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Von zwei Schokoladetafeln.

Wer erinnert sich noch der Zeiten, in denen es für höchst ungehörig gegolten hätte, wenn nicht jedes Kind, das einigermaßen die Feder führen konnte, seine Neujahrswünsche geschrieben hätte – möglichst schön, auf mehr oder weniger verziertem Papier, an die Eltern und sämtliche Anverwandten. Die Unterlassung eines solchen Kunstwerkes wäre gar sehr verübelt worden. Da aber die damaligen Kinder auch keine geborenen Briefschreiber waren, so erbarmte sich der Lehrer, und wir durften drei Tage vor Neujahr in der Schönschreibstunde die wichtigsten unserer Briefe unter seiner Leitung anfertigen. Die Briefbogen und Umschläge wurden uns geliefert, und wir hatten dafür die Aufgabe – die verunglückten natürlich mitgerechnet, dem Lehrer zu ersetzen.

»Also zwei Kreuzer hast du mir heute nachmittag zu bringen,« sagte mein Lehrer bei solcher Gelegenheit, und ich habe diese zwei Münzchen mir gleich von meinem Vater erbeten, als ich nach Hause kam. Schön eingewickelt in Papier, versenkte ich sie in die Tiefe meiner Schultasche, um sie sofort, vor Beginn des Unterrichts, dem Lehrer einzuhändigen. Ich glaubte nur hineingreifen zu müssen, als ich vor ihm stand. Aber immer wieder zog ich die Hand leer zurück, – das Päckchen wollte sich nicht finden lassen.

»Laß dir Zeit und such's,« sagte unser geliebter, aber auch gefürchteter Herr König. Nach der Stunde tat ich dies gründlich; das Paketchen hatte sich sicher zwischen Tafelschwamm, Federkasten, Apfelvorrat und Nußschalen versteckt. Doch es wollte nicht zum Vorschein kommen. Die ganze Tasche leerte ich aus, ich wußte doch ganz genau, daß ich es hineingetan hatte. Aber weder zwischen den Büchern, noch in den Heften, noch in den Ecken der Tasche wollte sich außer obigen Eßresten und Brosamen etwas herausschütteln lassen, und beschämt mußte ich eingestehen, daß das Geld eben nicht da sei.

»Du wirst es herausgeschleudert haben,« sagte der Lehrer, und ebenso mein Vater, den ich mit großem Unbehagen daheim um noch einmal zwei Kreuzer bitten mußte. Er war ärgerlich. Die Väter von dazumal waren, wenn es sich um Geld handelte, nicht so freigebig wie die jetzigen.

Ein neues Päckchen ward gemacht, und vor dem Fortgehen in die Schule drückte es mir mein Vater in die Hand mit den Worten:

»Hier, halt es fest, bis du in die Schule kommst, dann übergieb es aber auch sofort Herrn König!«

Wie er gesagt, so tat ich auch, und die Sache wäre in schönster Ordnung gewesen, wenn nicht in der nächsten Stunde – wir hatten Rechnen – das erste Päckchen plötzlich wieder in meine Hände gelangt wäre. Als ich, ganz am Rande hinunter, in meine Tasche griff, um das schmale Rechenheftchen herauszuholen, da fühlte ich etwas hartes und kam mit dem Finger in einen kleinen Ritz des Futters. Dort hinein hatte sich das Päckchen geschoben, und nun steckte ich es rasch in meine Rocktasche, damit es mir nicht zum zweiten Male abhanden käme. Selbstverständlich hatte ich es Vater zurückzugeben.

Die Rechenstunde, die nie meine starke Seite gewesen, war aus, und ich mußte noch ein paar Minuten länger bleiben, um meine Aufgabe vollends zu lösen. Dadurch kam es, daß ich meinen Heimweg diesmal nicht wie sonst mit meinen Freundinnen, sondern allein machte. Er war kurz, aber ich brauchte doch oft recht lange dazu, denn es war nicht zum Ausmalen, wie viel es auf der kurzen Strecke zu sehen gab.

Eine der Hauptanziehungen war das Lädchen von Herrn Gottlob Meyer, vor dessen kleinen viereckigen, nie geputzten Schaufenstern ich immer wieder stehen blieb. Wo fand sich aber auch eine solche Zusammenstellung der verschiedenartigsten Dinge? Wurzel- und Zahnbürsten, Seife und Wichse, Kaffeeschüsselchen mit ›Aus Liebe‹ darauf, Zuckerkandel und Bärendreck, Johannisbrot und Süßholzstengel! Und nun war seit ein paar Tagen etwas ganz Wunderschönes dazu gekommen: kleine Schokoladetäfelchen in langer Reihe. Sonst waren solche nur einfach in weißes Papier gewickelt, aber auf diesen hier prangten die schönsten Bildchen, Rosen und Tulpen, Tiere und Engelein. – Und auch heute wieder konnte ich mich an der neuen, verlockenden Auslage nicht satt sehen. Wenn das außen schon so herrlich war, wie mußte das erst von innen sein! Schokolade ging mir über alles, und das Wasser lief mir im Munde zusammen, wenn ich daran dachte.

Wer doch so glücklich wäre, sich so etwas kaufen zu können! Daß ich selber es tun könnte, daran war kein Denken, denn wenn ich auch Geld gehabt hätte, so war ein für allemal das Ausgeben dieses für Schleckereien streng verboten.

Nun aber fielen mir plötzlich die zwei Kreuzer ein! Für sie konnte ich zwei der herrlichsten Täfelchen bekommen. Aber wie konnte ich nur so etwas denken, sie gehörten ja doch nicht mir! Und ich zog meine sich schon in die Rocktasche versenkende Hand rasch wieder zurück. Aber von neuem kam die Versuchung über mich.

Niemand wußte etwas davon, daß das Geld sich wieder gefunden hatte. Abgetan und abgemacht war es doch mit Vater und mit dem Lehrer, und Vater wurde gewiß wieder ärgerlich, wenn ich ihm das Geld zurückbrachte. Hatte ich doch schon oft gehört, wie peinlich es ihm war, in seinem Aufschreibebuch etwas ausstreichen zu müssen.

»Das macht alles nichts, aber das Geld gehört eben nicht dir,« stand felsenfest in mir. Aber immer wieder raunte eine andere Stimme mir zu: »Sei nicht so dumm, benütze die Gelegenheit, eine solche bietet sich dir nicht gleich wieder!«

Dreimal habe ich mich von dem Lädchen weggerissen und bin ein paar Häuser weitergelaufen, um ebensooft wieder zurückzukehren, mir die schönen Bildchen wieder anzusehen. Und beim dritten Male hatte ich mit Herzklopfen die Türklinke in der Hand und stolperte die paar Stufen hinunter. Zu meiner großen Beruhigung war nicht der umständliche Herr Meyer selber, sondern seine Frau da, und diese fragte mich freundlich, was ich wünsche. Als ich, feuerrot werdend, sagte:

»Zwei von den Schokoladetäfelchen draußen, mit Bildchen,« und ihr die eingewickelten Kreuzer sofort hinbot, da mochte sie mir ansehen, daß etwas nicht in Ordnung war. Und sie, die auch Kinder hatte und mich gut kannte, fragte mit mütterlicher Stimme:

»Darfst du das auch, Tonyle? Die Mutter hat es dir wohl erlaubt?«

Was blieb mir da anderes übrig, als ein ›Ja‹ hervorzustoßen und mich dann, so rasch als ich konnte, mit zwei der nächstliegenden von den Täfelchen zu entfernen.

Ob es wohl auch jetzt in den Zuckerwarenläden der großen Städte, wo die Kinder massenweise ihr Geld hintragen, noch solch gewissenhafte Frauen gibt, die ein Auge dafür haben, ob ein Kind mit schlechtem Gewissen einkauft oder mit gutem? …

Nun stand ich draußen auf der Straße, hatte das Ersehnte in der Hand, – ein rotes Herz und einen Löwen hatte ich erwischt.

Und rasch riß ich nun die Hülle herunter, um ebensorasch das Erkaufte zu vertilgen, denn nach Hause bringen durfte ich es ja doch nicht, da hätte man es ja doch gemerkt! In ungedeihlicher Eile vertilgte ich die Schokolade, die gar nicht so gut schmeckte, wie ich es mir ausgemalt hatte. Langsam schlängelte ich mich dabei an den Häusern hin, und als ich an unsere Wohnung kam, wischte ich mir mit dem Taschentuch möglichst sauber den Mund ab, würgte den Rest vollends hinunter und tat dann, als ob gar nichts geschehen wäre.

Aber etwas war geschehen, das ließ sich nicht verwürgen und nicht verwischen. Mein Gewissen hatte einen Druck bekommen, der sehr unangenehm war. Meine Kinderseele war beunruhigt, so daß ich – was war das nur? – so gar nicht wie sonst mit meiner Mutter reden und mich Vater nähern konnte. Warum nur? – wo doch gar niemand gesehen hatte, was ich getan? … Zu alledem kam, daß ich mich an jenem Abend auch sonst gar nicht recht wohl fühlte. Schon seit ein paar Tagen plagte mich ein solch dummer Husten, und nach dem Nachtessen war mir, als würge mich noch immer etwas in meinem Halse. Dazu war mir so unangenehm heiß zumute. Als ich einmal mein Taschentuch herauszog, rief mein Bruder neckend:

»O, wo hast du Schokolade herbekommen? Seht nur das Taschentuch der Kleinen an, das ist ja ganz braun.«

Da habe ich zum zweiten Male gelogen und etwas von ›brauner Erde‹ und ›braunem Schmutz‹ gemurmelt. Der Druck tief innen ward aber dadurch noch schwerer.

Am andern Morgen machte ich einen Umweg, denn mir bangte vor Frau Meyer, die oft unter ihrer Ladentür stand. Mir bangte überhaupt vor allem. Wenn Herr König mich fragen würde, ob ich die zwei Kreuzer nicht wieder gefunden hätte? Oder wenn meine Freundinnen, die auch oft das Schaufenster sich besahen, merkten, daß der Löwe und das Herz fehlten? Oder wenn meine Kindsjungfer beim Ausputzen des Kleides am Ende die zwei Bildchen entdeckt hatte, die ich vergessen, aus der Rocktasche zu nehmen? Oder wenn mein Bruder, bei dem man ja nie wissen konnte, was für plötzliche Einfälle er hatte, – mich noch einmal mit dem verschmierten Taschentuche neckte? Oder wenn Mutter dasselbe nun gar auf Schokolade oder braune Erde hin untersuchte? Ich weiß nicht, ob es so war, aber sie hatte mich heute früh so eigentümlich forschend angesehen und dabei den Kopf geschüttelt. Zur Vorsicht hatte ich gleich nachher das Taschentuch tief hinunter in den Korb für die gebrauchte Wäsche gestopft. – Ach was, – all das dumme Zeug! Andere naschten doch auch einmal und waren ganz vergnügt dabei und machten sich gewiß keine solch quälenden Gedanken! Ob wohl das Kopfweh daran schuld war, das ich seit ein paar Tagen hatte? …

Am Neujahrsmorgen, wie fröhlich klang's da durch das ganze Haus: »Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!« Auch ich schrie aus Leibeskräften mit, suchte es den Dienstboten und Geschwistern abzugewinnen und fand mich nachher mit diesen im Frühstückszimmer ein, um den Eltern feierlich die geschriebenen Wünsche zu übergeben. Mit gütigem, liebreichem Lächeln lasen diese unsere Versprechungen, daß wir im künftigen Jahre ›liebe, fromme, fleißige und folgsame Kinder sein wollten‹. Und Vater gab einem jeden die Hand, Mutter küßte uns, und beide sagten, daß sie sehr hofften, daß wir unsere Versprechungen auch halten würden. Vater lobte auch meine Schrift, meinte, sie sei für eine Achtjährige immerhin recht annehmbar, was mich mit Stolz erfüllte, denn gelobt wurde damals nicht viel. Als aber Mutter sagte: »Und was für ein schönes Papier du hast, der Goldrand, die Rosen und Vergißmeinnicht nehmen sich ja prächtig aus,« da wurde mir wieder himmelangst davor, Vater könne auf die zwei Kreuzer zurückkommen. Aber er las eben den lateinischen Wunsch meines Bruders und den französischen meiner älteren Schwester.

Neujahr war immer ein gar fröhlicher Tag für uns. Nach der Kirche, in die wir mit den Eltern gingen, durften wir der Großmutter und einer alten Tante gleichfalls Glück wünschen, entweder durch Hersagen eines Verses, oder aber auch durch Überreichen eines geschriebenen Glückwunsches. Für Großmutter hatte ich ihr Lieblingslied gelernt:

»Ach, wiederum ein Jahr entschwunden,
Ein Jahr, es kommt nicht mehr zurück,
Ach, mehr als achtmal tausend Stunden
Sind weg als wie ein Augenblick,

Weg meine Tugenden und Sünden.
Doch nein, der Richter aller Welt
Läßt jegliche mich wiederfinden,
Wenn er vor seinen Thron mich stellt.«

Auswendig lernen war meine Stärke, und so hatte Großmutter eine große Freude, sagte, ich solle so weiter machen und schenkte mir sechs nagelneue Kreuzer in einem gestrickten Beutelchen.

»Für die darfst du dir eine rechte Freude machen, – Zuckerkandel oder Schokolade oder was du sonst magst, kannst du dir kaufen, – das hast du verdient.«

Auch bei der Tante erhielt ich ein Lob und nach damaliger Sitte wiederum sechs Kreuzer, so daß ich reich war, wie in meinem ganzen Leben noch nie. Aber das dumme Gefühl und der dumme Druck, ganz tief unten, die gingen auch durch diese Geschenke nicht weg.

Nachmittags hatten wir eine kleine Kindergesellschaft, und es wurde gespielt und gelacht, Scharaden wurden aufgeführt, und Mutter steckte den Baum noch einmal an. Dabei gab es Süßigkeiten und Kuchen, und alle versicherten, so hübsch sei es noch nie gewesen. Aber für mich war es nicht so. Der schlimme Husten plagte mich gegen Abend derart, daß Mutter meinte, es sei besser, ich gehe ins Kinderzimmer, was ich auch gar nicht so ungern tat, denn mir war wirklich nicht gut, die alte Friedrike, unsere Kindsjungfer, bettete mich auf das Kanapee. Ich hatte kein Verlangen, zu den andern zurückzukehren.

Als die Gäste fort waren und Mutter nach mir sah, als sie mir Hand und Stirn befühlt hatte, die beide recht heiß waren, da ward ich schleunigst zu Bett gebracht, und Mutter meinte besorgt: »Wenn uns das Kind nur nicht krank wird!«

Ich bin in dieser Nacht krank geworden, recht krank! Zuerst war es ein Katarrhfieber, und später wurden es die Masern. Die Geschwister wurden sofort ferngehalten. In den ersten Tagen war mein Kopf so dumm und schwer, daß ich nicht viel denken konnte, aber trotzdem hatte ich immer das Gefühl: »Es ist etwas geschehen, was nicht hätte sein sollen!« Und nun kam ein Abend, dessen ich mich heute noch aufs genaueste entsinne: Ich lag in meinem Kinderbett wohl zugedeckt, mit der strengen Weisung, doch ganz gewiß hübsch unten zu bleiben. Man hielt damals auf große Wärme bei den Masern. Mutter wähnte mich schlummernd und war ein bißchen hinausgegangen. Licht brannte keines, aber der eiserne Ofen in der Ecke gegenüber war rotglühend. Wie gern sah ich das sonst von meinem Bett aus. Aber heute auf einmal verursachte mir das Geprassel des Holzes und diese glühendrote Flamme ein großes Unbehagen. Sei es, daß meine Augen sehr angegriffen waren und mein Kopf auch, sei es aber, daß der liebe Gott ganz genau weiß, wann und wo er seine Kinder am besten zu fassen hat, – mich überkam urplötzlich eine namenlose Angst.

Von der Hölle hatten wir erst kürzlich im Religionsunterricht gehört, und auch von den Strafen gesprochen, welche diejenigen einst treffen würden, die wissentlich Unrecht getan hatten. Mein ganz schlechtes Gewissen wachte auf, und vor mir lag es klar und deutlich:

»Du hast gestohlen, dem Vater gehörte das Geld! – Du hast genascht, wo du doch zu Hause so viele gute Sachen zu essen hast! Und gelogen hast du auch, – nicht ein, sondern mehrere Male, – gelogen, etwas, was dir doch an anderen immer so häßlich und gräßlich erschien! Wenn du jetzt sterben würdest oder gestorben wärest? …

Ich hatte wohl gehört, wie der Arzt heute zur Mutter gesagt: »Ich hoffe, wir sind nun über die Gefahr hinüber, aber bös hat es ausgesehen« … Wenn du nun gestorben wärest, hätte dich der liebe Heiland da in seinem Himmel brauchen können, oder wärest du am Ende in die Hölle gekommen? …

Die Flammen sprühten, und meine Angst wurde unerträglich. Mit einem raschen Entschluß griff ich nach der Klingel, und meine Mutter kam herbei. Da habe ich ihr alles unter heißen Tränen gestanden. Und als sie mir leise mit der Hand über die Stirn gestrichen und mir verziehen hatte und mir sagte, daß, weil ich es bereue, der liebe Gott mir auch verzeihen werde, da kam ein Frieden über mich, wie ich ihn, glaube ich, nie wieder in meinem Leben empfunden habe.

Das Essen der Schokoladetäfelchen hatte gewiß nicht die Masern verursacht. Aber der liebe Gott besitzt allerlei Mittel, seine auf Irrwege geratenen Kinder wieder zu sich zu führen. Und ein Schokoladetäfelein kann unser Gewissen genau so beunruhigen wie im späteren Leben etwas Großes, Wichtiges! Der Flecken, der in unserem Gewissen entsteht, muß gereinigt und getilgt werden, – erst dann bekommen wir Ruhe und Frieden.

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