Arthur Schnitzler
Der einsame Weg
Arthur Schnitzler

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Fünfter Akt

Garten bei Wegrat.

Erste Szene

Doktor Reumann und Julian.

Doktor Reumann sitzt an einem kleinen Tischchen und schreibt etwas in sein Notizbuch.

Julian kommt rasch über die Veranda. Ist es wahr Herr Doktor?

Doktor Reumann steht auf. Ja, es ist wahr.

Julian. Verschwunden?

Doktor Reumann. Ja, sie ist verschwunden. Seit gestern nachmittag ist sie fort. Sie hat keine Nachricht zurückgelassen, sie hat nichts mit sich genommen – sie ist einfach fortgegangen und nicht mehr zurückgekommen.

Julian. Ja, was kann denn geschehen sein?

Doktor Reumann. Darüber haben wir nicht einmal eine Vermutung. Vielleicht hat sie sich verirrt und kommt wieder. Oder es ist irgend ein plötzlicher Entschluß . . . Wüßte man nur, wozu.

Julian. Wo sind die andern?

Doktor Reumann. Wir wollten um zehn Uhr alle hier wieder zusammentreffen. Ich war in den verschiedenen Spitälern und an andern Orten, wo die Möglichkeit vorlag, eine Spur zu finden . . . Der Professor dürfte wohl jetzt die Anzeige erstattet haben.

 
Zweite Szene

Doktor Reumann und Julian. Felix kommt rasch.

Felix. Nichts?

Doktor Reumann. Nichts.

Julian gibt Felix die Hand.

Doktor Reumann. Woher kommen Sie?

Felix. Ich war bei Herrn von Sala.

Doktor Reumann. Wie?

Felix. Es schien mir doch nicht unmöglich, daß er irgend welche Vermutung haben, daß er uns irgend eine Richtung angeben könnte. Aber er weiß nichts. Offenbar. Wenn er etwas wüßte – etwas Bestimmtes wüßte, hätte er es mir gesagt. Dessen bin ich sicher. Er lag noch zu Bette, als ich mich bei ihm melden ließ. Er meinte wohl, es handle sich um unsere Angelegenheit. Als er hörte, daß Johanna verschwunden sei, wurde er sehr blaß . . . Aber er weiß nichts.

 
Dritte Szene

Julian, Doktor Reumann und Felix. Wegrat kommt.

Wegrat. Nichts? . . .

Die andern schütteln den Kopf. Julian drückt ihm die Hand.

Wegrat setzt sich nieder. Man hat nähere Daten, man hat Anhaltspunkte von mir verlangt. Gibt es welche? . . . Ich habe keine . . . Mir ist es vollkommen rätselhaft. Zu Julian gewendet. Nachmittag ist sie fort, zu einem kleinen Spaziergang wie manchmal . . . Zu Felix gewendet. Konnte man ihr das Geringste anmerken? . . . Es erscheint mir vollkommen unmöglich, daß sie schon an irgend etwas dachte, als sie das Haus verließ, . . . daß sie schon wußte – sie geht auf immer fort.

Felix. Vielleicht doch.

Wegrat. Verschlossen war sie wohl – und besonders in der letzten Zeit, seit ihre Mutter tot ist. – Ob es das sein könnte? . . . Halten Sie es für möglich, Herr Doktor?

Doktor Reumann zuckt die Achseln.

Felix. Wer hat sie denn gekannt von uns allen? Wer kümmert sich denn überhaupt um die andern?

Doktor Reumann. Es ist wahrscheinlich gut so, sonst würden wir alle toll vor Mitleid oder Ekel oder Angst. Pause. Ich muß jetzt zu meinen Kranken; ich habe einige unaufschiebbare Besuche. Zu Mittag bin ich wieder da. Auf Wiedersehen. Ab.

 
Vierte Szene

Julian, Felix und Wegrat.

Wegrat. Da hat man nun so ein Geschöpf heranwachsen sehen, aus einem Kinde ein Mädchen werden, eine junge Dame, – und hunderttausend Worte zu ihr gesprochen . . . Und eines Tages steht sie vom Tisch auf, nimmt Hut und Mantel und geht . . . geht ohne Abschied, und man hat keine Ahnung, wohin sie entschwebt ist, ob ins Nichts, ob in ein neues Leben.

Felix. Aber was immer geschehen sein mag, Vater – sie wollte von uns fort. Und das kann in jedem Fall eine Art von Beruhigung für uns sein.

Wegrat den Kopf schüttelnd, ratlos. Alles flattert davon . . . mit Willen, ohne Willen – alles davon.

Felix. Vater, was sich ereignet hat, können wir nicht wissen. Denkbar wäre ja jedenfalls, daß Johanna irgend einen Vorsatz gefaßt hatte, von dem sie wieder abkommt. Vielleicht ist sie in ein paar Stunden oder Tagen wieder hier.

Wegrat. Du glaubst . . . du hältst es für möglich?

Felix. Für möglich – ja. Aber wenn sie nicht käme . . . den Plan, von dem ich gestern sprach mit dir, Vater, den geb' ich selbstverständlich auf. Unter diesen Verhältnissen denk' ich nicht daran, mich so weit und auf so lange Zeit von dir zu entfernen.

Wegrat zu Julian. Nun will er mir gar ein Opfer bringen!

Felix. Vielleicht ließe es sich auch veranlassen, daß ich hierher transferiert werde.

Wegrat. Nein, Felix, du weißt wohl, daß ich das nicht annehme.

Felix. Es ist kein Opfer. Ich versichere dich, Vater, ich bleibe bei dir, weil ich jetzt nicht fort könnte.

Wegrat. O Felix, du könntest – du wirst können. Um meinetwillen sollst du nicht hierbleiben – darfst du nicht hierbleiben. Ich wüßte nicht, inwiefern mir damit gedient sein sollte, daß du diesen Plan aufgibst, den du mit solcher Begeisterung aufgegriffen hast. Ich fände es unverzeihlich von dir, zurückzutreten, und sträflich von mir, es von dir anzunehmen. Sei doch glücklich, daß sich nun endlich für dich ein Weg eröffnet, auf dem du vielleicht alles finden wirst, wonach deine Wünsche gehen. Ich selbst bin glücklich, Felix. Du würdest dein Lebenlang darunter leiden, wenn du diese Gelegenheit versäumtest.

Felix. Aber seit gestern kann sich viel, unendlich viel geändert haben – für dich und für mich.

Wegrat. Für mich – vielleicht. – Aber nichts mehr davon. Ich duld' es nicht, ich nehme ein Opfer nicht an. Ich würde es ja annehmen, wenn ich irgend einen besonderen Vorteil für mich darin sähe. Aber ich hätte dich ja dann nicht mehr, als wenn du fort wärst . . . weniger . . . gar nicht. Das Schicksal, das über uns hereinbricht, soll nicht zu all seiner eingeborenen Macht auch die schlimmere haben, daß es uns in unserer Verwirrung Dinge tun läßt, die unserm Wesen zuwider sind. Irgend einmal kommen wir doch über das Unglück hinweg, und wär' es das furchtbarste. Aber was wir gegen unser tiefstes Innere verbrochen haben, das ist dann nicht mehr gut zu machen. Zu Julian gewendet. Ist's nicht so, Julian?

Julian. Du hast vollkommen recht.

Felix. Ich danke dir, Vater. Ich danke dir, daß du es mir so leicht machst, dir beizustimmen.

Wegrat. Es ist gut, Felix . . . In den paar Wochen, die du noch in Europa bleibst, wird man ja noch manches mit einander reden können, – vielleicht mehr als in den letzten Jahren. Wahrhaftig, man weiß nicht viel von einander . . . Ah, ich bin müde. Die ganze Nacht sind wir wachgesessen.

Felix. Willst du dich nicht ein wenig ausruhen, Vater?

Wegrat. Ausruhen . . . Du bleibst zu Hause, Felix, nicht wahr?

Felix. Ja, ich will warten. Was soll man anders tun?

Wegrat. Ich zermartere mir den Kopf . . . Warum hat sie nichts zu mir gesprochen? Warum hab' ich nichts von ihr gewußt? Warum bin ich ihr so fern gewesen? Er geht ab.

 
Fünfte Szene

Julian und Felix.

Felix. Und dieser Mann wurde belogen – sein Leben lang – von uns allen.

Julian. Es gibt auf dieser Welt keine Sünde, kein Verbrechen, keinen Betrug, der nicht gutzumachen ist. Und gerade für das, was hier geschehen ist, sollte es keine Sühne und kein Vergessen geben?

Felix. Sollten Sie es nicht verstehen? . . . Hier hat man die Lüge ins Ewige getrieben. Darüber kann ich nicht weg. Und die das getan hat, war meine Mutter, – der sie dahin gebracht hat, waren Sie, – und die Lüge bin ich selbst, solange ich für einen gelte, der ich nicht bin.

Julian. So laß uns die Wahrheit sagen, Felix. – Ich stelle mich jedem Richter, den du wählst, füge mich jedem Spruch, der über mich verhängt wird. – Soll gerade ich auf immer verdammt sein? Soll ich, der einzige unter allen, die gefehlt haben, niemals sagen dürfen: »Es ist gesühnt«?

Felix. Es ist zu spät. Ein Geständnis hebt eine Schuld nur auf, solange der Schuldige dafür bezahlen kann. Diese Frist, Sie fühlen es wohl selbst, ist längst abgelaufen.

 
Sechste Szene

Felix, Julian und Sala.

Felix. Herr von Sala! Sie haben mir etwas zu sagen?

Sala. Ja. – Guten Morgen, Julian . . . Bleiben Sie, Julian. Es ist mir willkommen, daß ich einen Zeugen habe. Zu Felix. Sie sind entschlossen, die Expedition mitzumachen?

Felix. Das bin ich.

Sala. Ich auch. Aber es wäre möglich, daß einer von uns von dem Entschlüsse abstehen wird.

Felix. Herr von Sala . . .?

Sala. Es wäre nicht in der Ordnung, könnte man finden, sich mit jemandem auf eine so weite Reise begeben, der einen vielleicht lieber totschösse, wenn er einen vollkommen kennte.

Felix. Herr von Sala, wo ist meine Schwester?

Sala. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, wo sie in diesem Augenblicke ist. Gestern Abend, eh' Sie kamen, hat sie mich zum letztenmal verlassen.

Felix. Herr von Sala –

Sala. Ihr Abschiedswort an mich war: Auf morgen. Sie sehen, daß ich heute früh allen Grund hatte, überrascht zu sein, als Sie bei mir erschienen. Erlauben Sie mir ferner, Ihnen zu sagen, daß ich gerade gestern Johanna bat, meine Frau zu werden, was sie lebhaft zu erschüttern schien. Diese Mitteilung mache ich Ihnen keineswegs, um etwas zu beschönigen. Denn in meiner Bitte lag nicht die Absicht, irgend ein Unrecht gut zu machen, sondern es war wahrscheinlich nur eine Laune – wie mancherlei anderes. Es handelt sich nur darum, daß Sie die Wahrheit erfahren. Ich stehe Ihnen also in jeder Weise zur Verfügung. – Das zu sagen, hielt ich für durchaus notwendig, ehe wir am Ende in den Fall kommen, zusammen in die Tiefen der Erde hinabzusteigen oder vielleicht unter einem Zelte zu schlafen.

Felix nach einer langen Pause. Herr von Sala . . . wir werden nicht unter einem Zelte schlafen.

Sala. Wie?

Felix. So weit geht Ihre Reise nicht mehr. Große Pause.

Sala. So . . . Ich verstehe Sie. Sie sind dessen sicher?

Felix. Vollkommen. – Pause.

Sala. Johanna wußte es?

Felix. Ja.

Sala. Ich danke Ihnen. – O, Sie können ruhig meine Hand nehmen. Die Angelegenheit ist ja so ritterlich geordnet als nur möglich. – Nun? . . . Es ist nicht einmal üblich, die Hand demjenigen zu verweigern, der zu Boden liegt.

Felix reicht ihm die Hand. Dann: Und wo mag sie sein?

Sala. Ich weiß es nicht.

Felix. Machte sie keinerlei Andeutungen?

Sala. Keine.

Felix. Aber haben Sie keine Vermutung? Hat sie vielleicht irgend welche Verbindung angeknüpft – im Ausland? Hat sie irgendwo Freundinnen oder Freunde, von denen mir nichts bekannt ist?

Sala. Nicht, daß ich wüßte.

Felix. Glauben Sie, daß sie noch lebt?

Sala. Ich weiß nicht.

Felix. Wollen Sie nicht mehr reden, Herr von Sala?

Sala. Ich kann nicht mehr reden. Ich habe jetzt nichts mehr zu sagen. Leben Sie wohl, reisen Sie glücklich. Grüßen Sie den Grafen Ronsky.

Felix. Wir sehen einander doch nicht zum letztenmal?

Sala. Wer kann das wissen?

Felix reicht ihm die Hand. Ich eile zu meinem Vater. Ich glaube mich verpflichtet, ihm mitzuteilen, was ich von Ihnen erfahren habe.

Sala nickt.

Felix zu Julian. Adieu. Ab.

 
Siebente Szene

Julian und Sala.
Beide entfernen sich.

Julian da Sala plötzlich stehen bleibt. Warum zögern Sie? Gehen wir.

Sala. Es ist sehr seltsam, es zu wissen. Schleier gleiten über alles . . . Fort mit euch! Ich habe keine Lust, es mir gefallen zu lassen, solange ich noch da bin – und wär' es auch nur für eine Stunde . . .

Julian. Glauben Sie es denn?

Sala sieht Julian lange an. . . . Ob ich es glaube . . .? – Er hat sich gut benommen, Ihr Sohn . . . Wir werden nicht unter einem Zelte schlafen . . . Nicht übel! Das hätte mir einfallen können . . .

Julian. Warum kommen Sie nicht? Haben Sie vielleicht doch noch etwas zu sagen?

Sala. Das will ich Sie fragen, Julian.

Julian. Sala?!

Sala. Ich habe nämlich von einer sonderbaren Halluzination nicht gesprochen, die mir begegnet ist, eh' ich hierher fuhr. Ich denke, es war eine . . .

Julian. So reden Sie doch!

Sala. Denken Sie: Eh' ich mich vom Hause entfernte – gleich nachdem Felix fortgegangen war, ging ich in meinen Garten – das heißt, ich lief durch ihn – in einem sonderbaren Zustand von Erregung, den Sie begreifen werden. Und als ich am Teich vorbei kam, da war mir, als säh' ich auf dem Grund . . .

Julian. Sala!

Sala. Die Wasser schimmern grünlich blau, überdies fallen am frühen Morgen die Schatten der Buchen darüber hin. Und seltsamerweise sprach Johanna gestern dieses Wort: »So wenig dies Wasser mein Bild behalten kann . . .« – Es ist auch eine Art, das Schicksal herauszufordern . . . Und als ich an dem Teich vorüberkam, war mir, als hätte . . . das Wasser doch ihr Bild behalten.

Julian. Ist das wahr?

Sala. Wahr – oder nicht wahr . . . was soll mir das bedeuten? Das könnte doch nur dann ein Interesse für mich haben, wenn ich in einem Jahr oder in einer Stunde noch auf der Welt wäre.

Julian. Sie wollen – –?

Sala. Natürlich will ich. Sie denken doch nicht, ich werde warten? Das fänd' ich ein wenig peinlich. Zu Julian, lachend. Wer wird Ihnen jetzt die Stichworte bringen, lieber Freund? Ja, nun ist es aus . . . Wo ist nun alles? . . . Wo sind die Thermen des Caracalla? Wo ist der Park von Lugano? . . . Wo ist mein hübsches kleines Haus? . . . Nicht weiter und nicht näher als jene marmornen Stufen, die in eine geheimnisvolle Tiefe führen . . . Schleier über alles . . . – Ihr Sohn wird es vielleicht erfahren, ob es mit der dreihundertzwölften zu Ende ist – und wenn nicht, so wird es ihn wenig kümmern. – Finden Sie nicht, daß er sich brav gehalten hat? . . . Es scheint mir überhaupt, daß jetzt wieder ein besseres Geschlecht heranwächst, – mehr Haltung und weniger Geist. – Grüß' Sie der Himmel, Julian.

Julian will ihm folgen.

Sala mild und bestimmt. Bleiben Sie, Julian. Unser Dialog ist zu Ende. Leben Sie wohl. Rasch ab.

 
Achte Szene

Julian und Felix. Dann Wegrat.

Felix kommt rasch. Herr von Sala ist fort? Mein Vater wollte mit ihm reden. – Und Sie sind noch hier? . . . Warum ist Herr von Sala fort? Was hat er Ihnen gesagt? – Johanna . . .! . . . Johanna . . . ?

Julian. Sie ist tot . . . sie hat sich im Teich ertränkt.

Felix mit einem Aufschrei des Entsetzens. Wo ist er hin?!

Julian. Du findest ihn wohl nicht mehr.

Felix. Was hat er vor?

Julian. Er bezahlt . . . zur rechten Zeit . . .

Wegrat kommt von der Veranda.

Felix ihm entgegen. Vater . . .

Wegrat. Felix! Was ist geschehen?

Felix. Wir wollen nach Salas Villa fahren, Vater.

Wegrat. Tot? . . .

Felix. Vater! Er ergreift die Hand Wegrats und küßt sie. Mein Vater!

Julian ist langsam gegangen.

Wegrat. Müssen solche Dinge geschehen, daß mir dieses Wort klingt, als hört' ich's zum erstenmal . . . ?

Vorhang.


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