Ossip Schubin
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht
Ossip Schubin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Memento mori.

A la

marchesa Maurizio Cavalotti.

I.

»Es ist sonderbar, daß man in vorgerücktem Alter seine Tugenden oft so viel mehr bereut als seine Sünden – das kommt daher, weil man die Sünden durch die Buße auslöschen kann – die Tugend aber durch nichts!«

Dieses verblüffende Paradoxon hörte ich an einem Herbstnachmittag in Paris vor dem Café Tortoni. – Ich sah mich um, erblickte einen Mann mit einem leichenhaft blassen Gesicht, einer mächtigen, nachlässig gebückten Gestalt, breiten, runden Schultern und leicht behaarten, schmalen, nervigen Händen. Auf den ersten Blick gab ich ihm sechzig Jahre, dann kaum vierzig. Er trug einen weiten, struppigen Paletot, zu kurze Beinkleider, zu lange Haare, einen schlecht gebürsteten Cylinder und nachlässigen Hemdkragen. Seine Stimme klang eigentümlich weich, leicht singend, seine Betonung war monoton gleichgültig, die Artikulation deutlich, zu deutlich für einen geborenen Franzosen, die »r« sehr scharf.

»Ein Russe«, sagte ich mir und dachte dabei, daß er sich auf seine alten Tage nicht allzuviel Tugenden zu verzeihen haben würde.

Ich hatte recht – es war der Fürst Wladimir Alexandrowitsch Suworin – man sagte es mir ein paar Minuten später und setzte zugleich hinzu: »ein Mann nicht ohne Geist, aber mit einer conduite déplorable!«

Ich hörte kaum. Suworin fesselte meine Aufmerksamkeit. Er saß, den Arm über seiner Stuhllehne, die Füße von sich gestreckt, inmitten einer Gruppe von Männern, von denen der eine besonders das große Wort führte – ein kleines, mageres, sehr sorgfältig gekleidetes Individuum. »Ebenfalls ein Russe«, sagte man mir. Ich hätte das seiner kosmopolitisch faden Physiognomie nicht abgelesen.

Für mich hätte er ebenso irgend ein Büreaukrat sein können oder ein französischer Coiffeur, der viel mit der Aristokratie umgegangen wäre.

»Was Sie da sagen, ist eine Blasphemie«, rief er in einer hohen banalen Stimme und streckte seinen langen, mit einem großen Adamsapfel geschmückten Hals aus seinem tadellosen Hemdkragen hervor – »eine Blasphemie, und erlauben Sie mir, Wladimir Alexandrowitsch, es hat keinen Sinn! –«

»Um so besser für Sie, wenn Sie den Sinn nicht verstehen, Valerian Valerianowitsch,« erwiderte Suworin gelassen, stand gähnend auf und verließ die Gesellschaft.

Der kleine Valerian Valerianowitsch Borgilow sah ihm triumphirend nach.

»Man muß ihm nur entgegen zu treten wissen, diesem Ketzer, dann schweigt er.«

»Ja,« rief ein lustiger Franzose, »wenn man Suworin los werden will, braucht man ihn nur zu langweilen.«

Unterdessen promenirte der Besprochene langsam über den Boulevard – den Kopf vorgeschoben, die rechte Schulter beim Ohr, die Füße hinter sich herschleppend. Er gaffte allen Damen unter den Hut mit großartig impertinenter Gelassenheit und – ohne eine Spur von wirklichem Interesse. Bisweilen starrte er ein Ladenfenster an.

Meine Beschäftigung rief mich von Tortoni hinweg. Drei Stunden später sah ich Suworin noch immer am Boulevard.

II.

Man nannte ihn den Schutzheiligen von Mabille, kurzweg Saint Mabille, weil er jahrelang der regelmäßigste Besucher dieses Instituts war; man nannte ihn auch den Boulevard Sardanapal, weil er mit so majestätischer Gleichgültigkeit von seinem Blechstuhl vor Tortoni aus dem allmählichen Weltuntergang zusah. Am häufigsten aber nannte man ihn: »Memento mori!« weil er durch das wilde Jubeltreiben von Paris schlich, wie ein Gespenst gestorbener Lust, wie ein lebendiges Memento mori aller Jugendillusionen und Freuden.

Er war der eingefleischteste Bummler, der mir je vorgekommen; man sah ihn in allen Theatern, auf allen Maskenbällen und jeden Nachmittag am Boulevard.

Seine große gebückte Gestalt, seine schlotternde Vagabundentoilette, seine langen Haare und sein struppiger, immer nach rückwärts aufgesetzter Cylinder fielen von weitem auf inmitten der geschniegelten, elegant schlanken Pariser. Stundenlang ging er zwischen dem Capucines- und dem Madeleine Boulevard auf und nieder. Immer die Hände in den Taschen, die Schulter beim Ohr, immer mit derselben beharrlichen Rücksichtslosigkeit allen Damen ins Gesicht starrend.

Manchmal sah ich ihn vor den Thüren der Konzertsäle das Publikum beim Ausgang erwartend, oder vor der Madeleine nach der eleganten Mittagsmesse.

Ich muß gestehen, daß mir dies für einen Mann von dem Alter, das ich ihm ansah, und der Intelligenz, die ich ihm zumuthete, eine sonderbare Beschäftigung schien.

Wo ich ihn sah, ob in Mabille oder in der Welt, ob im Theater oder am Boulevard – er hatte immer dasselbe müde Leichengesicht – ein Christusgesicht – zart geschnitten und bis auf die zu breiten Backenknochen, ideal regelmäßig, von einem schwarzen Vollbart und langen, über der Stirn gescheitelten Haaren umrahmt.

Ein Christusgesicht – welches das Schicksal durch den tiefsten Erdenschlamm gezogen!

III.

Was zog mich so sehr zu ihm? . . . Sein Blick, sein ergreifender, halb gebrochener Blick, und dann sein Lachen. Das zerschnitt mir, als ich's das erste Mal hörte, die Seele. Es klang so frisch und weich, wie das eines Studenten, und paßte gar nicht zu seinem kränklichen weltverdorbenen Aeußern.

Ich lernte ihn kennen, und wir wurden viel miteinander gesehen.

Die Welt sagte, er habe sich mit mir befreundet. Das war falsch, er ging nur mit mir um; immer liebenswürdig, nie herzlich, allezeit bereit, mir selbst auf Kosten einer persönlichen Unbequemlichkeit einen Dienst zu erweisen – ohne mehr Sympathie für mich als für seinen Portier.

Hatte er noch einen Freund, noch eine Liebe, ja nur eine Liebhaberei auf Erden? . . .

Nein! Kaum ein Vorurtheil, und nur drei Antipathien: geistreiche Frauen, Hunde und Musik.

IV.

Ich habe nie einen unterhaltenderen Plauderer gekannt als Suworin, und keinen beleseneren.

Seine Neider behaupteten, er bereite sich, ehe er unter Leute gehe, auf seine Konversation vor. – Eine erbärmliche Erfindung. Ihm lag zu wenig an der Meinung der Menschen, um sich vor ihnen zu verstellen.

Seine Misanthropie und sein Cynismus suchten ihresgleichen; doch verletzten beide Eigenschaften weniger bei ihm als bei anderen Menschen, weil sie nichts Gekünsteltes und nichts Selbstzufriedenes hatten.

Seine Persönlichkeit bildete einen Lieblingsgesprächsstoff der Damen in der Gesellschaft. Sie haßten ihn!

Was sie ihm übelnahmen, war nicht die Unregelmäßigkeit seiner Lebensweise, sondern . . . die empörende Banalität seiner Intriguen. Er hatte noch nie eine Dame aus der Gesellschaft kompromittirt.

V.

Es war im März. Die Schatten auf den Boulevards wurden schwarz und dicht, das Licht weiß und grell. Die Luft war weich wie eine Liebkosung, und ganz Paris durchzittert von einem süßen Veilchengeruch.

Eine Sintfluth von Fremden überschwemmte die Hotels; die Pariser klagten wie alle Jahre mit charakteristischer Undankbarkeit darüber, daß die geschmacklosen Ausländerinnen ihnen die Boulevards verdürben.

Laut enthusiastische Wienerinnen standen solange vor dem Lederparadies Klein's, als seien sie bloß nach Paris gekommen, um Wiener Leder zu bewundern – und ganze Familien sächsischer Reisender, reich an blumenhaft unschuldigen Töchtern, saßen mitten zwischen den geschminkten Sirenen vor den Cafés und aßen Eis.

Suworin war verschwunden!

Er hatte sich in seine Wohnung eingesperrt und ließ Niemand vor.

»Er meidet die Boulevards, weil die vielen geschmacklosen Ausländerinnen seinen Schönheitssinn verletzen!« sagte ein Pariser Geck aus Suworin's Gesellschaft im Café Anglais. Dieser schlechte Witz erfuhr natürlich keine Beachtung.

Ein junger Idealist brachte vor, Suworin leide an periodischem Herzschmerz – und kämpfe jedes Frühjahr die Erinnerungen an eine längst zu Grunde gegangene Liebe nieder.

Dieser poetischen Supposition wurde die Verachtung zu theil, welche dieselbe verdiente.

Ein Dritter erzählte, Suworin habe jedes Frühjahr Anfälle von Geistesstörung. Man höre ihn durch die geschlossenen Fensterläden bis auf die Straße hinunter bellen und heulen.

Diese Behauptung hatte etwas für sich. Das Café Anglais wanderte aus, um Suworin Fensterparaden zu machen, um ihn bellen zu hören.

Mau hörte nichts.

Man fragte seinen Arzt. Dieser fuhr sich gleichgültig mit der Hand über die glattrasirte Oberlippe und sagte: »Suworin habe eine Bronchitis.« – Das Café Anglais zog verdrießlich die Mundwinkel herunter und die Augenbrauen hinauf und vergaß Suworin.

VI.

Eines Tages kam ich zufällig an seiner Wohnung in der Avenue Montaigne vorbei, blieb davor stehen und überlegte nachdenklich: »Nun, an der Thür zu klingeln, ist keine große Mühe, und abgewiesen zu werden, wo schon so viele Andere abgewiesen worden, keine persönliche Schmach!«

Ich klingelte, man ließ mich vor.

Suworin lebte, obzwar er Paris seit fünfzehn Jahren nicht verlassen, in einem Garni – das eintönig mit verschossenem gelben Damast meublirt war. Japanische Raritäten standen kunterbunt umher, und dennoch zeigte sich überall eine beinahe herausfordernde Geschmacklosigkeit. Er hatte weder mehr Anhänglichkeit noch Pietät für seine Wohnung als Diogenes für sein Faß.

Heute lag er, möglichst nahe an den Kamin gerückt, mit geschlossene Augen in einem Riesenfauteuil, und sah so grün aus inmitten seiner gelben Umgebung, daß ich erschrak, obgleich ich an die Leichenhaftigkeit seines Aeußeren gewöhnt war.

Ich athmete auf, als er die Augen öffnend mir die Hand reichte und fragte: »Wie geht's? Steht der Arc de Triomphe noch? Was macht der Boulevard?«

»Der Arc de Triomphe steht noch, und der Boulevard sehnt sich nach Ihnen.«

»Ich kann nicht ausgehen, die Frühlingsluft greift meine Nerven an,« sagte er kurz und verfiel in brütendes Schweigen.

Seine Augen waren unruhig, seine Haare unordentlich.

»Vielleicht ist er wirklich unterwegs nach Charenton« – dachte ich.

Bisweilen überkam sein Gesicht ein Zug von schrecklicher Sehnsucht, dann murmelte er Unverständliches vor sich hin.

VII.

»Es ist eine traurige und entnervende Beschäftigung, in dem Kirchhof der Vergangenheit nach der Leiche eines längstgestorbenen Glücks zu graben. Suworin befaßt sich damit,« dachte ich einen Augenblick; im nächsten erröthete ich darüber, so naiv gewesen zu sein wie der Idealist im Café Anglais.

Da langte Suworin nach einem Veilchenstrauß, der auf dem Kamin stand, und warf ihn zornig ins Feuer, dann sagte er, beide Hände auf den Knieen, ohne Einleitung: »Wenn ich vor zwanzig Jahren gedacht hätte, ich würde so werden wie ich bin – ich hätte . . .«

Erstaunt betrachtete ich ihn.

»Hm,« fuhr er fort, »alle jungen Laffen bewundern meinen absurden Cynismus und machen ihn nach, wie ihre Vorfahren Lord Byron's vagabundische Hemdkragen nachgemacht haben. Keiner ahnt, daß ich eigentlich ein ganz lächerlicher Romantiker bin! – – – Warum soll ich mir nicht gönnen, Ihnen dieses Geständniß abzulegen?« brummte er, die Achseln zuckend, weiter.

»Ça ne tire pas à conséquence, wenn Sie morgen im Café Anglais erzählen, daß Suworin ein Romantiker ist, so hält man Sie höchstens für einen Narren!« –

Es gibt – selbstverleugnende Philosophen mögen behaupten, was sie wollen – für keinen Menschen ein interessanteres Thema als sein eigenes Ich!

Suworin lieferte ein neues Beispiel davon.

»Was Sie für neugierige Augen machen,« rief er spöttelnd. »Sie fragen nicht – Sie sind diskret, aber Sie möchten doch gerne wissen, wie ich so geworden bin – so unromantisch? Sie erwarten die Geschichte einer großen Enttäuschung. Unser Idealismus wird gewöhnlich sauer, weil etwas Schmutz hineingefallen ist; bei mir war dem nicht so. Ach! es ist eine uralte Geschichte, ich glaube selber nicht mehr daran! Oft kommt es mir fast vor, als wäre sie nicht mir, sondern einem Andern passirt, und wenn ich sie heute in der Revue des Deux Mondes läse, würde ich sagen, sie sei schlecht erfunden..«

»Ich hatte ganz vergessen – wollen Sie nicht rauchen? – da haben Sie russischen Tabak – Sie ziehen ihn dem türkischen vor?«

Er legte sich in seinem Armstuhl zurück, die Hände auf die Seitenlehnen, und fing in seiner weichen, monotonen Stimme also zu erzählen an:

»Ich kann meinen Kopf hochhalten. Unter allen Taugenichtsen von Paris bin ich König. Dies ist um so verdienstvoller bei mir, als mir das Leben, welches ich führe, eigentlich gar kein Vergnügen macht. Vor zwanzig Jahren hätten mich alle diese petits crevés, die jetzt mit schmeichelhafter Genauigkeit meine Unarten nachahmen, nur mitleidig verachtet.

Ich liebte die Menschheit und verehrte die westliche Zivilisation. Ich glaubte an Gott, soweit es die Philosophen, und an das Glück, soweit es die Dichter erlauben. Ich hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für Beethoven'sche Sonaten und Mondscheinspaziergänge und jammerte mit enthusiastischer Bitterkeit über die Fäulniß der russischen Zustände.

Natürlich schrieb ich Gedichte und schämte mich dessen: Ich war sehr gesund, und die Schwerfälligkeit, die man jetzt an mir als eine Art barbarischen Chics interessant findet, hatte damals entschieden etwas Bärenhaftes. Ich verschmähte zu tanzen, weil ich mich bei dieser Bewegung nicht graziös genug ausnahm, hatte viel von jener rührenden Demuth der Intelligenz, die man Autoritätsglaube nennt – las gute Bücher und trug ein Bild meines im Krimkrieg gebliebenen Vaters um den Hals. Im Ganzen war ich ein etwas abgeschmackter, sehr guter Junge. Geld hatte ich immer genug und infolgedessen auch Freunde.

Daß ich trotz meiner tiefen Sympathie mit den allgemeinen Leiden der Menschheit ein ziemlich glückliches Individuum war, versteht sich von selbst.

Nur Eines störte mich manchmal, der Gedanke an meinen Großvater, der sich in einem deutschen »Irrenhaus mit humaner Behandlung« am Rhein aufhielt, wo er sich allen interessanten Experimenten der Aerzte zum Trotz weigerte, zu Verstand zu kommen.

Wenn der mir einfiel, so überrieselte mich stets eine kalte Angst. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß mein Vater ein ganz vernünftiger Mensch gewesen, und meine Tante nur ein Original sei, im übrigen mein Großvater sich seine geistige Indisposition durch zuviel kalte Douche geholt. Auch dachte ich nicht gar zu oft an ihn, mochte ihm nur nicht in die Nähe kommen – fast als hätte ich die Ansteckung gefürchtet, und vermied es schon deshalb über die Grenze zu gehen.

Da – ich war gerade zweiundzwanzig Jahre alt und in vollem Sturm und Drang – schrieb man mir, mein Großvater sei geistig genesen, befinde sich aber im letzten Stadium körperlicher Hinfälligkeit, habe dabei gefühlvolle Anwandlungen und wünsche mich zu sehen.

Ich wünschte es durchaus nicht, ihn zu sehen – und ärgerte mich sogar nicht wenig darüber, daß er nicht lieber meinen Bruder, der sich indessen in Baden-Baden umhertrieb, an sein Krankenlager berufen. Nichtsdestoweniger machte ich mich auf die Reise, um seinem Verlangen zu willfahren – aus Aberglauben und Angst, mir späterhin Vorwürfe zu machen. Andere Leute nennen es Pflichtgefühl.

Ich kam in das »Irrenhaus mit humaner Behandlung« und besuchte meinen armen Großvater. Er erkannte mich – ich hätte ihn nie erkannt. Von dem schönen prächtigen Kosaken war nichts übrig geblieben, als ein verkrümmtes, mit schlaffer, gelber Haut überzogenes Gerippe, ein paar gelbgraue Haare, ein beständig murmelnder und geifernder Mund und ungeheure blicklose Augen.

Die Aerzte versicherten mich, er sei bei völlig nüchternem Verstand, was er auch sogleich bewies. Er warnte mich davor, zu viel grünes Obst zu essen, was meine Gewohnheit vor fünfzehn Jahren gewesen war, faßte mich mit zitternden Fingern beim Kopf, beschnüffelte mich, und sagte: »Du riechst nach Steppe« – erhob hierauf flehend die Hände und bat, ich möge ihn nur nicht schlagen: endlich fiel er in seine Lage zurück, steckte die Daumen hinter die Zeigefinger, wimmerte eintönig wie ein Spinnrad vor sich hin und schlief ein.

Ich war noch weichherzig damals, und dieses Resultat der »humanen Behandlung« that mir sehr weh. Da die Aerzte mir gestanden, daß es »nicht mehr lange dauern würde«, so wollte ich natürlich bei ihm bleiben bis zum Schluß.

Wenn er schlief, und er schlief – beständig dabei wimmernd – beinahe den ganzen Tag, so stieg ich hinunter in den Garten, setzte mich in den Schatten der großen Kastanienbäume und sah dem Treiben um mich zu.

Was mir am meisten an den etwa zwanzig Narren – lauter Narren aus guten Kreisen – auffiel, war ihre Häßlichkeit, die fratzenhaften Züge, die stieren, weißen Augen, die schlaffen oder krampfhaft verzerrten Glieder.

Ein paar arme Idioten abgerechnet, die bis auf ein Gefühl vager, erbärmlicher Angst völlig abgestumpft einherkrochen, hatten alle irgend einen bunten Lappen an sich, mit dem sie sich liebevoll beschäftigten. Einige gingen stampfend und den Sand aufwirbelnd an mir vorbei und sahen mich aus zusammengekniffenen Augen stier und mißtrauisch an, andere tänzelten vorbei und maßen mich mit vornehmer Verachtung. Alle haßten mich und wünschten doch meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre verdrehten Augen ekelten mich an und magnetisirten mich zugleich.

Einer unter diesen Unglücklichen, ein magerer, gelblicher Mensch in einem blauen Frack von verschollener Mode und mit großen Berlockes auf dem Magen, ein Sonderling, der sich von seinen Gefährten vornehm abseits hielt, trat eines Tages zu mir, reichte mir die Hand und knüpfte ein Gespräch mit mir an, bei dem er mir in einem Athem auseinandersetzte, daß er der Talleyrand sei, daß er sich hier befinde, um Studien zu machen. – Es sei ein sehr angenehmer Ort, fuhr er fort, etwas einsam anfangs, aber daran gewöhne man sich – wie lange wolle ich bleiben? – Ich antwortete gereizt: »Ich habe gar nicht die Absicht zu bleiben« – worauf er mir mit einem feinen Lächeln erwiderte: »O, wir haben keiner die Absicht, zu bleiben, wenn wir herkommen. Sie sind mir sehr sympathisch, ich freue mich, Sie meinen Freunden vorzustellen«, setzte er hinzu.

Brr! – Des Nachts, während ich neben dem Bett meines Großvaters saß, sah ich beständig alle die stieren, weißen Augen und hörte die heiseren gebrochenen Uhustimmen – ich wiederholte mir einmal um das andere: »Wir haben keiner die Absicht, hier zu bleiben« . . . .

Endlich starb mein Großvater. – Der Sonderling sagte mir, als ich von ihm Abschied nahm: »Auf Wiedersehen!« Der Arzt sagte: »Schonen Sie sich!« Ich sah aus wie ein reconvalescenter Narr – ein Opfer der »humanen Behandlung«.

Ich war um zwanzig Pfund leichter geworden, meine Haut fahl und runzlig, meine Gelenke steif. Ich mied die Menschen, weil ich fürchtete, sie könnten mir ansehen, wo ich gewesen, stand stundenlang vor dem Spiegel, verglich mein Gesicht mit den Fratzen der Irren und sagte kleine sinnlose Sätze vor mich hin, um mich von dem natürlichen Klang meiner Stimme zu überzeugen.

Diese Experimente regten mich ungemein auf. Eines Tages verdrehte sich mein Blick, ich fühlte einen Druck, eine Art Lähmung im Kopfe – rief nach meinem Diener – meine Stimme hatte den häßlichen, krächzenden Klang, ich stieß einen Schrei aus – mein Diener fand mich auf allen Vieren am Boden . . . .«

Mir entfuhr eine Bewegung!

Suworin drehte sich kaltblütig eine Cigarette und rief, die Hand gegen mich ausstreckend: »Fürchten Sie nichts, ich bin nicht im Begriff, närrisch zu werden, ich habe die interessantesten Anlässe dazu unbenützt gelassen – die Gefahr ist vorüber – ich habe keine Anlagen zum Wahnsinn.

Damals freilich glaubte ich das Gegentheil. Ich nahm zwar meinen Kopf zwischen die Hände und sagte mir, daß ich vernünftig sei – ganz vernünftig. Dann fiel mir der Narr ein, dem ich so sympathisch gewesen, und der mir zum Abschied gesagt hatte »auf Wiedersehen!« . . . Und ich grübelte und brütete, und wurde fahl und mager. Mein alter Diener wähnte, ich sei vom bösen Geiste besessen.

Ich reiste da und dorthin, um mich zu zerstreuen, las jedoch zu gleicher Zeit Bücher über den Wahnsinn. Ich legte den Finger auf jeden vagen Instinkt und secirte jeden Gedanken – – – Sapristi, da bin ich im Begriff, Ihnen eine interessante Auseinandersetzung zu geben. Ich wollte Ihnen ja meinen Roman erzählen. Das kommt vom Materialismus. Anstatt der Geschichte seiner Liebe erzählt man die Geschichte seiner Nerven! . . . Meine Liebe! . . . Wo ich sie getroffen? . . . In Heidelberg, auf dem Perron des Bahnhofs. – Ich sehe noch Alles vor mir, die Sonnenstrahlen, die blaue Luft und den lustigen Neckar, die altväterischen blauen Kutschen und die roth aufgedunsenen Kutscher, die lebensgefährlichen Studenten, wie sie mit ihren dicken Ziegenhainern Terzen und Quarten in der Luft herumwarfen, die bunt zerrauften Mädchen, die kindischen, englischen alten Jungfern und meine blasirten Landsleute. Und inmitten von all dem – sie! . . . Welche Vornehmheit, welche Grazie!

Sie trug einen großen, spanischen Federhut, ein graues Leinwandkleid und graue, für ihre kleinen Hände viel zu große Handschuhe. Sie hielt eine schwarze Reisetasche mit weißen Beschlägen in der Hand und sah aufmerksam, neugierig unbefangen um sich herum. Da schrie eine alte, laute Stimme: »Sonja!«

Sie eilte die Treppe des Perrons herunter, trat auf ihr Kleid, stolperte, schwankte . . . schon streckte ein Student seinen Arm ihr entgegen, doch ich kam ihm zuvor, fing sie auf und schleppte sie den Perron herab.

Sie sah mich kaum an, nickte nur leicht mit dem Kopfe und sagte zerstreut: »Danke« . . . eine geborene Königin.

Da hörte ich wieder die rauhe Stimme in schnarrendem Russisch-Deutsch: »Aber Sonja, der Herr rettet Dir das Leben, und Du sagst »Danke«, als habe er Dir Dein Taschentuch aufgehoben. Ich bin Ihnen unendlich verbunden, mein Herr.« – Und ein sehr schön gewesenes, sehr altes, sehr gelbes Gesicht – ein Gesicht, das an wurmstichige Holzschnitzerei erinnerte, nickte und grinste mir aus einem großen, schwarzen Tunnelhut zu.

Dann streckten sich mir plötzlich zwei schwarz behandschuhte Hände entgegen, statt des schnarrenden Französisch klang es in etwas singendem Russisch zu mir herüber:

»Wolodja tschtostoboi!«

Es war meine alte Tante Aurora Wikentiewna – das Original. Eine ihrer Eigenheiten bestand darin, daß sie immer Trauer trug für Chopin, den sie nie gekannt hatte.

»Wo reist Du hin – was hast Du vor – steigst Du im Hotel Schrieder ab. Im Bädeker steht Hotel Schrieder –« schrie sie mit ungenirter Lautheit. »Das ist mein Pathenkind Sofie Iwanowna B . . . . Sonja, das ist mein Neffe, ein guter Junge, aber er hat zu viel deutsche Philosophie im Kopf.« Dann gestikulirte sie mit ihrem Sonnenschirm einem Kutscher zu, und ehe ich's mich versah, saß ich ihrem Pathenkind gegenüber in einer der altväterischen blauen Kutschen und hatte meine Karte für Baden-Baden in den Wind hinaus geworfen – und meinen Großvater, den Wahnsinn und alle Nachtseiten des Lebens vergessen!« –

VIII.

»Ich leide gewiß nicht an Kirchthurmpatriotismus, aber ich bin stolz auf unsere russischen Frauen. Unterbrechen Sie mich nicht . . . nach all den russischen Karikaturen von Pariserinnen, nach den grimassirenden Fürstinnen und Intrigantinnen, die wir exportiren, können Sie sich keinen Begriff von einer echten, natürlichen Russin machen.

Ich habe nie ein zweites Mädchen gesehen wie Sonja. So einfach, so barbarisch wahr, so ernst und doch kindlich lustig – dabei voll so tiefen großmüthigen Gefühls.

Schön war sie auch, echt russisch schön.

Mein Gott, wie lange hat mich die Erinnerung an das seltsame, blasse Gesicht mit den großen, dunkelgrauen Augen unter niedrigen deutlich gezeichneten Brauen, der kurzen charakteristischen Nase und dem weichen schwermüthigen Mund verfolgt!

Vielleicht waren ihre Backenknochen etwas zu breit, das Oval des Gesichtes zu kurz. Mir aber gefiel selbst diese Unregelmäßigkeit. Und dann! welch herrliche Gestalt sie doch hatte, welche Vornehmheit in den Bewegungen und welche Grazie, welche bizarre frappante Grazie. Alles an ihr war so spontan, so ungekünstelt.

Wir dinirten auf der Terrasse des Hotel Schrieder. Sie sagte »Danke,« wenn ich ihr etwas reichte, kümmerte sich im übrigen sehr wenig um mich, blickte da und dorthin und machte komische Bemerkungen über ihre Umgebung. Beim Dessert las sie die »Fliegenden Blätter«.

Nachmittags unternahmen wir natürlich einen Ausflug nach dem Schloß! Wie grün die Welt war damals und wie blau der Himmel! Für den Tag in Heidelberg und für noch ein paar, die auf ihn folgten, verzeih' ich dem Schöpfer meine Existenz.

Träumerisch wanderten wir durch die grauen Räume des alten Pfalzgrafenschlosses mit seiner närrisch verschnörkelten, deutschen Renaissancebauart. Wir sahen das große Faß, welches sich ausnimmt wie ein Monument, das die Heidelberger Studenten ihrem eigenen Durst gesetzt, sahen den durstigen Narrenzwerg und vielen anderen alterthümlichen Krimskrams.

Wir spähen durch das große Fernrohr auf der Molkenkur und trinken saure Milch. Ich bemühe mich, Sonja's Aufmerksamkeit zu fesseln und lenke ihren Blick schließlich auf ein englisches Ehepaar, das, offenbar auf der Hochzeitsreise begriffen, zwei ganz identische derbe Matrosenhüte und möglichst ähnliche Anzüge aus demselben blau- und weißgestreiften Zwilch trägt.

Sonja lacht hell auf. Wie sie lacht! Der Neckar tief unten im Thal lacht auch – wie ein Echo, und aus einem fernen Biergarten tönt es weich und traumduselig zu uns herüber: »süße Lust . . . süße Lust,« das Liebesduett aus der damals neuen Oper Gounod's.

Meine Tante starrt die Passanten ungenirt durch ihr silberplattirtes altmodisches Schildpattlorgnon an und äußert verblüffende Aphorismen in ihrer tiefen energischen Stimme, vergleicht ein flinkes Windspiel mit einem englischen Wagengestell und einen aristokratisch-schwindsüchtigen Franzosen mit einer feudalen Burgruine.

Der Abend dämmert, wir fahren zurück, hinunter in das Städtchen. Der Neckar murmelt schläfrig, blaß und still kriechen die Sterne aus ihrem blauen Nest. Die Luft ist unsagbar weich und süßduftig. Durch mein ganzes Sein schleicht sich eine Empfindung unaussprechlich friedlichen Glücks. Ich habe aufgehört zu denken. Je me laisse vivre.

Und weiter rollen wir die grünen Hügel hinab, dann durch die schlaftrunkenen Gäßchen, in denen das Gras zwischen den Steinen wächst. Müde Verkäuferinnen stehen auf den Schwellen ihrer Läden und blinzeln vor sich hin durch die helle Sommerdämmerung, zwei kleine Jungen spielen, die Köpfe voll papierner Pflästerchen aus imaginären Wunden, mit Stöcken »Mensur,« und in einer Kneipe singt eine Gesellschaft halb betrunken, halb sentimental.

Abends nahmen wir den Thee in dem kleinen Salon meiner Tante. Sonja machte ihn. – Ich werde Ihnen keine ausführliche Beschreibung liefern von ihren rosigen Fingerspitzen und nicht von den lieben Grübchen, die in ihren Wangen immer deutlicher hervortraten, je ernsthafter sie die Stirne zu runzeln versuchte. Wissen Sie mir Dank dafür.

Wir fingen schon an, recht vertraut mit einander zu werden, Sonja und ich. Der Samowar war ausgekühlt, meine Tante schnarchte laut und gemüthlich in ihrer Americaine. Wir traten hinaus auf den Balcon, um Cigaretten zu rauchen. Wie hübsch sie beim Rauchen aussah! . . . Ich habe nie mehr eine Frau rauchen sehen können seitdem! . . .«

Suworin stützte den Kopf in die Hand und verstummte zerstreut, dann sich plötzlich aufrüttelnd, rief er: »Von was habe ich Ihnen denn erzählt, von . . . Ja richtig, von Heidelberg! – Nun! Der blaue Himmel schien sich auf uns herunterzubeugen. Die Sterne glänzten so nahe, daß man die Hand nach ihnen hätte ausstrecken mögen, um sie zu pflücken. Da plötzlich durchfuhr es den Himmel wie eine goldene Schlange. Eine Sternschnuppe war's!

Sonja schrak zusammen. »Es ist ein Stern aus dem Himmel gefallen,« sagte sie dumpf, »das ist der Glücksstern eines Menschen!«

»Der meine!« murmelte ich, und dabei wurde mir sehr kalt inmitten der warmen Sommernacht.

Ich mußte plötzlich recht elend aussehen, denn das liebenswürdigste Mitleid trat auf ihr kindlich-muthwilliges Gesicht. »Ach, Wladimir Alexandrowitsch, glauben Sie doch nicht daran!« rief sie altklug, »das sind nur Ammenmärchen, wahrhaftig, ich begreife Sie gar nicht! – Wie können Sie nur so abergläubisch sein!« Dabei legte sie unbefangen ihre kleine, warme Hand auf meinen Arm und sah zu mir empor.

Mir wurde, ich weiß nicht wie! – Ich nahm ihre Hand und küßte sie leise, behutsam innig, wie man die eines ganz kleinen Kindes küßt. Vielleicht haben Sie schon gehört, daß in Rußland jede Dame den Handkuß eines Mannes mit einem Kuß auf die Stirne beantworten soll. Schon streckte mir Sonja halb mechanisch das Köpfchen entgegen – da aber wurde sie mit einemmal roth wie eine wilde Mohnblume, entriß mir mit beinahe zornigem Ungestüm ihre Hand und eilte fort!

IX.

»Sie war exaltirt und excentrisch, wie alle russischen Mädchen. Sie hatte Sympathie mit den Nihilisten und träumte davon, einem verbannten Helden nach Sibirien zu folgen.

Sie sang wunderbar schön und hatte eine von den ergreifenden Altstimmen, wie sie den Frauen unseres Volkes eigen sind, ein eigentümliches Gemisch von Kraft und Weichheit.

Sie war launenhaft, unberechenbar – mit einem Wort vollkommen. Lange Zeit lebte sie lustig, kameradschaftlich neben mir hin, ohne das geringste wärmere Gefühl zu verrathen. Endlich aber kam eine Stunde . . . O, ich erinnere mich dessen, als wäre es gestern gewesen.

Es war in einem kleinen Gasthaus in irgend einem Städtchen am Rhein. – Ein großes Gewitter hatte sich soeben erst ausgetobt. Am Horizont wälzte sich noch ein violetter Wolkenschwall, in dem hier und da ein fahler Blitz aufzuckte. Ein Regenbogen stand am Himmel, und ein feiner, aus den weißlichen Wolken niedersickernder Regen glitzerte wie Brillantstaub.

Wir saßen unten in dem sogenannten Saal, einem niedrigen, himmelblau angestrichenen Raume, der hauptsächlich mit einem Porträt des Königs, einem alten gelben Klavier und einem mit Bierkrügen gefüllten Glasschrank möblirt war, und in dem die jüngst verflossenen zwei Stunden hindurch eine verunglückte Landparthie gelärmt, getanzt, Bier getrunken und Gaudeamus igitur gesungen hatte. Wir öffneten die Fenster, um den Bierdunst hinaus und die Abendluft herein zu lassen. In der Ferne zwischen der Pappelallee sahen wir die Landpartie im unordentlichen Gänsemarsch der nächsten Bahnstation entgegenstolpern.

Sonja setzte sich nun an das Klavier und sang Schumann's »Erstes Grün« und »Stirb Lieb' und Freud'« und viele andere süße schwermüthige Lieder. Der platte, dünne Ton des Klaviers erinnerte an eine Harfe und paßte sich eigenthümlich anspruchslos den schwärmerischen Weisen an. Schließlich stimmte Sonja noch »Des Mädchens Klage« an. Es war ihr Lieblingslied, und sie hatte mir dasselbe schon oft mit kindlicher Begeisterung und vollständiger Unbefangenheit vorgesungen. Diesmal aber mochte sie bemerken, daß ich sie während ihres Vortrages allzu aufmerksam beobachtete. Ihre Augen begegneten den meinen, das Blut stieg ihr in die Wangen, und sie brach inmitten eines Taktes ab. »Es ist doch ein dummes Lied,« rief sie, die Lippen aufwerfend.

»Warum?« fragte ich, ohne die Augen von ihr zu wenden, mit neckender Neugier.

»Die Worte sind unsinnig,« murmelte sie, »ich habe gelebt und geliebt! Ja, und was nun – damit soll Alles zu Ende sein? Ist das ein Lebenszweck? Schmähliche Genußsucht des Herzens, sentimentaler Egoismus.«

So eiferte sie, wendete ärgerlich das Köpfchen von meinem forschenden Blick ab und klimperte übermüthig einen Walzer von Strauß.

»Kinder,« rief jetzt Aurora Wikentiewna aus dem Studium ihres Bädekers heraus, »wie ich soeben entdeckt, befinden wir uns in der Nähe des Ortes, wo die berühmte Günderode sich erdolcht hat!«

Sonja interessirte sich für die Günderode, warum weiß ich nicht mehr; ich glaube, sie hatte einmal ein Porträt von ihr gesehen – ihre Gedichte hatte sie gewiß nicht gelesen. Es gelüstete sie nun, den Ort aufzusuchen, wo dereinst zwischen den Weidenbüschen am Rheinufer jenes bedauernswerthe Opfer deutscher Romantik mit durchstochener Brust gefunden worden war.

Meine Tante aber wollte nichts davon hören, noch einen Spaziergang zu machen. Sie fürchtete sich vor nassen Füßen und sagte phlegmatisch: »Du kannst mit Wolodja gehen, wenn Du den Platz durchaus sehen willst. Der Wirth gibt Euch einen Führer mit. Es ist ganz nahe. Im Bädeker steht's!« Und so wandelten wir denn um weniges später und von einem weißlockigen Bauernjungen begleitet, dem Rheinufer zu, wo wir uns in nasses Wiesengras versenken mußten, aus dem nur hier und da ein Baumstumpf emporragte, auf den man den Fuß setzen konnte. Sonja sprang behende von einem zum andern. Als nun endlich unser kleiner Führer stehen blieb und in seinem rheinischen Dialekt erklärte, »dies sei die Stelle, wo das Unglück geschehen sei,« senkte sie den Kopf und murmelte: »Arme Günderode!« –

Hierauf aber lachte ich nur und bemerkte trocken: »Sentimentaler Egoismus!«

Sie wandte sich ärgerlich von mir, wies die Hand, welche ich ihr gereicht, um ihr über eine Pfütze hinüber zu helfen, zurück, versuchte selbständig ihr Glück, strauchelte und fiel der Länge nach in den Schlamm. Eilig half ich ihr auf. Ihr armes Gesichtchen zuckte vor Schmerz. »Haben Sie sich wehgethan?« rief ich besorgt.

Etwas in meinem Ton, in meinem Blick mußte sie rühren. Sie wechselte plötzlich die Haltung und sagte mit einem komischen Seufzer: »Wladimir Alexandrowitsch, ich erlaube Ihnen mich auszulachen!«

Als ob ich dazu die geringste Lust gehabt hätte, mein Gott!

Unser kleiner Führer war mit seinem Trinkgelde davon gesprungen. Wir waren allein, sie und ich: rechts von uns der Rhein, links von uns ein an Goethe'sche Tragödien und Schumann'sche Lieder erinnerndes hochgiebliges Städtchen. Das Herz pochte mir laut in der Brust, ich fühlte meine Hände heiß und groß und meine ganze Gestalt ungewöhnlich plump werden. Die Zunge klebte mir am Gaumen, ich räusperte mich dreimal, ehe ich herausbrachte: »Sofia Iwanowna, ich habe Sie so schrecklich lieb . . .«

Mein Blick begegnete ihren großen neckenden Koboldaugen. Mein bißchen Contenance floß in nichts zusammen. Ich hätte mein Gefühl so gerne in poetische, geistreiche Worte gekleidet, nicht aus läppischer Eitelkeit, nur um bei ihr Terrain zu gewinnen; aber je schönere Worte ich suchte, destoweniger fand ich, und schließlich brachte ich nichts heraus als: »Ich weiß, daß Ihnen so etwas nicht einfällt, Sie haben lauter Großartigkeiten im Kopf – das bien public und Sibirien, aber – Sonja! könnten Sie wirklich nicht?« – ich sah sie flehend und gewiß unendlich albern an.

»Könnte ich was?« fragte sie mit quälender Gemessenheit.

»Meine Frau werden, . . . mich lieb haben!«

Ein wenig gerührt schien sie doch. – Das dauerte nur eine Minute, dann warf sie mit lustigem Muthwillen das Köpfchen zurück, lachte so frisch auf, daß es wie das Plätschern eines tollen Gebirgsbaches klang, und rief: »Wenn Sie sich Arme und Beine gebrochen haben, werden Sie mir vielleicht einiges Interesse einflößen – wenn Sie erst in die Bergwerke verbannt sind, folge ich Ihnen nach Sibirien per Etappe. In Ihren jetzigen bequemen und angenehmen Verhältnissen begnüge ich mich damit . . . zu thun, was Sie mir gegenüber so gnädig unterlassen haben, nämlich . . . Sie auszulachen!«

An jenem Abend war kein vernünftiges Wort mehr aus ihr herauszubringen: und dennoch fühlte ich mich unbeschreiblich glücklich. Die ganze Nacht schlief ich nicht vor seliger Erregung. Immer und immer wieder schritt ich die Diele meines weißgetünchten, nach Kalk und Fichtenholz riechenden Zimmerchens auf und ab; schließlich stellte ich mich an das offene Fenster, lehnte beide Arme auf die von der Nachtluft feuchte Brüstung und hörte dem Pochen meines Herzens zu. Was es mir alles für Unsinn zuflüsterte, was für seligen, herrlichen Unsinn! Manchmal horchte ich auf, ob sich denn in dem Zimmer unter mir nichts bewege. Ich hörte etwas wie einen leichten Flügelschlag und sagte mir jubelnd, daß Sonja vielleicht ebensowenig schlafen könne, wie ich selber. Der Morgen graute schon, als ich mich endlich niederlegte. Da beschlich mich eine unheimliche Empfindung. Mein Kopf wurde heiß, mein Körper schwer und steif. Die weißlich graue Dämmerluft schien sich über mir zu verdichten, zu verdunkeln, sich auf mich herabzusenken, wie ein schwarzes Bahrtuch. Ich wähnte zu versinken. – Plötzlich stierten ein Paar verdrehte weiße Augen durch das Schwarz, und eine krähende Falsettstimme flüsterte mir zu: »Auf Wiedersehen!«

Eine schreckliche Angst erfaßte mich. Der Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich grub mein Gesicht in die Polster und ächzte.

Als ich den nächsten Morgen aufstand, sah ich aus wie eine Leiche, fast wie ich jetzt aussehe. Ich war todesmatt; mir schwindelte beim Gehen.

Der Anblick Sonja's verscheuchte freilich momentan alle meine Schrecken. Mit Gewalt redete ich mir das, was ich nun meine fixe Idee nannte, aus. »Was,« so sagte ich mir, »ging es mich weiter an, daß ein alter Mann in Folge von ungeschickten Experimenten mit kalter Douche närrisch geworden war, sei es nun mein Großvater oder nicht!«

Trotz dieser virtuosen Beweisführung gegen meine Angst kehrte meine Verstimmung bald und mit verdoppelter Gewalt wieder. Mein elendes Aussehen erregte Sonja's Theilnahme.

Es war nach Tisch in dem himmelblauen Saal unten. Wir hatten soeben den Kaffee eingenommen. Meine Tante war über einer Nummer der Revue in einem harten rechtwinkligen Lehnstuhle eingeschlafen, und ich stand fröstelnd und schwermüthig in einer Fensternische, da trat Sonja zu mir ohne alle zögernde Verlegenheit, mit gerader Haltung und ernstem Blick.

»Habe ich Sie verletzt durch meine gestrigen Leichtfertigkeiten?« fragte sie mich.

»Sonja!«

Sie lächelte zu dieser vertraulichen Benennung und fuhr fort: »Konnten Sie denn im Ernste wähnen, ich sei . . . selbstsüchtig genug, Sie unglücklich haben zu wollen, nur um Sie trösten zu dürfen!«

Eine lange Pause folgte. Mein Kopf war voller Skrupel und Zweifel, mein Herz voll zwingender Sehnsucht. Durfte ich . . .?

Sie erröthete, wurde hierauf todtenblaß vor Scham und Schmerz – weil ich nichts sagte. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, empört wandte sie sich von mir ab. – Ich vergaß Alles und zog sie an meine Brust.

X.

Meine Tante gab uns ihren Segen zu unserer Verlobung. Ich war selig.

Bald merkte ich, daß ich Sonja bis dahin nur halb gekannt, daß sie mit einer eigentümlich stolzen Scheu ihre schönsten Eigenschaften vor mir verborgen hatte.

Sie bewies mir die liebevollste Rücksicht, hatte für mich die rührendsten Aufmerksamkeiten und blieb dabei doch zurückhaltend bis zur Schroffheit.

Und trotz alledem meldete sich meine alte Pein. Immer und immer wieder beschlich mich die abscheuliche Furcht, krampfte mir das Herz zusammen und machte mich so verschlossen und wortkarg, daß meine arme Braut es bemerken, ja sich davon verletzt fühlen mußte.

Eines Abends fühlte ich mich ganz besonders verstimmt. Es war noch immer am Rhein, auf einem roh gezimmerten Holzbalkon, der auf einen im Mondschein schlafenden Garten voll blühender Linden herabsah. Da trat Sonja neben mich und fing etwas zögernd an: »Wladimir, fehlt Ihnen etwas? – sind Sie krank? – oder drückt Sie ein Leid?«

»Bewahre,« entgegnete ich heftig, »wie kommen Sie nur auf den Gedanken?«

Ich erschrak selbst vor dem scharfen Klang meiner Stimme und verstummte.

»Dann! . . .« sie schöpfte tief Athem, »dann – – – kann ich nur Eines vermuthen . . . . Sie fangen an, meiner überdrüssig zu werden!«

»Ich!« rief ich entrüstet.

»Sie brauchen sich nicht zu scheuen, mir dies einzugestehen,« sagte sie mit mühsam stolzer Haltung und finsterm Blick, »ich bin keines von den schwächlichen Mädchen, die an der Lungensucht sterben, wenn . . .« sie erröthete und wandte den Kopf ab; »ich gebe Sie frei«, murmelte sie.

»Sonja,« fuhr ich auf, »wie um Gotteswillen konnten Sie sich einfallen lassen, daß . . . daß . . .«

»Daß ich Sie langweile,« vervollständigte sie halb lachend, halb weinend, »weil es so natürlich wäre. Ich bin nicht wie andere Mädchen, ich kann nicht kokettiren, ich kann nur . . .« sie stockte und sah verlegen und innig aus übergroßen Augen zu mir auf, fing erst an, am ganzen Körper zu zittern und dann bitterlich zu schluchzen.

»Sie können nur lieben – ist es das, was Sie sagen wollen?«

Sie nickte. »Und Sie?« fragte sie, mir tief in die Augen schauend.

Was ich ihr darauf antwortete? Nun, jedenfalls genügte es, ihre Zweifel zu verscheuchen. Dann standen wir noch ein Weilchen nebeneinander, stumm und glücklich. Der Nachtwind seufzte in den Bäumen, und hier und da glitt eine blasse Lindenblüthe, die der Mond todtgeküßt, leise nieder auf den Boden. Plötzlich stahl Sonja ihre kleine Hand in die meine.

»Und nun, Wolodja, beichte mir, was Dich so traurig macht,« flüsterte sie.

»Nichts, worin Du eine Rolle spielst, mein Täubchen,« erwiderte ich.

Da legte sie das Köpfchen mit schüchtern zögernder Zärtlichkeit auf meine Schulter. »Und nichts, worüber ich Dich trösten könnte?« hauchte sie so leise, daß ich ihre Worte nur mit dem Herzen hörte.

Wie ich sie anbetete! Wenn ich daran denke – mir wird angst und weh. Ich begreife nicht, daß wir beide ein und derselbe Mensch sind, der treuherzige Bursche von damals und ich. Mir ist, als müßte ich seither die Seele gewechselt haben.

XI.

Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief von meinem Bruder Boris. Im ersten Moment erkannte ich seine Schrift nicht. Sie war steif und verschnörkelt und an mehreren Stellen von, mir natürlich völlig unleserlichen, Sätzen in chinesischen Schriftzeichen unterbrochen. Er schrieb sehr viel von einem großartigen Project, die allgemeine Wehrpflicht in China einzuführen. »Mit der chinesischen Armee,« schloß er sein Schreiben, »wage ich es kühn, Europa zu befreien, und alle Dynastien und Vorurtheile mit einem Ruck um hundert Jahre hinter die Gegenwart zurückzuschieben«

Ich wußte, daß mein Bruder sich ehemals viel mit Nationalöconomie, in letzter Zeit viel mit dem Chinesischen beschäftigt hatte, was offenbar etwas von dem Inhalt des Briefes erklärte. Dennoch blieb er räthselhaft genug. Umsonst versuchte ich mir die verschiedenen Ungereimtheiten des seltsamen Schriftstücks als absichtliche und humoristische Uebertreibungen zu deuten – der Eindruck, den dasselbe auf mich hinterlassen, blieb unheimlich und verstimmend.

Da mein Bruder den lebhaften Wunsch ausgedrückt hatte, mich bald zu sehen, und zwar in Baden, wohin er mir von Paris aus entgegenreisen wollte, so begab ich mich auch richtig in dieses berühmte Russenelysium, wohin mir meine Tante, welche indessen noch eine Jugendfreundin in Bonn besuchen wollte, baldigst zu folgen versprach.

Ich kam nach Baden, fand aber weder meinen Bruder noch einen seine Abwesenheit erklärenden Brief in dem von ihm bestimmten Hotel. Mich unsäglich langweilend, wartete ich einen . . . zwei Tage. Der dritte Tag naht seinem Ende – und von Boris keine Spur. Da . . . wie gut ich mich dessen erinnere! Es war gegen Abend und sehr schwül. Ich saß bei heruntergelassenen Gardinen an meinem Schreibtisch und hatte soeben einen Brief an Sonja beendet. Nun griff ich nachlässig nach einer französischen Zeitung, einem Figaro. Ich las einen Wetterbericht, dann eine komische Anecdote über die Fürstin B., dann einen »sensationellen Fall«. – –

Er handelte von »einem russischen Kavalier, den ganz Paris kennt, einem Original mit despotischem Charakter und liberalen Ideen – Fürst S . . . . Derselbe ist gestern im Bois an den Wagen des Kaisers getreten und hat, ihm die Hand entgegenstreckend, ausgerufen: »mon cousin, puis-je compter sur vous?« Er hielt sich für den Kaiser von China. Fälle von Geistesstörung scheinen schon öfters in der Familie S . . . . vorgekommen zu sein. Der vornehme Kranke befindet sich bereits unter der ärztlichen Aufsicht des Doktor Blanche!«

Der vornehme Kranke war . . . mein Bruder Boris.

Wie ich die folgenden drei Stunden verlebte . . . ich weiß es nicht. – Sie sind in meiner Erinnerung nichts als ein schwarzer Fleck, vor dem mir graut. Als ich wieder zur Besinnung kam, war das Erste, worauf mein Blick fiel, mein Brief an Sonja.

Ich brach ihn auf und las ihn zweimal langsam vom Datum bis zur Unterschrift durch. Dann zerriß ich ihn in lange schmale Streifen.

Jetzt war alles zu Ende.

Es fiel mir ein, daß meine Tante mich beauftragt hatte, Zimmer für sie und meine Braut zu bestellen. In kürzester Frist würden beide in Baden eintreffen. Einem Wiedersehen mit Sonja durfte ich mich nicht aussetzen, dies mußte auf jeden Fall verhindert werden. Aber wie? –

Sollte ich ihr ganz einfach den Abschnitt des Figaro zusenden, und darunter die Worte setzen: »Sie sehen, es kann nicht sein!« –

Am einfachsten wäre es wohl gewesen, aber bei dem bloßen Gedanken wurden meine Wangen heiß. Ich schämte mich unbeschreiblich, ihr zuzugestehen, was ich fürchtete. Nun, etwas mußte geschehen. Ich versuchte, ihr zu schreiben. Die Worte kamen mir nicht, ich konnte meine Gedanken nicht sammeln und kritzelte immer und immer wieder ihren Namen; »Sonja – Sonja – Sonja! –«

Dabei war mir's, als rolle mir eine kleine Kugel durch den Kopf wie beim Roulette, und in den Ohren klang mir's unaufhörlich: »Sonja – Sonja!«

Mein Herz wurde mir immer größer und schwerer in der Brust. In allen Gliedern fühlte ich die schmerzlichste Müdigkeit. Die Sonne war im Sinken; endlich außer mir, halb verrückt vor Aufregung und Schmerz, brachte ich zwei Sätze zusammen. Sie waren französisch und lauteten:

»Mademoiselle!

Unsere Verbindung ist unmöglich. Ich hatte mich in mir selber getäuscht.

Suworin.«

Diesen rohen, widerwärtigen Zettel steckte ich, ohne denselben auch nur durchgelesen zu haben, in einen Umschlag und schickte ihn augenblicklich auf die Post.

Dann . . . dann ging ich in die Conversationssäle, setzte mich an den Roulettisch und gewann rasend.

Ich ließ mich mehreren Damen vorstellen, entdeckte zu meinem Erstaunen, daß ich plötzlich geistreich geworden war und machte spitze Bemerkungen über Alles.

Das Herz hämmerte mir nur so in der Brust, meine Hände und Füße waren eiskalt, mein Athem gehemmt. Zwei Tage machte ich noch ähnliche unsinnige Versuche, mich zu zerstreuen, meinen Schmerz todt zu schweigen, am dritten konnte ich nicht mehr weiter, sperrte mich in mein Zimmer ein und ließ mein armes Herz toben, wie es eben wollte. – Nun aber schlich sich durch mein maßloses Leid unsagbar quälend die Erinnerung an jede Einzelnheit meines verlorenen Glücks. Ich sah Sonja vor mir, meine Einbildungskraft zauberte mir jede Stunde zurück, die ich mit ihr verbracht, anstatt die Erinnerung zu bannen, reizte ich sie – mein ganzes Sein strebte in die Vergangenheit zurück. –

Da bringt mein Diener einen Brief von meiner Tante. Sie meldet mir ihre Ankunft, bittet mich für den Abend zum Thee und berührt die rohen Zeilen, mit denen ich meine Verlobung gelöst, mit keinem Wort.

Ich bin vernichtet.

Sie ist in meiner Nähe – ich könnte sie noch sehen, noch sprechen . . . O, nur noch einmal, nur noch ein einziges Mal. Schon fahre ich auf, schnelle aus meinem Fauteuil empor, will zu ihr stürzen – und sinke dann doch wieder todesmatt zurück. Ich darf nicht!

Die Dämmerung bricht herein. Da öffnet sich die Thüre, ich blicke auf. Vor mir steht Sonja mit Augen wie eine Gewitternacht.

Zitternd raffe ich mich auf. Ein schreckliches Schweigen herrscht zwischen uns beiden. Die Angst lähmt mich – die Scham sie.

Endlich macht sie einen Schritt vorwärts, faltet die Hände und schöpft tief Athem. »Wolodja!« flüstert sie, und in ihren düstern Augen scheint die Sonne aufzugehen.

Ich . . . nun ich zucke die Achseln und murmele verlegen, erbärmlich: »Sofia Iwanowna!« Sie erröthet und zeigt auf ein Papier, welches sie in der Hand hält, dann beginnt sie stotternd und mit gebrochener Stimme: »Vor drei Tagen habe ich einen sehr häßlichen Brief erhalten, der mit Ihrem Namen unterzeichnet war; ich hielt ihn für eine Fälschung, die Schrift schien so fremd . . . wäre er dennoch von Ihnen?«

»Ja, Sofia Iwanowna!«

Sie zerreißt mein Schreiben langsam in zwei Stücke, die auf den Teppich fallen, und schaut mich dabei an, so traurig, so herzzerreißend, als wollte sie sagen: »War Alles Lüge?« Nach einer Pause murmelt sie leise, kaum verständlich: »Hat mich, ich wüßte nicht, wie das gekommen wäre, aber . . . es könnte dennoch sein, hat mich irgend jemand verleumdet?«

»Nein!«

Noch immer steht sie da, wie angewurzelt und sucht zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Das Blut steigt mir zu Kopf, ich fühle, wie ich daran bin, ihr zu Füßen zu sinken, meine ganze Selbstbeherrschung schwankt. »Entfernen Sie sich,« rufe ich hastig – außer mir, »um des Himmels Willen! Es könnte Sie Jemand hier sehen!«

»Und Sie glauben, daß mir daran noch etwas liegen könnte?« sagt sie tonlos. Weder Bitterkeit noch Vorwurf, nur eine große, schmerzliche Verwirrung spricht aus ihrem Wesen. Sie wandte sich zum Gehen. Mir war wie einem, der unter dem Galgen steht. O, nur noch eine Minute lang sie sehen, sie sprechen hören, ehe Alles um mich herum öd und schwarz wird.

»Verzeihen Sie mir!« murmelte ich.

Sie schüttelte das Köpfchen. »Was ist da zu verzeihen?« seufzte sie, »leben Sie wohl!« und damit reichte sie mir ihre Hand.

Ich wagte es nicht, dieselbe zu berühren, und röchelte nur ganz von Sinnen: »Gehen Sie . . .!«

Sie ging. – Die Schlinge um meinen Hals war zugezogen, es war schwarz vor meinen Augen. Ich tappte um mich wie ein Blinder – ich schluchzte!

Da hör' ich einen halberstickten Jubelschrei. Sie liegt an meiner Brust, ihre warmen Arme schlingen sich um meinen Hals, und ihr liebes Köpfchen schmiegt sich zärtlich an meine Schulter.

»Es ist ja alles sinnlose Verstellung,« jauchzt sie, »ach, ich wußte es ja . . . ich fühlte es. Es ist der alte Jammer über Dich gekommen, der Jammer, den Du nicht mit mir theilen willst. – Wolodja, mein Herz, mein Kleinod, bin ich denn nicht würdig, Dir ihn tragen zu helfen?«

Da beherrschte ich mich nicht mehr. Ich küßte ihre Haare, ihre Schläfen, ihre Wangen und schluchzte dabei wie ein Kind. Mir ist's als müsse der Schöpfer ein Wunder wirken, das mir mein Glück ermöglicht.

Da schleicht sich der Wind zwischen den Gardinen in das Zimmer herein, fegt knisternd über die Papiere auf meinem Schreibtisch hin und wirft mir wie hohnlachend ein altes Zeitungsblatt vor die Füße: die verhängnißvolle Nummer des Figaro! –

Was in diesem Augenblick in mir vorging . . . ich kann es nicht beschreiben, auch hat es sich nie wiederholt. Mir war's, als zuckten in meinem Kopf tausend schwarze, hohnlachende Teufelchen durch einen feuerrothen See – und zu gleicher Zeit, als stieße mir jemand ein Messer in das Herz; und mir war's auch, als müsse ich lachen, lauter, als alle die Teufelchen, und zugleich heulen vor Schmerz – und etwas zermalmen, vernichten – und sei es das Liebste und Schönste auf der ganzen Welt.

Mir gegenüber stand ein Spiegel. Mein Blick fiel hinein. Ich sah die scheußliche Verzerrung meiner Züge, sah, wie meine Augen gegen die Schläfen zu schielten, gleich denen eines Besessenen; und dann hörte ich mich plötzlich lachen, laut, gellend.

Es war vorbei! Ich kam zu mir. Aber zu spät! – Sie hatte begriffen! Sie war vor mir erschrocken.

Bis an mein Lebensende wird mich der Blick verfolgen, den sie auf mich richtete, während sie, die Arme weit vorstreckend, als wehre sie einen Schlag von sich ab, das Zimmer verließ.

Sie hatte begriffen! Aber der Kampf war noch nicht zu Ende. Sie wollte mich nicht verlassen, auch jetzt nicht. – Sie schrieb mir, Gott, wie sie schrieb! – Sie wollte trösten und stützen, wo sie nicht lieben durfte! –

Ich sah sie nie mehr.

Sie kehrte mit meiner Tante nach Rußland zurück, lebte dort abgeschlossen von der Welt in ihrem Dorf. Ich glaube, sie war sehr wohlthätig. Später hörte ich – sie sei in die Bergwerke verbannt worden. – Sie mag wohl Mitleid mit dem Volke gehabt haben – – und das . . . das ist bei uns ein Verbrechen. – Sie ist todt.

Ich – – – bin geworden, was Sie wissen!«

Suworin schwieg. Mir war der Hals wie zugeschnürt.

»Sie möchten wohl gern ihr Gesichtchen sehen,« sagte er müde, und, sich erhebend, öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und zeigte mir eine kleine Zeichnung in einem runden Rahmen. »Da nehmen Sie!« er reichte mir das Bildchen, ohne es anzuschauen.

Mein Blick heftete sich darauf. Ja, es war ein liebes Gesicht – – ein liebes, träumerisches Kindergesicht mit übergroßen Ahnungsaugen!

Da hörte ich neben mir tief athmen. Suworin blickte mir über die Schulter. Er legte die Hand an seinen Hals, eine Convulsion durchzog seinen Körper – er wies mir die Thür! –

*           *
*

Noch einige Tage hielt sich Suworin von den Menschen fern. Ich dachte, er habe dem Boulevard entsagt. Da, eines Tages zupfte mich einer meiner lustigen Pariser Kameraden am Aermel.

»Tiens, St. Mabille!« rief er.

Durch das wirre Menschengedränge zog sich mit gebückter Haltung, schlotterndem Paletot, zu kurzen Hosen, zu langem Haar, den Cylinder auf dem Hinterkopf, die rechte Schulter beim Ohr, mit gleichgültiger Impertinenz allen Damen ins Gesicht gaffend, der ewige Jude des Boulevard – »Memento mori!«

Ich wollte ihm die Hand reichen, er sah mich kalt blinzelnd, fremd an, und schob mit leichtem Nicken an mir vorbei.

Unsere Freundschaft war vorüber – er hat nie mehr, außer in der förmlichsten Weise, das Wort an mich gerichtet.


 << zurück weiter >>