Ossip Schubin
Im gewohnten Geleis
Ossip Schubin

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Sechstes Kapitel

Die Nacht schlief Ronsky unruhig, er träumte dies und das. Allerhand Dinge, die er lieber nicht geträumt haben wollte. Es dämmerte noch, als er plötzlich mit heftigem Herzklopfen erwachte. Er kraulte sich den Kopf. Darüber, daß sein Blut erhitzt und in Wallung gekommen war, konnte er sich keiner Täuschung hingeben. »Sollte ich mich wirklich in die Nixa verliebt haben?« fragte er sich.

Die Leidenschaft ist gewöhnlich eine Gefühlsüberschwemmung, die langsam am Verstand emporsteigt, bis er endlich darin untergeht. Es gibt einen Augenblick, in welchem der Verstand die Flut noch steigen sieht; wer ihn benutzt, um mit seinem Verstand zu entfliehen, der ist gerettet. Aber die wenigsten benutzen ihn. Fast alle legen sich die Sache dahin zurecht, daß die Furcht vor der angenehmen Gefahr unnötig ist. Entweder sind sie überzeugt, daß die Gefahr vorüber, die Flut im Sinken ist, oder sie reden sich ein, daß gar keine Gefahr besteht, daß die schwüle Flut doch nicht bis zu ihrem Verstand steigen könne.

Zu letzteren gesellte sich Hans Ronsky. Am Anfang seines Lebenslaufes hatte eine ganze Provinz seinen Verstand überschätzt, jetzt überschätzte er ihn selber. So dumm würde er doch nicht sein, die Tochter seines Halbbruders und einer russischen Cocotte zu heiraten! Über ein herzliches Getändel, wie es zwischen Vormund und Mündel fast vorgeschrieben war, durften seine Beziehungen zu ihr nicht hinausgehen; aber vielleicht war selbst das herzliche Getändel zu viel. Er mußte vorsichtig sein, nicht um seiner selbst willen – denn sich hatte er in der Hand – aber des heißblütigen, zu rascher Begeisterung geneigten jungen Mädchens halber. Ihr unschuldiges Herz konnte Feuer fangen, oder sie konnte sich etwas in den Kopf setzen, und das mußte um jeden Preis vermieden werden. Das Beste war, sie heiratete Doppelberg – darin hatte sein Vetter Max recht, er selbst wollte ihr im gegebenen Fall zureden. Indessen wollte er durch eine betonte Väterlichkeit, die mit einer größeren Zurückhaltung gepaart war, zeigen, daß ihre Gefühlsüberschwenglichkeiten ihn ein wenig erschreckt hatten, daß sie sich keinen unsinnigen Hoffnungen hingeben durfte.

Als er darüber mit sich einig geworden war, hielt er die Sache eigentlich für erledigt. Im übrigen, wenn er die geringste ernstliche Veranlassung dazu sehen würde, so zum Beispiel eine gesteigerte Erregung bei dem jungen Mädchen, würde er nicht zögern, seine Zelte in Wodanka abzubrechen. Aber die gesteigerte Erregung bei Monika blieb aus, vielmehr entzog sie sich seiner Beobachtung.

Als Hans den Tag, nachdem er sich den Knöchel verstaucht hatte, in den Salon heruntergehumpelt war, um sich dort auf einem Diwan auszustrecken, setzte sich seine hübsche Nichte ihm zu Füßen und fragte, ob er wohl wünsche, daß sie ihm die Zeitung vorlese. Hierauf erwiderte er freundlich, aber abweisend: »Ich danke, Monika, du bist sehr liebenswürdig – aber ich bin kein guter Zuhörer, ich lese die Zeitung lieber selbst.«

Sie fuhr zusammen und warf ihm aus ihren großen Augen einen gekränkten und zornigen Blick zu. Dann aber sagte sie kühl: »Wie du willst, Onkel Hans. Es war nur, weil du mir gestern Vorwürfe gemacht hattest, da wollte ich meine Pflicht thun.« Damit verließ sie das Zimmer.

Von da an hatte sich Hans über keine rührenden Zutraulichkeiten und kindlichen Zuvorkommenheiten ihrerseits mehr zu beklagen. Im Gegenteil kam ihre Zurückhaltung nicht nur der seinen gleich, sondern übertraf sie noch um ein gut Teil.

Hans hatte seinen Zweck erreicht und war zufrieden. Sie hatte begriffen. Es war alles in Ordnung und vorläufig gar keine Veranlassung, die Zelte in Wodanka abzubrechen.

Sie hatte begriffen. Alles Mögliche hatte sie begriffen. Hans hätte sich eigentlich wundern müssen, wie gut sie begriffen hatte, unter anderem, daß sie ihre ganze Taktik ändern müßte, wenn sie nicht alles, was sie bereits gewonnen geglaubt, für immer verlieren wollte.

Und das wäre ihr schrecklich gewesen, nicht wegen Rang und Stellung, die sie verscherzt hätte – Rang und Stellung waren ihrer wilden Natur eigentlich eine Last –, sondern weil sie in Hans Ronski, verliebt war.

Es gibt Frauen, die gänzlich den Kopf verlieren, wenn sie lieben, andere wieder gibt es, deren Schlauheit dem Manne gegenüber zunimmt mit der Leidenschaft; zu denen gehörte Monika.

Sie hatte noch nicht orthographisch schreiben können, als sie von ihrer Mutter getrennt worden war; aber wie man es anstellen müsse, einem Manne den Kopf zu verdrehen, das hatte sie genau gewußt. Von ihrer Mutter hatte sie die Gewohnheit einer raffinierten Körperpflege geerbt – die Gewohnheit, sich stark und eigentümlich zu parfümieren und, was sie an physischer Schönheit besaß, zur Geltung zu bringen. Ohne daß je viel Worte darüber gefallen wären zwischen ihr und ihrer Mutter, wußte sie mehr von der Kunst, einen Mann zu fesseln, als Frauen wie Marie Rheinsberg je lernen. Noch tadellos rein im beschränktesten, wörtlichsten Sinne, war ihre Phantasie doch durch den Austausch von Vertraulichkeiten vielwissender Freundinnen, durch das Lesen von Romanen mit deutlich ausmalenden Schilderungen ganz und gar verderbt. Sie wußte genau, was einen Mann reizen konnte. Infolgedessen gebot sie im höchsten Maße über die spitzfindigste aller weiblichen Künste: sich abwechselnd in eine züngelnde Flamme und in einen schillernden Eisblock zu verwandeln.

Augenblicklich verwandelte sie sich Hans gegenüber in einen Eisblock. Und Hans hatte nichts dagegen einzuwenden, so lange er fest davon überzeugt war, daß die Verwandlung auf seine Veranlassung hin stattgefunden hatte, und so lange kein zweiter Mann sich zwischen ihn und das junge Mädchen stellte. Im übrigen hatte er gar nicht die Absicht, seinen Aufenthalt in Wodanka ungebührlich zu verlängern, nur fand er immer neue zwingende Gründe zu bleiben. Erstens hätte ihm sein kranker Fuß beim Reisen noch Schwierigkeiten bereitet, und zweitens waren die geschäftlichen Angelegenheiten, derentwegen er nach Wodanka berufen worden war, nicht erledigt, denn der Doktor Hampe, dem die Durchführung anheimgestellt worden war, hatte sich dagegen gesträubt, die Verantwortung auf seine Schultern zu nehmen – eine aufdringliche Gewissenhaftigkeit, die ihm Graf Miroslaw sehr verübelte. Wozu hatte man denn einen Advokaten, wenn nicht dazu, daß er einem Entscheidungen und die vorangehende mühsame Gedankenarbeit ersparte.

Doktor Hampe bestand darauf, den beiden Besitzern der durch die Expropriation bedrohten Baugründe die Pläne der Bauplätze, die Grundrisse der in Aussicht gestellten Parzellierungen vorzulegen, ihnen die Schwierigkeiten genau auseinanderzusetzen, ehe man sich entschied, ob man den ungerechten Forderungen der Regierung kleinmütig nachgeben oder den Prozeß mit ihr führen wollte. Der Doktor hatte seinen Besuch in Wodanka angesagt; der mußte nun in jedem Fall abgewartet werden.

Hans wartete ihn ab. Der Mann des Gesetzes, dringend beschäftigt mit einem Erbschaftsprozeß, wurde immer wieder verhindert, und so war der Mai vorüber, als der Anwalt endlich telegraphisch sein Kommen ansagte.

Graf Miroslaw harrte ihm mit einer gewissen vergnügten Feierlichkeit entgegen wie allen Gästen. Er langweilte sich manchmal auf dem Lande, besonders im Frühjahr, wo man dem Jagdsport eigentlich nur mäßig frönen durfte. Nun gar im Mai, wo's noch so oft regnete. Gäste brachten doch eine gewisse Abwechselung in dieses ewige Einerlei. Infolgedessen teilte er seiner Gattin sofort nach dem Empfang des Telegramms mit, daß man den »guten Hampe« doch auffordern müsse, über Nacht zu bleiben. Im übrigen erteilte er dem Schloßwärter selbst Befehle, welches Zimmer er für den Doktor herzurichten habe, und beaufsichtigte das Menu.

Als nun der Doktor Hampe erschien, empfing ihn Graf Miroslaw vor dem Schloßportal im hellgrauen Sommeranzug, strahlend vor Gastfreundschaft, das Bild des leutseligen liebenswürdigen Kavaliers, von dem etwas dünnen grauen Scheitel bis zu den Spitzen seiner schmalen gelben Juftenhalbschuhe.

»Willkommen, mein lieber Hampe!« Er schüttelte ihm kräftig die Hand. »Willkommen!«

»Ich hoffe, ich erscheine nicht zu ungelegen, Herr Graf,« entgegnete der Rechtsfreund. »Aber es ist dringend notwendig, daß ich die Herrschaften genau in die Sachlage einweihe.«

»Mein lieber Hampe, wenn Sie durchaus darauf bestehen, mich mit dem Einblick in die geschäftliche Lage ...hm ... hm ... konfus zu machen, so sei's Ihnen vergönnt – nur ... ebenso gut könnten Sie mir Einblick in die Sternkarte aufzwingen und dann von mir verlangen, ich solle meine Meinung über den Kurs eines Schiffes abgeben. Ich verstehe rein nichts davon, gar nichts!«

»Herr Graf ...«

»Na ja, na ja, Sie sollen Ihren Willen haben, Doktorl, aber jetzt geben Sie mir ein wenig Ruh',« rief Graf Miroslaw, »und lassen Sie das Geschäftliche Ihres Besuches nicht allzu sehr in den Vordergrund treten. Sie sind unser Gast und Sie halten sich, hoffe ich, etwas länger bei uns auf. Viel haben wir Ihnen freilich nicht zu bieten.« Dabei warf er einen selbstbewußten Blick auf seine reizende Umgebung.

Graf Miroslaw war sich trotz seiner überströmenden Gastfreundschaft und aufrichtigen Liebenswürdigkeit des Umstandes deutlich bewußt, daß er dem Doktor durch diese Aufforderung, sich als Gast in Wodanka zu fühlen, eine große Ehre erwies. Infolgedessen überraschte es ihn etwas unangenehm, als der Doktor ziemlich trocken erwiderte: »Ein Geschäftsmann wie ich ist leider nicht nur zur Unterhaltung auf der Welt, sonst würde ich mit Vergnügen meine Zeit bei Ihnen verlieren, Herr Graf. So geht es leider nicht. Ich muß sogar die Herren bitten, mir recht bald ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und hoffe ich, daß Sie mir nachmittag eine Gelegenheit zur Disposition stellen können, Herr Graf!«

Graf Miroslaw kam plötzlich zu der Ueberzeugung, daß er sich wieder einmal »vergaloppiert« hatte. Einem Menschen, der den Unterschied zwischen einer »Gelegenheit« und einem Miroslawschen Wagen nicht zu fassen gelernt hatte, dem konnte man mit einer Einladung nach Wodanka kein Vergnügen machen.

Hierauf änderte er sofort seinen Ton und sagte, sich zu seinem Kammerdiener wendend, der drei Schritte hinter ihm im Thorweg stand: »Führen Sie den Herrn Doktor in sein Zimmer, Waschaty! So sehr Ihre Minuten gezählt sind, Doktor, den Reisestaub werden Sie vielleicht doch abschütteln wollen vor unserer Konferenz. – Auf Wiedersehen!«

Und mit der Empfindlichkeit eines verkannten Liebenswürdigkeitsgenies drehte sich Graf Miroslaw auf seinem Absatz um und überließ es dem getreuen Waschaty, seinem Rechtsfreund die Honneurs zu machen.

Der Wagen, welcher den Doktor abgeholt, hatte auch die Post heraufbefördert. Hans, dem ein Brief auf sein Zimmer gebracht wurde, erschrak, als er die Schrift der Adresse erkannte. Es war die Schrift Marie Rheinsbergs. Er runzelte ein wenig die Stirn, sein Herz klopfte stark; es kostete ihm Mühe, den Brief zu öffnen. Aber als er es endlich doch that, überkam ihn eine unendlich angenehme, warme Empfindung. Ihm war zu Mute – wie ... ah, er hätte es anfangs gar nicht zu sagen gewußt wie! ... Dann erinnerte er sich ... wie wenn seine Mutter, als er noch ein halbes Kind war, ihm verzeihend über den Kopf strich, nachdem sie ihn kurz zuvor gestraft hatte. Ja, genau so war ihm jetzt zu Mute.

Der Brief lautete:

»Lieber Hans!

Es hat mir sehr leid gethan, so lange nichts von Ihnen zu hören, besonders leid, weil Sie Natek verlassen hatten, gerade nachdem der erste Mißton in unsere Freundschaft gedrungen war.

Ich hatte so darauf gerechnet, meinen Brief mündlich zu erläutern, die Schroffheiten, welche jede Aufrichtigkeit mit sich bringt, zu der man sich mühsam hat zwingen müssen, wieder gut zu machen.

Gewiß hatten Sie vor Ihrer Abreise keine Zeit mehr, zu mir herüberzukommen, aber ein paar Zeilen hätten Sie mir schreiben können, nur um mir zu sagen, daß Sie mir meine Aufrichtigkeit nicht übel genommen haben. Denken Sie, anfangs glaubte ich, daß Sie mir böse wären; aber jetzt verachte ich mich für den Verdacht. Durch Zufall hab' ich erfahren, daß Sie sich in Wodanka, wohin Sie dringender Geschäftsangelegenheiten halber berufen worden sind, den Fuß gebrochen haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid Sie mir thun, wie besorgt ich um Sie bin. Bitte, schreiben Sie mir, wie es Ihnen geht, wie und wann Sie sich das Bein gebrochen haben, wer Sie behandelt, mein armer Hans! ... Gerade Sie, der Sie das Stillsitzen so schlecht vertragen! Daß Ihnen das geschehen mußte! In zwei bis drei Monaten ist wohl alles in Ordnung – aber zwei Monate sind lang – schade darum!

Kann ich Ihnen in irgend etwas nützlich sein, so bitte, lieber Hans, schreiben Sie mir eine Zeile. Als barmherzige Schwester stellt sich Ihnen vollkommen zur Verfügung Ihre Ihnen treu ergebene

Marie Rheinsberg.

P. S. Bitte, lassen Sie mich nicht auf Antwort warten, ich bin sehr, sehr besorgt!«

Seine Augen blieben noch lange auf dem Briefe haften. Einen Moment glaubte er zwischen den Zeilen etwas recht Merkwürdiges zu lesen – die Abbitte einer Frau, die ihre Leidenschaft opfert, um der Freundschaft ein Hindernis aus dem Weg zu räumen. Aber seine schwankende Seele konnte überhaupt keinen Eindruck festhalten, nie einen Gedanken zur Ueberzeugung ausreifen lassen. Er war wie eine Pflanze, die beständig Knospen treibt und es nie zu einer ordentlichen Blüte bringen kann, viel weniger noch zu einer Frucht. Immerhin hatte Maries Brief sein Empfinden nach Richtungen zurückgelenkt, in denen es sich lange nicht bewegt hatte. Ein schwaches Echo jenes Gefühls mit geistiger Anregung verbundenen ruhigen Behagens, das ihn jedesmal überkommen hatte, wenn er den Fuß über die Schwelle von Sanssouci gesetzt, schwebte wie aus weiter Ferne zu ihm herüber. Es war wie ein sanfter Traum, einer jener Träume, in denen das Bewußtsein noch mit leichtem Zügel die tollen Sprünge der Phantasie leitet.

Und plötzlich weckte ihn etwas aus dem friedlichen Traum. Eine tiefe, fast rauhe Mädchenstimme, die rief: »Famos, daß Sie kommen! Steigen Sie nicht ab – ich habe nämlich selbst gar keine Lust abzusitzen. Nur der Johann eilte nach Haus. Sein Gaul war vier Wochen lang krank und durfte sich heute nur im mäßigsten Erholungstempo bewegen.«

Lange, bevor noch Monika mit dem Sprechen so weit gekommen war, hatte sich Ronsky mühsam hinkend zum Fenster geschleppt und spähte nun, hinter einem Vorhang verborgen, hinunter auf den großen von Rosenbüschen umhegten Sandplatz vor dem Schloß. Er sah Nixa auf einem etwas aufgeregten Grauschimmel, in einem vorzüglich sitzenden Reitkleid, auf den roten Haaren einen weichen grauen Filzhut; neben ihr Doppelberg in blauer Bluse, der längst verpönten und nie entwöhnten Vormittagstracht österreichischer Reiteroffiziere, sehr gut sitzend auf einem feurigen Irländer, dessen lange muskulöse Beine jedem Hindernis gewachsen schienen.

Man hätte schwer zu sagen gewußt, welcher von den beiden jungen Menschen sich besser ausnahm, der junge Mann oder das Mädchen. Hinter ihnen stand ein krummbeiniger Reitknecht, die Linke mit dem Zügel am Sattelknopf, während die Rechte sorgfältig dem Pferd an den Vorderbeinen herabtastete, um den Zustand der Muskeln zu prüfen.

»Wenn Komtesse erlauben, so führ' ich mein Pferd in Hof – is e abgehetzt – muse abg'rieben wern!«

»Führen Sie Ihr Roß, wohin Sie wollen, Sie Schafskopf!« rief ihm Monika ungeduldig zu, ohne ihn anzusehen, mit jener hoffärtigen Schroffheit, welche sie Untergebenen gegenüber fast immer an den Tag legte. »Aber Sie, Graf Doppelberg, begleiten mich noch bei einem letzten Galopp! Wissen Sie, so einen Galopp zum Atemverlieren, über die Wiese dort unter dem Park. Oder ist Ihr Roß auch schon hin?«

»Nun, ganz frisch ist der Tom nicht mehr, aber für Sie, Gräfin, pump' ich doch immerhin noch einen Galopp aus ihm heraus. Wenn's gilt, wird er sich eine Ehre daraus machen, in Ihrem Dienste zu sterben. Nur einen kleinen Ausschnaufer, dann geht's los. Uebrigens seh' ich Sie heute zum erstenmal zu Pferd, Gräfin. Ich wußte gar nicht, daß Sie reiten.«

»Leidenschaftlich!« entgegnete Monika. »Es ist das Einzige, was mich mein armer Papa gelehrt hat. Onkel Max wollte mich durchaus nicht aufsitzen lassen. Er behauptete, er habe keine Damenpferde im Stall. Na, da hab' ich mir denn ein Herrenpferd satteln lassen – es geht famos, sehen Sie.«

Sie setzte ihr Pferd in Bewegung, es riß an der von Schaum triefenden Kandare, bog den Hals schnaubend nach rechts und links, machte ein paar halsbrecherische Lançaden, die jede ungeschickte Reiterin sofort aus dem Sattel gehoben hätten. Doch ehe Hans noch Zeit gefunden hatte, ängstlich zu werden, bewegte sich das Tier mit gewölbtem Hals und gebogenen Vorderfüßen in einem kurzen und gleichmäßigen Staccatotrab um den Platz herum.

»Famos, Gräfin, famos!« rief Doppelberg in heller Begeisterung.

»Nicht wahr, und jetzt?« Sie wendet sich nach ihm um.

»Ich stehe zu Diensten!«

Hans sah sie nebeneinander den breiten Reitweg entlang traben, der auf die Wiese führte; sah sie in dem grünen Laub der Roßkastanien verschwinden. Noch aus der Ferne hörte er den scharfen Rhythmus des sich mehr und mehr beschleunigenden Tempos.

Er wendete sich vom Fenster ab mit geballten Fäusten, sein Atem ging schwer. Ein leichtes Klopfen an der Thür schreckte ihn aus seinen mißmutigen Gedanken empor.

»Hans, kannst du uns ein paar Augenblicke schenken?« fragte Graf Miroslaw, der sich persönlich heraufbemüht hatte, um den Vetter abzuholen. »Der Hampe wartet schon!«

»Hans, ist dir etwas? Du siehst ja miserabel aus,« fragt ihn teilnahmsvoll der Vetter, während beide zu der Konferenz hinabsteigen, die in dem sogenannten Audienzzimmer des Grafen stattfinden soll.

Aber Hans antwortet nicht, es ist weder ein vernünftiges noch ein unvernünftiges Wort aus ihm herauszubringen.

Mit unermüdlicher, aber vergeblicher Gewissenhaftigkeit breitet der pedantische Anwalt allerhand Grundrisse für den von der Regierung geplanten Bahnhofbau vor ihm aus und erläutert die Situation mit verwirrender Peinlichkeit, indem er seine Perioden abwechselnd mit: »Unter den obwaltenden Umständen ist zu bedenken ...« und »Andererseits darf nicht aus den Augen gelassen werden ...« einleitet.

Hans hört gar nicht zu, und doch steht auf seinem Gesicht ein Ausdruck gespannten Horchens. Aber nicht Doktor Hampe ist es, auf den er horcht; er horcht auf jedes Geräusch, das unter dem Fenster vorbeihuscht, auf jedes, das durch den Korridor zieht. Wie lang sie ausbleibt – ist sie vielleicht schon zurück? Hat sie sich ihres Reitkleides entledigt und tändelt mit Doppelberg im Salon? Ihm ist's, als krabbele ihm eine Armee von Ameisen durch die Adern, seine Handflächen brennen, sein Mund ist trocken. Das ganze Schloß erscheint ihm voll neckender Stimmen, Rascheln von Unterröcken und Klirren von Sporen. Mit einemmal hört er wirklich, was er bis dahin nur zu hören geglaubt, hört Sporengeklirr und daneben einen leichten weiblichen Schritt – dann Stimmen, eine männliche, dringende: »Bitte, bitte, Gräfin – seit zehn Tagen lassen Sie mich zappeln – darf ich hoffen auf den Cotillon?« Die weibliche Stimme antwortet einschmeichelnd kokett: »Haben Sie denn gezweifelt, daß Sie ihn schließlich doch bekommen, Ihren Cotillon, Graf Doppelberg? Für wen hätt' ich ihn denn sonst aufheben sollen?«

»Hm! hm!« räuspert sich Graf Miroslaw mit einem vielsagenden Blick nach der auf den Korridor mündenden Thür. »Hm! hm!« ... Dann mitten aus der Geschäftsverhandlung heraus bemerkt er: »Na, na! sie scheinen ja weiter zu sein, als ich geglaubt hatte, die Nixa und der Doppelberg. Bei dem Cotillon dürfte sich die Sache wohl entscheiden!«

»Also, meine Herren,« schließt der Doktor, »nachdem ich Ihnen das pro und contra ziemlich klar vor Augen geführt zu haben dächte, möchte ich über die Wünsche der Herrschaften, wie ich vorgehen soll, definitiven Bescheid erhalten...«

»Handeln Sie nach Ihrem besten Wissen und Ermessen,« erklärt Graf Miroslaw. »Was mich anlangt, so bin ich von vornherein mit jedem Weg, den Sie in dieser Angelegenheit einschlagen, zufrieden.«

»Ich ebenfalls,« murmelt Hans geistesabwesend.

Dann erkundigt sich der Hausherr noch liebenswürdig, zu welchem Zug der Doktor den Wagen wünscht, und die Sitzung ist aufgehoben.

Im Laufe des Diners wird Ronskys Zustand immer unerträglicher.

Monika und Doppelberg, welche nebeneinander gesetzt worden sind, plaudern munter miteinander und scheinen sehr ineinander vertieft. Sie essen ein Vielliebchen miteinander, sie lachen vertraulich über kleine Geheimnisse, in welche ihre Tischnachbarn nicht eingeweiht sind.

Gleich nach Tisch zieht sich Ronsky unter dem Vormunde, Briefe schreiben zu müssen, in sein Zimmer zurück. Er versucht, sich über seine Gefühle klar zu werden. »Hab' ich mir denn die ganze Zeit selber etwas vorgelogen, sollte ich wirklich verliebt sein in diese Kokette?«

Kaum hat er das Wort Kokette ausgesprochen, so möchte er es wieder zurücknehmen, es erscheint ihm als eine zu harte Bezeichnung für Monika.

»Was habe ich für eine Berechtigung, es ihr übel zu nehmen, daß sie sich mit dem hübschen Burschen, der es offenbar ernst mit ihr meint, unterhält? Sie hat mich ja tief genug in ihr Herz blicken lassen. Aber ich habe gethan, was ich konnte, sie mir zu entfremden. Mir war es selber darum zu thun, keine Hoffnung in ihr aufkommen zu lassen, mir war es darum zu thun, daß sie Doppelberg heiratet, ich wollte ihr ja sogar zureden. Und jetzt nehme ich ihr's übel, daß sie sich ohne mein Zureden selbst dazu entschlossen hat!«

Aber kaum, daß er diesen Gedanken formuliert hat, löst, wie das fast regelmäßig bei ihm der Fall, ein neues Bedenken seine Reflexionen ab. »Ich bin rein verrückt! Weiß Gott, ich muß mich zusammennehmen ... ich könnte am Ende wirklich.... Wäre was Sauberes, ein Mädchen heiraten, das sich in derselben Woche zwei Männern an den Hals geworfen hat – die Tochter einer elenden Abenteurerin, bei der sich das Blut der Mutter deutlich meldet! ... Ich reise ab – es ist wirklich das Beste, ich reise ab!« – –

Das Beste wäre es vielleicht gewesen, aber er reiste nicht ab.

Immer höher stieg die Hochflut seiner Leidenschaft an seinem von trockenen Prinzipien musterhaft verschanzten Verstand empor, höher, immer höher. Der geringste Zufall, und der Verstand sank unter in den schwülen Wellen. Hans versuchte, sich in die Erinnerung an Marie Rheinsberg zu flüchten, welche er offenbar als ein kühlendes Präservativ zu betrachten schien. Er entfaltete noch einmal ihren Brief und machte sich daran, ihn zu beantworten.

Die Antwort fiel ungewöhnlich herzlich aus, ja an gewissen Stellen erwärmte sich die Herzlichkeit bis zu einem Grade, der Mißverständnisse hätte heraufbeschwören können. Wie er sich auch abmühte, drängten ihm heute immer nur die zärtlichsten Beiwörter in die Feder.

Nein, das war nicht möglich! Er mußte den Brief noch einmal schreiben! Uebrigens warum denn? Warum sollte er Marie zum Beispiel nicht schreiben: »Wenn Sie auch von meiner Freundschaft längst überzeugt sein müssen, so wissen Sie doch nicht, bis zu welchem Grade ich Sie verehre. Sie sind die einzige Frau auf der Welt für mich; die anderen, mit denen ich manchmal getändelt habe, sind nicht wert, Ihnen die Schuhriemen zu lösen. Ich zähle die Minuten, bis ich von hier fort kann, um zu Ihnen zu eilen und Ihnen zu Füßen zu sinken!«

Ja, warum sollte er ihr das nicht schreiben? –-

Und doch zerriß er den Brief und schrieb einen anderen, der aber nur noch zärtlicher, inniger ausfiel als der erste. Die Worte darin machten den Eindruck, als wären sie von dem Gluthauch der Leidenschaft auf dem Papier zusammengeweht worden.

Diesen Aufsatz steckte Hans in einen Umschlag, adressierte ihn und trug ihn selbst in den Korridor hinunter, wo die für die Post bestimmten Briefe auf einen alten Eichentisch niedergelegt wurden. Hier holte sie der Kammerdiener ab, um sie in die schwarze Ledertasche zu stecken, welche täglich zweimal zu dem nächsten Postamt wanderte.

Nachdem Hans seinen Brief dort deponiert hatte, wendete er sich, um in sein Zimmer hinaufzuhinken. Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, vernahm er das Rauschen eines duftigen Batistkleides – Nixa – o, gewiß wieder mit Doppelberg!... Aber nein ... das Sporengeklirr, auf welches Hans horchte, fehlte.

Sein Herz klopfte – er blieb stehen. Das Rascheln hielt inne, offenbar war Nixa – wie genau er ihren Tritt kannte! – an den sogenannten Posttisch herangetreten, um gleichfalls einen Brief dort niederzulegen.

An wen sie nur geschrieben haben mochte? Er bückte sich ein wenig. Durch eine der mit grünen Pflanzen geschmückten, vergitterten Oeffnungen, welche die Stiegenwand unterbrachen, konnte er sie sehen. Sie stand neben dem Posttisch und hielt einen Brief in der Hand, seinen Brief, den Brief an Marie Rheinsberg. Offenbar interessierte sie die Adresse. Ihr Gesicht nahm einen unruhigen, gequälten Ausdruck an, ihre Augen blickten finster.

Sie ließ den Brief auf den Tisch fallen. Dann starrte sie wie geistesabwesend um sich. Plötzlich blieb ihr Blick auf dem Schrägen haften, an dem die Kleidungsstücke hingen, die man zu zwanglosen Spaziergängen in den Garten überzuwerfen pflegte. Sie ging darauf zu, erfaßte eines davon und fing an, den grauen Loden leidenschaftlich zu streicheln und zu küssen.

Um Hans drehte sich alles wie im Wirbel. Jeder Blutstropfen in ihm glühte, jede Fiber zitterte. Es war sein Regenmantel, den das junge Mädchen küßte.– –

Als er um zwei Stunden später, wie aus einer Betäubung erwachend, seines unsinnigen Briefes an Marie Rheinsberg gedachte und so rasch, als es sein lahmer Fuß zugab, hinuntereilte, um ihn noch rechtzeitig zurückzuziehen, fand er ihn nicht mehr. Der alte Kammerdiener, den er danach fragte, versicherte ihn: »Gräfliche Gnaden dürfen unbesorgt sein, der Brief ist schon seit anderthalb Stunden fort. Er ist gewiß schon mit der Abendpost befördert worden.«

In Wodanka sollte getanzt werden, und zwar zwei sehr schönen Nichten des Grafen Miroslaw zu Ehren, welche, erst kürzlich mit ihrem verwitweten Vater von den Rennen aus Pest zurückgekehrt, ihr in der Umgegend befindliches Schloß zum Sommeraufenthalt bezogen hatten.

Gegen vier Uhr des Tages, an welchem das Fest stattfinden sollte, kamen die Nichten in Wodanka vorgefahren, und zwar in einem echten englischen Mailcoach, hinter einem schäumenden, schnaubenden Vierergespann, das, von hoch aufgewirbeltem Staub umweht, wie auf Wolken einherzuschweben schien und von dem Gatten der älteren der beiden Nichten, einem jungen Ungarn, dem Grafen Bela Ungadyi, mit imponierendem Geschick gelenkt wurde.

Die beiden Nichten hatten noch zwei befreundete Komtessen mitgebracht, die sich zufällig als Gäste bei ihnen aufhielten. Ein Hauch von junger, ausgelassener Heiterkeit umgab die ganze Gesellschaft; es war, als ob der Genius der Lebensfreudigkeit als unsichtbarer Passagier mit auf dem Mail gesessen habe.

Der lebhaften Aufforderung des Hausherrn folgend, kam der noch immer hinkende Hans gleich mit dem Miroslawschen Ehepaar der fröhlichen Sippschaft entgegen. Graf Max hatte es sehr eilig, dem Vetter die schönen Nichten zu zeigen.

Durch die sich langsam senkende Staubwolke, welche dem Postzug bis an das Schloß gefolgt war, hörte Hans, der sich diskret ein paar Schritte im Hintergrund hielt, lachen und zwitschern. Es gab offenbar schrecklich viel auf der Welt, über das man lachen konnte. Eigentlich war für diese junge Gesellschaft das Lachen das Wichtigste im Leben.

Die Gräfin Clemence – so hieß die jüngere, ledige der beiden Nichten – hätte vielleicht noch ein gutes Wort fürs Tanzen eingelegt und die junge Gräfin Ungadyi fürs Küssen – aber damit wäre der Kreis ihrer Interessen geschlossen gewesen.

O, dieses frische, junge Lachen, das in dem vollen, den Park durchjauchzenden Frühlingsjubelaccord mit dem weichen Flüstern der Blüten, dem Summen der Insekten, dem Singen der Vögel zusammenfloß! Es war wie ein silbernes Glockenläuten, mit dem die Jugend ihren Lebensmorgen feierte.

Wie gut es klang... wie schön es war, jung zu sein. Und plötzlich kam es Hans zum Bewußtsein, daß er die eigentliche Jugend, die lustige, sorglose versäumt hatte mit lauter altklugen Grübeleien, vielleicht recht lobenswerten, aber entsetzlich sterilen Bestrebungen, und der Gedanke nagte ihm am Herzen wie ein Wurm.

Als man mitten zwischen dem Lachen und Zwitschern Zeit fand, ihn vorzustellen, mußte er gestehen, daß sein Vetter Max bei der Schilderung seiner Nichten ihre Schönheit durchaus nicht zu hoch gepriesen hatte. Besonders die jüngere, unverheiratete war eine unbeschreiblich reizvolle Erscheinung. Solche große, mandelförmige Augen, so bauschiges, in seiner wehenden, schwebenden Leichtigkeit an gekräuselten Wellenschaum erinnerndes Haar, ein so fein modelliertes Oval und so vornehm und kühn geschnittene Züge erinnerte sich Hans bis dahin nur auf den schönsten Frauenporträts von Lawrence gesehen zu haben.

Die Gräfin Ungadyi war ebenfalls sehr hübsch, wenn auch ohne das Strahlende, Sonnige in der Erscheinung ihrer Schwester. Sie kleidete sich nach der neuesten Mode, war sehr verliebt in ihren Mann und hatte seit einem halben Jahre ihre eigenen Ansichten über Nestlesches Kindermehl.

Auf der Veranda versammelte man sich zu einem frischen, einladenden Nachmittagsimbiß. Man genoß mit großem Appetit Erdbeeren mit Schlagsahne, Eiskaffee und verschiedentliche Kuchen, alles durcheinander, und lachte dazwischen immerfort.

Es gab, gottlob, gar so viel, über das man lachen konnte, auf der Welt!


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