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Als er in die Stube kam, sah er auf dem Tisch den Weihnachtsbaum, der in einem kleinen Christgärtchen steckte. Es sah gar traulich und weihnachtlich aus. Der Junge schaute nach der Kammer. Die Thür stand offen, und man konnte vom Bett aus gut zum Tische her schauen.

Sie hats so haben wollen, sagte der Mann, der sorgenvoll auf eines der brennenden Lichter gestarrt hatte; wir sollen doch Bescherung halten, und sie wollte den Baum vorher noch brennen sehen. Dann wandte er sich zu dem Burschen: Sieh, Ad'm, das ist für dich. Das Liederbuch hab ich dir mitgebracht, weil du so gern singen thust. Unter dem Tisch steht ein Napf mit Nüssen, Äpfeln und gedörrten Zwetschgen; davon darfst du dir nehmen, so oft du magst. Und der Lebkuchen gehört dein und die Bretzel. Und hier die warme Mütze hat dir meine Frau noch gestrickt; du kannst sie bis über die Ohren ziehen; und diese Strümpfe hier auch. Und sie läßt dir noch sagen, du sollst nie in deinem Leben den heutigen Tag vergessen.

Keines Wortes mächtig stand der Bursche da. Mit zitternden Händen griff er nach der Mütze und den Strümpfen, hielt sie von sich und betrachtete sie mit Augen, die durch Thränen leuchteten. Jetzt wandte er den Kopf der Thür zu, aber hatte nicht das Herz hineinzuschauen. Da konnte er sich nicht mehr halten. Er stürzte zur Thür hinaus, alles dahintenlassend, Liederbuch, Lebkuchen, Bretzel und Äpfelnapf. Und draußen hub er zu heulen an, wie er noch nie in seinem Leben geheult hatte. Droben in seinem finstern Verschlag lag er auf seinem Bett. Den Pfühl hatte er hinuntergeworfen und sich mit den Säcken zugedeckt. Die Mütze hatte er sich über die Ohren und über die Augen gezogen, in seine Strümpfe die Fäuste hineingesteckt und weinte leise vor sich hin in Reue und Wonne.

Ad'm! rief jetzt wieder die Stimme seines Meisters, und in demselben Augenblick that sich die Thür auf. Komm schnell heraus!

Im Nu stand er draußen auf dem Speicher. Der Bahnwärter wartete, seine Dienstlaterne in der Hand, auf der halben Stiege. Er zeigte ein verstörtes Gesicht.

Ad'm, weißt du, wo der Doktor in der Stadt wohnt?

Jawohl! – Wie oft hatte er bei der Frau Doktor gebettelt! Auch hatte er dort einmal einen Überzieher gestohlen.

Geh hin und hol ihn! Er soll kommen, so schnell er kann. Wenn er nicht sogleich kommt, ists zu spät. Die Stimme versagte ihm. Dann fuhr er fort: Ich muß Schnee schaufeln. Vor dem Einschnitt ist ein böser Windfang: da jagt der Sturm allen Schnee auf die Schienen; da giebts Arbeit die ganze Nacht durch. Drum kann ich nicht gehen. Adam, trag mirs nicht nach von heut mittag! Lauf, was du kannst!

Während der Bahnwart redete, hatte sich der Bursche seiner Stiefel entledigt, die neugeschenkten Strümpfe übergestülpt und die Stiefel wieder angezogen. Jetzt war er zum Gehen fertig. Gebt mir Eure andre Laterne, Meister, sagte er, und schreibt mirs auf einen Zettel; wenn der Doktor nicht daheim ist ...

Da, nimm die! Die löscht nicht aus, mags stürmen, wies will! Dann schrieb er drunten im Zimmer auf einen Fetzen Papier ein paar Worte. Adam wickelte den Zettel in sein Taschentuch und eilte hinaus.

Mit einigen Sätzen hatte er die Landstraße erreicht und trabte, vom Sturm geschoben, des Weges dahin. Das jagende Heer der Schneeflocken erfüllte die Nacht mit einem weißlichen Dunst, in dem das Auge noch blinder war als in lauter Finsternis, und der auch die schimmernde Schneedecke dem Blick entzog, sodaß man den Boden nicht sehen konnte. Aber mit wunderbarer Sicherheit sprang der Knabe die Straße dahin. Es machte ihm Freude, daß der Schnee so tief war; er hatte ja so gute warme Strümpfe an. Und es glühte ihm der Kopf in der neuen Mütze von der Anstrengung und den sich jagenden Gedanken.

Jetzt will ich ein tüchtiger Weber werden und ihr ein Tischtuch weben so groß, wie die Altardecke am Festtag ist; und dann ein Leintuch so weiß und weich wie frischer Schnee; und dann Servietten, drei Dutzend, weit feiner noch als die waren, die ich dem Ankerwirt vom Trockenplatz stibizt habe. Und stehlen will ich gewiß nicht mehr, außer am Sonntag eine Fastenbretzel vom Bäckerladen. Und wenn ich einmal ein Webermeister bin, und der Robert von Magdeburg kommt und will bei mir fechten, dann werd ich zu ihm sagen: schäm dich, du Lump, daß dus nicht weiter gebracht hast, und werd ihm nichts geben, oder höchstens ein Paar alte Stiefel, die ich nicht mehr tragen mag, weil ich zu stolz bin.

Unter solchen Selbstgesprächen kam er im Städtchen an. Die Straßen waren menschenleer. Die Laternen flackerten im Sturm. Die Nachtglocke an dem Hause des Arztes wurde ausgiebig gezogen, und einen Augenblick später stand Adam im Hausgange vor dem Dienstmädchen.

Ich möchte den Herrn Doktor holen. Er soll gleich kommen; es ist nötig.

Der Herr Doktor sind nicht zu Hause. Sie sind über Feld.

Wo ist er?

Der Herr Doktor sind in Fischbach, und wenn sie nach Haus gekommen sind, dann halten sie Bescherung.

Fischbach war ein Dorf, das in der Richtung lag, von der der Junge gekommen war. Die Straße nach Fischbach bog eine halbe Stunde vor dem Städtchen von dem Seitenwege ab, in dessen Nähe der Bahnwärter wohnte.

Das Mädchen schien weitere Erörterungen für überflüssig zu halten und ging in die Küche zurück. In diesem Augenblick öffnete sich eine Thür, und ein jugendlicher Lockenkopf schaute heraus.

Philippine, führen Sie den Mann in das Wartezimmer; ich will selber mit ihm sprechen.

Und wer soll den Boden putzen? brummte Philippine. Ich nicht. Morgen ist heiliger Christtag, und heut abend ist unser Heiland geboren. Da rühr ich keinen Besen an. Religion haben sie doch alle keine, die Doktorsleut! – Hinaus auf die Treppe und den Schnee abgeklopft! So! Und jetzt die Stiefel geputzt!

Adam trat in das durchwärmte Zimmer und hörte von der Frau des Arztes dasselbe, was er von dem Mädchen vernommen hatte. Ist es denn nötig, daß mein Mann heute noch kommt?

Adam knüpfte sein Taschentuch auf und wies der jungen Frau den Zettel. Diese warf einen Blick hinein. Ja, 's ist nötig. Du kannst hier auf meinen Mann warten und dann mit ihm hinausfahren. Ist die Frau deine Mutter?

Ja.

Du bist rasch gelaufen und glühst ganz, bei diesem Wetter! Philippine, rief sie zur Thür hinaus, bringen Sie ein Glas Glühwein herein, sobald er fertig ist!

Auch noch! brummte die Magd. Bei der Verschwendung kann nichts herauskommen! Was werden der Herr Doktor kriegen von der Fahrt heut nacht? Nicht einmal die Fahrkosten!

Unterdessen hatte Adam bei sich überlegt: Vom Kreuzweg bis hierher braucht der Doktor zehn Minuten; auf dem Rückweg eine Viertelstunde, denn es geht gegen den Wind. Wenn er heimkommt, trinkt er zuerst warmen Wein, das dauert fünf Minuten. Die halbe Stunde kann ich gewinnen.

Ich will lieber nicht warten, sagte er zu der jungen Frau. Ich will dem Herrn Doktor entgegengehen; und er zog sich die Mütze über die Ohren. Welche Straße fährt der Herr Doktor, die alte oder die neue?

Ich weiß es nicht sicher, sagte die Frau.

Der Herr Doktor fahren immer nur die neue Straße, entschied Philippine aus der Küche.

Was für ein Fuhrwerk ists?

Der Ankerwirt fährt meinen Mann.

O, dem seine Schlittenschellen kenne ich von weitem, sagte Adam und schmunzelte. Hatte er ihm doch vor einem Jahre ein paar Schellen vom Lederzeuge weggeschnitten.

Ich weiß nicht, ob mein Mann seine Instrumente bei sich hat.

Der Herr Doktor haben die nötigen Instrumente bei sich, rief das Mädchen.

Wenn du nicht warten willst, dann geh in Gottes Namen. Gute Verrichtung und gute Besserung deiner Mutter! Philippine, leuchten Sie ihm die Treppe hinab!

Beim Hinuntergehen bemerkte Adam, daß er müde geworden sei. Unwillkürlich mußte er die Stufen zählen. Auf der fünften blieb er stehen. Da hab ich den Stein hingelegt, sagte er zu sich und hielt sich am Geländer. Darauf wandte er sich zurück. Fräulein, stehts mit meiner – mit meiner Mutter sehr schlimm? Er hatte vor des Doktors Dienstmädchen einen gewaltigen Respekt und traute ihr alle medizinische Weisheit zu.

Philippine zuckte mit der Achsel. Dann kam sie neugierig herunter. Zeig mir einmal deinen Zettel!

Adam knüpfte sein Taschentuch wieder auf. Er fürchtete sich davor, das Blatt selbst zu lesen. Philippine las: Das vierte Bahnwärterhaus gegen Mettlingen zu. Meine Frau ist in – Philippine stieß einen unartikulierten Ton aus, ein Mittelding von Schreckensruf und Gekicher. O, das ist sehr schlimm! Gott soll mich vor so was bewahren! Lauf, was du kannst!

Das Wetter war noch greulicher geworden. Der Sturm heulte durch die Gassen, und Ziegel flogen von den Dächern. Fußhoch lag der Schnee, und immer neue Massen wurden heruntergepeitscht. Im Thorweg des letzten Hauses, einer Gastwirtschaft, zündete Adam die Laterne an, deren er bisher nicht bedurft hatte, und dann schritt der arme Junge hinaus in die menschenleere Wildnis.

Nicht mehr rasch gings, Kopf und Brust bohrten sich in den Sturmwind hinein, und die Füße stemmten, Schritt für Schritt, tapfer nach. Das Gefühl wohliger Lebenswärme war verloren. Der Kopf glühte, aber auf dem Rücken lag es eisig, das Wams war gefroren; und die Füße wurden kalt und schwer und immer schwerer.

Er hatte nach der Weisung der Magd die neue Straße eingeschlagen; auf dem Herwege war er die alte gegangen. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, daß der alte Weg der geschütztere sei, und daß höchst wahrscheinlich der Doktor auf jenem fahren werde. Er brach fast zusammen vor Schreck, als ihm dies mit einemmal sonnenklar wurde, und es war ihm einige Augenblicke nicht möglich, einen Schritt weiter zu thun. Da raffte er Schnee auf und preßte ihn an die glühenden Lippen und an die dumpfe Stirne, und das leise Stöhnen, das aus seiner Brust brach, war ein Gebet, wie es schreiender nie aus der Tiefe menschlicher Not an das Herz dessen geschlagen hatte, der den Einsamen sieht und sich des Elenden erbarmt.

Adams Plan war gefaßt. Die beiden Straßen liefen parallel in geringer Entfernung von einander, Zwischen ihnen war zuerst der Eisenbahndamm und dann ein Bach mit tiefem Bett. Adam hatte zugesehen, wie man im Sommer vom Wasserspiegel bis zum Beginn des Dammes eine senkrechte Mauer aufgeführt hatte. Hier hinunter zu klettern war unmöglich; auch pflegte der Bach, dessen Wasser ungleichmäßig floß, beim härtesten Froste zwischen festem Eise lange offne Strecken zu behalten. Also war die Hoffnung, das Bett überschreiten zu können, unsicher. Aber Adam war früher unzähligemal herüber und hinüber gesprungen. So konnte es gehen.

Er bog von der Straße ab. Der Sturm hatte nachgelassen, aber um so dichter fielen die Schneeflocken. Die Laterne, die er an der Brust trug, beleuchtete scharf einen dreieckigen Ausschnitt, dessen Grundlinie fünfzehn Schritte weit von dem Lichte, der Spitze des Dreiecks, entfernt sein mochte. Adam sah vor sich den Damm. Zuerst sank er bis an die Lenden in den Schnee. Das war der Straßengraben. Dann arbeitete er sich mit Händen und Füßen hinauf. Jetzt war er oben. Er untersuchte mit dem Fuße. Hier sind die Schienen, das erste, das zweite Geleise. Jetzt stand er am Rande. Er lauschte. Ist das nicht Schlittengeläute in der Ferne? Ja, des Ankerwirts Schlitten ists. Adam hätte seine Schellen aus Hunderten herausgekannt. Was jetzt thun? – Hier oben bleiben? – Allerdings, man sah von der Straße aus sein Licht. Aber mußte ihn nicht der Arzt für den Bahnwärter halten, der seine Strecke abging? – Hinüberrufen? – Er versuchte seine Stimme; sie war heiser und matt. Unmöglich konnte man ihn hören. – Die Laterne hinüberwerfen? Aber konnte sie nicht an einem der Prellsteine der Straße zerschellen oder verlöschen im Schnee? Oder sollte er es wagen, sich hinunterzulassen? Unter dem grellen Schein, der von der Laterne ausging, lag das tiefe Bett des Baches in schwarzer Finsternis. Wie er auch das Licht drehte und wendete, kein Strahl drang bis hinunter auf den Wasserspiegel. Ob Eis, ob Flut, wer konnte es wissen? Nur eins blieb übrig: der Sprung.

Adam spähte hinüber. Er wußte, daß von drei zu drei Schritten ein Quaderstein am Rande der Straße emporragte zum Schutze der Fuhrwerke gegen die Gefahr des Absturzes. Aber die fallenden Flocken verhüllten das gegenüberliegende Ufer, Adam schloß die Augen, krampfte alle Kraft in sich zusammen und sprang.

Ein furchtbarer Schlag traf ihn auf das Knie, ein zweiter mitten in das Gesicht; er war auf einen der Steine geprallt. Er griff zu, aber faßte nichts als Schnee und sank hinunter in die Tiefe. Es war kein hoher Sturz, und auf der weichen Hülle des gefrorenen Wasserspiegels that er sich nicht wehe. Eine fast unbezwingliche Lust, liegen zu bleiben und auszuruhen, kam über ihn. Aber er hörte das Schlittengeläute näher und näher. Er drehte die brave Laterne nach allen Seiten, aber, er sahs an den scharf abgeschnittenen Schattenrändern, ihr Schein konnte nicht hinausdringen bis auf die Straße. Ich selbst kann nimmer hinauf, aber du sollst hinauf, dann will ich schlafen! Er raffte sich auf. Der rechte Fuß war lahm. Er kroch den steilen Abhang hinauf, sich haltend und emporziehend am Gesträuch und sich einkrallend unter den Schnee in die Erde. Seine Arme zitterten. Noch einen Augenblick, sagte er, dann ists genug. Jetzt konnte er mit der Hand hinauftasten auf die Straße; er fühlte die Kante des Steins, wider den er gesprungen war. Mit der Linken hielt er sich fest an einem Zweige, der von oben herunterhing, mit der Rechten griff er in die Brust und schob sein Taschentuch, in dem der Zettel stak, hinauf auf die Straße; dann nestelte er die Laterne los und schob sie daneben. Jetzt stand sie und mußte ihren Schein hell über die Straße werfen. Ein glückseliges Lächeln, von niemand als Gottes Engeln gesehen, verklärte sein blutiges Angesicht; dann glitt er lautlos in die Tiefe hinunter. – –

Da drunten ists warm, da ziehts uns hin, riefen die Schneeflocken einander zu und stürzten in die Tiefe. Die einen fielen zwischen seine Lippen und zerschmolzen auf den Zähnen; die andern häuften sich ums Herz. Er friert, wir wollen ihn wärmen; er will von seiner Mutter träumen, wir wollen ihn zudecken, flüsterten sie, und immer mehr Brüder und Schwestern riefen sie herbei. Bald schmolzen die Flocken auf seinen Zähnen nicht mehr, und als der Tag graute, riefen die zuletzt gekommnen: jetzt ists genug; wir habens besorgt! –

Wieder kam des Ankerwirts Schlittengeläute die Straße her. Man hielt oben an.

Da ist die Laterne gestanden. Wer sie nur hingestellt haben mag?

Das hat das Christkind gethan, erwiderte des Ankerwirts alter Knecht. Ja, ein Engel muß es gewesen sein, sagte der Arzt, denn wäre ich eine Viertelstunde später gekommen, so wären Mutter und Kind verloren gewesen. – Wo nur der Junge geblieben sein mag?

Er stieg aus dem Schlitten und besichtigte die Stelle. Er schaute auch in die Tiefe hinunter. Aber die Schneeflocken hatten es gut besorgt. Ein Rabe erhob sich aus dem Bett des Baches und flog mit träger Schwinge drei Schritte weit. Dann schaute er die Männer an und krächzte. In der Ferne aber läuteten die Glocken zum Christfeste.


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