Arthur Schnitzler
Die Gefährtin
Arthur Schnitzler

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elegantes Zimmer. Tapeten und Möbel in hellen, meist bläulichen Farben gehalten. Damenschreibtisch links vorn; Klavier rechts. – Rechts eine Thür, links eine Thür. Im Hintergrund eine große offene Thür, die auf den Balkon hinausführt. Blick auf die Landschaft: eine Straße, allmählig steigend, die weit hinausführt, abgeschlossen durch eine Friedhofmauer. Die Mauer ist nicht hoch, man sieht Grabsteine und Kreuze. Ganz fern, verschwimmend, mäßige Berge. Es ist später Abend, nahezu Nacht, die Landschaft liegt im Dunkel; auf der einsamen Straße fahle Mondbeleuchtung.

Robert kommt aus dem Zimmer rechts, geleitet zwei Herren, Professor Werkmann und Professor Brand.

Robert. Sie entschuldigen, meine Herren, hier ist es so dunkel; ich will ein Licht holen.

Werkmann. Aber lieber Freund, wir finden auch so den Weg.

Robert. Nur einen Augenblick. Ab.

Werkmann und Brand stehen allein im Dunkel.

Werkmann. Er ist sehr gefaßt.

Brand. Komödie.

Werkmann. Wenn man seine Frau begräbt, spielt man keine Komödie. Glauben Sie mir, ich habe das durchgemacht. Was hätte es für einen Zweck?

Brand. Sie kennen Pilgram noch immer nicht. Es wirkt doch großartig, am Nachmittag seine Frau begraben und am Abend zwei Stunden lang über wissenschaftliche Fragen diskutiren. Sie sehen – auch Sie fallen ihm darauf hinein.

Werkmann. Immerhin – man muß ein ganzer Mann sein.

Brand. Oder ein ganzer –

Robert mit einem Armleuchter, in dem zwei Kerzen brennen.

Robert. Da bin ich, meine Herren.

Das Zimmer ist nur mäßig beleuchtet.

Werkmann. Wo sind wir denn hier?

Robert. Es war das Zimmer meiner armen Frau. Hier kommen wir über die kleine Treppe direkt zur Gartenthür, und in fünf Minuten sind Sie an der Bahnstation.

Brand. Wir erreichen noch den Neun-Uhr-Zug?

Robert. Gewiß.

Die Thüre rechts öffnet sich, der Diener tritt ein; er hat einen Kranz in der Hand.

Robert. Was giebt's denn?

Diener. Herr Professor, man ist eben noch aus der Stadt hier gewesen, um diesen Kranz abzugeben.

Robert. Jetzt?

Werkmann. Wohl einer Ihrer Freunde, der die Nachricht zu spät erhalten hat. Sie werden sehen, morgen kommen noch mehr dieser traurigen Spenden. Ach ja – ich kenne das – leider!

Robert hat die Schleife gelesen. Von meinem Assistenten – Erklärend Er ist noch an der Nordsee.

Brand. Doktor Hausmann ist an der Nordsee?

Diener. Wo soll ich den Kranz hinlegen, Herr Professor?

Werkmann. Die Blumen riechen auffallend stark.

Brand. Natürlich! es sind Tuberrosen.

Robert. Ja, und Flieder – Zum Diener Auf den Balkon.

Diener thut wie befohlen; dann ab.

Werkmann. Ihr Assistent ist noch auf Urlaub?

Robert. Er kommt jedenfalls bald zurück – vielleicht schon morgen.

Werkmann. Sie werden sich wohl zu Beginn des Semesters von ihm vertreten lassen?

Robert. Keineswegs. Ich habe nicht die Absicht, in der Arbeit zu pausiren.

Werkmann ihm die Hand drückend. Sie haben recht, lieber Freund. Es ist der einzige Trost.

Robert. Auch das! Aber selbst wenn es nicht Trost wäre, – es ist sehr die Frage, ob wir das Recht haben, aus unserer kurzen Existenz ein Stück einfach hinauszuwerfen. Nachdem wir nun doch einmal so erbärmlich sind, das Meiste zu überleben – Er geht mit ihnen ab, ihnen voraus.

Werkmann zu Brand. Er hat seine Frau nie geliebt.

Brand. Lassen Sie das gut sein.

Alle rechts ab. – Bühne einige Augenblicke leer. – Olga tritt links ein. Sie ist in dunkler Toilette, ohne Hut; hat eine nicht schwere Pelzmantille umgeworfen. – Diener kommt vom Balkon.

Diener. Guten Abend, gnädige Frau.

Olga. Ist der Herr Professor vielleicht im Garten?

Diener. Der Herr Professor hat nur zwei Herren –

Olga macht ihm ein Zeichen, da Robert links eintritt, ohne Olga zu bemerken.

Robert indem er zum Schreibtisch geht. Sagen Sie, Franz, wissen Sie genau, wann der letzte Zug aus der Stadt hier ankommt?

Diener. Um zehn Uhr, Herr Professor.

Robert. So. – Pause. Es wäre möglich, daß der Doktor Hausmann noch heut' Abend kommt. Führen Sie ihn dann nur ohne Weiteres zu mir.

Diener. Hierher?

Robert. Wenn ich noch in diesem Zimmer sein sollte, hierher.

Diener ab. Robert setzt sich zum Schreibtisch, will ihn aufschließen.

Olga tritt hinter ihn. Guten Abend.

Robert befremdet. Olga?

Er steht auf.

Olga ist in einer Verlegenheit, die sie mit aller Mühe zu bemeistern strebt, was ihr für Augenblicke gelingt. Ich habe Ihnen heute den ganzen Tag nicht die Hand drücken können –

Robert. Wahrhaftig, kaum ein Wort haben wir miteinander gesprochen. Ich danke Ihnen. Reicht ihr die Hand.

Olga. Sie haben viele Freunde – heut hat man es gesehen.

Robert. Ja, die Letzten sind jetzt erst weggegangen.

Olga. Wer war denn so spät noch da?

Robert. Brand und Werkmann, dieser weinerliche Schwäger. Er ist fabelhaft stolz darauf, daß er im vorigen Jahre seine Frau verloren hat. Ja wirklich. Er redet wie ein Fachmann von diesen Dingen. Widerwärtiger Kerl. – Pause. Aber daß Sie noch so spät Ihre Villa verlassen haben?

Olga. Glauben Sie, ich habe Angst, allein über den Feldweg zu gehen?

Robert. Nein; aber Ihr Mann wird besorgt sein.

Olga. Oh nein. Er denkt wohl, ich bin schon auf meinem Zimmer und schlafe. Übrigens geh' ich sehr oft noch spät Abends im Garten spazieren, – das wissen Sie ja. Robert. In unserer Allee, nicht wahr?

Olga. »Unsere« –? Sie meinen die längst des Gitters?

Robert. Ja. – Ich denke immer, die ist nur für Sie und mich.

Olga. In der geh' ich oft allein herum.

Robert. Aber doch nicht Nachts?

Olga. Abends. Da ist sie am schönsten.

Robert. Ihr Garten hat überhaupt etwas Friedliches.

Olga. Nicht wahr? Herzlich. Drum müssen Sie auch bald wieder zu uns kommen. Sie werden sich bei uns wohler fühlen – als hier.

Robert. Das ist wohl möglich. – Er betrachtet sie; dann wendet er sich gegen den Hintergrund. Sehen Sie, da sind wir hinaus.

Olga nickt.

Robert. Sollte man glauben, daß das erst wenige Stunden her ist? Und können Sie sich vorstellen, daß da über diesem dunklen Weg die Sonne gelegen ist? – Pause. Wenn ich die Augen schließe, – ist plötzlich die Sonne wieder da. Sonderbar. Ich hörte sogar, wie die Wagen rollen. – Pause. – Er ist sehr nervös, spricht wie zerstreut. Sie haben Recht, es waren auffallend viel Menschen da. Wenn man bedenkt, daß die Leute aus der Stadt gekommen sind – das ist ja eine ganze Reise. – Haben Sie den Kranz von meinen Schülern gesehen?

Olga. Freilich.

Robert. Prächtig, nicht wahr? – Überhaupt diese Teilnahme! Einige von meinen Kollegen haben ihren Urlaub unterbrochen, um herzukommen; es ist eigentlich außerordentlich – wie sagt man da? – »liebenswürdig« – nicht wahr?

Olga. Es ist doch ganz natürlich.

Robert. Natürlich ist es schon, – aber ich frage mich nur, ob mein ganzer Schmerz dieses Mitgefühl oder diesen Ausdruck des Mitgefühls werth ist –

Olga fast erschrocken. Wie können Sie das sagen?

Robert. Weil ich selbst so wenig fühle – Ich weiß nur, daß sie todt ist – das allerdings mit einer so ungeheueren Deutlichkeit, daß es mich peinigt – – aber alles ist kalt und klar wie die Luft an Wintertagen.

Olga. Es wird nicht so bleiben. Der Schmerz wird kommen und das wird viel besser sein.

Robert. Wer weiß ob er kommen wird. – Es ist zu lang vorbei.

Olga befremdet. Zu lang – Was ist zu lang vorbei?

Robert. Daß sie – für mich, – daß wir für einander gelebt haben.

Olga. Ja – das geht wohl in den meisten Ehen so – Sie geht zum Balkon, sieht den Kranz.

Robert. Er ist erst spät Abends gekommen – von Doktor Hausmann.

Olga. Ah – Sie betrachtet die Schleife; Robert beobachtet Olga. Sie merkt es. Er ist – noch nicht hier –?

Robert. Nein. Aber ich hab' ihm gleich nach Scheveningen telegraphiert, und halt' es nicht für ausgeschlossen, daß er noch heute kommt. Wenn er gleich von dem einen Bahnhof in Wien auf den andern fährt –

Olga. Das wird er gewiß thun.

Robert. Dann ist er in einer Stunde da.

Olga mit gezwungener Sicherheit. Wie sehr wird es ihn erschüttert haben.

Robert. Gewiß. – Pause. – ruhig. Seien Sie aufrichtig mit mir, Olga. Das hat doch irgend einen Grund, daß Sie heut noch einmal zu mir kommen. Ich merk's Ihnen ja an. Sagen Sie mir ihn doch ganz einfach.

Olga. Es ist mir schwerer, als ich dachte.

Robert ungeduldig, aber sich völlig beherrschend. Nun also –

Olga. Ich komme, Sie um etwas bitten.

Robert. Wenn ich es erfüllen kann –

Olga. Ganz leicht. Es handelt sich um einige Briefe, die ich der armen Eveline geschrieben habe und die ich gerne zurück haben möchte.

Robert. So eilig?

Olga. Ich dacht' es mir: das Erste, was Sie thun werden, nachdem alles vorbei, wird natürlich sein –

Robert. Was?

Olga auf den Schreibtisch weisend. Nun, was Sie eben wollten, als ich hereintrat. Wie begütigend. Ich thät' es auch, wenn mir wer gestorben wäre, den ich geliebt habe.

Robert leicht enerviert. »Geliebt« – »geliebt« –

Olga. Also: der mir sehr nahe stand – Es ist doch eine Art, sich ein Wesen zurückzurufen. Sie spricht das Nächstfolgende wie einstudierte Sätze. Nun hätte es aber der Zufall fügen können, daß Ihnen gerade Briefe von mir zuerst in die Hand fielen – und darum bin ich noch heute zu Ihnen gekommen. – Es stehen Dinge in diesen Briefen, die Sie keineswegs lesen dürfen – die nur für eine andere Frau bestimmt sind – besonders in gewissen Briefen, die ich vor zwei oder drei Jahren geschrieben habe –

Robert. Wo sind sie denn? Wissen Sie vielleicht, wo sie liegen?

Olga. Ich finde sie gleich, wenn sie mir erlauben –

Robert. Sie wollen selbst –?

Olga. Ich denke, es ist das Einfachste, da ich weiß, wo sie sind. Uebrigens können auch Sie aufsperren, und ich gebe Ihnen genau an –

Robert. Es ist nicht nothwendig. Hier ist der Schlüssel.

Olga. Ich danke Ihnen. Aber Sie müssen mich deshalb nicht für unaufrichtig halten –

Robert. Warum – sollt' ich das?

Olga. Einmal werde ich Ihnen auch das alles erzählen – ich meine, was damals nur Eveline gewußt hat – auf die Gefahr hin, daß mein Bild sich für Sie verändert – aber so – durch einen Zufall sollten Sie's nicht erfahren –

Robert. Ihr Bild wird sich für mich nicht verändern –

Olga. Wer weiß? Sie haben mich immer überschätzt.

Robert. Ich glaube auch keineswegs, daß ich aus diesen Briefen etwas Neues über Sie erfahren könnte. Was Sie da in Sicherheit bringen wollen, sind gewiß nicht Ihre Geheimnisse.

Olga geschickt. Was sollte es denn sein?

Robert. Geheimnisse einer Andern, denke ich.

Olga. Was fällt Ihnen ein – Eveline hatte keine vor Ihnen.

Robert. Ich frage Sie nicht. – Nehmen Sie Ihre Briefe.

Olga sperrt auf, sucht in der Lade. Da sind sie. So – Sie nimmt ein kleines Päckchen heraus, das mit einem blauen Bändchen zusammengebunden ist; hält es so, daß Robert es nicht sehen kann – eventuell unter ihrer Mantille – aber nicht zu absichtlich. Ich danke Ihnen sehr, – und jetzt will ich geh'n. Auf Wiedersehen! Sie wendet sich zum Gehen.

Robert. Wäre es nicht vorsichtig, auch in den andern Laden nachzusehen? – Es braucht nur eine Zeile zurückgeblieben zu sein – und alles wäre vergebens gewesen.

Olga weniger sicher. Wieso »vergebens?«

Robert. Sie hätten sich die Mühe ersparen können, Olga.

Olga. Wieso? – Ich verstehe Sie absolut nicht.

Robert. Gerade Sie, die so gut gewußt hat, wie Eveline und ich zu einander gestanden sind.

Olga. Wie man eben nach zehn Jahren – aber das hat mit meinen Briefen nicht das Geringste zu thun.

Robert. Und glauben Sie, daß ich vor zehn Jahren irgend welche Illusionen hatte? Das wäre recht thöricht, wenn man eine Frau nimmt, die um zwanzig Jahre jünger ist. Ich wußte ganz gut, daß mir höchstens ein oder zwei schöne Jahre bevorstehen – ja – darüber war ich mir sehr klar. Da kann man doch nicht von Illusionen reden. Aber wieviel Jahre sind denn überhaupt unser? Das Leben ist nicht lang genug, daß man ohne Weiteres auf ein Jahr des Glücks verzichten dürfte. Es genügt ja auch, – insbesondere was die Frauen anbelangt – ich meine natürlich die Frauen, in die man verliebt ist. Mit denen wird man sehr rasch fertig. Es giebt mancherlei, das viel wichtiger ist.

Olga. Das ist möglich – nur weiß man es nicht immer.

Robert. Ich hab' es immer gewußt. Der Inhalt meines Lebens ist sie nie gewesen – auch in jenem Jahre des Glückes nicht. In einem gewissen Sinne war sie mehr als der Inhalt – – der Duft, wenn Sie wollen – aber gerade der Duft mußte sich natürlich verlieren. – Das sind ja ganz selbstverständliche Dinge. Er spricht immer erregter, aber noch äußerlich ruhig. Wir hatten nichts mehr gemeinsam, als die Erinnerung an ein kurzes Glück. Und ich sage Ihnen, diese Art von gemeinsamen Erinnerungen scheidet eher, als sie verbindet.

Olga. Ich kann mir auch denken, daß es ganz anders kommt.

Robert. Gewiß. Aber nicht mit einem Geschöpf wie Eveline eines war. Sie war zur Geliebten geschaffen, zur Gefährtin nicht. Das wissen Sie so gut wie ich.

Olga. »Gefährtin« – das ist ein sehr großes Wort. Wie viele Frauen können es überhaupt sein.

Robert. Ich hab es auch nie von ihr verlangt. Ich habe mich nicht einsam gefühlt, wahrhaftig. Ein Mensch, der einen Beruf hat, ich meine nicht eine Beschäftigung, einen Beruf, kann sich überhaupt nie einsam fühlen.

Olga nicht schwärmerisch. Das ist das Herrliche bei den Männern – ich meine bei Männern wie Sie.

Robert. Und als es mit unserem Glück zu Ende ging, bin ich eben in mein Leben zurück, von dem sie ja nicht viel begriffen hat, wie Sie wissen, und bin meinen Weg gegangen – wie sie den ihren.

Olga. Nein, so war es nicht. Oh nein.

Robert. Gewiß war es so. Sie hat Ihnen mehr erzählt, als Sie mir sagen werden. Meinetwegen muß man keine Briefe aus dem Wege räumen. Für mich giebt es keine Ueberraschungen und Entdeckungen. Was wollen sie denn? Sie sind eigentlich rührend. Sie möchten mich gern in einem Wahn lassen – nein – mich mit einem Wahn umgeben, in dem ich nie befangen war. Ich weiß, daß ich sie längst verloren habe – längst. Immer erregter. Oder meinen Sie, ich habe mir eingebildet, daß Eveline in dem Augenblicke mit ihrer Existenz abgeschlossen hatte, da wir von einander gegangen sind? – Daß sie plötzlich eine alte Frau geworden ist, weil sie mich – oder ich sie verlassen hatte? Nie hab' ich das geglaubt.

Olga. Aber Robert, es ist mir ganz unfaßbar, wie Sie auf solche Vermuthungen kommen.

Robert. Ich weiß, von wem diese Briefe sind; es sind nicht die Ihren. Ich weiß, daß einer auf der Welt ist, der heute viel tiefer zu beklagen ist als ich – Einer, den sie geliebt hat – und der hat sie heute verloren, nicht ich – nicht ich. – Sie sehen, das Alles war mir gegenüber sehr überflüssig – es kann nur dieser Eine sein.

Olga. Sie sind in einem schrecklichen Irrthum befangen.

Robert. Ich bitte Sie, Olga, lassen Sie das! Sonst könnt' ich am Ende doch darauf bestehen, diese Briefe zu lesen. Auf eine Bewegung Olgas. Ich werde es nicht thun, Olga. Wir wollen sie verbrennen, ehe er kommt.

Olga. Sie wollen das thun?

Robert. Ja. Denn das war meine Absicht, bevor sie gekommen sind. Alles, was dieser Schreibtisch enthält, hätt' ich ins Feuer geworfen, ohne es anzusehen.

Olga. Nein, das hätten Sie sicher nicht gethan.

Robert. Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Vielleicht ist es gut, daß ich nun Alles weiß, ohne einen Blick darauf werfen zu müssen. So ist wenigstens die Klarheit da – und das ist schließlich das Einzige, was wir vom Leben verlangen sollten.

Olga ernst. Sie hätten mehr verlangen dürfen.

Robert. Früher einmal – und da hab' ichs ja nicht vergeblich verlangt. Aber jetzt –? Sie war jung und ich war alt – das ist die ganze Geschichte – bei allen anderen Menschen würden wir's ja auch verstehen – warum nicht hier?

In diesem Augenblicke pfeift die Lokomotive des Zuges in der Ferne.

Olga zuckt zusammen.

Pause.

Olga. Empfangen Sie ihn erst morgen, ich bitte Sie.

Robert. Glauben Sie, daß ich nicht ruhig bin? Glauben Sie am Ende, daß ich –? Jetzt ist nur mehr Eines nothwendig: Er darf nie erfahren, daß ich es weiß – Er würde aus jedem Worte irgend was heraushören wie Verzeihung und Großmuth, ah – das will ich nicht. Es ist nichts von alledem. Ich habe ihn nie gehaßt – ich hasse ihn nicht – hier ist durchaus kein Grund zum Hassen – und keiner zum Verzeihen – ich verstehe es viel zu gut. – Zu ihm hat sie gehört – vergessen wir doch nicht das Wesentliche. Lassen wir uns doch nicht gleich wieder von der Macht der äußeren Beziehungen so verwirren. Zu ihm hat sie gehört, nicht zu mir. Und es hätte ja nicht mehr lange so dauern können –

Olga. Ich bitte Sie, Robert, – empfangen Sie ihn heute nicht.

Robert. Sie wissen ganz gut, daß sie von mir fort wollte –

Olga. Wie sollt' ich das –?

Robert. Weil sie sich Ihnen anvertraut hat.

Olga. Oh nein.

Robert. Woher wußten Sie dann, wo sich diese Briefe befinden?

Olga. Ich kam einmal zufällig dazu, als sie – einen – vor mir – Ich wollte nichts hören – aber –

Robert. Aber sie mußte eine Vertraute haben – natürlich – und Sie haben sich nicht wehren können. – Das ist mir Alles vollkommen klar. – Nein – es war nicht mehr lange so fortzuführen. Glauben Sie, ich hab' es nicht gesehen, wie sich die Beiden ihrer Lügen geschämt – wie sie gelitten haben? Ich habe ja den Augenblick herbeigesehnt – erwartet, in dem sie zu mir kommen, mich bitten würden: Gieb uns frei –; warum haben sie den Muth nicht gefunden? Warum hab' ich ihnen nicht gesagt: So geht doch fort, ich halt euch nicht. – Aber wir sind Alle feig gewesen, sie und ich. Das ist das Unsinnige. Immer warten wir, das irgend was von Draußen kommt, um Unhaltbares zu lösen – irgend was, das uns der Mühe enthebt, ehrlich gegen einander zu sein – und zuweilen kommt es ja auch, dieses Andere – wie bei uns – Wagenrollen. Kurzes Schweigen. Olga sehr bewegt. Robert, absichtlich ruhig, spricht weiter – und, man muß sagen, es ist immerhin ein vornehmer Abschluß.

Der Wagen bleibt stehen.

Olga. Sie wollen ihn – empfangen –?

Robert. Er soll die Briefe nicht sehen –

Olga. Lassen Sie mich gehen, ich nehme sie mit.

Robert. Hier über diese Treppe –

Olga. Ich höre seinen Schritt.

Robert. So ist er durch den Garten gekommen – Nimmt ihr die Briefe aus der Hand und verschließt sie rasch wieder in die Lade. Bleiben Sie. Es ist zu spät.

Schritte draußen. Alfred tritt rasch ein. Er ist in dunklem Reiseanzug. Wie er Olga sieht, ist er leicht befangen.

Robert will ihm entgegengehen, bleibt aber nach zwei Schritten stehen und erwartet ihn.

Alfred drückt ihm die Hand, dann geht er auf Olga zu und reicht ihr die Hand.

Kurzes Schweigen.

Alfred. Das hätten wir uns nicht träumen lassen – dieses Wiedersehen – was?

Robert. Du hast Dich in der Stadt gar nicht aufgehalten?

Alfred. Nein. Wenn ich noch heute bei Dir sein wollte – und das mußte ich – Zu Olga. Entsetzlich – entsetzlich – wieso ist es denn geschehen – ich weiß ja gar nichts – nur ein Wort, ich bitte Dich –

Da Robert nicht antwortet.

Olga. Es ist ganz plötzlich geschehen.

Alfred. Ein Herzschlag also.

Robert. Ja.

Alfred. Ganz ohne vorherige Anzeichen?

Robert. Ganz ohne vorherige Anzeichen.

Alfred. Und wann denn? – Wo? –

Robert. Vorgestern Nachmittags, während sie im Garten spazieren ging. Der Gärtner sah sie stürzen – neben dem Teich – ich hörte seinen Ruf in meinem Zimmer – und als ich hinunter kam, war es schon vorbei.

Alfred. Mein lieber, mein armer Freund! Was mußt Du gelitten haben! Es ist gar nicht zu fassen – dieses blühende – junge –

Olga. Vielleicht das schönste Loos.

Alfred. Das ist ein matter Trost.

Robert. Mein Telegramm hast Du verspätet bekommen, nicht wahr?

Alfred. Ja – sonst hätte ich schon heute früh hier sein können. – Ja, wenn es Ahnungen gäbe, hätte es mich wohl etwas früher nach Hause treiben müssen.

Olga. Aber es giebt keine.

Alfred. Wahrhaftig. Es war ein Tag wie alle andern, noch heller und fröhlicher womöglich als sonst.

Robert. Noch fröhlicher als sonst –

Alfred. Jetzt kommt's mir natürlich so vor. – Wir hatten eine Segelfahrt gemacht, hinaus auf's Meer – dann sind wir noch am Strand spazieren gegangen in der Abendkühle –

Robert. »Wir« –!

Alfred. Nun ja – eine größere Gesellschaft. – Und wie ich in's Hotel gekommen bin, habe ich vielleicht noch eine Viertelstunde von meinem Fenster auf's Meer hinausgesehen. Dann hab' ich erst Licht gemacht – und da ist das Telegramm auf dem Tisch gelegen. Ah – Pause. – Er hält die Hand vor die Augen. Olga betrachtet Robert, der vor sich hinschaut.

Alfred nimmt die Hand von den Augen. Das ist ja – stockt ihr Zimmer.

Robert. Ja.

Alfred. Wie oft sind wir hier auf dem Balkon gesessen. – Sich wendend, sieht er auf die Straße, die Kirchhofmauer, bebt zusammen. – Dort? –

Robert nickt.

Alfred. – Morgen früh gehen wir zusammen hin.

Robert. So kannst Du Deinen Kranz selbst hintragen – er ist eben gebracht worden. –

Pause.

Alfred. Und – was wirst Du denn nun eigentlich zunächst thun?

Robert. Wie meinst Du das?

Olga. Ich habe den Professor gebeten, sich in der nächsten Zeit möglichst viel bei uns in der Villa aufzuhalten.

Alfred. Er sollte überhaupt nicht hier bleiben. Du sollst nicht hier im Ort bleiben. –

Robert. In den ersten Oktobertagen übersiedle ich jedenfalls in die Stadt. Bis dahin ist's nicht mehr lang. Auch werde ich vorher ein paar Mal in's Laboratorium schauen – die zwei Amerikaner vom vorigen Jahr arbeiten seit Ende August.

Alfred. Ja, das hast Du mir in Deinem letzten Brief geschrieben. Aber deswegen mußt Du doch nicht in die Stadt ziehen, Du wirst doch nicht gleich zu arbeiten anfangen. –

Robert. Du machst mich wirklich nervös; was soll ich denn sonst thun? Ich versichere Dir, daß ich zu gar nichts Anderem gelaunt bin als zum Arbeiten.

Alfred. Du wirst nicht fähig sein, jetzt –

Robert. Du sprichst auch wie die Andern. Ich fühle mich vollkommen fähig; ich habe eine wahre Sehnsucht darnach.

Alfred. Das versteh' ich ganz gut; aber diese Sehnsucht ist doch eigentlich trügerisch. Ich will Dir was vorschlagen: Herzlich. Fahre mit mir fort. Du giebst mir noch ein paar Tage Urlaub, und ich nehme Dich mit. Was sagen Sie dazu, gnädige Frau?

Olga mühsam. Es wäre ganz klug.

Robert. Du willst fort? Jetzt willst Du fort?

Alfred. Ich hätte mir jedenfalls noch einige Tage von Dir erbeten.

Robert. Ja, wohin willst Du denn?

Alfred. Ich möchte noch einmal an die See.

Robert. Zurück!

Alfred. Ja, aber mit Dir. Es wird Dir wohlthun – glaub' mir! Hab' ich nicht Recht, gnädige Frau?

Olga. Oh ja.

Alfred. Du wirst mit mir nach Scheveningen fahren und dort ein paar ruhige Tage mit uns verbringen.

Robert. Mit uns – Du sagst uns?

Alfred leicht befangen. Ja.

Robert. Was heißt denn das: mit uns? Bist Du denn nicht allein?

Alfred. Gewiß bin ich allein, aber es giebt natürlich einige Menschen in Scheveningen, mit denen ich verkehre, einige mit denen ich –

Robert. Nun –?

Alfred. Ich wollte es Dir erst in ein paar Tagen mitteilen, aber da es sich nun so fügt – kurz – ich habe mich nämlich da oben verlobt.

Robert ganz kalt. Ah.

Alfred. Ob ich Dir das morgen sage oder heut, nicht wahr – das Leben geht eben weiter – es ist seltsam genug, daß gerade jetzt –

Robert. Ja – ich gratuliere.

Alfred. Darum sagt' ich früher »mit uns«. Und Du wirst jetzt verstehen, daß ich noch einmal zurück möchte.

Robert. Das ist allerdings leicht zu verstehen.

Alfred. Und ich bitte Dich, komm mit. Ihre Eltern wären wahrhaft glücklich, Dich kennen zu lernen. Ich habe ihnen soviel von Dir erzählt. Es sind vortreffliche Menschen. Und was das Mädchen anbelangt, – nun: Du wirst sie ja sehen.

Robert. Ich glaube nicht – ich glaube nicht – es wird sich später Gelegenheit ergeben – Mit großer Mühe, aber vollkommenem Gelingen spielt er weiter den Ruhigen. Es ist ja wirklich eine ganz verrückte Idee von Dir, daß ich jetzt an die Nordsee fahren soll, mir Deine Braut vorstellen zu lassen. – Wieviel Millionen hat sie übrigens?

Alfred befremdet. Wie kommst Du auf die Frage? Es liegt doch wirklich nicht in meinem Wesen, daß ich des Geldes wegen –

Robert. Also eine große Leidenschaft.

Alfred. Robert, ich bitte Dich, laß uns heute nichts mehr davon reden. Es ist wie – Er will sagen »Entweihung«.

Robert. Warum nicht? – »Das Leben geht weiter«, wie Du sehr richtig bemerkt hast. Reden wir von den Lebendigen. Woher kennst Du sie?

Alfred. Sie ist eine Wienerin.

Robert. Ah, jetzt weiß ich Alles.

Alfred. Das ist nicht gut möglich.

Robert. Du hast mir einmal erzählt – erinnerst Du Dich – die Jugendliebe mit den blonden Locken – als Du noch Student warst –

Alfred. Was soll's mit der sein?

Robert. Nun – Wiedersehen nach vielen Jahren – Erwachen der alten Liebe –

Alfred. Daran denkst Du noch? – Nein, die ist es nicht. Ich kenne meine Braut erst seit zwei Jahren und bin um ihretwillen an die See gereist.

Robert. Und dort hast Du Dich in sie verliebt?

Al fred. Oh, ich weiß seit lange, daß sie meine Frau werden wird.

Robert. Wahrhaftig?

Alfred. Wir sind im Stillen seit einem Jahre verlobt.

Robert. Und davon hast Du mir – uns – kein Wort gesagt? – Oh –

Alfred. Es waren gewisse Rücksichten zu beobachten – ihre Familie war Anfangs – aber wir waren die ganze Zeit einig – ich kann sagen, wir haben einander vom ersten Augenblick an geliebt.

Robert. Zwei Jahre?

Alfred. Ja.

Robert. Hast Du sie geliebt?

Alfred. Ja.

Robert. Und – sie?

Alfred fast mechanisch. Und sie –?

Robert. Und die Andere – die Andere?

Alfred. Welche Andere?

Robert ihn bei der Schulter haltend, mit der anderen Hand nach der Straße weisend. Die da!

Alfred wirft einen Blick auf Olga.

Robert. Was hast Du aus der gemacht?

Alfred nach einer Pause, sich auflehnend. – Warum spielst Du so lange mit mir, wenn Du's weißt? Warum hast Du mit Freundesworten zu mir gesprochen, wenn Du's weißt? Du hattest das Recht, mit mir zu thun, was Du willst, aber zu spielen hast Du kein Recht.

Robert. Es ist kein Spiel gewesen. Ich hätte Dich vom Boden aufgehoben, wenn Dich der Schmerz gebrochen hätte – an ihr Grab wär' ich mit Dir gegangen – wenn es Deine Geliebte wäre, die da draußen liegt – aber Du hast sie zu Deiner Dirne gemacht – und dieses Haus hast Du bis an die Decke mit Schmutz und Lüge so angefüllt, daß mich ekelt – und darum – darum, ja darum jag' ich Dich hinaus –.

Alfred. Auch hierauf gäb' es vielleicht eine Antwort.

Robert. Geh – geh – geh!

Alfred geht.

Robert. Also davor haben Sie mich bewahren wollen – ja, jetzt verstehe ich Sie – wohl ihr, daß sie hingeschieden ist, ohne zu ahnen – was sie für ihn war.

Olga wendet sich ihm zu. Ohne zu ahnen –?

Robert. Was wollen Sie – sagen –?

Olga nach kurzem Bedenken. Sie hat es – gewußt –

Robert. Was – hat sie –

Olga. Was sie für ihn war – hat sie gewußt. – Fassen Sie's denn noch nicht ganz? – Er hat sie weder betrogen noch erniedrigt – und auf seine Heirat war sie seit lange vorbereitet, wie auf etwas, das sich von selbst versteht und als er ihr's schrieb – weist auf den Schreibtisch. hat sie so wenig um ihn geweint – als er um sie. – Nie wären sie zu Ihnen gekommen – Sie um ihre Freiheit bitten – die Freiheit, die sie wollten, haben sie gehabt –

Robert. Sie hat's – gewußt –? Und Sie, die diese Briefe vor mir verstecken wollten – jetzt sagen Sie mir dieses Letzte –?

Olga. Geb' ich Ihnen damit nicht Ihre Freiheit wieder? Jahrelang haben Sie um diese Frau gelitten – haben sich von einem Selbstbetrug in den anderen gestürzt, um sie weiter lieben und weiter leiden zu dürfen – und jetzt wollen Sie sich noch weiter quälen, um eines Schicksals willen, das Sie sich nur einbilden, das diese Frau überhaupt nicht erleiden konnte, weil das Leben so leicht für sie war – wie Menschen Ihrer Art gar nicht begreifen können –?

Robert. Und alles dies erst heut –? erst jetzt! – Warum haben Sie's mit angesehen – und mich aus meiner Feigheit nicht emporgerüttelt? – Warum hab' ich's nicht vor einem Jahr wissen dürfen – nicht vor drei Tagen –?

Olga. Davor hab' ich ja gezittert – wie Sie selbst – ja, wie Sie! Nie haben Sie's wissen dürfen – oder heut'! –

Robert. Ist es jetzt etwas Anderes, weil sie todt ist –? –

Olga. Nichts Anderes – aber klar ist es – wie es sonst nie gewesen wäre – Solang sie gelebt hat, hätte dieses erbärmliche nichtige Abenteuer – einfach von ihrem Dasein – von ihrem Lächeln den Schein des Wichtigen geliehen – Sie hätten nicht fühlen können – was Sie heute fühlen müssen, wo sie jenseits Ihres Zornes ist – und was Ihnen den Frieden geben wird; wie fern, wie unendlich fern von Ihnen diese Frau gelebt hat – die zufällig in diesem Hause gestorben ist – – Sie geht.

Robert eine Weile still. Dann versperrt er die Schreibtischlade; dann steht er auf, geht zur Thür und ruft Franz!

Diener. Herr Professor –?

Robert. Morgen früh reise ich ab. Bereiten Sie alles vor – und sorgen Sie, daß ein Wagen um sieben Uhr vor dem Hause ist.

Diener. Jawohl, Herr Professor.

Robert nach einer kurzen Pause. Alle näheren Anweisungen gebe ich Ihnen morgen. Gehen Sie jetzt schlafen. Auf ein Zögern des Dieners. Dieses Zimmer sperre ich selbst ab – es wird verschlossen bleiben, bis ich wiederkomme.

Diener. Sehr wohl, Herr Professor.

Professor. Gute Nacht.

Diener. Gute Nacht, Herr Professor. Ab rechts.

Robert sperrt gleich hinter ihm zu. Dann geht er zum Balkon; wie er schließen will, sieht er den Kranz. Er nimmt ihn, bringt ihn ins Zimmer und legt ihn auf den Schreibtisch. Dann geht er zur Thür links, das Licht in der Hand; an der Thüre bleibt er stehen, wendet sich um, betrachtet das ganze Zimmer noch einmal. Er athmet tief, lächelt dann wie befreit, geht ab; man hört ihn zusperren. Das dunkle Zimmer bleibt eine Weile leer, dann fällt der Vorhang.


 << zurück