeben. Ich werde stets meines edlen Gatten würdig sein und meinen Jugendtraum vergessen; mache du es ebenso.«

Diese Worte waren berechnet, und Karl verließ Marianne, ohne ihr ein Wort von seiner Liebe zu sagen, mit dem festen Entschluß, Nanny zwischen sich und Marianne zu stellen, denn er fühlte, daß das, was Marianne sagte, die Gefahr nur größer für ihn mache. Er und Marianne wußten aber nicht, daß Nanny in einem anstoßenden Zimmer ihr kurzes Gespräch angehört hatte.

Nanny wurde plötzlich aus ihrem kindlichen Glauben, daß die Wirklichkeit dem Scheine entspreche, aufgeschreckt; Beunruhigung und Argwohn regten sich in ihr.

Ich will nicht auf Einzelnheiten eingehen, sondern mich darauf beschränken, zu erwähnen, daß das junge Mädchen bald die schmerzliche Entdeckung gemacht zu haben glaubte, sie sei nur ein Schild gewesen, hinter dem Erich und Karl ihre Liebe zu Marianne verbargen. Ihrem Herzen war dies ein fürchterlicher Verdacht, welcher noch durch Erichs sonderbares Benehmen bestärkt wurde. Er war ganz und gar umgewandelt, unruhig, heftig und manchmal düster. Immer überwachte er Marianne und ließ auch Karl nie aus den Augen.

Was Nanny litt, will ich unerwähnt lassen, sie ertrug jedoch die Nichterfüllung ihres schönsten Jugendtraumes auf bewundernswürdige Weise. Sie dachte nicht länger mehr an sich selbst, sondern an den von ihr innig verehrten Schwager.

Er, der Arglose, der Mariannen und seinen Söhnen so unbedingt vertraute, wurde also von Allen betrogen. Nanny richtete ihr Augenmerk ausschließlich auf die Art und Weise, wie sie Philipp den Schmerz, welchen diese Entdeckung ihm hätte verursachen müssen, ersparen könne.

Ich weiß nicht, wie Marianne inzwischen manöverirte, ich weiß nur soviel, daß ungeachtet ihrer schönen Ansprache an Karl Erich ihr ganzes Interesse in Anspruch nahm und daß sie die Ungewissheit quälte, ob Erich sie oder Nanny liebe.

Nanny sprach endlich mit Marianne und bat, sie möchte davon abstehen, Erich auf demselben Wege zu verleiten, wie Karl. Sie appellirte an Mariannens Pflichtgefühl; aber dies war für Marianne nur eine Aufmunterung, denn sie erblickte blos Eifersucht hierin. Marianne beschloß nunmehr, einen entscheidenden Schritt zu thun. Sie schrieb an Erich.

Karl hatte unterdessen mit seinem Vater gesprochen und Nannys Hand begehrt, wobei er versicherte, daß sein ganzes Lebensglück von der Heirath mit Nanny abhänge.

»Wenn Erich meine kleine Schwägerin liebt, wie ich zu vermuthen Grund habe und wenn er auch von ihr geliebt wird, so hast du, lieber Karl, nichts zu hoffen,« antwortete Malmberg. »Ich bin zwar Nannys Vormund, aber ich werde nie meine Gewalt zu etwas Anderem gebrauchen, als dazu, sie glücklich zu machen.«

»Ich begehre das auch nicht,« antwortete Karl; »ich verlange nur, daß Papa mit Erich und Nanny sprechen soll.«

Malmberg versprach, mit Erich zu reden und ging, um ihn aufzusuchen.

Karl äußerte sich mir gegenüber, als wir allein waren:

»Wenn ich Nanny nicht zur Frau bekomme, so ist es am besten, wenn ich mir eine Kugel vor den Kopf schieße, denn das neuliche Gespräch mit Marianne hat mich so schwachherzig gemacht, daß ich in diesem lieblichen Mädchen eine Stütze haben muß, um nicht unterzugehen und ein Ausbund von Undankbarkeit zu werden.«

Nachdem ich einige Zeit mit Karl gesprochen hatte, erkannte ich, daß das Glück meines armen Freundes auf dem Spiel stehe, und ich begab mich sogleich zu Marianne. Sie mußte eine Reise vorschlagen, und dazu wollte ich sie überreden. Ich wußte, daß, wenn sie Philipp nur ein Wort davon sagen würde, daß sie einen Badeort zu besuchen wünsche, er ihrem Verlangen sogleich entsprechen werde.

Würde Karl Mariannens Einfluß entzogen werden, so konnte er als Nannys Gatte wieder zum Bewußtsein seiner Pflichten geführt und Alles wieder gut werden.

Marianne schrieb, als ich eintrat. Sie schien über meinen Besuch nicht erfreut zu sein, sie legte jedoch die Feder weg und deckte ein unbeschriebenes Blatt auf das soeben beschriebene Papier. Es geschah aber nicht schnell genug, beim meine Falkenaugen hatten schon das Wort »Erich« am Anfang des Briefes entdeckt. »Also auch er!« dachte ich.

Was ich sprach, gehört nicht hieher; ich that Alles, um sie zu bewegen, eine Badereise zu machen, aber Marianne war diejenige nicht, welche so leicht nachgab. Sie suchte mich zuerst mit ihrem anmuthigen Scherze und ihrer wohl affectirten Aufrichtigkeit zu entwaffnen. Ich bemerkte, daß ich von einem kleinen Liebeshandel aus ihrer frühen Jugend Kenntniß habe, wobei Karl ihr Herzliebster gewesen war und sagte, ich wolle ihrem Manne Alles sagen, wenn sie meinem Rathe nicht folgen würde. Marianne antwortete, daß ich dies nur thun solle, wenn es mir Vergnügen mache, Karls Vertrauen zu mißbrauchen; sie für ihren Theil lasse sich nicht irre machen. Ich streckte die Hand aus und zog das Papier hervor, auf das sie geschrieben hatte, indem ich sagte:

»Nun gut, Marianne, entweder reisest du ab oder ich gebe Philipp dieses da.«

Marianne erblaßte. Sie war geschlagen und versprach, eine Badereise vorzuschlagen. Ich steckte den unvollendeten Brief in meine Brusttasche, indem ich erklärte, ich wolle ihn nicht lesen, aber aufheben. Nach dieser Unterredung machte ich einen Spaziergang nach dem Eisenwerk und als ich gegen Mittag in Philipps Zimmer trat, fand ich ihn mit verstörtem Aussehen auf dem Sopha liegen.

Philipp hatte während der letzten zehn Jahre mehrmals Anfälle von Brustschmerz gehabt, ohne daß man der Sache Bedeutung beigelegt hätte. Er war zwar einigemal in Ems gewesen; aber Niemand in seiner Umgebung hielt die Sache für bedeutend. Seit er mit Marianne verheirathet war, hatte er nur einen einzigen unbedeutenden Anfall gehabt.

»Bist du krank?« fragte ich.

»Ich bin mehr, als krank,« antwortete Philipp – und winkte mir mit der Hand, daß ich die Thüre schließen solle.

»Gunnar,« sagte er, als die Thüre abgeschlossen war, »du hattest Recht. Ich hätte die wahnsinnige Handlung nicht begehen sollen, mich mit einem jungen Mädchen zu verheirathen und ihr Geschick an das meinige zu ketten. Ich bereue es jetzt, allein zu spät. Mein Glück ist vernichtet, dies ist meine Strafe. Möge sie es übrigens nie erfahren, daß ich einsehen gelernt habe, wie bedauernswürdig ich bin und wie unglücklich sie sein muß.«

Er vertraute mir nur an, daß er sich zu Erich begeben habe, aber im äußeren Zimmer geblieben sei, da er Nanny im inneren Zimmer, dessen Thüre geschlossen gewesen, mit erregter Stimme habe reden hören. Philipp lauschte und hörte, wie Nanny zu Erich sagte, sie wisse, daß er nicht sie, sondern die Schwester liebe, daß sie ihm den Betrug verzeihe, den er sich ihr gegenüber erlaubt habe, wenn er sich nur von Lybo entferne und seinem Vater nicht den Kummer bereite, die Entdeckung machen zu müssen, daß seine eigenen Söhne eine verbotene Liebe zu seiner Frau hegten.

Nanny sprach mit der ganzen Beredsamkeit eines jungen, reinen und edlen Herzens.

Ihre Worte machten Eindruck auf Erich, er bat, sie möge ihm verzeihen und beschwor sie, Karls Frau zu werden.

»Ich werde abreisen, Nanny, du mußt mir aber zuerst versprechen, Karl zu heirathen und der gute Engel seines Lebens zu werden.«

Hier wurde Philipp von Mariannens Kammermädchen gestört, welche ein Buch brachte, das sie auf Erichs Schreibtisch legte. Das Buch gehörte Erich, Marianne hatte es entlehnt gehabt.

Philipp nahm es, als das Mädchen fort war. Es lag ein kleines versiegeltes Billet darin, welches Malmberg erbrach. Es enthielt folgende Zeilen:

»Treffe mich sogleich im Sommerhaus. Ein Gespräch mit Gunnar veranlaßt mich, dich zu sprechen, ehe ich mit deinem Vater rede. Mein Herz zerspringt mir beinahe. Ich werde abreisen, Erich, fort von Dir, aber zuvor will ich dir Lebewohl sagen.«

Philipp schlich sich aus dem Zimmer seines Sohnes, ohne daß Erich oder Nanny seine Anwesenheit geahnt hätten. Auf seinem Zimmer angekommen, bekam er einen heftigen Husten und Blutspeien; von körperlichen Leiden und Seelenschmerz angegriffen, lag er auf dem Sopha, als ich zu ihm hineinkam.

Wir sprachen lange miteinander, und das Ergebniß unserer Berathung war, daß er mit Marianne eine Badereise machen wollte, aber Niemand konnte ahnen, daß er entdeckt hatte, daß Beide sein Vertrauen mißbraucht hatten.

»Es ist mein Fehler,« sagte er. »Warum habe ich ein junges Kind geheirathet? Ich habe sie zwar wie meinen Augapfel geliebt, ich war aber nicht mehr jung, um von ihr geliebt werden zu können. Sie soll deshalb nie erfahren, wie unglücklich ich jetzt bin, weil ich weiß, daß sie nicht der reine gewissenhafte Engel ist, für welchen ich sie gehalten habe.«

Tags darauf sprach er mit Nanny über Karls Antrag. Sie hatte schon ihr Jawort gegeben. Am Abend verließ Erich Lybo unglücklich und muthlos, denn er liebte Nanny, hatte sie aber auf dem Glauben gelassen, daß er Marianne liebe, damit sie Karl heirathen und Bürge dafür sein solle, daß das häusliche Glück des Vaters nicht getrübt werde.

Philipp erhielt von diesem Opfer seines Sohnes niemals Kenntniß, weil er glaubte, Erich liebe seine Stiefmutter. Von Karls Liebe zu derselben hatte er nie eine Ahnung.

Marianne war von Erichs plötzlicher Abreise überrascht, ebenso davon, daß er nicht nach dem Sommerhaus kam, wo sie ihn erwartet hatte; allein sie fragte nicht nach, sondern beschäftigte sich mit den Vorbereitungen zur Reise nach Ems, und Philipp erklärte ihr, Erich sei verreist, weil Nanny sich mit dem Bruder verheirathe.

Sechs Wochen später war Nanny Karls Frau, und zwei Tage nach der Hochzeit reisten Philipp und Marianne ab. Philipp hatte vor seiner Abreise eine Unterredung mit Nanny, bei welcher Gelegenheit sie ihm versprechen mußte, Niemand, selbst ihrem Mann nicht zu verrathen, daß Erich Marianne geliebt habe und dafür zu sorgen, daß diese Liebe keinen Schatten auf die Ehre des Sohnes oder seiner Frau werfe. Er schrieb mir von Ems aus und schilderte seinen Kummer und seinen Schmerz darüber, daß er sich verheirathet habe und daß er die Veranlassung gewesen sei, daß Marianne durch eine unerlaubte Neigung die Reinheit ihres Herzens befleckt habe.

Er war überzeugt, daß er nicht mehr nach Schweden zurückkehren werde, und hatte Alles so bestimmt, wie er es nach seinem Tode zu haben wünschte. Er schrieb auch an Roman, er hoffe, Erich und Esther würden mit der Zeit ein Paar werden, daß er aber gleichwohl die Bedingung mache, daß die Wahl beiderseits frei bleiben solle.

Ein Jahr nach seiner Abreise aus der Heimath starb er. Erich übernahm Lybo und die in Unordnung befindlichen Geschäfte.

Jetzt, wo ich dies niederschreibe, sind Erich und Esther ein Paar glückliche liebende Eheleute. Sie genießen jetzt all das Glück, welches hübsche und gute Kinder gewähren können, wenn Liebe und Vertrauen die Eltern vereinigen.

Erichs und Esthers Glück, sowie das deinige, ist Nannys Werk, mein lieber Andreas. Sei ihr dankbar dafür. Wäre ich bei dir und Esther nicht dazwischen getreten, so wären Noth und Elend die Folgen deiner unglückseligen Neigung zu deiner Cousine gewesen, wodurch Allen Schande bereitet worden sein würde.

Auch Marianne hat sich während der abgelaufenen Jahre sehr verändert. Sie hat den Wechsel des Lebens kennen gelernt und seine Sorgen erfahren. Die Ehe, die sie einige Jahre nach ihrer Anwesenheit in Lybo mit dem Commerzienrath T. einging, war ihr eine bittere, aber heilsame Lehre. Sie hat einen strengen, herrischen Mann bekommen, dem sie sich fügen muß, und der ihr nicht erlaubt, weitere Eroberungen zu machen. Sie hat mir manchmal in ihren Briefen bekannt, daß sie jetzt die Strafe für das erleiden müsse, was sie an einem so guten, liebreichen Manne, wie Malmberg einer war, gefehlt habe. Einer der bittersten Schmerzen wurde ihr durch die Gewißheit bereitet, daß Philipp in seinem letzten Lebensjahre bemerken mußte, daß sie ihn getäuscht habe.

Und jetzt, mein lieber Andreas, lege ich die Feder nieder, zufrieden in dem Bewußtsein, daß ich zu deinem Fortkommen im Leben beigetragen habe. Nanny, du und die Kinder mögen nun in Glück und Liebe die Frucht des Vermögens genießen, welches ich beständig vermehrt habe. Deine Mutter und Roman sind einander jetzt unentbehrlich und beide genießen die Freude, gute und glückliche Kinder zu haben.

Tante Juliane ist kränklich. Sie ist nicht mehr um die Angelegenheiten ihrer Nebenmenschen besorgt aus Rücksicht für ihre Gesundheit. Die Pröpstin Granstedt kommt noch immer bei den Leuten herum und erzählt Wahres und Unwahres von Freund und Feind, Bekannten und Unbekannten.

Lebet wohl, meine Kinder! Wenn ihr diese Zeilen empfanget, schlafe ich den ewigen Schlaf. Dann werdet Ihr in Freundschaft gedenken Eures alten

Gunnar.«

 

Ende.

 


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