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Die Chimäre.

Ein Mährchen.


[96] [97]

Es war in Nürnberg im Garten des Schulmeisters.

Aus symmetrisch viereckigen Gemüsebeeten erhoben Kraut und Kohl ihre selbstzufriedenen Häupter; anmuthige Rosensträucher wiegten unter malerisch verkrümmten Apfelbäumen ihre üppige Blüthenpracht, und die brennende Liebe glühte neben zartem Vergißmeinnicht, und dunkelblauer Sturmhut hob sich ab in einer vornehmen Schädlichkeit gegen die altmodische Unschuld der weißen Lilien!

Unter dem schattigsten Apfelbaum lag ein [98] Knabe; seine Gedanken schweiften hinüber über den Staketenzaun ins Weite. Sein Kopf war wirr. Der Vater hatte ihm so Vieles erzählt, Manches, das er verstand, und Manches, das er nicht verstand, unter Anderem etwas vom Lorbeer.

Als der Knabe, nachdem er häufig den Auslassungen des Vaters über dies mystische Gewächs gelauscht, einmal gefragt, was denn der Lorbeer eigentlich sei, da hatte er nur so obenhin zur Antwort bekommen, das sei ein Baum, aus dessen Zweigen man Kränze flechte, um die Unsterblichen unter den Menschen damit zu krönen.

»Die Unsterblichen unter den Menschen! …« Ahnungsbeklommen hörte der Knabe das Wort. »Wer sind die?« fragte er. »Es sind die [99] Gottbegnadeten, die nie vergessen werden!« erwiderte der Vater, weiter sagte er nichts.

»Die Unsterblichen unter den Menschen, die Gottbegnadeten, die nie vergessen werden!«

Leise sprach's der Knabe vor sich hin und dabei durchschauerte es ihn.

»Wer nur zu ihnen gehörte!« so seufzte er laut und erschrak dann vor der Vermessenheit des Wunsches.

Da saß er unter dem Apfelbaum, blickte über Gemüsebeete und einen Staketenzaun ins Weite und war unglücklich!

Der Abend brach herein, das Gold des Sonnenuntergangs flimmerte in den sechseckigen Scheiben des Schulhauses und die Blumen begannen zu flüstern. Plötzlich durchklang ein feierliches Rauschen den stillen [100] Frieden des Gärtchens, und mit langsamen Flügelschlägen durchflatterte die Abendluft ein großer blauer Falter; der hatte wundersam schillernde Flügel und scharfe goldene Krallen.

»Laßt mich ausruhen,« seufzte er den Rosen zu, »laßt mich ausruhen, ich komme von weit her. Ich habe gestern in den Zweigen des Lorbeerbaumes geschlafen.«

Begierig lauschte der Knabe. »Du kennst den Lorbeer?« rief er, »Du hast ihn gesehen? O erzähle, erzähle mir von dem wunderbaren Baume.«

Der Schmetterling ließ seine unheimlichen Augen durch die laue Dämmerung schweifen: »Ich kenn' ihn wohl,« sprach er, »er hat immergrünes, würzig duftendes Laub und weithin glänzende rothe Früchte. Seine [101] Zweige ragen hoch empor in den blauen Aether des Südens, und wen er krönt, dem bringt er Glück und Ruhm!«

»Und wie kann man zu dem wunderbaren Baume gelangen?« fragte der Knabe. »Kennst Du den Weg?«

»Ja,« sagte der Falter, »soll ich Dir ihn zeigen?«

Durch die Blumen des Gärtchens glitt es bebend, wie ein Angstschauer. »Hüte Dich!« riefen die Rosen.

»Bleib' bei uns,« sangen die Lilien, und der Sturmhut schüttelte warnend sein düsteres Haupt. Der Knabe aber hatte nur mehr Augen und Ohren für den wundersamen Schmetterling! »Ist es weit?« flüsterte er.

»Ja,« hauchte der Falter, »der Weg ist [102] lang, wer den Lorbeer sucht, der darf nicht Hunger noch Kälte scheuen, der darf nicht rasten noch rückwärts blicken, und er muß Muth haben und glauben an das, was der Lorbeer bietet … Glück und Ruhm!«

Aengstlich zögerte der Knabe, da neigte sich der Falter zu ihm und berührte mit dem Flügel sein junges Herz, daß ihm die Brust in namenloser Sehnsucht schwoll.

»Zeig' mir den Weg,« rief er athemlos, »nimm mich mit!«

Er vergaß Alles, Eltern, Geschwister und Gespielen. Er ließ Alles hinter sich, die blühende Heimlichkeit des Gärtchens, den ruhigen Frieden des Vaterhauses, die schützende Sorge der Mutter – Alles! Umsonst sangen die Lilien hinter ihm: »Falscher Ruhm, falsches [103] Glück, – spröde und bitter wie die Blätter des Lorbeer!« Schon war er aus ihrer Mitte und folgte nun, so schnell ihn seine Füße tragen wollten, dem Falter, der ihm unter tausend anmuthigen Gaukeleien den Weg wies.

Anfangs ging es flink vom Flecke, – seine jugendliche Begeisterung trug ihn leicht hinüber über die schwersten Hindernisse, und der blaue Falter sang so schön von Ruhm und Glück. Aber immer schlechter wurde der Weg und der Falter verstummte. Plötzlich verschwand er ganz. Der Knabe verirrte sich, wollte stehen bleiben, ausruhen; da tauchte die geheimnißvolle Erscheinung wieder neben ihm auf – zehnmal bestrickender als früher, sie trug ein goldenes Krönlein auf dem Haupte und rief: »Glück und Ruhm!«

[104] Er raffte sich auf und stolperte weiter, Er war nicht mehr allein. Viele Gefährten hatten sich ihm zugesellt. Einige von ihnen hatten Flügel an den Schultern und flatterten den andern weit voraus.

Diese beneidete der Knabe; denen, meinte er, könne es nicht fehlen. Sie dachten das auch. Sie waren so fest überzeugt davon, daß sie sich überall aufhielten, wo es eine Kurzweil gab, und in jeden Abgrund untertauchten, aus dem eine Sirene hervorsang.

»Das bischen verlorene Zeit bringen wir leicht wieder ein,« sagten sie, und – – blieben zurück.

Dann gab es wieder Andere, die trugen anstatt der Flügel ungeheuere Lasten auf dem Rücken. Mühsam schleppten sie sich weiter, [105] behielten jedoch immer denselben regelmäßigen Schritt und erzählten, während ihnen der Schweiß von der Stirne perlte, daß sie wohl längst schon ihr Ziel erreicht, wenn sie nicht Anfangs einen falschen Weg eingeschlagen hätten. »Das hält auf« seufzten sie.

Es wurde kalt und der Wind blies schneidend. Der Knabe war recht, recht müde. Er kam an ein Wirthshaus. Hinter den blanken hell erleuchteten Fenstern wirbelten lustige Mädchen mit rothen Lippen und weißen Zähnen in den Armen kräftiger Burschen munter über die Dielen, während feiste Musikanten frische Weisen dazu bliesen, und die Alten hinter dickbäuchigen Maßkrügen gemüthlich plaudernd an den Tischen saßen.

Er wäre gerne eingekehrt. Er war durstig, [106] aber – der blaue Falter sang von Glück und Ruhm und so stolperte er weiter.

Er kam zu einem Jahrmarkt voll bunt bemalter Buden, vor denen goldbeflitterte Marktschreier seiner Neugier tausend Dinge anempfahlen, ein verschrumpftes Weiblein vor einem Glückstopfe versprach ihm das große Loos und wunderhübsche Gauklerinnen lächelten ihn an. Er wäre gerne geblieben, – aber der blaue Falter rief: »vorwärts« … er ging.

An der Schwelle einer kleinen Hütte saß ein junges Weib, das hielt ein schlafend Kindlein im Schooß und blickte freundlich zu einem Burschen auf, der nach des Tages Mühen zu ihr zurückgekehrt, sich über sie beugte, und ihre Stirn küßte.

[107] Eine Thräne floß dem Knaben über die Wange, »so wär' gut ruh'n!« sprach er vor sich hin, – da traf ihn ein böser Blick des Falters. Er schrak zusammen und keuchte weiter.

Der Schmetterling hatte sich seltsam verändert. Er war nicht mehr derselbe, der sich in der Sommerdämmerung vor dem Schulhäuschen in Nürnberg auf dem Rosenzweig gewiegt.

Er wuchs von Stunde zu Stunde, seine Flügel waren schon so groß wie Adlerschwingen, etwas Grausiges mischte sich in seine geheimnißvolle Lieblichkeit.

Ueber Fels und Thal, durch Schlucht und Wald, über den schäumenden Gießbach, auf schwindelndem Weg folgte ihm der [108] Knabe. Von seinen Reisegefährten waren so manche abgefallen.

Einige von denen, welche die schweren Lasten trugen, waren darunter erdrückt, am Wegsaum liegen geblieben, und einige von denen, welchen die Flügel aus den Schultern wuchsen, waren matt und krank aus den Sirenenschlünden wieder gekehrt; eine Weile hatten sie das Versäumte nachzuholen gesucht, und waren dann doch mit erschlafften Flügeln und gebrochener Kraft niedergesunken in den Koth.

Und Manche fluchten sterbend dem himmelblauen Verführer und andere sandten ihm aus brechendem Auge noch segnende, sehnende Blicke nach.

Immer kleiner wurde das Häuflein. Ein [109] schwer Belasteter keuchte fast an der Spitze des Zuges, nur um ein Weniges hinter einem geflügelten Reisebruder zurück.

Der Horizont erweiterte sich. Eine Fluth goldenen Lichts ergoß sich über die Ebene und ein saphirblauer Himmelsdom wölbte sich über das gelobte Land.

Hoch empor ragte der Lorbeer, stolz, immergrün, mit glänzenden rothen Früchten beladen.

Der Knabe streckte die Arme nach seinen Zweigen – er konnte sie nicht erreichen. »Vorwärts!« schrie der blaue Falter, seine Stimme war nicht mehr süß, sondern wild und hart, seine goldenen Krallen glänzten drohend unter seinen blauen Flügeln hervor, und aus seinen Augen schossen Blitze. »Ich [110] kann nicht mehr!« antwortete mit versagender Stimme der Knabe; – ihm graute plötzlich vor dem schönen Ungeheuer. Zögernd haftete sein Fuß am Boden. – – »Wer bist Du?« rief er, »wer bist Du, der Du mich so lockst und quälst?«

»Wer ich bin? … willst Du es wissen? Du stirbst, wenn ich es Dir sage!«

»Laß mich sterben … ich bin müde!«

Tief nieder zu ihm beugte sich das lockende Gespenst und durch das Schweigen klang es leise, halb wie Trauer, halb wie Hohn: »Ich bin … eine Chimäre!«

Dem Knaben war's, als habe man ihm einen Dolch ins Herz gestoßen. Noch einmal blickte er hinüber zu dem Lorbeer, aber er hob den Arm nicht mehr, um nach ihm [111] zu greifen, – seine Kraft war gebrochen, die Sinne schwanden ihm, er sank zu Boden.

Rings um ihn streckte sich die Campagna, das Heiligthum der Vergangenheit, dessen Denkmäler und Gräber der Todesengel hütet.

Der Lorbeer ragte hoch empor in die sonnendurchglühte Luft. Ein paar Blätter fielen aus seinen Zweigen nieder auf den entseelten Knaben. Durch die Stille klang es noch einmal schauerlich: »Glück und Ruhm – Glück und Ruhm!«

Es war die Siegeshymne der Chimäre! [112] [113]


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