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Erstes Kapitel.
Rosa wird von einer guten Mutter erzogen

An den südlichen Grenzen Schwabens, in jenen malerischen Gegenden voll blühender Täler und waldiger Berge, hinter denen sich in blendendweißer Pracht die Schneegebirge der Schweiz erheben, stand vor uralter Zeit auf einer hohen, mit Tannen bewachsenen Felsenspitze das ansehnliche Schloß Tannenburg. Noch Jahrhunderte, nachdem es zerstört worden war, machten die zerfallenen Türme und die bemoosten Mauern, zumal wenn sie von der untergehenden Sonne gerötet oder von dem Mondlichte blaß beleuchtet waren, einen eigenen Eindruck auf das Gemüt des Wanderers. Er segnete in seinem Herzen die edlen Menschen, die ehemals hier gewohnt und weit umher die ganze Gegend beglückt hatten, und setzte, von dem schauerlichen Gefühle der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ergriffen, seinen Stab weiter.

Auf diesem Schlosse lebte ehemals Ritter Edelbert mit seiner Gemahlin Mathilde in der seligsten Eintracht. Edelbert war ein sehr tapferer Ritter. So rauh aber sein Beruf war, Schwert und Lanze zu führen, so sanft und mild war sein Sinn. Unter dem eisernen Panzer schlug ein Herz voll Menschlichkeit. Er war fromm und gottesfürchtig, ein biederer deutscher Mann, freundlich mit seinen Gutsangehörigen. Der Herzog von Schwaben ehrte ihn als seinen Freund, und selbst der Kaiser hatte ihn vor allen übrigen Rittern sehr rühmlich ausgezeichnet. Mathilde, Edelberts Gemahlin, galt wegen ihres Verstandes, ihrer Frömmigkeit, ihrer Tugend, ihrer Wohltätigkeit gegen die Armen als die vortrefflichste Frau weit umher; überdies war sie von ganz ausnehmender Schönheit.

Ritter Edelbert befand sich in jenen unruhigen, kriegerischen Zeiten wenig auf seinem Schlosse; er begleitete den Herzog auf seinen Kriegszügen und war oft jahrelang im Felde. Mathilde fand während der Abwesenheit ihres Gemahls die süßesten Freuden in der Gesellschaft ihres einzigen Kindes, eines zarten Töchterchens, das Rosa hieß und an trefflichen Geistesgaben wie an Schönheit der Gestalt der Mutter glich. Dieses hoffnungsvolle Kind nur Gutes zu lehren, war das größte Anliegen der liebenden Mutter. Ihre Erziehungsart war sehr einfach, aber vortrefflich; da sie selbst von Herzen fromm und gut war, so konnte es ihr nicht schwer werden, auch die Tochter rechtschaffen und gut zu erziehen.

Die fromme Mutter lehrte ihre Tochter vor allem Gott kennen und suchte eine recht kindliche Liebe zum Vater im Himmel in ihr zartes Herz zu pflanzen. Die edle Frau hatte viel Sinn und Gefühl für die herrlichen Werke Gottes, betrachtete sie mit großer Andacht und freute sich von Herzen darüber. Von dem hohen Bogenfenster ihrer gewöhnlichen Wohnstube, an dem sie viele Stunden des Tages bei der Arbeit zubrachte, hatte man eine prachtvolle Aussicht. Himmel und Erde gewährten, von dieser Höhe betrachtet, einen unbeschreiblich schönen, herzerhebenden Anblick und gaben der guten Mutter mannigfaltigen Anlaß, ihre Tochter auf die Weisheit, Güte und Allmacht Gottes in seinen Werken aufmerksam zu machen.

An einem herrlichen Sommermorgen weckte Mathilde die kleine Rosa sehr frühe. »Komm doch, Rosa«, rief sie, »und sieh, wie schön heute die Sonne aufgeht! Sieh«, sagte sie und öffnete das Fenster, »wie da, wo sie jetzt heraufkommen wird, der Himmel so hell erglüht! Sieh, die zarten Wölkchen umher glänzen vom feurigsten Rot, und die fernen Schneegebirge dort über den dunkelgrünen Waldungen gleichen Gebirgen von Gold. Sieh – jetzt – jetzt geht die Sonne auf! Oh, welch ein wunderbarer Gott, der sie und alles, was ihre Strahlen beleuchten, hervorgebracht hat! Sieh, der Kirchturm da drüben ragt wie vergoldet aus dem Walde von Obstbäumen hervor, in dem fast das ganze Dörflein versteckt liegt. Die fröhlichen Landleute gehen neugestärkt an ihre Geschäfte. Der Hirt treibt die freudig brüllenden Kühe dem tiefen Talgrunde zu; an jenem Berge weiden die Schafe, vom sorgsamen Schäfer begleitet. Die Mähder dort auf den blumenreichen Wiesen mähen mit ihren blitzenden Sensen; die Getreidefelder sind bereits gelb, und bald wird man die Sichel anschlagen. Überall erblicken wir den reichsten Segen Gottes. Oh, welch ein guter Vater ist er, der auf alle Menschen, sie mögen in Schlössern oder in Hütten wohnen, gleich liebevoll herabblickt, ihnen diese schöne Erde, die so voll seiner Gaben ist, zum Wohnplatz einräumte und sie alle einst bei sich in dem Himmel haben will! Wer sollte sich eines so guten, lieben Vaters nicht freuen?« Solche Worte, die aus dem Herzen kamen, gingen der kleinen Rosa auch wieder zu Herzen. Sie faltete ungeheißen die kleinen Hände und sagte: »O du guter, lieber Gott, wie danke ich dir, daß du alles so schön gemacht hast!«

Auf eine ähnliche Art lehrte Mathilde ihre Tochter, wie alles, was wir am Himmel und auf Erden erblicken, von der Sonne bis zum Tautropfen, uns die Güte und Freundlichkeit Gottes verkünde. Die wechselnden Jahreszeiten mit ihren mancherlei Schönheiten und reichlichen Gaben boten ihr dazu immer neue Gelegenheit. Rosa lernte von den Geschöpfen sich zum Schöpfer erheben; sie dachte beim Anblick einer schönen Blume oder lieblichen Baumfrucht mit erfreutem Herzen an ihn und dankte ihm voll der kindlichsten Liebe für seine Wohltaten.

Die fromme Mutter hatte die Heilige Geschichte ganz inne und erzählte, während sie spann oder stickte, der horchenden Tochter Begebenheiten, die dem kindlichen Alter angemessen waren. Rosa wurde gleichsam in das Paradies, in die Hütten der Patriarchen, in die Wüste der Israeliten, in das Land, das von Milch und Honig floß, versetzt und hatte unaussprechliche Freude daran. Sie lernte, wie Gott sich den Menschen als der Heiligste offenbarte, der nur am Guten Freude hat, alles Böse haßt und alle Menschen gut und fromm haben will. In den bösen Menschen, die uns die Heilige Geschichte vor Augen führt, erblickte sie abschreckende Beispiele der Laster; in den guten aber freundliche Vorbilder jeder liebenswürdigen Tugend. Am liebsten hörte Rosa von Jesus Christus erzählen. Sie freute sich mit den Engeln und Hirten des göttlichen Kindes in der Krippe zu Bethlehem und opferte mit den Weisen aus dem Morgenland dem neugeborenen Könige, dessen Stern am Himmel glänzte, die kindlichsten Empfindungen der Anbetung und des Dankes, die köstlicher als Gold und Weihrauch waren. Sie sah den holden Himmelsknaben in der Hütte zu Nazareth, wie er der heiligen Mutter und dem frommen Pflegevater gehorchte, wie er betete, arbeitete, an Liebenswürdigkeit vor Gott und den Menschen wie an Alter zunahm, und sie faßte die herzlichsten Vorsätze, ihren Eltern auch so zu gehorchen und täglich in allem Guten zuzunehmen. Sie begleitete in Gedanken den göttlichen Lehrer auf seinen Reisen durch das Gelobte Land, stand im Geiste unter seinen Zuhörern dort am Berge oder See oder im Tempel, hörte ihm voll Andacht und Aufmerksamkeit zu und versprach es ihrer Mutter heilig, solche schönen Lehren auch getreulich zu befolgen. Die innigste Freude erfüllte ihr Herz, als sie vernahm, wie er, der göttliche Kinderfreund, die Kleinen liebreich zu sich rief und sie segnete; wie er den trauernden Eltern des gestorbenen Mädchens sagte: »Das Kind schläft nur!« und es aufweckte; und wie er dort zu dem toten Jüngling auf der Bahre sprach: »Stehe auf!« und ihn der weinenden Mutter lebend wieder zuführte. Sie nahm sich vor, stets ein gutes Kind zu sein, das Gottes Segen verdiene; sie liebte ihn von Herzen, sie vertraute auf ihn, der alle Tränen trocknen, in jeder Not helfen, selbst dem Tode alles Schreckliche nehmen und das ewige Leben geben kann. Als endlich die Mutter von den Leiden erzählte, die er, der Schuldlose, aus Liebe zu den Menschen auf sich nahm, und wie er, am Kreuze blutend, noch mit erblassenden Lippen für seine Mörder um Erbarmen zum Vater im Himmel flehte und durch Leiden und Tod in seine Herrlichkeit einging, da flossen die hellen Tränen über Rosas zarte Wangen. Sie gelobte in ihrem Herzen, dem, der auch für sie starb, ihr ganzes Leben zu weihen. So lehrte die fromme Mutter ihre Tochter Gott und den göttlichen Erlöser kennen und lieben.

Wie die Mutter innige Liebe zu Gott in das Herz ihrer Tochter pflanzte, so wollte sie, daß auch Liebe zu allen Menschen darin Wurzel fasse, vor allem aber zu ihren Eltern. Die mütterliche Liebe zu ihrer Tochter gewann ihr die kindliche Liebe der Tochter von selbst. Ebenso liebte Rosa ihren Vater, obwohl er wenig daheim war, mit kindlicher Zärtlichkeit, weil die Mutter immer mit herzlicher Liebe von ihm sprach. Wenn die Mutter sagte: »Sorge doch dafür, daß ich dem lieben Vater, wenn er kommt, nichts als Gutes von dir erzählen kann!« so war das für Rosa immer die kräftigste Ermunterung zum Guten. Kam der Vater wirklich nach Hause, dann bemühten sich Rosa und die Mutter, ihm nur Freude zu machen.

Der Vater aß die Pfirsiche sehr gern, die ein Baum an der Schloßmauer trug. Die Mutter brach einst die ersten reifen Früchte davon, teilte sie in drei gleiche Teile, für den Vater, sich und Rosa, sagte aber dabei: »Die meinigen werde ich dem Vater geben.« Rosa sagte sogleich: »Ich werde es mit den meinigen auch so machen.« Um alle Welt hätte sie keine davon gegessen. Mit freudiger Geschäftigkeit ordnete sie alle Pfirsiche in ein zierliches Körbchen, legte sie so, daß ihr liebliches Rot recht schön in das Auge fiel, und brachte sie dem Vater.

Mathilde war es gewohnt, wahrhaft Dürftige mit Geld oder Lebensmitteln zu unterstützen. Viele dieser Gaben ließ sie durch die Hand ihrer Tochter austeilen, damit sie die Seligkeit des Gebens aus Erfahrung möge kennenlernen. Sie wußte Rosas Mitleid für fremde Not anzuregen und sie dahin zu bringen, ihr eigenes Vergnügen dem Wohle anderer zu opfern. Rosa bekam einst von dem Vater ein Goldstück zu ihrem Geburtstag. Der Vater sagte, sie möchte sich von Schmuckwaren selbst dafür anschaffen, was ihr das Angenehmste wäre. Rosa tat eine Menge Fragen an die Mutter, was für schöne Sachen man für dieses Gold bekommen könnte. Die Mutter nannte allerlei, und die erfreute Rosa konnte gar nicht mit sich einig werden, was sie wählen sollte. Jetzt ließ sich aber eine arme Witwe melden, die ihre einzige Kuh durch die Seuche verloren hatte. Die Mutter rief die Witwe herein, hörte sie an und sagte: »Ach, mein Gott! das ist wohl ein recht großes Unglück für Euch; allein ich habe schon so vielen Leuten, die das nämliche Unglück hatten, Geld gegeben; ich werde kaum mehr so viel entbehren können; ich muß doch noch einiges wenige für die täglichen Ausgaben behalten.« Sie ging indessen, brachte Geld und zählte es auf den Tisch. »Mehr kann ich Euch nicht wohl geben«, sprach sie; »allein wenn Ihr noch einen Goldgulden weiter hättet, so könntet Ihr eine schöne Kuh kaufen.« Da lief Rosa eilends, brachte ihr Goldstück und legte es zu dem hingezählten Geld auf den Tisch. »Ich habe ja schon Sachen genug«, sagte sie, »die arme Witwe hat die Kuh viel nötiger als ich ein neues Kleidungsstück.« Das arme Weib weinte vor Freude und wollte Rosas Hand küssen. Als sie fort war, umarmte die Mutter ihre Tochter und sprach: »Du hast recht getan, liebe Rosa; dein tätiges Mitleid ist mehr wert als zehntausend Goldstücke und als aller Putz und alle Pracht der Welt.«

Die Mutter gewöhnte Rosa von zarter Kindheit an zu einem freudigen Gehorsam. »Denn«, sagte die verständige Frau, »der Eigenwille ist das mächtigste Hindernis des Guten. Ein Kind muß erst lernen, seinen Willen dem der Eltern zu unterwerfen, dann wird es sich umso leichter dem Willen Gottes fügen können. Denn wenn ein Kind den Eltern, die es sieht, nicht gehorcht, wie sollte es Gott gehorchen, den es nicht sieht? Die heftigen Neigungen in dem Herzen des Kindes müssen gemäßigt, das Unkraut muß ausgerottet werden, damit die schönen Blumen edler Empfindungen aufblühen können.« Was daher nicht erlaubt werden konnte, schlug die Mutter kurz und bestimmt ab. Die kleine Rosa suchte, wie alle Kinder, anfangs manches, was sie heftig begehrte, mit Bitten und Tränen zu erzwingen. Allein sie merkte bald, daß ein »Nein« der Mutter unabänderlich war; sie sah ein, daß alles Bitten und Weinen vergebens sein würde, und unterließ es. Die Mutter gab ihr täglich kleine Anlässe, sich im Gehorsam und im Überwinden ihrer Wünsche zu üben. Was die Mutter befahl, mußte sogleich geschehen; alle andern Beschäftigungen, alle Spiele mußten sogleich beiseite gelegt werden. Keine Blume im Garten durfte gepflückt, keine Frucht abgebrochen werden, ehe die Mutter es erlaubte. Allein diese hatte keine Freude an zu vielem Verbieten und Befehlen. Sie haßte das unaufhörliche, oft sehr überflüssige Meistern und Zurechtweisen an den Kindern, worüber diese zuletzt nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. »Es sind nur wenige Gebote nötig«, sagte sie, »diese müssen aber genau befolgt werden. Der liebe Gott gab nur zehn Gebote, die Menschen gut und glücklich zu machen, und wären diese immer gehalten worden, so hätte man sich zehntausend andere ersparen können.« Die kluge Mutter fand auch bald, um die Kinder zum Gehorsam zu ermuntern und vom Ungehorsam abzuschrecken, seien Belohnungen und Strafen notwendig. »Gott«, sagte sie, »macht es mit uns großen Kindern ja auch so.« Es war der Mutter eine Freude, ihrer geliebten Rosa von den schönsten Früchten des Gartens reichlich mitzuteilen. Allein Rosa mußte sie verdienen. Die Mutter sagte zum Beispiel: »Wenn du die Reime, die ich dir vorsagen werde, ohne Fehler auswendig gelernt hast, so bekommst du diese schönen Kirschen!« Oder sie sagte ein anderes Mal: »Wenn du das, was ich dir zum Stricken aufgegeben habe, recht machst, dann gebe ich dir, sobald du damit fertig bist, eine Traube.« Rosa hatte die Aufgabe bald zustande gebracht, und ihre Freude war nun größer, als wenn sie die Kirschen, Trauben oder andere Früchte unverdient erhalten hätte. Wenn Rosa einen Fehler gemacht hatte, so durfte sie nicht mit der Mutter in den Garten. Dies war Strafe genug; und bald bedurfte es auch dieser nicht mehr. Wenn die Mutter mit ernstem Blick sagte: »Das hätte ich von dir nicht geglaubt! Betrübe mich doch nicht so!« dann hatte Rosa keine Ruhe mehr, bis die geliebte Mutter wieder lächelte.

Die treffliche Frau, die man nie müßig sah, hielt sehr darauf, ihre Tochter immer zu beschäftigen. Wenn sie bei der Arbeit saß, so mußte auch die kleine Rosa immer etwas zu tun haben. Die Mutter sah ihr mit Wohlgefallen zu und sagte wohl auch bei sich selbst: »Der emsige Fleiß des Kindes nützt freilich noch nichts in der Haushaltung, allein er hat für mein Töchterchen selbst einen desto größeren Nutzen. Er bewahrt es vor Langeweile und übler Laune und gewöhnt es früh an ein tätiges Leben.« Rosa lernte auch wirklich sehr früh fertig und zierlich spinnen, und bald wußte sie auch die Nähnadel geschickt zu führen. Sie verfertigte sich unter Anleitung der Mutter aus der selbstgesponnenen Leinwand ein Kleid und hatte darüber eine ganz ungemeine Freude. Der reiche Stoff, den ihr der Vater einst von einem seiner Feldzüge mitgebracht hatte, freute sie lange nicht so.

Mathilde besorgte, wie es damals Sitte war, die helle, glänzend reine Küche selbst. Auch da wußte sie für Rosa von deren zarter Kindheit an immer irgend ein kleines Geschäft ausfindig zu machen, und wäre es auch nichts weiter gewesen, als Erbsen auszulesen oder Bohnen abzufäden. Die angenehmste Beschäftigung aber fand die Mutter in dem schön angelegten Schloßgarten, zumal die Bewegung in der frischen Luft ihrer Gesundheit sehr wohl bekam. Auch Rosa zeigte bald Lust zur Gartenarbeit. Die Mutter wies ihr einige besondere Gartenbeete an und ließ ihr einen kleinen Rechen, eine kleine, niedliche Gießkanne und anderes kleines Gartengerät machen. Da gab es nun von den ersten Frühlingstagen an, in denen die lieblich rote Pfirsichblüte hervorkam, bis im Herbst das Laub abfiel, immer etwas für das Kind zu tun. Mit der freudigsten Emsigkeit legte Rosa Sämereien in die Erde und setzte junge Pflänzchen; sie begoß die nützlichen Gewächse und jätete das keimende Unkraut aus; sie häufelte um den jungen Kohl her die Erde auf und band die emporrankenden Erbsenstauden an Stäbe. Als die ersten süßen Gartenerbsen, die Rosa gezogen und gekocht hatte, auf den Tisch kamen, hatte sie kein geringes Vergnügen; sie glaubte, nie habe ihr eine Speise so wohl geschmeckt. »Das sind die süßen Früchte des Fleißes«, sagte die Mutter. »So belohnt Gott den Fleiß im kleinen und im großen. Fleiß hat die ganze Gegend, die unser Schloß umgibt, aus einer Wildnis in einen reichen Garten umgeschaffen.«

Wie die Mutter darauf bedacht war, ihre kleine Tochter immer zu beschäftigen und mit den Beschäftigungen abzuwechseln, damit das Einförmige nicht ermüde, so ließ sie es ihr auch nicht an Erholung fehlen. Zwei oder dreimal in der Woche durften einige arme, wohlgesittete Mädchen von Rosas Alter auf Besuch kommen, unter denen sich besonders eines, namens Agnes, durch Gutherzigkeit auszeichnete. Rosa bewirtete allemal zuerst ihre kleinen Freundinnen mit Milch, Obst und Kuchen, dann spannen sie eine Zeitlang und machten hierauf in der Wohnstube oder im Garten ein Spiel. Die Mutter hatte aber die Kinder, ohne daß diese es eben bemerkten, immer im Auge und hörte alles, was sie miteinander redeten. Sie gab die Spiele an und wußte sogar das Spiel für sie lehrreich zu machen. Auf diese und ähnliche Art erhielt sie ihre Tochter, was sie für ein wesentliches Stück einer guten Erziehung ansah, immer heiter und fröhlich. Rosa war stets seelenvergnügt und deshalb zu jedem Geschäft williger und zu allem Guten aufgelegter.

Ganz besonders war die Mutter darauf bedacht, daß die keimende Eitelkeit und die Liebe zum Putze für des Kindes Herz nicht verderblich werde. Eines Tages. als Rosa schon etwas mehr herangewachsen war, kam der Herzog nach Tannenburg, um seinen Freund Edelbert zu besuchen. Mehrere Ritter und Ritterfrauen aus der umliegenden Gegend wurden eingeladen. Rosa mußte in einem ihrem Stande angemessenen Gewande erscheinen; sie war in reiche Stoffe gekleidet und mit Edelsteinen geschmückt. Die fremden Herren und Frauen lobten die Schönheit und den Staat des Fräuleins über die Maßen, sie sagten ihr viele Schmeicheleien, die Rosa ganz gern anhörte. Als die vornehmen Gäste fort waren, sprach die Mutter: »Die Worte, die diese Herren und Frauen dir sagten, haben mich recht betrübt! So wußten sie denn nichts an dir zu loben als diese glänzenden Flitter, die dir nur angeheftet sind und die du jetzt wieder ablegst! Dem Kunstweber und dem Steinschleifer galten ihre Lobsprüche, nicht dir. Nur deine Gestalt rühmten sie, die nicht dein Verdienst ist, deren Schönheit bald vergeht, die einst in Staub zerfallen wird. Ach, mein Gott, wenn sonst an dir nichts lobenswürdig wäre, so wäre ich wohl eine recht unglückliche Mutter! Meine liebe, gute Rosa, trachte doch nach solchen Eigenschaften, die dir wahrhaft zur Ehre gereichen.« Die Mutter ordnete ihren Schmuck traurig in das zierliche Schmuckkästchen. »Ach«, sagte sie, »was sind diese Kleinodien gegen ein edles Herz? Diese Dinge können mich nicht glücklich machen. Wenn man mich einst zu Grabe tragen wird, so bleibt dieses Kästchen hier stehen. Edle Gesinnungen und Taten allein sind die rechten Edelsteine, die in jener Welt noch einen Wert haben.«

Mehr als alles aber, was Mathilde sagen konnte, Rosa gut zu erziehen, wirkte ihr eigenes schönes Beispiel. Das ganze Betragen der Mutter war wie ein heller, reiner Spiegel, in dem die Tochter den ganzen Tag vor Augen sah, wie sie beschaffen sein sollte und was sie werden müsse. Die Mutter war bescheiden, sanft, sittsam, keinen Menschen ließ sie ihre Vorzüge, ihren Rang, ihren Reichtum und ihre Lebenserfahrung empfinden. Ihr mildes, freundliches Angesicht wurde nie von Zorn entstellt. Nie redete sie Übles von andern; nie kamen tadelsüchtige oder tadelnswürdige Worte aus ihrem Munde. Vorzüglich aber machten ihre Frömmigkeit und Menschenfreundlichkeit auf das Herz der Tochter einen solchen Eindruck, daß er in ihrem ganzen Leben nicht mehr erlosch.

In der Burg befand sich eine altertümliche Kapelle, deren Fenster zu Rosas großer Freude Begebenheiten aus der Heiligen Geschichte in den lebhaftesten Farben zeigten. In dieser Kapelle kniete und betete die fromme Mutter oft mit einer solchen Innigkeit vor dem Altar, daß man es ihr ansah, sie sei ganz in Gott versunken, und daß ihr Angesicht wie verklärt erschien. Die betende Mutter war für Rosa ein ergreifender Anblick und erhob auch ihr Herz zum Himmel. Rosa sah es hier mit Augen und fühlte es tief im Herzen: Die edelste und seligste aller Empfindungen ist die wahre Andacht. Ein ganzes, weitläufiges Buch hätte sie nicht so klar und so anschaulich davon überzeugen können.

Mathilde nahm sich der Kranken, der Leidenden und Bedrängten aller Art tätig an. Einmal war im Dorfe unten am Berge eine arme Taglöhnerin, die Mutter von sieben kleinen, unerzogenen Kindern, sehr gefährlich krank geworden. Da war es der edlen Frau nicht zuviel, den hohen Schloßberg hinabzusteigen, die arme Kranke unter dem niedrigen Strohdache zu besuchen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, alles Dienliche anzuordnen, ihr Mut zum Einnehmen der Arznei zu machen und ihr diese wohl selbst zu reichen. Sie wiederholte den Besuch täglich, und Rosa mußte sie begleiten, damit sie beizeiten mit dem menschlichen Elend bekannt würde und lernen möchte, es andern zu erleichtern und auch sich selbst einmal umso leichter darein zu finden. Als Mathilde eines Tages wieder an das dürftige Krankenlager kam und erklärte, daß die Kranke nun außer Gefahr sei, als jetzt alle sieben Kinder, der bekümmerte Vater und selbst die kranke Mutter in Freudentränen ausbrachen, als der Vater die Kinder ermahnte, der Frau, die der Mutter das Leben gerettet habe, innig zu danken, als die Kinder die Hand und das Kleid ihrer Wohltäterin küßten, da ward Rosa so gerührt, daß sie selbst mitweinte, sich glücklich schätzte, eine so gute Mutter zu haben, und es in ihrem Herzen Gott heilig angelobte, in ihre Fußtapfen zu treten.

Eine so gute Erziehung konnte nicht ohne gute Früchte bleiben. Rosa wurde recht das Bild jeder jungfräulichen Tugend. Sie war voll Liebe gegen Gott, gegen ihre Eltern, gegen alle Menschen. Ihre Bescheidenheit, ihre Sittsamkeit, ihr sanftes Wesen, ihr frommer, reiner Sinn veredelten und verschönerten ihr holdes Angesicht. Einfach und rein wie ihr Sinn war ihre Kleidung von selbstgesponnener und selbstgebleichter Leinwand; ein paar blaue Kornblumen oder eine Rosenknospe zu dem blendendweißen Kleide war ihr liebster Schmuck. Allein ihre schuldlosen, freundlichen Augen waren schöner blau als die Kornblumen, und die Farbe ihrer blühenden Wangen beschämte das Rot der aufbrechenden Rosenknospe. Wer sie nur sah, sagte: »Rosa von Tannenburg ist wohl das schönste Fräulein von ganz Schwaben; allein ihre Tugend macht sie noch unendlich liebenswürdiger als ihre Schönheit.«


Zweites Kapitel.
Rosa verliert ihre Mutter

Ach, daß die gute Rosa das Glück, eine so vortreffliche Mutter zu haben, nicht länger genießen konnte! Rosa war etwa vierzehn Jahre alt, da wurde die Mutter plötzlich sehr krank. Sie fühlte die Gefahr und verhehlte sie ihrer Tochter nicht. Ritter Edelbert war zu Feld gezogen. Sie sprach daher zu Rosa: »Liebstes Kind, schicke doch sogleich einen reitenden Boten an deinen Vater. Ich möchte ihn in dieser Welt noch einmal sehen! Und laß dann auch den frommen Abt Norbert rufen! Er hat mich getauft, und während meines ganzen Lebens war er mein Gewissensfreund und väterlicher Ratgeber. Er wird mir auch bei dem Austritt aus diesem Dasein seinen Beistand nicht versagen und mich sanft hinüberleiten in jenes bessere Land, hinüber zu meinem Schöpfer und meinem Erlöser. Es wäre wohl zu spät, wenn ich mich erst jetzt auf den Tod vorbereiten wollte. Die ganze Erdenzeit soll ja eine Vorbereitung auf den Himmel sein. Indes kann ein Mensch in den wichtigen Augenblicken vor dem Tode wohl nichts Besseres tun, als sie Gott widmen.« Der fromme Abt, ein liebenswürdiger, freundlicher Greis, erschien. Mathilde redete eine Zeitlang allein mit ihm und beichtete ihm. Sie empfing aus seiner Hand das Brot des Lebens. Die Flamme ihrer Andacht ergriff auch das Herz der guten Rosa und milderte ihren unaussprechlichen Schmerz.

Rosa blieb voll Andacht, Liebe und Mitleid gleich einem dienenden Engel immer am Krankenbett. Ritter Edelbert kam erst am dritten Tage spät in der Nacht an. Die Tochter eilte ihm entgegen. Sie begrüßte ihn, als sie ihm unten an der steinernen Wendeltreppe begegnete, mit einem Strome von Tränen. Tiefbetrübt trat der Ritter an das Krankenbett. Er erschrak, seine innigstgeliebte Gemahlin so blaß und verändert zu finden. Sein Schrecken löste sich endlich in Tränen auf. Rosa stand schluchzend an der andern Seite des Bettes. Die todkranke Frau bot ihrem teuren Gemahl, mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit lächelnd, die Hand; die andere reichte sie ihrer Tochter. »Liebster Edelbert! Liebste Rosa!« sagte sie mit schwacher Stimme, »mein Stündlein ist da. Ich werde die aufgehende Sonne nicht mehr sehen. Aber weinet nicht! Ich bekomme es ja besser dort oben in dem Hause unseres himmlischen Vaters, wo viele Wohnungen sind. Laßt es euch sein, als ginge ich jetzt nur in ein anderes Zimmer dieses großen Hauses. Ich bin darum nicht für euch verloren. Wir sehen uns bald wieder und werden dann nie mehr voneinander scheiden.« Sie schwieg; die Schwäche gestattete ihr nicht, weiterzureden.

»Liebster Edelbert!« sprach sie über eine Weile wieder, »nie habe ich dir ein gemaltes Bild von mir gegeben; allein Rosa, mein lebendiges Ebenbild, sei dir ein besseres Andenken an mich, ja, das beste, das ich dir zurücklassen kann. Dir übergebe ich sie jetzt in meinen letzten Augenblicken wie vor Gottes Angesicht! Ich suchte sie fromm und christlich zu erziehen; vollende du jetzt diese Erziehung! Verbessere, was ich etwa versah! Wende alle Liebe, die du mir erwiesen hast und für die ich dir noch sterbend danke, ihr zu!

Und du, liebste Rosa!« fuhr sie fort, »du hast mir viele Freude gemacht, du hast mich nie betrübt, du warst mir immer eine gute Tochter! Dieses Zeugnis muß ich dir noch in der Stunde meines Todes geben. Oh, bleibe fromm, unschuldig, gut; liebe Gott; halte dich an unsern göttlichen Erlöser; tue, was er uns lehrt; tue nie etwas Böses! Ehre und liebe deinen guten Vater! Ach, er ist im Kriege immer so vielen Gefahren ausgesetzt. Sollte er einmal verwundet nach Hause gebracht werden, so vertritt du meine Stelle an ihm. Sei ihm einst in den Tagen des Alters eine liebevolle Pflegerin, da ich es nicht mehr sein kann! Bleibe ihm eine gute Tochter und lebe wohl!

O Gott«, sprach sie noch mit einem frommen Blick zum Himmel, »bewahre du sie vor dem Bösen und erhalte sie im Guten! Erhöre mein letztes Gebet, das heiße Flehen eines Mutterherzens, das jetzt bricht, und laß mich sie dort im Himmel wiedersehen!«

Vater und Tochter zerflossen in Tränen. Die fromme Sterbende legte die Hand ihres Gemahls in die der Tochter und hielt beide zwischen ihren erkaltenden Händen. »Wir drei«, sagte sie, »waren immer ein Herz und eine Seele in dieser Welt; wir werden es mit Gottes Hilfe auch in jener sein. Der Tod kann unserer Liebe nichts anhaben. Wir werden im Himmel ewig leben und uns ewig lieben.«

Sie blickte ihren Gemahl und ihre Tochter mit der Heiterkeit eines Engels noch einmal an. In ihrem Angesicht schimmerten schon die Strahlen der nahen Verklärung. »Gott«, sprach sie, »gewährt mir einen großen Trost und eine große Freudigkeit in diesen letzten Augenblicken. Ihm sei Dank! Oh, meine Rosa, wie freue ich mich, daß du an mir siehst, wie getrost und selig diejenigen sterben können, die an Gott, an Christus und an das ewige Leben glauben. Christus läßt es allen, die ihm anhangen, nicht an Trost fehlen, wo sie ihn gerade am nötigsten haben. Ich achte den Tod für nichts; ich bin in der Hoffnung der Ewigkeit schon selig.«

Sie richtete jetzt ihre Blicke auf ein schönes Gemälde des sterbenden Erlösers, das ihr gegenüber an der Wand hing. Sie faltete die Hände und sagte noch mit leiser, fast unvernehmbarer Stimme: »Wie du, mein Erlöser, deinen Geist in die Hände deines Vaters empfohlen hast, so empfehle ich meinen Geist in deine Hände.« Sie schwieg – wurde blässer – ihre Augen brachen – sie verschied. Rosa war vor Jammer fassungslos. Edelbert sagte schluchzend: »Sie lebte und starb wie eine Heilige! Sie hat nun überwunden. Gott nehme uns auch einmal so sanft zu sich und führe uns mit ihr dort oben wieder zusammen.«

Die Trauer des guten Edelbert und der tief betrübten Rosa in dieser Nacht, am folgenden Tage und beim Leichenbegängnisse war unbeschreiblich. Die ganze Gegend weit und breit trauerte mit ihnen. In jedem Hause, jeder Hütte war ein Jammer, als wäre die eigene Mutter gestorben! Der ehrwürdige Abt bestattete die Leiche zur Erde. Er fing an, zu der unzähligen Menge von Menschen, die sich bei dem Leichenbegängnisse eingefunden hatten, zu reden. Das allgemeine Schluchzen wurde bald so laut, daß man die Stimme des Greises nicht mehr vernahm. Er selbst brach in Tränen aus. Er winkte mit der Hand, stille zu sein, und sagte nichts mehr als die Worte: »Wo die Tränen so laut sprechen, muß ich schweigen! Laßt uns so leben, daß auch an unserm Grabe dankbare Tränen fließen! Laßt uns hier reichlich aussäen wie die Verklärte, so werden wir dort auch reichlich ernten!«


Drittes Kapitel.
Rosa verpflegt ihren Vater

Ritter Edelbert war wieder in den Krieg gezogen; allein eines Tages im Herbste kam er, am rechten Arme schwer verwundet, zurück auf seine Burg. Rosa war sehr bestürzt und empfand das zärtlichste Mitleid mit dem geliebten Vater. Sie wich nimmer von seinem Bette. Sie bereitete und brachte ihm alle Speisen. Sie half bei dem Verbande der Wunde. Da der Arm nur sehr langsam besser wurde, Edelbert oft traurig und mißmutig am Kaminfeuer saß und schmerzlich bedauerte, daß er seine Pflicht als Rittersmann nicht erfüllen und dem Herzog nicht beistehen könne, so wußte nur Rosa ihn zu erheitern. Sie setzte sich mit ihrem Stickrahmen oder dem Spinnrocken zu ihm. Sie redete von ihrer seligen Mutter und erzählte manche weise Worte, manche edle Handlungen von ihr, die dem Vater noch nicht bekannt waren. Sie fragte nach diesem oder jenem Umstande aus der Geschichte seiner ritterlichen Taten. Sie beredete ihn, den silbernen Becher, den er noch vom Ahnherrn, dem Vater ihrer Mutter, zum Geschenke bekommen hatte, wenigstens dem Ahnherrn zuliebe noch einmal füllen zu lassen. Der Ritter kam unvermerkt ins Gespräch; sein Mißmut verschwand. Viele Stunden des traurigen Winters vergingen ihm wie Augenblicke.

In den ersten Tagen des Frühlings kam ein sehr edler Ritter auf Edelberts Burg an und forderte ihn auf, mit dem Herzog wieder zu Feld zu ziehen. Edelbert fühlte zu seiner großen Betrübnis seinen Arm noch zu schwach, Schwert und Lanze zu führen. Indes berief er sogleich seine Dienstleute auf die Burg, sie dem Herzog zu Hilfe zu schicken. Er bewirtete sie drei Tage lang. Am Morgen des vierten Tages, der zum Aufbruch bestimmt war, versammelte er sie in dem großen Rittersaale der Burg. Ritterlich gekleidet und mit einer goldenen Kette geziert, jedoch ohne Harnisch, dessen eherne Armschienen sein wunder Arm noch nicht vertragen konnte, trat er in ihre Mitte, übergab sie feierlich der Führung des fremden Ritters und ermunterte sie zur Tapferkeit und guten Manneszucht. »Seid gegen den Feind tapfer wie Löwen, gegen den friedlichen Landmann aber sanft wie Lämmer!« sagte er unter anderm. Mit Tränen in den Augen sah er von den Fenstern der Burg dem Zuge nach, bis er im nächsten Walde verschwand. Vergebens suchte er sich den Tag hindurch aufzuheitern; seine stille Burg schien ihm nach dem Abzug seiner treuen Kriegsgefährten einsam und verödet. Traurig setzte er sich nach dem Abendessen ans Kaminfeuer. Der Abend war kalt und schauerlich. Ein fürchterlicher Sturm sauste um die Türme der Burg, und der Regen schlug an die Fenster der Stube, daß sie klirrten. Rosa legte mehr Holz zum Feuer, brachte ihrem Vater in dem silbernen Becher seinen Abendtrunk, setzte sich zu ihm und sagte: »Lieber Vater, erzähle mir doch einmal die Geschichte des wackeren Köhlers, der dich diesen Nachmittag besuchte. Ich weiß wohl davon. Er wohnte ja ehemals auf unserer Burg, und seine Tochter Agnes war die Gespielin meiner Kindheit. Aber ich möchte die Geschichte doch einmal recht ausführlich hören.«

»Die Geschichte meines braven Burkhard?« rief der Ritter. »Oh, recht gern! Der gute Mann besuchte mich nicht ohne Ursache gerade an dem heutigen Tage. Er wußte wohl, wie es mir zumute war, so allein zurückbleiben zu müssen. Er hat das auch erfahren. Er war einst ein gar tapferer Krieger, der mich auf vielen Zügen begleitete.

Doch bevor ich von dem wackeren Burkhard erzählen kann, muß ich dir erst einiges von dem Ritter Kunerich von Fichtenburg sagen. Die prächtige Burgfeste Fichtenburg ist dir zwar nicht unbekannt, wir sehen ja von den Fenstern unseres Saales ihre Türme in weiter Ferne aus dunkeln Fichtenwaldungen hervorragen. Den Ritter selbst hast du noch niemals gesehen, denn er war von jeher sehr feindselig gegen mich gesinnt und hat mich noch niemals besucht. Sein Haß gegen mich entspann sich schon sehr früh. Wir waren beide in zartestem Kindesalter als Edelknaben an den Hof des Herzogs gekommen. Kunerich war als Knabe schon sehr eigensinnig, aufbrausend und ruhmredig und deshalb bei dem Herzog nicht sehr beliebt, und da haßte und beneidete er mich, weil ich ihm vorgezogen wurde. Als wir beide zu rüstigen Jünglingen herangewachsen und wehrhaft gemacht waren, mußten wir auf einem Turnier, das der Herzog dem jungen Adel gab, unsere Geschicklichkeit in Führung des Schwertes und der Lanze das erstemal öffentlich zeigen. Ich erhielt den ersten Preis, ein Schwert mit einem goldenen Griffe, das mir deine selige Mutter, die damals das schönste und sittsamste Fräulein am herzoglichen Hofe war, im Angesicht der schwäbischen Ritterschaft auf einem Purpurkissen überreichte. Kunerich hingegen erhielt den letzten Preis, ein Paar silberne Sporen. Von dieser Zeit an haßte er mich noch mehr und konnte mich gar nicht mehr gerade ansehen. Aufs höchste aber stieg sein Haß gegen mich, als der Kaiser mir nach jener großen Schlacht dieses goldene Ehrenzeichen hier umhängte, dem Ritter Kunerich aber, durch dessen Unbesonnenheit und Ungestüm die Schlacht beinahe verloren gegangen wäre, einen derben Verweis gab.

Der wackere Burkhard hatte nun als mein Lehensmann und Kriegsgefährte ein kleines Gütlein inne, das an der Grenze meines Gebiets liegt und an Kunerichs Waldungen anstößt. Ritter Kunerich war meinem guten Burkhard ein sehr böser Nachbar. Er unterhielt in seinem Gebiete eine Menge Wild. Die Hirsche kamen häufig über die Grenze und verheerten des guten Burkhard Äcker, die Wildschweine zerwühlten seine schönen Wiesen. Ich gab dem wackeren Manne den Auftrag, sie ohne weiteres niederzuschießen und sie mir einzuliefern, weil ja alles Wild, das auf meinem Grund und Boden erlegt würde, von Rechts wegen mir gehöre. Einmal nun ritt ich abends mit meinen Leuten von der Jagd heim. Die Sonne war bereits untergegangen, und das Abendrot blickte freundlich durch die Tannen. Da kam auf einmal Gertraud, des ehrlichen Burkhard Weib, mit zerrauften Haaren laut jammernd mir entgegen, fiel auf die Knie nieder und flehte mich mit gerungenen Händen um Hilfe an. Sie hatte ihre kleine Agnes mitgebracht; das Kind kniete neben der Mutter und erhob zitternd und weinend die kleinen Händchen. Der Anblick ging mir durch die Seele. Ich stieg ab und ließ mir erzählen, was sich begeben habe.

Die Geschichte war die: Der gute Burkhard, sein Weib Gertraud und die kleine Agnes hatten unter dem Baume vor ihrer Haustür zu Nacht gegessen und an nichts Böses gedacht, da überfiel sie plötzlich Ritter Kunerich, von mehreren bewaffneten Knechten zu Pferd und zu Fuß begleitet. Die Knechte ergriffen den guten Burkhard, banden ihm die Hände auf den Rücken, warfen ihn auf einen Karren und führten ihn fort. Dies tat Kunerich, weil Burkhard kürzlich an der Grenze, aber noch auf unserm Grund und Boden, einen Hirsch erlegt und ihn nach Tannenburg geliefert hatte. Der aufgebrachte Kunerich hatte geschworen, er wolle den boshaften Wilddieb, wie er den ehrlichen Burkhard nannte, in dem fürchterlichsten Kerker zu Fichtenburg unter Kröten und Unken verschmachten lassen.

Er soll frei werden, sagte ich zu Gertraud, und sollte ich das ganze Raubnest Fichtenburg darüber zerstören müssen. Sei nur getrost und geh einstweilen mit deinem Kinde auf meine Burg.

Ich machte mich augenblicklich mit meinen Knechten auf den Weg, dem Feinde seinen Raub womöglich noch abzujagen, ehe er damit seine Burg erreichte. Ich schickte einige Reitersknechte auf Kundschaft aus, nannte ihnen einen Platz, wo wir wieder zusammenkommen wollten, und ritt im scharfen Trab auf Fichtenburg zu. Die Knechte brachten mir bald Nachricht, Kunerich sitze mit seinen Leuten in der Mühle im Föhrengrunde und zeche, weil dort eben jetzt sehr gutes Bier zu haben sei; der Karren mit dem armen Burkhard stehe vor der Tür. Ich fand, daß ich mit meinen Leuten auf dem Wege zu Kunerichs Burg schon einen guten Vorsprung hatte. Wir hielten daher an einem bequemen Platze im Walde, wo Kunerich mit seinen Spießgesellen vorbeiziehen mußte. Sie kamen endlich, keine Gefahr ahnend, gutes Mutes und mit großem Gelärm. Plötzlich, wie ein Blitz vom klaren Himmel, überfielen wir die Räuber. Der Vollmond, der eben aufgegangen war, übernahm das Geschäft, uns bei dieser Arbeit zu leuchten. Da Kunerich auf den Überfall nicht gefaßt war und überdies zuviel getrunken hatte, focht er sehr schlecht und nahm nach einer kurzen Gegenwehr mit seinen Leuten Reißaus. Ich hätte ihn wohl fangen können; aber ich hatte Mitleid mit ihm und ließ ihn entrinnen. Gottlob kam bei dem Gefecht niemand ums Leben. Nur mit feindlichen Waffen war der Boden bestreut.

Wir banden nun den Mann auf dem Karren los, luden anstatt seiner die eroberten Waffen auf, gaben ihm ein Pferd, das im Getümmel einen feindlichen Reiter abgeworfen hatte, und zogen freudig nach Hause. Was sein Weib und seine kleine Tochter für eine Freude hatten, als wir zum Burgtor hereinritten und sie den Burkhard mir zur Seite reiten sahen, läßt sich gar nicht beschreiben! Und doch war meine Freude noch größer. Oh, es ist ein seliges Gefühl, andere aus der Not errettet zu haben!

Ich wies den guten Leuten ein Plätzchen in unserer Burg an, damit sie vor Kunerichs Rache sicher wären. Späterhin wurde Burkhard im Kriege verwundet und konnte keine Kriegsdienste mehr leisten. Indes war er nicht zu aller Arbeit unbrauchbar geworden und wollte deshalb sein Stücklein Brot nicht müßig verzehren. Er machte in der wildesten Gegend des Waldes ein verborgenes Tälchen ausfindig, wo er sich anzusiedeln wünschte. Ich ließ ihm dort ein hübsches Haus bauen. Er brach ein Stück Boden zu einem Ackerfeld um, das ihm Brot gibt, richtete den Talgrund zu einer großen Wiese zu, die einige Kühe nährt, und treibt mit meiner Bewilligung nebenbei das Kohlenbrennen. Die Gegend, wo er wohnt, wird fast nie von Menschen besucht, und Ruß und Kohlenstaub machen überdies sein sonst blühendes Angesicht die meiste Zeit fast unkenntlich. So glaubte er sich vor Kunerichs Nachstellungen sicher genug und wurde seitdem auch nicht im geringsten beunruhigt.«

Dieser Geschichte fügte Ritter Edelbert noch einige Beispiele von Burkhards Tapferkeit und Treue bei, so daß die Erzählung bis spät in die Nacht währte. Rosa hatte so aufmerksam zugehört, daß der Becher ihres Vaters schon lange leer stand und daß sie gar nicht daran gedacht hatte, neues Holz auf das Feuer zu legen.

Da erhob sich plötzlich in der Burg ein furchtbarer Lärm. Die gewölbten Gänge widerhallten vom Geklirr der Waffen und dem Geschrei streitender Männer. Mehrere heftige Schritte näherten sich der Wohnstube, in der sich Edelbert und seine Tochter befanden. Der Ritter sprang auf und blickte nach Waffen umher; Rosa verriegelte eilends die Tür. Allein mit einem fürchterlichen Stoße wurde sie aufgesprengt, und ein geharnischter Mann, begleitet von mehreren Bewaffneten, trat herein.

»Nun, Edelbert«, sprach er mit blitzenden Augen und mit donnernder Stimme, »ist die Stunde der Rache gekommen! Erzittere vor Kunerich, dem du so oft zuwidergehandelt und den du so oft beleidigt hast. Nun sollst du mir dafür büßen.« Er wandte sich hierauf zu seinen Kriegsknechten und rief: »Schlagt ihn in Ketten und bewacht ihn, bis wir aufbrechen! Das schauerlichste Gefängnis zu Fichtenburg soll von nun an seine Wohnung sein. Diese Burg hier ist jetzt mein! Was von Rüstungen und Waffen, Kleidern und Kostbarkeiten mir gefällt, will ich mir jetzt aussuchen. Alsdann mögt ihr zum Lohne eurer Tapferkeit die ganze Burg rein ausplündern, während ich es mir bei einem Krug alten Weines wohl sein lasse. Macht hurtig! In drei Stunden ziehen wir von dannen.«

Rosa warf sich dem grausamen Ritter weinend zu Füßen und flehte um Erbarmen für ihren Vater. Der Wüterich stieß sie von sich und ging, ohne weiter auf sie zu achten, mit stolzen Schritten zur Tür hinaus. Edelbert wurde gefesselt, und zwei Kriegsknechte hielten vor der Tür Wache.

Kunerich hatte den Augenblick, da Edelbert seine tapfere Rechte nicht gebrauchen konnte, für den günstigsten gehalten, seine glühende Rache in helle Flammen ausbrechen zu lassen. Er hatte überdies noch so lange gewartet, bis Edelberts tapferste Krieger mit dem Herzog zu Feld gezogen waren und ihn also nicht schützen konnten. Unter Edelberts wenigen Leuten, die der Burg zur Besatzung dienten, hatte er einen feigen, wenig nützlichen Kriegsknecht, den Edelbert nur aus Barmherzigkeit beibehielt, durch Geld gewonnen. Dieser hatte ihm zu Nacht ein geheimes, von Felsentrümmern und Dorngesträuch verstecktes Pförtchen geöffnet, das durch einen unterirdischen Gang in das Schloß führte. Die übrigen Kriegsknechte hatten die eindringenden Feinde zu spät bemerkt und wurden trotz allen Widerstandes in wenigen Augenblicken überwältigt und zu Boden geworfen. So kam es, daß Kunerich so plötzlich in Edelberts Wohnstube eindringen und ihn inmitten seiner Burg zum Gefangenen machen konnte.


Viertes Kapitel.
Rosa wird von ihrem Vater getrennt

Edelbert saß in seinen Ketten traurig am erlöschenden Kaminfeuer. Rosa kniete weinend, jammernd und betend bei ihm. Sie rang die Hände und blickte mit tränenvollen Augen zu ihrem Vater auf. Es war ihr nicht anders, als sähe sie bei dem rötlichen Scheine der ersterbenden Glut bloß sein Bild im Traume. Durch das ganze Schloß hin hallte der wilde Lärm der plündernden und zechenden Feinde. In der Stube war es aber so still und düster wie in einer Totengruft, die nur von einer schwachen, trüben Lampe erhellt ist. Rosa seufzte zuweilen schwer auf und rief wehmütig: »Die Hand, die so oft die Unschuld rettete, zu fesseln! Sogar den verwundeten Arm in Ketten zu schlagen! O Gott, hilf du!« Dann schwieg sie wieder und konnte nichts, als schluchzen.

Edelbert brach endlich das Stillschweigen. »Fasse dich, liebes Kind«, sprach er, »und trockne deine Tränen! Dieses Leid hat Gott gesandt. Laß uns seine Hand küssen, auch wenn sie uns schlägt. Er tut nur weh, um wohl zu tun. Er wird auch diesen harten Schlag zu unserm Besten lenken. Wir sind in Gottes Hand; gegen seinen Willen kann uns nichts geschehen. Sogar unsere Feinde können nichts, als an unserm Besten mitarbeiten. Im Vertrauen auf Gott wollen wir also feststehen. Bisher traute ich zu viel auf den Schutz des Kaisers und auf die Gunst des Herzogs; aber diese haben jetzt für sich selbst zu tun und können sich kaum ihrer mächtigen Feinde erwehren. Ich verließ mich wohl gar auf Stein und Eisen, auf Mauern und Riegel; jetzt verlasse ich mich auf Gott allein. Er sei von nun an mein einziger liebreicher und treuer Beschützer und meine feste Burg.

Wir werden nun bald voneinander scheiden müssen, liebste Tochter!« sagte er nach einer Weile und umschlang sie mit seinem linken Arme, weil der rechte mit der schweren Kette beladen war und die Wunde daran ihn aufs neue sehr schmerzte.

»Oh, rede doch nicht vom Scheiden, liebster Vater!« rief Rosa, ihm um den Hals fallend. »Aus deinen Armen sollen sie mich nicht reißen! Ich gehe mit dir in das Gefängnis und in den Tod.«

»Nein, liebe Rosa«, sprach der Vater ruhig, »das wird Kunerich nie zugeben. Diesen Trost gönnt er mir nicht. Noch einmal, wir müssen scheiden! Höre aber jetzt meinen Rat. Auf dich achtet wegen deines zarten Alters wohl niemand sonderlich. Suche also aus dem Schlosse zu entkommen, damit du dein Leben nicht etwa gleich einer Sklavin in schmählicher Dienstbarkeit zubringen mußt. Einer oder der andere meiner Diener wird dir zur Flucht behilflich sein.

Dieses Schloß und alles, was darin ist, nimmt nun Kunerich in Besitz. Du bist jetzt aus einem Ritterfräulein ein sehr, sehr armes Mädchen geworden, ärmer als das geringste Söldnermädchen. Doch obwohl man dich, wie du gehst und stehst, aus deiner väterlichen Wohnung verstößt und du auch von deinem mütterlichen Erbe und dem reichen Schmuck deiner Mutter nicht eines Hellers Wert erhalten wirst, so verzage darum nicht! Zeitliche Güter verdienen es nicht, daß wir uns über ihren Verlust betrüben. Wir können sie nicht einmal mit Wahrheit unser nennen. Du erfährst es eben jetzt, wie leicht sie uns genommen werden können. Und behielten wir sie auch die kurze Zeit unseres Lebens hindurch, so raubte sie uns doch der Tod einst alle gewiß. Es gibt noch edlere Schätze, liebes Kind, die uns kein Schicksal und kein Tod rauben können, gegen die Gold, Perlen und Edelsteine nichts sind, – ich meine Frömmigkeit, Keuschheit, Sanftmut, Fleiß. Diese und ähnliche Tugenden waren der größte Reichtum und der schönste Schmuck deiner Mutter. Wenn dir nur dieses Erbteil bleibt, so bist du reich genug!

Hast du dich aus der Burg gerettet, so suche unsern guten Kohlenbrenner, den ehrlichen Burkhard, auf. Er und sein frommes Weib werden für dich sorgen. Da kannst du in stiller Verborgenheit leben, bis er dich auf der Burg eines meiner Freunde unterbringt. Und solltest du auch jahrelang bei ihm bleiben, ja dein ganzes Leben unter seinem niedrigen Dache zubringen müssen, so mag es dein Trost sein, daß man auch in einer Hütte – und in einer Hütte oft noch leichter als in einem Schlosse – zufrieden leben und selig sterben kann. Und das ist am Ende doch das Beste!

Schäme dich deshalb der ländlichen Arbeiten nicht! Die Schwielen an der fleißigen Hand verdienen mehr Achtung als die Edelsteine und Perlen an müßigen Händen. Oh, wie kommt es dir jetzt zugut, daß seine selige Mutter dich an Arbeitsamkeit gewöhnte und dich dein Glück nicht in eitlem Putze, köstlichen Speisen und rauschenden Lustbarkeiten suchen lehrte.

Mit fleißiger Arbeit vereine frommes Gebet! Wir sind Leib und Seele. Der Leib soll arbeiten, der Geist sich zu Gott erheben. Arbeit gewinnt Brot für den Leib, Gebet nährt die Seele. Wenn du also auch die Sichel in die Hand nehmen mußt, so habe Gott im Herzen! Stetes Denken an ihn kann auch die geringsten Arbeiten veredeln.

Um mich sei unbesorgt! Bete für mich und laß den lieben Gott sorgen! Ich weiß gewiß, er verläßt mich nicht. Dein frommes Gebet wird nicht unerhört bleiben. So hart mein Schicksal sein mag, Gott kann es mir leicht machen. Eiserne Türen und Riegel halten ihn nicht ab. Gott ist überall, nur im Herzen des Bösewichts nicht. Er wird auch im Kerker mit mir sein. Vertraue auf ihn, wie ich auf ihn vertraue, auf ihn, den einzigen Freund, der uns nie verläßt!

Gott wird, wie ich es getrost hoffe, mich einst wieder aus der Gefangenschaft befreien. Sollte es aber das letztemal sein, daß du, liebste Tochter, das Angesicht deines Vaters siehst, und sollte ich lebenslang im Kerker schmachten müssen, so laß mir nur den Trost, daß ich in meinem Elend denken kann: Meine Rosa vergißt die Ermahnungen ihres Vaters nicht, sie tritt in die Fußtapfen ihrer frommen Mutter, sie ist ihrer Eltern und gottseligen Voreltern wert. Und sollte denn auch in dem düsteren, einsamen Kerker die Todesstunde für mich anbrechen, kein Auge mich sterben sehen, kein Ohr meine letzten Seufzer hören, keine freundliche Hand mir die Augen sanft zudrücken, so bleibe mir doch im Tode der Trost: Ich lasse eine gute Tochter zurück, sie wird mir nachfolgen in den Himmel!

Die letzten Worte deiner verklärten Mutter, die auch meine letzten Worte sein würden, wenn du bei meinem Tode zugegen wärest, wiederhole ich dir jetzt: ›Bleibe fromm, unschuldig, gut; liebe Gott; halte dich an unsern göttlichen Erlöser; tue nie etwas Böses!‹ Wenn du hören solltest, der Tod habe meine Ketten auf immer gelöst, so denke, jene letzten Worte der Mutter waren auch die letzten, die mein Vater mir beim Abschied sagte! Befolge diese Worte, so wird Gott, der aus unerforschlichen, aber gewiß weisen und liebevollen Absichten dir schon früher deine Mutter nahm und dir jetzt auch deinen Vater nimmt, uns alle drei im Himmel wieder vereinigen.

Und sieh, da habe ich heute eben die goldene Denkmünze an der goldenen Kette umgehängt, die ich ehemals aus der Hand des Kaisers erhielt. Ich habe sie, als vorhin die Feinde zur Tür hereinkamen, hier unter meinem Gewand verborgen. Ach, ich kann sie ohne Schmerz nicht ansehen! Wie unbeständig ist doch alles Glück auf Erden! Ehemals hat mich der Kaiser mit einer goldenen Kette beehrt, jetzt muß ich, gleich einem Übeltäter, eine eiserne Kette tragen!

Nimm dieses goldene Ehrenzeichen indessen zum Andenken an mich. Verkaufe es nicht, auch nicht in der größten Not. Es kann, wenn ich einmal nicht mehr lebe, für dich von Wichtigkeit sein. Du kannst dadurch vielleicht einst beweisen, daß du aus dem rühmlichen Geschlechte der Edeln von Tannenburg stammst.

Die schönen Sinnbilder und die tröstlichen Worte auf der goldenen Denkmünze sind mehr wert als das Gold, aus dem die Münze geprägt ist.

Sieh, das Auge Gottes, von Strahlen umgeben, auf der einen Seite mit der Umschrift: ›Wenn Gott für uns, wer wider uns!‹ erinnere dich daran, daß Gottes Auge uns überall sieht und immer über uns wacht, und daß diejenigen, die alles wie vor Gottes Augen tun und sich vor Sünden rein bewahren, nichts zu fürchten haben.

Das Kreuz im Strahlenkranze auf der andern Seite mit den Worten: ›In diesem überwinde!‹ erinnere dich stets an die Liebe desjenigen, der für uns am Kreuze starb. Wir Menschen alle haben in dieser Welt zu streiten und zu leiden. Im Glauben an den Gekreuzigten aber, im treuen Gehorsam gegen seine heiligen Gebote, in Liebe und Geduld nach seinem schönen Beispiele, im Vertrauen auf seine allmächtige Gnade, in der Hoffnung auf seine Verheißungen können wir alles Böse überwinden und alles Widrige frohen Mutes ertragen.

Gott hat jetzt wohl ein großes Leid über uns kommen lassen! Allein was ist dieses Leid gegen jene Leiden, durch die unser göttlicher Erlöser in seine Herrlichkeit einging? An seiner Herrlichkeit werden wir auch teilhaben, wenn wir unsern Kampf auf Erden glücklich vollenden und in Geduld ausharren bis ans Ende.

Und nun knie nieder, liebste Tochter, damit ich dich noch segne!« Rosa kniete weinend nieder, faltete die Hände und neigte ihr liebliches Angesicht voll unbeschreiblicher Andacht und Wehmut. Der Vater legte ihr seine gefesselte Hand auf das Haupt und sprach: »Gott, der Allmächtige, segne dich, und die Gnade unseres Herrn und Heilands sei mit dir ewig!« Rosa zerfloß in Tränen. Der Vater schloß sie noch einmal in seine Arme und sagte, indem er selbst in Tränen ausbrach: »Ich werde deiner nie vergessen und in meinem Kerker stets für dich beten. Versprich auch du mir, daß du meine getreuen väterlichen Ermahnungen nicht vergessen, sondern sie treulich befolgen und auch für mich beten willst!«

»Oh, alles«, sprach Rosa schluchzend, »alles will ich mit Freuden tun, was du mir gesagt hast; nur eines nicht! Ach, ich kann, kann dich nicht verlassen! Ach, verlange es nicht, daß ich entfliehen soll! Vielleicht können meine Bitten, meine heißen Tränen diesen hartherzigen Ritter bewegen, daß er mir gestattet, dir in die Gefangenschaft zu folgen und dich im Gefängnis zu bedienen.«

Jetzt entstand in dem Schlosse aufs neue Lärm. Der feindliche Ritter befahl seinen Leuten, aufzubrechen; nur einigen gebot er, als Besatzung in der Burg zurückzubleiben. Bewaffnete drangen in Edelberts Zimmer. Rosa hielt sich fest an ihrem Vater und bat, sie mit ihm ins Gefängnis zu bringen. Sie wurde ihm mit Gewalt aus den Armen gerissen.

Edelbert wurde hinuntergeführt in den Schloßhof, der von mehreren brennenden Pechfackeln beleuchtet war. Die Tore standen weit offen! Kunerichs Leute hatten sie geöffnet. Eine Menge seiner Kriegsknechte zu Pferd, deren jeder noch ein leeres Pferd an der Hand führte, waren eingedrungen. Kunerichs Kriegsroß, mit schimmerndem Zaume und purpurner Decke geschmückt, befand sich darunter. Den trefflichen Edelbert setzte man auf einen schlechten Karren. Zwei große Wagen, die Edelbert gehörten, standen mit geraubten Gütern hochbeladen da. Edelbert mußte es mit ansehen, wie seine Zugpferde aus dem Stalle geführt und vor die Wagen gespannt wurden. Der gute Mann, der von seiner Wunde noch nicht ganz hergestellt war, zitterte auf dem elenden offenen Fuhrwerke schon vor Nässe und Frost, bevor man aufbrach. Endlich kam Ritter Kunerich in den Hof und schwang sich auf sein Pferd. Reiter umringten den Karren. Jauchzend und mit wildem Getümmel zogen sie eilends zum Tor hinaus über die donnernde Fallbrücke.

Den steilen Berg hinunter ging es langsamer. Rosa holte den Zug ein. Kunerich ritt neben dem Karren, auf dem ihr Vater saß. Weinend und flehend drängte sie sich zwischen das Pferd und den Karren und bat mit aufgehobenen Armen, sich zu ihrem Vater setzen zu dürfen. Allein Kunerich tat, als hörte er sie nicht; er sah sie gar nicht an und blickte, die linke Hand in die Seite gestemmt und in der rechten das bloße Schwert, trotzig umher. Unten am Berge rief Kunerich: »Nun vorwärts!« Alle gaben ihren Pferden die Sporen, die Fuhrleute schlugen mit den Peitschen auf die Rosse, und mit wilder Eile ritten und fuhren alle davon. Rosa lief in Sturm und Regen nach, bis ihre Kräfte erschöpft waren und der Zug endlich aus ihren Augen in Wald und Nacht verschwand.


Fünftes Kapitel.
Rosa nimmt ihre Zuflucht zu einem armen Köhler

Rosa, die nur selten, ohne Begleitung aber niemals aus dem Schlosse gekommen war, befand sich nun bei finsterer Nacht im weiten Felde, bei Sturm und Regen unter freiem Himmel einsam und allein. Sie wußte nicht, wo ein und wo aus. Sie suchte lange vergebens nach einem trockenen Plätzchen, wo sie sich hinsetzen und den Tag erwarten könnte. Endlich kam sie an ein dichtes Gebüsch von jungen Tannen, in dem sie gegen die Nässe und den Sturm einigen Schutz fand. Furcht fühlte sie nicht, hier so allein zu übernachten. Ihr Kummer ließ sie wenig auf die Schrecknisse dieser schauerlichen Nacht achten. Sie hatte keinen andern Gedanken als an ihren Vater und weinte, jammerte, betete, daß es einen Stein hätte rühren können.

Als der Morgenhimmel anfing grau zu werden, kroch sie aus dem Dickicht hervor und blickte um sich. Sie sah den Turm ihrer väterlichen Burg, schon etwas vom Morgenlichte erhellt, aus den Tannenspitzen des Berges hervorragen und brach aufs neue in Tränen aus. »Wie gern«, sprach sie, »möchte ich meine väterliche Wohnung noch einmal besuchen! Vielleicht träfe ich dort doch noch einen oder den andern von den treuen Dienern meines Vaters an, der sich meiner erbarmte und mir zu dem guten Burkhard den Weg zeigte. Aber die Wohnung, in der ich geboren und erzogen worden bin, ist nun für mich wohl auf immer verschlossen. Kaum war ich hinaus, so wurde das Tor verriegelt und die Fallbrücke aufgezogen. Meine väterliche Burg ist für mich nun in eine feindliche verwandelt!« Traurig ging sie unten am Berge vorbei dem Walde zu, in dem der ehrliche Kohlenbrenner wohnte.

Sie kannte die Gegend aus den Erzählungen ihres Vaters nur beiläufig. Tief im Walde erhoben sich ein paar rauhe, finstere Berge voll Tannen. Zwischen diesen zwei Bergen lag die Köhlerwohnung. Es war ungefähr zwei Meilen dahin. Rosa faßte die beiden Berggipfel wohl ins Auge und nahm ihren Weg so, als wollte sie mitten zwischen ihnen hindurchgehen. Allein sie fand in dem wilden Walde weder Weg noch Steg. Sie mußte sich bald mit Mühe durch ein Dickicht hindurcharbeiten, bald einen Sumpf umgehen und bald sich durch einen Waldbach wagen. Der Wald wurde, je weiter sie kam, immer dichter und hinderte sie, von den zwei Bergen das geringste zu sehen. Der Mittag war bereits vorbei, und noch immer wollte kein Berg kommen. Sie wanderte mutig weiter. Da fing es, keine zehn Schritt von ihr, im Gebüsch plötzlich an, mächtig zu rauschen und zu krachen. Ein großer Hirsch mit hohem, zackigem Geweih erhob sich, starrte sie mit seinen weit offenen schwarzen Augen an, wandte sich dann seitwärts, brach sich durch die Zweige einen Weg und entfloh. Sie setzte ihren Weg unermüdet fort. Jetzt schreckte sie auf einmal das Grunzen eines wilden Schweines. Das ungeheure Tier hatte in einem Sumpfe gewühlt, stand auf, blickte grimmig aus seinen kleinen Augen und drohte ihr mit seinen fürchterlichen Hauern. Rosa wandte sich eilends zur Flucht und lief, fast außer Atem, so weit sie konnte. Dichte Gesträuche hielten sie endlich auf. Sie setzte sich ermüdet unter einen Baum, dessen niedrigste Äste sie zu ersteigen dachte, wenn das Tier nachkäme. Sie horchte beständig, allein alles blieb ruhig und still. Sie hatte sich aber nun ganz verirrt und wußte durchaus nicht mehr, welchen Weg sie nehmen solle. Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang. »Ach«, seufzte die arme Rosa, »ich werde wohl in diesem fürchterlichen Wald unter den wilden Tieren einsam übernachten müssen.«

Der Hunger, den sie vor Jammer über das Schicksal ihres Vaters bisher wenig gefühlt hatte, fing jetzt an, sie so zu quälen, daß sie zu verschmachten fürchtete. Beinahe ganz entkräftet von Hunger und Müdigkeit, machte sie sich wieder auf und erreichte eine kleine Anhöhe im Walde, auf der sie freier um sich blicken konnte. Schwarze Wolken mit glutrotem Rande bedeckten die untergehende Sonne; die ganze Gegend war sehr düster und in trüben, blauroten Dunst gehüllt. Rosa kniete nieder und betete. »Lieber Gott im Himmel, du sagst ja selbst: ›Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du wirst mich preisen.‹ Ach, erfülle an mir dein Wort!« Und sieh, indem sie betete, brach die Sonne noch einmal aus den Wolken, und ihre Strahlen vergoldeten eine Rauchsäule, die in weiter Entfernung aus dem waldigen Grunde emporstieg. »O Gott«, rief Rosa freudig, »dir sei Lob und Dank! Du hast dein Wort an mir erfüllt! Du hast mich gerettet! Dort brennt der gute Burkhard Kohlen; denn sonst ist ja der ganze Wald unbewohnt.« Sie raffte ihre letzten Kräfte zusammen und eilte dahin, wo sie den Rauch aufsteigen sah.

Es war so, wie Rosa dachte. Burkhard hatte dort seine Kohlenstätte aufgeschlagen und ringsumher den Wald schon ziemlich gelichtet. Er saß auf einem umgehauenen Baumstamm beim brennenden Kohlenhaufen. Der Stock des abgehauenen Baumes, auf den er ein kleines, viereckiges Brett befestigt hatte, diente ihm zum ländlichen Tischchen, worauf sich seine Abendmahlzeit, Brot, Butter und ein Krug mit Wasser, befand. Seine Art und sein Schürhaken lagen neben ihm im Grase. Er sah dem Untergang der Sonne zu und sang mit kräftiger Baßstimme sein Abendlied sehr andächtig und so laut, daß es ringsumher im Walde widerhallte. Rosa vernahm seine Stimme mit Freuden und eilte noch mehr.

Als der gute Burkhard Rosa in der Ferne erblickte, ohne sie noch zu erkennen, wunderte er sich, wie in aller Welt ein so zartes Fräulein hierher in den wilden Wald komme. Sobald er sie aber erkannte, erstaunte er noch mehr, sprang auf, grüßte sie mit lautem Zuruf schon von weitem und eilte ihr entgegen. Er drückte und schüttelte ihr nach altdeutscher Art kräftig die Hand und bat dann erschrocken und sehr höflich um Vergebung, daß er ihr zartes weißes Händchen schwarz und rußig gemacht habe. Er bezeigte ihr sein Erstaunen, sie hier zu sehen. »Gott im Himmel!« sagte er, »Ihr seid es, Fräulein, Ihr! Wie, um des Himmels willen, kommt Ihr hierher, so allein, so spät am Abend? Gewiß habt Ihr Euch verirrt. – Nun, nun«, fügte er nach seiner scherzhaften Weise noch bei, »Ihr kommt eben recht. Ich halte heute abend hier offene Tafel vor allen Tannen und Fichten, Eichen und Buchen umher, und die Mahlzeit ist eben aufgetragen. Kommt und setzt Euch zu mir auf mein neues hölzernes Kanapee und ruht aus und labt Euch ein wenig! Denn Ihr müßt heute noch nach Hause. Dagegen hilft nichts. Euer Vater könnte sonst, so wahr ich Burkhard heiße, vor Kummer die ganze Nacht kein Auge zutun!«

»Ach, mein Vater!« fing Rosa an und konnte vor Schluchzen kaum mehr ein Wort hervorbringen. »Wißt Ihr denn die schreckliche Geschichte noch nicht?«

»Euer Vater, der gestrenge Ritter!« rief der Kohlenbrenner erschrocken. Wenn sein Gesicht von Kohlenstaub und Ruß nicht so schwarz gewesen wäre, so wäre es totenbleich geworden. »Oh, liebstes Fräulein Röschen«, fuhr er fort, »redet doch, um Gottes willen, redet! Sagt, was es gibt! Was ist ihm geschehen?«

»Ach!« sprach Rosa, »Kunerich hat ihn die vergangene Nacht gefangen und in Ketten und Banden mit sich fortgeführt nach Fichtenburg.«

»Der!« rief der Kohlenbrenner und griff nach seinem Schürhaken, »den soll . . . Doch«, sprach er und warf den Schürhaken auf den Boden, »ich will nicht fluchen! Wenn ihn aber der grausame Kunerich in seiner Gewalt hat, dann ist's nicht gut. Erzählt doch, wie das zuging! Ich begreife noch gar nicht, wie es möglich war. Ich verließ Euern Vater ja erst gestern abend, und alles war in Ruhe und Frieden. Wie konnte Kunerich eine solche unersteigliche Burg in einer Nacht erobern?«

Rosa setzte sich neben den Mann auf den Baumstamm und fing an zu erzählen. Der ehrliche Burkhard merkte aber bald, daß sie vor Hunger und Ermüdung kaum mehr reden konnte. Er gab ihr mit herzlichem Wohlwollen das Butterbrot, das für ihn bestimmt war. Sie aß und trank dazu von Zeit zu Zeit von dem klaren Quellwasser im Kruge. Der brennende Kohlenhaufen leuchtete zu der kleinen, dürftigen Mahlzeit. Indessen versicherte Rosa, in ihrem Leben habe ihr Speise und Trank nicht so gut geschmeckt.

»Ja, ja«, sprach der Köhler, »der Hunger ist ein kostbares Gewürz, desgleichen man in den Gewürzschachteln der Reichen keines findet, das aber wir Armen umsonst haben. So gleicht der liebe Gott alles aus!«

Nachdem sich Rosa erquickt und Gott für seine Gaben herzlich gedankt hatte, erzählte sie ausführlich, wie es ihrem Vater ergangen sei. Burkhard hörte mit offenem Munde zu, schmähte dazwischen über den grausamen Kunerich, jammerte um seinen lieben, guten Herrn und fuhr mit der Hand öfter über die Augen, eine Träne zu verbergen. Als er aber vernahm, daß Ritter Edelbert das Fräulein an ihn gewiesen habe, konnte er, durch dieses Vertrauen gerührt, die Tränen nicht mehr zurückhalten und fing an, laut zu schluchzen.

»Nun, nun, liebstes Fräulein!« sagte er, »einen so guten Herrn kann der liebe Gott nicht stecken lassen. Er hilft ihm gewiß wieder heraus aus der Wolfsgrube, der verwünschten Fichtenburg. Denn Gott führt in die Grube und führt wieder heraus. Laßt nur ihn walten, so wird's recht werden. Was aber Euch betrifft, liebstes Fräulein, seht Ihr hier den brennenden Kohlenhaufen? Ihr dürftet nur ein Wort sagen, so spränge ich hinein. Für Euch und Euern Vater gehe ich durchs Feuer. Doch vor allem braucht Ihr nun Ruhe. Zu meiner Wohnung ist's für Euch jetzt zu weit. Ich habe aber da ein Hüttlein, wie es so die Köhler zu bauen pflegen, und darin ist gerade Raum für eine Person. Seht Ihr es dort im roten Scheine des Kohlenhaufens unter den drei Buchen stehen?« Das Hüttchen bestand aus einigen schief gegeneinander in die Erde geschlagenen Pfählen, die mit jungen Tannenästen durchflochten und mit dichtem Rasen belegt waren. »Die vier Wände«, sagte Burkhard lächelnd, »sind zwar vergessen; das Hüttlein ist lauter Dach, aber so dicht und fest, daß kein Regentropfen durchdringt. Das Bett darin ist von dem schönsten trockenen Moose. Ein hübscher Teppich von Bast, den ich selbst flocht, ist zugleich Bettvorhang und Haustür. Ich versichere Euch aber, wenn man wie Ihr ein gutes Gewissen hat und müde ist, so schläft es sich darin so gut wie auf Flaumfedern unter einem goldenen Thronhimmel mit purpurnen Vorhängen.«

Er führte Rosa in die Hütte und setzte sich dann, nicht weit von seinem Kohlenhaufen, unter ein paar dickästige Tannen, wo er einen bequemen Rasensitz angebracht hatte. Er sann die ganze Nacht über die Erzählung des Fräuleins nach. Was ihn am meisten schmerzte, war der Gedanke, daß die Hilfe, die Edelbert ihm gegen Kunerich geleistet hatte, wenigstens zum Teil Ursache der Gefangennehmung des edlen Ritters sei. Er kratzte sich hundertmal hinter den Ohren und schob seine rußige Mütze hundertmal hin und her; zuletzt aber nahm er sie gar ab, faßte sie zwischen die gefalteten Hände und betete inbrünstig, Gott wolle den edlen Ritter retten und das gute Fräulein einstweilen trösten. Er dachte an keinen Schlaf. Rosa aber war sogleich eingeschlafen und schlief ruhig bis an den lichten Morgen, wiewohl bis Tagesanbruch furchtbare Sturmwinde durch die schwankenden Tannen brausten und der ganze Wald mehrmals von heftigen Platzregen rauschte.


Sechstes Kapitel.
Rosa in der Köhlerwohnung

Als der Morgen angebrochen war, legte sich der Wind. Die Wolken hatten sich zerstreut. Alles war still, und die Wipfel der Tannen umher glühten im reinsten Morgengolde. Der Kohlenbrenner horchte von Zeit zu Zeit, ob sich das Fräulein noch nicht rege. Er meinte einigemal, sie sei erwacht, freute sich aber immer wieder, wenn es nicht so war. »Mein Gott«, sagte er, »wie gönne ich ihr diese Ruhe! Der Schlaf ist eine große Wohltat Gottes! Ein sanfter Schlaf macht uns alle Leiden vergessen; er nimmt uns die Last, die wir zu tragen haben, für eine Zeit ab und gibt uns neue Kraft, sie wieder aufzunehmen. – Lieber Gott«, fuhr er gerührt fort und nahm die Mütze ab, »sei gelobt für diese deine stille Wohltat, – den Schlaf. So, denke ich, ist's wohl auch mit seinem Bruder, dem längeren Schlaf unter der grünen Bettdecke von Rasen. Ja, dieser freilich viel tiefere Schlaf ist wohl noch eine größere Wohltat. Er macht uns der Leiden auf immer los, und ihm folgt, wenn wir unser Tagewerk gut vollbracht haben, das fröhlichste Erwachen.«

Über eine Weile kam Agnes, des Kohlenbrenners Tochter, ein sehr freundliches, gutherziges Mädchen, auf der Kohlenstätte an. Sie trug einen Korb am Arme, in dem sich zugleich Frühstück, Mittag- und Abendessen für ihren Vater befand. Sie sah es dem Vater sogleich an, daß er geweint und einen schweren Stein auf dem Herzen habe. Sie fragte, was ihm fehle. Er winkte ihr, stille zu sein, damit sie das Fräulein nicht wecke, führte sie auf den Rasensitz unter den Tannen und erzählte ihr Edelberts Geschichte. Das gute Mädchen weinte, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Rosa war indessen erwacht. Die Morgensonne hatte ihr durch eine kleine Öffnung der Hütte, die der Kohlenbrenner gelassen hatte, damit er nach dem Kohlenhaufen sehen könne, gerade in ihr holdes Angesicht geschienen und sie geweckt. Nachdem sie sich besonnen hatte, wo sie war, weinte sie aufs neue. Mit Tränen auf den lieblichen Wangen kam sie aus der Hütte hervor. Der Köhler und seine Tochter standen von dem Rasensitz auf und eilten auf sie zu.

»Oh, nicht doch, liebstes Fräulein!« sagte der Köhler; »begrüßt den schönen Morgen nicht sogleich mit Tränen! Seht, wie der Himmel nach der vergangenen stürmischen Regennacht so schön und hell ist, wie klar die Tropfen an den jungen Tannenästen und den Wacholdergesträuchen blitzen und wie warm und lieblich die Sonne scheint! So wird auch der Sturm, der über Euch und Euern Vater gekommen ist, wieder vorübergehen. Nach Ungewitter kommt Sonnenschein, nach Leid kommt Freude. Vertraut auf den lieben Gott, von dem Sonnenschein und Regen, Leiden und Freuden kommen!«

Rosa und Agnes begrüßten sich, als Bekannte von ihrer Kindheit her, auf das freundlichste. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. Eine jede wunderte sich, wie groß die andere indes geworden sei. Agnes öffnete hierauf ihren Armkorb. Sie nahm eine irdene Flasche heraus, goß süße Milch in ein reinliches irdenes Schüsselchen und stellte es auf den ländlichen Tisch. Dann langte sie frische Butter und kräftiges Brot aus dem Korbe hervor und lud das Fräulein zum Frühstück ein. Rosa setzte sich auf den Baumstamm, brockte Brot in die Milch, aß sie mit einem zierlich aus weißem Ahornholz geschnitzten Löffel und verzehrte dann noch ein Stückchen Butterbrot.

Als Rosa satt war und Gott und dem Köhler gedankt hatte, sagte der treuherzige Mann: »Jetzt, mein liebstes Fräulein, geht mit meiner Agnes in meine Wohnung und bleibt dort so lange, bis der liebe Gott hilft. Ich will indessen hier überlegen, ob ich mit seiner Hilfe nicht etwas für Euch tun kann. Geht also mit Gott! Sobald der Kohlenhaufen da es erlaubt, komme ich nach. Seid mir aber indessen nicht so traurig und weint nicht so viel! Traurigkeit hilft ja nichts, und Weinen macht die Sache nicht besser. Horcht, wie die kleinen Vöglein auf den Bäumen umher ihr Morgenliedchen so munter singen! Der liebe Gott sorgt so liebreich für die armen Tierchen, darum sind sie so fröhlich. Für Euch, liebstes Fräulein, und Euern Vater sorgt er gewiß noch viel liebreicher. Darum seid auch Ihr fröhlich und getrost. Du aber, Agnes, biete auf den steilen Felsenwegen dem Fräulein sorgsam die Hand, damit sie nicht fällt, und grüße mir die Mutter! So, jetzt geht miteinander, und der liebe Gott geleite euch!«

Rosa und Agnes machten sich auf den Weg in die rauhe, fast unzugängliche Wildnis, von der die Köhlerwohnung umgeben war. Zuerst mußten sie wohl eine Stunde ohne einen eigentlichen Weg durch einen hohen dunkeln Tannenwald gehen. Hierauf kamen sie an ungeheure, mit Moos und Gebüsch bewachsene Felsen, zwischen denen sich ein enger Steig aufwärts schlängelte. Sie mußten lange Zeit steigen. Nun führte sie der schmale Fußweg längs einer hohen Felsenwand hin; sie kamen an Abgründen vorbei, in denen sie die Wipfel der höchsten Tannen tief unter sich erblickten. Endlich ging es durch eine fürchterliche Felsenschlucht wieder sehr lange und sehr steil abwärts. Rosa schaute aus der Tiefe nicht ohne Ängstlichkeit zu den himmelhohen, buschbewachsenen Felsen empor, die drohend über ihrem Haupte hingen und von dem hellen, klaren Himmel kaum mehr eine Spanne breit erblicken ließen. »Ach Agnes«, sagte sie, »wo führst du mich hin? Mir ist bange, ob wir einen Ausweg finden oder in eine noch schauerlichere Wildnis kommen werden.« Sie hatte dies kaum gesagt, da taten sich die Felsen seitwärts auf, und ein kleines Tal, das einem blühenden Garten glich, lag in vollem Glanze der Sonne vor ihr.

»Oh, wie schön!« rief Rosa; »mir ist es, als käme ich aus der Wüste ins Gelobte Land.« Es wurde ihr leicht um das Herz; es regte sich in ihr die frohe Hoffnung, Gott werde auf ähnliche Art auch ihrem traurigen Schicksal einen freudigen Ausgang geben und sie, wiewohl auf rauhen Wegen, zum Glück führen.

Oben im Tale, das sich sanft gegen sie herabsenkte, stand das Köhlerhaus mit flachem, weit vorstehendem Dach. Das Haus war ganz von Holz, und die gelbbraune Naturfarbe gab ihm ein freundliches Ansehen. Dunkelgrüne Tannen erhoben sich hinter dem Hause; junge, weiß und rot blühende Obstbäume umgaben es. Ein Bächlein, hell wie Kristall, rauschte daran vorbei. Das ganze Tal prangte in frischem Grün und lieblichen Blumen von allen Farben. Die hohen Felsen und Bäume, die es rings einschlossen, wehrten den rauhen Winden, so daß sich der Frühling hier immer früher einstellte. Unten im Talgrunde grasten ein paar Kühe; seitwärts an den mit Gebüsch bewachsenen Felsen kletterten Ziegen. Ein kleines, wohlgebautes Gärtchen mit einem gegitterten Zaune aus Tannenästen grünte und blühte nächst dem Hause. Ein Bienenstand mit strohgeflochtenen Körben fand sich in der Ecke des Gärtchens; die Bienen summten fröhlich umher und trugen emsig ein. Einige Hühner scharrten neben der Haustür im Sande. Rosa trat in das Wohnstübchen und setzte sich ermüdet auf die hölzerne Bank. Das Gemach war äußerst reinlich, und durch die kleinen hellen Fenster hatte man eine prächtige Aussicht in das Felsental.

Es war bereits Mittag. Die Köhlerin war in der Küche beschäftigt. Da sie aber ihre Tochter mit jemand reden hörte, kam sie schnell zur Tür herein. Sie begrüßte das Fräulein mit unbeschreiblichem Jubel. Sie glaubte, Rosa sei nur auf einen Besuch gekommen. Als sie vernahm, wie die Sache stand, brach sie in lautes Weinen aus. Doch faßte sie sich wieder und tröstete Rosa auf das liebreichste. »Liebstes, bestes Fräulein«, sagte sie, »seid uns in unserm kleinen Tale, in unserer armen Hütte von ganzem Herzen willkommen. Seht, dieses Häuschen, das Euer Vater uns bauen ließ, hat er, ohne es zu wissen, für Euch bauen lassen. Euch soll es nun ganz gehören. Seid hier wie in Euerm Eigentum nur recht zu Hause, bis der liebe Gott Euch und Euern Vater wieder in Euer Schloß zurückführt, was er gewiß bald tun wird. Wir alle wollen uns indes beeifern, nur zu Euerm Dienste zu leben.«

Rosa sagte gerührt: »Oh, mein Gott, wie wohl tut es, wenn man im Unglück gute Menschen trifft. Wie danke ich euch für eure Liebe! Wie kommt es mir jetzt zustatten, daß mein Vater immer gut gegen euch war!«

Die gute Köhlerin hatte aber nun auf einmal einen andern Jammer, der wenigstens für sie nicht klein war und sie Rosas großen Jammer ganz vergessen machte. »Ach«, sagte sie, »ich habe einen so lieben und werten, einen so vornehmen Besuch und weiß nicht, was ich dem Fräulein auftischen soll. Wir haben heute nichts zu essen als ein Hafermus; das ist so dicht und fest, daß man darauf tanzen könnte. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Wenn es nur nicht schon Mittagszeit wäre! Doch, Agnes, vertreibe du dem Fräulein einstweilen die Zeit! Ich will in die Küche und sehen, was ich aus Mehl und Eiern, Milch und Butter noch zusammenbringen kann.« Rosa suchte vergebens, sie zu beruhigen. Die bekümmerte Hausmutter ging in die Küche und trug nach etwa einer halben Stunde ein paar ländliche Gerichte auf, die wirklich sehr gut zubereitet waren. Trotzdem fing sie aber aufs neue an, sich zu entschuldigen. »Bier und Wein haben wir auch nicht«, sagte sie seufzend; »einem gnädigen Fräulein bei Tisch nichts als Wasser vorzusetzen, das hat doch gar keine Art. Es ist zum Verzweifeln! Heute ist es das erstemal in meinem Leben, daß mir unsere Armut so schwer fällt!«

»Meine liebe Gertraud«, sagte Rosa, »ihr wißt nicht, wie reich und glücklich ihr in eurer Armut seid. Von eurer Kost, bei der ihr alle frisch und rot, gesund und stark seid und die auch mir sehr wohl schmeckt, will ich jetzt gar nicht reden. Ihr habt aber etwas Besseres als seltene Speisen und kostbare Getränke: ein stilles, ruhiges Leben. Oh, wie tut diese Stille und Ruhe in euerm friedlichen Tale meinem Herzen so wohl! Wie unruhig war es dagegen auf unserer Burg! Wie mußte mein Vater, bei allen seinen Schmerzen, sich immer mit allerlei Welthändeln plagen; wie oft wurde er von Menschen, die Streit hatten, überlaufen; wie oft durch traurige Kriegsnachrichten betrübt; und wie schrecklich war erst der letzte feindliche Überfall. Seid froh und dankt Gott für diesen freundlichen Aufenthalt hier, in dem ihr anstatt des Weltgetümmels und der kriegerischen Trompeten nichts hört als den Gesang der Waldvögel und den Ruf des Haushahns, die Schellen eurer Kühe und die Glöcklein der Ziegen. Ich wollte gern mein Leben lang hier bleiben, wenn nur auch mein Vater hier wäre!«


Siebentes Kapitel.
Rosa als Köhlermädchen

Der ehrliche Köhler hatte mehrere Tage nichts von sich sehen und hören lassen. Er hatte seiner Tochter, als sie ihm wieder das Essen in den Wald brachte, bloß gesagt, er werde jetzt seine Kohlen in die Stadt liefern; sie brauche ihm kein Essen mehr zu bringen; er hoffe bald selbst nach Hause zu kommen. Alle waren bereits sehr besorgt um ihn. Da trat er eines Abends plötzlich in die Stube. Er hatte einen schweren Rehbock auf den Schultern und Pfeil und Bogen in der Hand; denn damals hatte man noch kein Feuergewehr. Er legte seine Last auf den Boden und grüßte das Fräulein und seine Leute, die alle sehr erfreut waren, auf das herzlichste.

»Hast du deine Kohlen gut verkauft, lieber Burkhard?« fragte die Köhlerin. – »Ei was! Kohlen!« rief Burkhard. »Die wären jetzt meine geringste Sorge; wenn mir nur meine goldenen Hoffnungen nicht zu Kohlen geworden wären! Ich habe allerlei Gänge gemacht, von denen ich euch zuvor nichts sagen wollte. Ich war bei den Rittern, denen einst der Vater unseres lieben Fräuleins aus großer Not geholfen hatte. Ich forderte sie auf, Kunerichs Burg zu stürmen und unsern guten Herrn mit bewaffneter Hand zu befreien, oder wenigstens den Kunerich auf der Jagd zu überfallen, ihn zu fangen und ihn so lange in den tiefsten Turm einzusperren, bis er Edelbert loslassen und ihm alles geraubte Gut zurückgeben würde. Allein all mein Zureden war vergebens. Sie sagten, Kunerich sei zu mächtig, das Unternehmen sei zu gefährlich, es könnte übel ablaufen, man müsse zusehen, bis Edelberts übrige Freunde aus dem Kriege heimkämen, dann ließe sich vielleicht ein Versuch machen. Nach Euch, mein Fräulein, erkundigten sich die matten Seelen nicht einmal. Ich hätte über diesen Undank blutige Zähren weinen mögen! Ich mochte ihnen gar nichts mehr davon sagen, daß Ihr, liebes Fräulein, Euch bei mir befindet; ich mochte auch keinen fragen, ob er Euch wohl in seine Burg aufnähme. Ihr tut besser, bei uns zu bleiben; doch könnt Ihr die Sache noch bedenken.«

»Da ist nichts zu bedenken«, sagte Rosa. »Ich bleibe hundertmal lieber bei euch, wenn ihr so gut sein wollt, mich zu behalten.«

»Behalten?« rief der Köhler mit Tränen in den Augen. »Meint Ihr, wir haben es vergessen, wie Euer edelherziger Vater mich aus der Hand des grausamen Kunerich rettete? Wie er mich mit Weib und Kind so freundlich in seine Burg aufnahm? Haus und Hof und alles, was unser ist, haben wir von ihm. Wir wären die undankbarsten Menschen von der Welt, wenn wir solcher Wohltaten vergessen könnten. Nein, nein, so undankbar sind wir nicht! Bleibt daher bei uns, bestes Fräulein! Ich will Vaterstelle an Euch vertreten. Meine Gertraud und meine Agnes werden Euch wie auf den Händen tragen. Wir alle werden alles aufbieten, Euch diesen einsamen Aufenthalt erträglich zu machen. Glaubt mir, wir finden die größte Glückseligkeit darin, einem so guten Fräulein, der Tochter unseres Wohltäters und Herrn, Gutes zu erweisen.«

Er nahm den Rehbock, der noch zu seinen Füßen lag, wieder auf die Schultern und sagte: »Ihr habt mehrere Tage mit Fastenspeisen vorlieb nehmen müssen, mein gutes Fräulein; die frische Rehleber soll Euch nun ein treffliches Abendessen geben. Ich will sie selbst zurichten; ich habe das oft getan, wenn ich mit Euerm Vater auf der Jagd war.« Und nachdem er dies gesagt hatte, trug er das Wildbret in die Küche.

Am folgenden Morgen veränderte er vieles in seinem Hause, um Rosa anständiger zu beherbergen. Er trat ihr die beste Kammer oben im Hause ab, die er so gut einrichtete, als er nur immer konnte. »So, mein Fräulein«, sagte er, als er mit der Arbeit fertig war, »jetzt habt Ihr doch wieder Dach und Fach. An Nahrung soll es Euch auch nicht fehlen. Alles Wild in dem großen, weiten Wald umher gehört ja Euerm Vater; ich will Euch Rehe und Hasen, wilde Enten und Schnepfen im Überflusse einliefern, ja, wenn Ihr wollt, ganze Hirsche und Wildschweine.« Er führte Rosa im Tale umher, und Gertraud und Agnes gingen voll Freude mit. Er zeigte ihr seine Äcker und Wiesen, indem er beständig die Großmut ihres wohltätigen Vaters rühmte. Er führte sie in sein Gärtchen, und da Rosa Freude an den Bienen zeigte, schenkte er ihr seinen schönsten Bienenstock. Ja, er brach, da die Bienen gut durch den Winter gekommen waren, sogleich für das Fräulein ein paar von den weißen, reinen Wachskuchen aus, in deren sechseckigen Zellen der Honig wie durchsichtiges Gold glänzte. Nie kam er von der Kohlenstätte zurück, ohne ihr irgend etwas mitzubringen, bald ein Gefäß aus Tannenrinde voll duftender Erdbeeren, bald ein Körbchen voll großer Krebse, bald ein Gericht eßbarer Waldschwämme. Er fing ihr ein paar Turteltäubchen, für die er selbst den Käfig mit vieler Mühe verfertigte. Einmal kam er mit einem niedlichen jungen Reh aus dem Wald zurück, das ihm wie ein Hündchen nachlief; er hatte es für Rosa gezähmt, an die es sich auch bald gewöhnte. Wenn er einige Tage zu Hause blieb, so wußte er sie sehr gut zu unterhalten; er erzählte ihr von den edeln, ritterlichen Taten ihres Vaters und von der Frömmigkeit und Wohltätigkeit ihrer seligen Mutter aus früheren Zeiten sehr vieles, was Rosa noch nicht wußte. Diese Erzählungen des alten treuen Dieners waren für sie immer ebenso belehrend wie unterhaltend.

Die gute Köhlerin gab an Gefälligkeit ihrem Manne nichts nach. Da sie mit Schmerzen gehört hatte, daß Rosa um all ihr weißes Zeug gekommen sei, so war sie mit hausmütterlicher Sorgfalt darauf bedacht, sie recht bald wieder damit zu versehen. Sie nahm Leinwand aus dem Kasten und schnitt davon zu einigen Hemden für Rosa ab; sie gab ihr Strickgarn zu Strümpfen und bedauerte nur, daß diese Ware für das Fräulein nicht fein genug sei. Die fleißige Hausmutter hatte den Winter über Garn zu einem Stückchen sehr feinen Linnens gesponnen; sobald es vom Weber kam, schenkte sie es dem Fräulein, und es wurde nun sogleich auf dem grünen Rasen nächst dem Bächlein zum Bleichen ausgespannt. Diese Geschenke waren der guten Rosa, weil sie alles so nötig hatte und überdies sich damit nützlich beschäftigen konnte, doppelt lieb und wert.

Auch Agnes war dem Fräulein eine sehr liebreiche und angenehme Gesellschafterin. Sie arbeiteten und ergötzten sich zusammen. Rosa unterrichtete sie im Nähen und Stricken. Sie begossen miteinander das Tuch auf der kleinen Bleiche sehr fleißig. Sie besorgten das Gärtchen, an dem Rosa sehr viel Vergnügen fand, obwohl man fast nichts darin sah als die nötigsten Gemüse, Kohl und Salat, Lauch und Zwiebel, Rettiche und Rüben, Gartenerbsen und Bohnen, und dann noch zur Zierde einige goldgelbe Ringelblumen, feuerfarbene Kapuzinerkresse, blaue Winden und hie und da einen purpurroten Mohn. Sie gingen an dem silberhellen Bach, in dem blühenden Tale und in dem prächtigen Walde zusammen spazieren; sie beobachteten die schnellen Fischchen in dem klaren Wasser und warfen ihnen von dem geländerten Stege Brosamen hinab; sie horchten auf den Gesang der vielen Vögel, die Agnes alle zu nennen wußte; sie pflückten Beeren; sie sammelten mancherlei Kräuter, an denen Rosa eine besondere Freude hatte.

Allein nie wurde das Fräulein ganz heiter; immer lag ihr das Schicksal ihres Vaters im Sinn. Oft wußte man nicht, wo sie war, und nach langem Suchen fand man sie im tiefen Dunkel des Waldes oder in einer Felsenhöhle, wo sie mit heißen Tränen für ihren Vater betete. Es wurde je länger je ärger. Sie wurde nur etwas hoffnungsfroher, wenn sie und die guten Köhlerleute miteinander Entwürfe machten, wie dem teuern Gefangenen sein Elend erleichtert oder wie er gar befreit werden könnte.

Eines Sonntags saßen alle vier beim Mittagessen, und die Befreiung des guten Ritters aus dem Gefängnis war, wie gewöhnlich, fast das einzige Tischgespräch. Die kleine Mahlzeit war bald vorbei, und es stand nur noch ein irdenes Näpfchen voll goldgelber Schwämme, köstlich mit Butter und würzhaftem Kümmel zugerichtet, auf dem Tisch. Der Köhler, der die eßbaren und giftigen Schwämme sehr gut zu unterscheiden wußte, hatte sie mit vieler Sorgfalt gesammelt, weil Rosa sie so gern aß. »Eßt doch, eßt!« sagte er; »wir machen uns nicht viel aus dem Zeug da. Aber die vornehmen Leute glauben wunder, was sie daran haben. Ich brachte ehemals viele davon in Euer Schloß, besonders von denen, die man Morcheln nennt und die nirgends so gut als auf den Kohlenstätten geraten. Ein anderer Köhler, dort drüben in Ritter Kuniberts Waldungen, schickte durch seine Kinder auch immer sehr viele nach Fichtenburg. Eine seiner Töchter kam dadurch sogar zum Torwärter in den Dienst. Allein die Torwärterin, die ein wahrer Drache sein soll, jagte vor einigen Tagen das Mädchen davon, und da hat denn mein rußiger Herr Kollege, der auch ein ziemlicher Brausekopf ist, geschworen, keine Schwämme mehr hinzuschicken, und sollten die Leute auf den Köpfen herauskommen und ihn darum bitten.«

Rosa, die nachdenkend dasaß, sprang jetzt plötzlich vom Stuhl auf und rief freudig: »Ich hab's; so kann's gehen. Ich kleide mich als Köhlermädchen, trage Schwämme in die Burg, suche der Torwärterin Gunst zu gewinnen, komme zu ihr in Dienst und bringe es dann schon so weit, daß ich meinen Vater sehen, ihm manches Gute erweisen und ihn vielleicht gar befreien kann. O Gott«, sprach sie und blickte mit gefalteten Händen zum Himmel, »gib du deinen Segen dazu!«

Der Köhler schüttelte den Kopf und sagte: »Hm, hm!« Er machte Einwendungen. Rosa widerlegte alle; er mußte nachgeben. Sie eilte zur Tür hinaus und kam in einigen Minuten als Köhlermädchen gekleidet wieder herein. Sie hatte ihr langes himmelblaues Kleid mit einem Anzug von Agnes vertauscht, der sehr nett und reinlich war. Das rote Mieder, die schwarze Jacke, der grüne Rock nebst blendendweißem Koller und ebenso weißer Schürze waren ihr wie angemessen, und auch der ländliche Strohhut stand ihr sehr gut. Die Köhlerin und Agnes hatten ihre Herzenslust daran, das Fräulein ihnen ähnlich gekleidet zu sehen; sie klatschten vor Freude in die Hände und waren nun viel zutraulicher gegen sie als vorher. »Die Kleider stehen Euch unvergleichlich«, sagte die Köhlerin; »allein Euer liebliches Gesichtlein, das wie Milch und Blut aussieht, und Eure zarten weißen Hände passen nicht dazu. Man wird gleich merken, daß Ihr kein Köhlermädchen, sondern ein Fräulein seid!« Burkhard wußte ein unschädliches Mittel, ihrem Angesicht und ihren Händen eine braune Farbe zu geben, die sich leicht wieder abwaschen ließ. Er machte sogleich den Versuch damit, und die Köhlerin und Agnes riefen: »Jetzt geht's gewiß; nun kennt Euch kein Mensch!«

Rosa wollte sogleich am folgenden Tag den Gang nach Fichtenburg wagen. Sie fürchtete, ein anderes Mädchen möchte ihr zuvorkommen. »So wagt es denn in Gottes Namen«, sagte der Köhler. »Noch diesen Abend will ich Euch die schönsten goldgelben und silbergrauen Schwämme sammeln, und einige Schnüre getrockneter Morcheln werden noch oben in der Kammer hängen. Agnes soll Euch begleiten bis zum Ausgang des Waldes, an jenen kleinen Hügel, auf dem drei steinerne Kreuze stehen. Dort kann man Fichtenburg sehen, und der Weg ist nicht mehr zu verfehlen. Bei den drei Kreuzen am Wald soll sie auf Euch warten, bis Ihr wieder zurückkommt.«

Am folgenden Morgen war Rosa schon sehr früh reisefertig. Sie nahm den Korb mit Schwämmen an den Arm; Agnes trug einen andern Korb, der reichlich mit Lebensmitteln versehen war. Der Köhler und die Köhlerin segneten Rosa an der Tür herzlich und gaben ihr noch viele gute Lehren. Mit Tränen in den Augen sahen sie ihr nach. »Das gute Kind!« sagte der Köhler. »Es muß ihr gelingen, sonst bliebe die Verheißung, die bei dem vierten Gebote steht, nicht in ihrer Kraft.«


Achtes Kapitel.
Rosa sucht Dienste in der feindlichen Burg

Rosa erreichte in ihrer ländlichen Tracht, von Agnes begleitet, glücklich das Ende des Waldes, der sie bisher von der ganzen übrigen Welt geschieden hatte. Ein Stich ging ihr durchs Herz, als sie die Fichtenburg mit dem hohen Wartturm von weitem erblickte. »Ach«, sagte sie, »vielleicht zu unterst in diesem Turm liegt mein Vater! Was macht er wohl? Ist er gesund? Haben Jammer und Kerkerelend ihn noch nicht aufgezehrt? Lebt er noch? Oh, daß es mir gelänge, zu ihm zu kommen! O Gott, lenke du meine Tritte und laß mich Gnade finden vor den Menschen, zu denen ich jetzt gehe!«

Rosa nahm Abschied von Agnes und setzte ihren Weg allein weiter fort. Als sie den hohen Berg erstiegen hatte und durchs offene Burgtor trat, erblickte sie im Burghofe sogleich den Ritter Kunerich hoch zu Pferd, prächtig in Grün und Gold gekleidet, mit einem schwankenden Busch weißer und schwarzer Straußenfedern auf dem Haupte. Er war von mehreren Edelknechten und Jägern zu Pferd umgeben und wollte eben auf die Jagd reiten. Der guten Rosa brachen beim Anblick des grausamen Mannes beinahe die Knie. Sie mußte sich auf die steinerne Bank setzen, die nächst dem Tore war, sonst wäre sie umgesunken. Jetzt erklangen die Jagdhörner, und der Zug kam sehr nahe an ihr vorbei. Rosa stand auf, dem Ritter die schuldige Ehre zu bezeigen. Aber der übermütige Mann blickte das arme zitternde Mädchen kaum an und ritt mit seinen Leuten stolz zum Tore hinaus.

Rosa setzte sich wieder auf die Bank. Es war ihr unbeschreiblich bange ums Herz. Sie hielt es für das beste, zu warten, bis man sie anredete. Über eine kleine Weile kamen ein paar Kinder, blieben in einer kleinen Entfernung vor ihr stehen und schauten sie an. Rosa grüßte die Kinder freundlich und fragte, wie sie hießen. Sie sagten ihre Namen und wurden sogleich zutraulicher. Otmar, der Knabe, machte den Deckelkorb auf, der neben ihr auf der Bank stand, und guckte, was sie darin habe. Die kleine Berta streckte das Händchen nach den blauen Kornblumen aus, die Rosa auf den Strohhut gesteckt hatte. Rosa gab dem Mädchen die Blumen und beschenkte beide Kinder mit einigen süßen Frühbirnen, die ihr die Köhlerin zur Erfrischung auf dem Wege in den Korb gelegt hatte. Alle drei redeten zusammen, als wären sie Geschwister.

Die Kinder gehörten dem Torwärter. Er blickte eben heimlich aus einem Seitenfensterlein der Torstube, das da angebracht war, um leicht beobachten zu können, wer aus und ein gehe. Er wurde gerührt, daß ein fremdes Mädchen mit seinen Kindern so freundlich redete. Die reine Aussprache, die liebliche Stimme, der Anstand des freundlichen Landmädchens in der netten, reinlichen Bauerntracht fielen ihm auf. »In meinem Leben«, sagte er, »habe ich kein so ordentliches, wohlerzogenes Bauernmädchen gesehen.«

Er kam heraus und führte Rosa in die Stube. »Was hast du denn da feil?« fragte er freundlich. Rosa öffnete den Korb und zeigte die Schwämme. Der Mann fragte, was sie dafür verlange. »Was Ihr gern dafür geben wollt«, sagte Rosa, »denn ich denke, Ihr gebt einem armen Mädchen gewiß nicht zu wenig.« – »Das ist gut geantwortet!« sagte der Mann. »Warte hier! Ich will die Schwämme selbst in die Schloßküche tragen und für dich handeln. Sie haben schon lange keine mehr zu sehen bekommen. Ich stehe dir gut, du sollst nicht zu wenig dafür bekommen.« Er nahm den Korb und ging.

Bald darauf erschien die Torwärterin mit der Mittagsuppe in der Stube. »Wie kommst du da herein, du verwegenes Ding?« sagte sie zu Rosa. »Wer bist du? Was willst du? Was unterstehst du dich als fremd gleich unangemeldet in diese Stube zu treten! Auf der Stelle pack dich hinaus, oder ich werfe dir die Schüssel an den Kopf und lasse dich durch den großen Hofhund hinaushetzen!«

Die Kinder baten für Rosa und zeigten die Früchte und Blumen, die sie von ihr bekommen hatten. Eben kam auch der Torwärter mit dem leeren Korbe und dem Gelde zurück.

»Nun, nun«, sagte er zu seiner Frau, »sei nur nicht gar so hitzig. Das Mädchen ist brav. Ich dachte schon, ob sie wohl bei dir dienen möchte, da wir doch wieder ein Dienstmädchen brauchen. Aber wenn du gleich so oben hinaus bist, so bleibt kein Mensch mehr bei dir! Ich selbst führte übrigens das gute Kind in die Stube.«

»Dann ist es etwas anderes«, sagte die Torwärterin; »dann mag sie bleiben. Du mußt mir's aber nicht übel nehmen, Mädchen, daß ich in Eifer kam; dafür haben wir das Brot, daß wir auf fremde Leute wohl achthaben.«

»Ihr habt recht«, sagte Rosa; »daß ich hereingeführt wurde, konntet Ihr ja nicht wissen. Auch war es gefehlt von mir, daß ich in einer fremden Stube allein blieb. In dieser Hinsicht lobe ich Euern Eifer und bitte Euch um Verzeihung.«

Das gefiel der Torwärterin. Wenn man ihr nur Recht ließ, so gab sie sich schon zufrieden. »Weil du dein Obst mit meinen Kindern teiltest«, sagte sie, »so sollst du an unserm Mittagsmahl auch teilhaben. Komm, setze dich an den Tisch und iß mit!«

Rosa willigte dankend ein. Die zwei Kinder gaben ihr aber so viel zu tun, daß sie kaum einen Löffel zum Munde bringen konnte. Sie redete immer mit ihnen, beantwortete alle ihre Fragen und war so freundlich gegen die Kleinen, daß die Mutter davon ganz entzückt wurde.

Als Rosa den leeren Korb nahm und gehen wollte, schrien beide Kinder: »Dableiben, dableiben!«

»Ja, mir wäre es auch lieb, wenn du bleiben könntest!« sagte die Mutter. »Möchtest du nicht zu mir in den Dienst?«

»Von Herzen gern«, sagte Rosa, »und ich würde Euch gewiß treu und redlich dienen.«

»Nun wohl«, sagte die Torwärterin, »so geh erst nach Hause und rede zuvor noch mit deinen Leuten, und wenn es denen auch recht ist, so kannst du kommenden Samstag deinen Dienst antreten.«

Die Torwärterin sagte noch, was sie ihr an Lohn geben wolle, auch legte sie weißes Brot und geräuchertes Fleisch in ihren Korb. »Bringe das deinen Leuten zum Gruß«, sagte sie, »und komm gut nach Hause!«

Rosa dankte für die Gabe und eilte nun freudig dem Walde zu. Agnes saß nicht weit von den drei Kreuzen unter einer Haselstaude und strickte. Sie sprang, sobald sie das Fräulein von weitem kommen sah, augenblicklich auf, lief ihr entgegen und sagte: »Nun gottlob, mein liebstes Fräulein, daß Ihr wieder da seid! Ihr werdet müde und hungrig sein. Kommt, setzt Euch dort unter den Haselstrauch, wo mein Korb steht, ins Grüne, labt Euch an Milch und Butterbrot und erzählt mir, wie alles gegangen ist.«

Rosa ging mit ihr, und Agnes nahm die Milchflasche, Brot und Butter aus dem geöffneten Korbe.

»Oh, du gute Agnes«, sagte Rosa, »du hast ja mit dem Essen gewartet, bis ich kam. Du hast inzwischen nichts angerührt. Iß doch jetzt! Ich habe schon zu essen bekommen. Einige Augenblicke will ich mich indessen doch zu dir setzen. Laß uns aber eilen; wir dürfen uns nicht in die Gefahren der Nacht wagen. Erzählen kann ich dir ja im Gehen und etwa unterwegs auch noch ein Stückchen Butterbrot verzehren.« Agnes sagte: »Je, das kann ich ja auch!« und beide machten sich unverzüglich auf den Weg.

Tief im Walde, als die Sonne bereits unterging, kamen ihnen der treue Köhler und sein Weib, die um Rosa und Agnes besorgt waren, entgegen. Die guten Leute freuten sich, daß alles so gut abgelaufen war; nur schmerzte es sie, daß sie nun ihr liebes Fräulein verlieren sollten. Sie legten den übrigen Weg unter vertraulichen Gesprächen glücklich zurück. Als sie in das kleine Tal kamen, war eben der Vollmond aufgegangen und beleuchtete die friedliche Köhlerwohnung. Rosa begab sich sehr ermüdet, aber auch sehr vergnügt auf ihre Kammer; sie dankte, bevor sie sich niederlegte, Gott auf den Knien, daß er den Anfang ihres Unternehmens gesegnet, und flehte zu ihm, daß er es auch zu einem glücklichen Ende führen wolle.


Neuntes Kapitel.
Rosa als Dienstmädchen

Der nächste Samstag, an dem Rosa abreisen sollte, war für alle im Hause ein sehr trauriger Tag. Es kam Rosa unaussprechlich hart an, diese guten Leute, die es so redlich mit ihr meinten, und das freundliche Tal, in dem sie so ruhig lebte, zu verlassen und hinzugehen in die Burg eines Feindes, an den sie nicht ohne Schrecken denken konnte. Auch wußte sie wohl, daß sie jetzt sich in einen Dienst begebe, in dem keine geringen Leiden auf sie warteten. Allein im Vertrauen auf Gott und aus Liebe zu ihrem Vater trat sie diesen harten Weg mutig an. Der ehrliche Burkhard und die gute Gertraud gingen bis zum Ende des Waldes mit ihr und nahmen dann unter tausend heißen Tränen und frommen Segenswünschen Abschied von ihr. Agnes aber, die ihr das kleine Wanderbündelein trug, begleitete sie bis in die Torstube zu Fichtenburg.

Die Torwärterin nahm beide sehr freundlich auf. »Das ist brav, daß du Wort hältst«, sagte sie zu Rosa. »Setzt euch nun; ich will euch beide gut bewirten.« Rosa öffnete den Korb, den sie am Arm hatte, und überreichte als einen kleinen Gegengruß von ihren Leuten der Torwärterin einige Lagen sehr feinen Flachses. Da wurde diese noch freundlicher. »Ihr habt wenigstens Lebensart«, sagte sie; »es wird gut mit dir gehen.« Für die Kinder hatte Rosa Birnen und Pflaumen und eine Menge von Haselnüssen und getrockneten Dornschlehen mitgebracht, worüber die Kinder eine ungemeine Freude hatten. Alle waren sehr vergnügt.

Nach dem Essen nahm Agnes, bitterlich weinend, Abschied von Rosa. »Nun, nun«, sagte die Torwärterin, »weine nicht so! Du kannst uns ja öfter besuchen. Es wird mir allemal lieb sein. Und wenn du Morcheln mitbringen willst, so wird es mir noch lieber sein, und dir wird dann noch obendrein der Gang bezahlt.« Agnes versprach, recht oft zu kommen, und ging schluchzend zur Tür hinaus. Der guten Rosa aber, die sich jetzt, von allen ihren Freunden getrennt, in den Mauern einer feindlichen Burg sah, war es nicht anders, als wäre sie nun ganz allein auf der Welt.

Nachdem Agnes fort war, setzte sich die Torwärterin in den großen Lehnsessel, der neben dem Ofen stand, nahm eine etwas höhere Miene an und sagte, indem sie mit dem Finger auf den Boden zeigte: »Du, Rosa, steh einmal daher, hierher auf dieses Plätzchen! Ich habe ein paar Wörtlein mit dir zu sprechen. Merke also wohl auf!

Ich weiß wohl, man sagt mir nach, es sei mit mir gar nicht auszukommen; ich sei zu hitzig und aufbrausend und habe in einer Zeit von fünf Jahren bei zwanzig Mägde gehabt. Das sagt man weit umher im ganzen Lande. Davon sagt man aber nichts, was alle diese Mägde für Fehler hatten. Ich muß dir diese Muster doch ein wenig beschreiben.«

Sie fing nun an, mit sehr geläufiger Zunge und vieler Hitze ihre bisherigen Mägde zu schildern.

»Die erste«, sagte sie, »die Brigitt' – doch ich will die Namen der Mägde nicht nennen, um sie nicht in übeln Ruf zu bringen, sondern dir nur ihre Fehler zur Warnung vor Augen stellen –, die Brigitt' also, über die ich mich fast am meisten erzürnte, war höchst stolz und hochmütig, wollte alles besser wissen und niemals unrecht haben. Einmal hatte sie mir einen Eierkuchen so vollkommen zu Kohlen verbrannt, als hätte sie diese Kunst von einem Kohlenbrenner gelernt. Und dann war sie noch so unverschämt und behauptete mir ins Gesicht, der Kuchen sehe schön gelb aus wie Gold, und keiner auf der ganzen Welt könne besser schmecken. Da lief mir die Galle über, und ich wies ihr die Tür.

Die andere war ungenügsam, mit nichts zufrieden, immer mürrisch und verdrießlich. Sie machte beständig ein Gesicht, als kaute sie Wermut. Immer wußte sie etwas an der Kost zu tadeln. Mehr als zehnmal warf sie mir die viele Arbeit und den wenigen Lohn vor. Da bekam ich's endlich genug und sagte: ›Nun, Urschel, so suche dir denn einen andern Dienst, wo du mehr Lohn und weniger Arbeit hast.‹

Die dritte war die Faulheit selbst. Ich glaubte es nicht zu erleben, bis sie mit einer Arbeit fertig war. Bis sie einen Topf gespült hatte, hätte Moos daran wachsen können. Sie war zu faul, sich zu bücken. Wenn sie die Stube gekehrt hatte, ließ sie den Besen vor der Tür liegen und stieg zehnmal darüber hin, bis ich ihn endlich in die Ecke stellte. Alle Morgen mußte ich sie wecken und wohl zehnmal rufen: ›Steh doch einmal auf, Käthe!‹ Es wäre fast notwendig gewesen, der Engel mit der Posaune wäre gekommen, sie zu erwecken. Ich glaube, wenn ich sie einmal hätte liegen lassen, sie schliefe noch. Wem wäre nun mit einer so trägen Magd gedient gewesen? Ich sagte, sie solle gehen, oder wenn sie zu faul dazu wäre, so wolle ich sie auf dem Schubkarren fortführen lassen.

Die vierte war naschhaft. Rahm und Butter, Fleisch und Speck waren sowenig vor ihr sicher als vor einer Katze. Einmal, im Frühling, an einem Sonntagnachmittag, wollte ich meinem Manne, der über Feld war, entgegengehen bis zum nächsten Dorf. Unterwegs schaute ich mich um und sah aus meinem Kamin Rauch aufsteigen. Ich kehrte auf der Stelle um, und als ich in die Küche trat, was erblickte ich da? Da saß meine saubere Margaret' auf dem Herde und hatte eine große Schüssel voll Apfelküchlein vor sich stehen. Alle Welt, wie ich da auffuhr! Sie mußte sich über Hals und Kopf aus dem Hause packen. Wer hätte ein so treuloses Wesen auch nur noch einmal über Nacht behalten mögen?

Die fünfte war unreinlich im Anzuge. Zwar an den Sonn- und Festtagen stieg sie geputzt einher wie ein Pfau; aber an den Werktagen sah die Lene aus, als wäre sie ganz aus Schmutz und Lumpen zusammengesetzt. Wenn man sie ausgestopft und auf den Acker hinausgestellt hätte, so hätte sie nicht nur die Vögel verscheucht, sogar die wilden Schweine wären vor ihr davongelaufen. Diese schaffte mir der Ritter weg; er sagte, es sei unanständig, daß einem sogleich bei dem Eintritt ins Schloß eine solche Vogelscheuche in das Auge falle.

Die sechste war höchst vergeßlich und unachtsam und sah nicht im geringsten auf meinen Nutzen. Sie dachte an gar nichts, und ich mußte es ihr alle Tage aufs neue sagen, was sie jede Stunde zu tun habe. Sie zerbrach mir mehr Schüsseln und Häfen, als Tage im Jahre sind. Die zinnernen Löffel schüttete sie mit dem Spülwasser aus; ich fand einmal einen im Schweinestall, und das Schwein hatte ihn zerbissen. Bald darauf zerbrach sie ein Glas. Ich hörte es klirren und lief in die Küche. Else hatte aber die Scherben schon versteckt und leugnete die Tat. Ich suchte lange vergebens. Mir aber war sie nicht zu listig. Sie hatte die Scherben in das Spülwasser geworfen, aus dem ich sie wieder herausfischte und mich im Eifer noch dazu in die Finger schnitt. Darüber wurde ich noch zorniger. ›So‹, sagte ich, ›die Glasscherben hätte wieder mein Schwein verschlucken sollen. Aber ehe ich mein Schwein daraufgehen lasse, gehst mir lieber du.‹ Sie mußte fort.

Die siebente war vorwitziger und schwatzhafter als eine Dohle. Immer horchte sie heimlich an den Türen. Alles, was im Hause vorging, plauderte sie aus und stiftete dadurch vielen Zank und Hader an. Wenn man wollte, daß etwas recht bald allgemein bekannt werde, durfte man es nur der Lina anvertrauen, so konnte man sich das Trinkgeld für das Ausschellen ersparen. Sie war eine entsetzliche Plaudertasche, die alles übertrieb und an kein Ende kommen konnte. Doch – horch! – eben hat man mir geschellt; jetzt muß ich abbrechen. Das ist mir recht leid, denn ich habe mich ohnehin sehr kurz gefaßt. Ich könnte dir von jeder dieser Mägde drei Stunden lang erzählen. Wir wollen das weitere auf morgen sparen. Da ist's Sonntag, da haben wir recht Zeit dazu. Merke dir indessen diese Fehler und hüte dich davor, sowie vor allen andern, die ich dir in dem Spiegel meiner Mägde noch ferner zeigen werde; dann werden wir, wie ich hoffe, nicht übel miteinander auskommen.«

Rosa sah wohl ein, daß die Torwärterin selbst übertreibe und gar keine Ursache habe, andern über die Schwatzhaftigkeit Vorwürfe zu machen. Auch war Rosa der richtigen Meinung, daß man diese Mägde zuvor auch anhören müßte, ehe man über sie urteilen könnte. Sie sagte indessen bloß: »Wenn eine Magd nur den zehnten Teil von einem der genannten Fehler an sich hätte, so verdiente sie schon Tadel, und eine Hausfrau, die auf Fleiß, Reinlichkeit und gute Hausordnung hält, könnte allerdings nicht mit ihr zufrieden sein. Ich werde mich bemühen, alle diese Fehler gänzlich zu meiden.«

Wirklich war auch Rosa recht das Bild einer guten Dienstmagd. Sie diente nach der Lehre Jesu und seiner Apostel ihrer zeitlichen Herrschaft nicht bloß unter den Augen, um sich bei den Menschen gut einzuschmeicheln, sondern mit einem redlichen Herzen und aus Furcht Gottes. Was sie immer tat, das tat sie mit Freuden, als täte sie es Gott und nicht den Menschen. Sie war unermüdlich fleißig; es war eine Lust, anzusehen, wie flink und frisch sie die Arbeit angriff, und wie schnell und gut ihr alles vonstatten ging. Nichts mußte man ihr zweimal befehlen; sie verrichtete die Arbeiten, die täglich vorkamen, zur rechten Zeit und wartete nicht, bis man sie daran mahnte. Sie sah selbst ein, was zu tun sei; ja, manche Arbeit war schon getan, ehe man daran gedacht hatte, sie ihr zu befehlen. Hausgeräte und Geschirre stellte sie, wenn man sie nicht mehr brauchte, an ihren Ort. Die Stube hielt sie höchst reinlich, und sie ruhte nicht, bis in der Küche alles glänzte und blinkte, daß jeden, der hereinkam, die Reinlichkeit gleichsam anlachte. Das Eigentum ihrer Herrschaft nahm sie mehr in acht als das ihrige. Sie ging mit dem irdenen Geschirr so vorsichtig um, als wäre es von allergrößtem Wert. Keine Nähnadel, die sie auf dem Boden erblickte, ließ sie liegen; sie hob sie auf und steckte sie in das Nähkissen ihrer Hausfrau. Heimlich zu naschen, wäre ihr ein Greuel gewesen; ja sie hätte sich vor der Sünde gefürchtet, auch nur ein Trümmchen Faden zu veruntreuen. Sie war sehr verschwiegen, und was im Hause geredet und getan wurde, kam nie über ihre Lippen. Sie war genügsam und zufrieden und deshalb auch immer heiter und freundlich. Sie war die Bescheidenheit selbst. Wenn sie je etwas versah, so gestand sie den Fehler ein und bat um Verzeihung. Wenn sie ohne ihr Verschulden ausgezankt wurde, so verstand sie die große Kunst, zu rechter Zeit zu schweigen, und der Anblick ihrer sanften Engelsmiene rührte und besänftigte die aufgebrachte Hausfrau mehr als alles, was Rosa zu ihrer Verteidigung hätte sagen können. Die Torwärterin wurde nach und nach selbst sanfter, und es ging, zum nicht geringen Erstaunen ihres Mannes, hier und da ein Tag herum, ohne daß sie ein einziges Mal zankte.

Indessen hatte Rosa dennoch einen sehr harten Dienst. Sie war in den feinen weiblichen Arbeiten für ihr Alter eine Meisterin; aber viele der rauhen Dinge, die man ihr jetzt auftrug, waren ihr, als einem adeligen Fräulein, ganz und gar ungewohnt und fielen ihr deshalb sehr schwer. Sie mußte jeden Morgen vor Tag aufstehen, Holz und Wasser tragen, in der Küche Feuer anschüren, die Geschirre spülen, den Stubenboden und das Küchenpflaster fegen und noch viel Schweres verrichten. Da sie mit mancher dieser Arbeiten, die sie das erstemal in ihrem Leben tat, beim besten Willen nicht allemal sogleich zurechtkommen konnte, so mußte sie sich von der aufgebrachten Hausfrau dumm und ungeschickt schelten und mit allerlei garstigen Namen benennen lassen. Die Kost war zwar in ihrer Art gut; aber manche Speise kam dem Fräulein so fremd und seltsam vor, daß es sie keine kleine Überwindung kostete, davon zu essen. Ihr Bett war zwar sehr reinlich, allein für ein Fräulein zu rauh und zu schwer.

Wenn sie nun vom frühen Morgen bis zum späten Abend hart gearbeitet hatte, noch dafür ausgezankt und gescholten worden war und müde und traurig in ihre kleine Schlafkammer kam, so war es ihr einziger Trost, noch eine halbe Stunde für sich allein zu sein und ihre Leiden Gott zu klagen. Oft öffnete sie ein Fenster, blickte mit Tränen in den Augen zu den Sternen auf und betete. »Oh, mein Gott«, sagte sie gar oft, »alle diese Leiden will ich gern ertragen, wenn nur am Ende die Leiden meines geliebten Vaters dadurch erleichtert werden.«


Zehntes Kapitel.
Rosa kommt zu ihrem Vater ins Gefängnis

Rosa hatte in ihrem Dienst schon viele harte Tage zugebracht und noch keine Gelegenheit gefunden, zu ihrem Vater ins Gefängnis zu kommen. Es war ihr sehr schmerzlich, ihm so nahe zu sein und ihn doch nicht zu sehen. Indessen war ihr sogleich anfangs ein Strahl von Hoffnung aufgegangen. Sie hatte bemerkt, der Torwärter sei zugleich Kerkermeister, und er müsse den Gefangenen die Kost reichen. Sie erkundigte sich bei ihm von Zeit zu Zeit nach allen Gefangenen. Da hörte sie doch wenigstens, daß ihr lieber Vater noch lebe und gesund sei. Sie bat den Torwärter öfters, ihr die Gefangenen zu zeigen; er aber schüttelte allemal den Kopf und sagte: »Man muß nicht so vorwitzig sein.« Oft konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie das irdene Schüsselein mit magerer Suppe sah, das nebst schwarzem Brot und dem Wasserkrug für ihren Vater bestimmt war. »Ach«, seufzte sie, »was ich auch leide, ist nichts gegen das, was er ausstehen muß!«

Eines Abends, als eben die Suppe für die Gefangenen in den irdenen Geschirren auf dem Tragbrett bereit stand, sagte der Torwärter zu Rosa: »Du, Röse, komm mit! Morgen muß ich in Geschäften meines gestrengen Ritters verreisen. Ich will dir die Gefängnisse zeigen; du mußt nun den Gefangenen das Essen bringen. Mein Weib hat wenig Zeit und noch weniger Lust dazu.« Er nahm das Brett, auf dem die Geschirre standen, in eine und den rasselnden Bund Schlüssel in die andere Hand und ging durch einen langen dunkeln Gang voran.

Es war für Rosa sehr unerwartet, daß sie jetzt in diesem Augenblick ihren Vater sehen sollte. So groß ihre Freude auch war, so empfand sie doch eine Art von Schrecken. Sie war ganz erschüttert. Mit klopfendem Herzen folgte sie dem Torwärter durch den dunkeln Gang. Sie faßte sich indes bald wieder und nahm sich vor, sie wolle sich in Gegenwart des Torwärters ihrem Vater nicht zu erkennen geben. »Denn«, dachte sie, »wenn das Geheimnis, daß ich seine Tochter bin, entdeckt würde, so würde man mir die Schlüssel zu seinem Gefängnis gewiß nicht anvertrauen.«

Der Torwärter blieb bei einer kleinen Öffnung in der dicken Mauer stehen. Rosa sah ängstlich und bebend hinein. Ein Mann mit verwildertem Haar und Bart und einem schrecklichen Blick saß in dem düsteren Kerker. »Der«, sagte der Torwärter, »war ein tapferer, rüstiger Kriegsmann. Aber die Spielsucht und das verwünschte Saufen verleiteten ihn, aus einem tapferen Krieger ein Straßenräuber zu werden. Ich möchte den Lohn, der auf ihn wartet, nicht mit ihm teilen.« Er gab ihm die Wassersuppe hinein und schloß wieder zu.

Hierauf öffnete er ein anderes Fensterlädchen. Rosa erblickte in dem dumpfen Gewölbe eine totenbleiche weibliche Gestalt in schweren Ketten, mit zerrauften Haaren, eingefallenen Wangen und Augen voll unbeschreiblicher Schwermut. »Diese«, sagte der Torwärter, indem er die Suppe hineinstellte und das Lädchen wieder zuschloß, »war einst ein Mädchen, schön wie ein Engel; wenn sie nur auch unschuldig geblieben wäre wie ein Engel! So aber lief sie heimlich den bösen Gelegenheiten nach, und jetzt ruht der schwere Verdacht auf ihr, sie sei eine Kindsmörderin. Wenn es so ist, wird sie mit dem Schwerte hingerichtet. Die Verzweiflung macht sie manchmal fast rasend. Beileibe öffne die Tür ihres Gefängnisses nie. Sie könnte dir ein Leid antun und ausreißen.

Nur zu diesem allein dürfen wir hineingehen«, sagte der Torwärter und öffnete eine eiserne Tür. »Das ist ein guter Mann, sanft und fromm wie die Geduld. Es ist Ritter Edelbert von Tannenburg.« Die arme bebende Rosa hätte ihn nicht mehr erkannt. Er war sehr bleich und hager und hatte einen langen Bart. Seine Kleidung war abgetragen und unscheinbar. Er saß auf einem steinernen Sitz, an den er mit einer langen Kette angeschlossen war, so daß er im Kerker umhergehen konnte. Der Tisch daneben war aus einem einzigen großen Stein ausgehauen. Ein irdener Krug, neben dem etwas trockenes Brot lag, stand darauf. Der gute Ritter hatte den linken Arm auf den Tisch gestützt und hielt mit der Hand die Stirn. Die rechte bot er wehmütig seinem Kerkermeister dar. Neben dem Tisch stand eine uralte Bettlade aus wurmstichigem Holz. Etwas Stroh und eine grobe Wolldecke dienten als Bett. Das ganze Gefängnis war schauerlich anzusehen. Es war, weil es für gefangene Ritter bestimmt war, sehr geräumig, aus großen Felsenstücken in die Runde gemauert und hoch gewölbt. Mauern und Gewölbe sahen vor Alter ganz schwarzgrau aus. Ein einziges schmales und stark vergittertes Fenster befand sich in der dicken Mauer. Der größte Teil der kleinen runden Fensterscheiben war von außen mit Schutt verschüttet; die übrigen Scheiben waren mit Nesseln überwachsen, so daß nur etwas grünliches Licht in diese düstere Gruft fiel und sie noch schauerlicher machte.

»Ritter«, sagte der Torwärter, »morgen wird Euch mein Dienstmädchen Eure Kost reichen. Ich muß in Geschäften verreisen.«

Edelbert betrachtete Rosa. Ihr Anblick erinnerte ihn sogleich an seine Tochter; indessen erkannte er sie nicht. »Mein Gott«, seufzte er, und Tränen kamen ihm in die Augen, »von dieser Größe und in diesem Alter ist meine Rosa auch! Ach, könnt Ihr mir denn gar nichts von ihr sagen, lieber Kerkermeister? Habt Ihr denn noch keine Kunde über sie eingezogen, wo sie ist und wie es ihr geht? Ich habe Euch ja schon so oft darum gebeten.«

Der Torwärter sagte: »Der liebe Gott im Himmel weiß, wo sie ist! Mir hat es bis jetzt kein Mensch sagen können.«

»Ach Gott«, sagte Edelbert, »so hat denn nicht ein einziger von jenen Rittern, die sich meine Freunde nannten, als ich noch im Glück war, sich meiner Tochter erbarmt und sie in seine Burg aufgenommen!« Edelbert dachte jetzt wohl an seinen getreuen Burkhard. Er hoffte, Rosa werde bei ihm sein. Er wollte es sich aber nicht merken lassen, um den guten Burkhard, dem Kunerich sehr feind war, nicht unglücklich zu machen. Er sagte also bloß: »Nun, nun, ich hoffe, sie wird sich bei guten Leuten befinden, die auf sie achthaben, damit sie unschuldig und gut bleibt. Nur das noch«, seufzte er, »laß mich sicher erfahren, lieber Gott, ehe ich in diesem Kerker sterbe; dann will ich meine Augen in Frieden schließen, ohne ihr Angesicht noch einmal zu sehen, so sehnlich ich dies auch noch vor meinem Tode wünschte. Oh, Ihr glaubt nicht, lieber Kerkermeister, was für ein liebes, gutes Kind meine Rosa war, wie sie mich liebte, wie sie mir alles tat, was sie mir nur immer an den Augen absehen konnte. Sie machte mir nichts als Freude. Nun, wo sie auch sein mag, wird es ihr wohl gehen! Sei du, liebes Kind«, sprach er, zu Rosa gewendet, »gegen deine Eltern auch so gut und folgsam, wenn sie noch leben.«

Rosa, die bisher nur Schrecken über das schauerliche Gefängnis und das bleiche Aussehen des Vaters empfand, fing jetzt an zu weinen und zu schluchzen. Ihr Herz brach. Fast wäre sie ihrem Vater um den Hals gefallen, nur mit Mühe hielt sie sich zurück.

Edelbert wunderte sich, sie so gerührt zu sehen, und sagte: »Ist dir vielleicht erst kürzlich dein Vater oder deine Mutter gestorben, daß du gar so trostlos weinst?«

Rosa konnte vor Weinen kaum die Worte hervorbringen, ihre Mutter sei schon länger gestorben; ihr Vater lebe zwar noch, es gehe ihm aber sehr hart.

»Nun«, sprach Edelbert, »Gott wolle sich über ihn erbarmen! Du hast aber ein sehr weiches Herz, liebes Kind! Gott bewahre es vor Verführung!«

»Es ist wahr«, sagte der Torwärter zu Rosa, »du bist gar zu weichherzig! Weine nicht so, sonst kann ich dir dies Geschäft nicht überlassen. Übrigens«, fuhr er gegen Edelbert fort, »ist sie ein herzensgutes Kind. So fromm, so willig, so fleißig, daß man wohl zehn Meilen in der Runde kein besseres Mädchen finden kann. Und wie lieb sie meine Kinder hat und was sie an ihnen tut, das können ich und mein Weib gar nicht genug rühmen. Wenn meine kleine Berta einmal auch so wird, so will ich Gott alle Tage auf den Knien dafür danken!«

Edelbert blickte Rosa mit unbeschreiblicher Freundlichkeit an. »Gott segne dich, liebe Tochter!« sagte er und bot ihr die Hand. »Bleibe immer ein so gutes Kind, bete fleißig und vertraue auf Gott, so wird deinem Vater gewiß geholfen, und er erlebt sicher noch große Freude an dir.«

»Das gebe Gott!« sagte Rosa mit gebrochener Stimme, küßte ihm die dargebotene Hand, und ihre heißen Tränen fielen darauf.

Es war gut, daß der Kerkermeister ging, denn länger hätte Rosa sich nicht mehr halten können. Sie wußte nicht, wie sie zum Kerker hinauskam. Mit wankenden Schritten ging sie durch den langen Gang zurück und mußte sich an den Mauern halten, damit sie nicht umsank.


Elftes Kapitel.
Rosa gibt sich ihrem Vater zu erkennen

Rosa brachte den übrigen Abend in sehr traurigen Gedanken zu. Die bleiche Gestalt ihres geliebten Vaters, wie sie ihn mit den Ketten beschwert in dem schauerlichen Gefängnis gesehen hatte, schwebte ihr immer vor Augen. Sein Elend ging ihr durch die Seele, und nur die nahe Hoffnung, sich ihm zu entdecken und sein Elend zu erleichtern, linderte ihren Schmerz ein wenig. Sobald sie nach vollbrachtem Tagwerk in ihre Schlafkammer trat, fiel sie auf die Knie nieder und flehte mit heißen Tränen zu Gott, er, der ihr Unternehmen bisher gesegnet habe, wolle ihr ferner beistehen und ihrem armen bedrängten Vater durch sie Trost und Erquickung bereiten. Sie legte sich hierauf schlafen; allein sie konnte fast bis Mitternacht kein Auge schließen.

Nach ein Uhr wurde sie von der Torwärterin schon wieder geweckt. Der Torwärter wollte um zwei Uhr fort. Rosa sollte ihm zuvor eine Suppe kochen. Sie schürte Feuer an und machte die Suppe. Der Torwärter aß, lobte Rosas Kochkunst, versprach, ihr von der Reise etwas mitzubringen, wenn sie indes ihre Sache gut machen würde, schwang sich auf sein Roß und ritt zum Burgtor hinaus. Die Fallbrücken wurden wieder aufgezogen und die Torschlüssel durch einen Kriegsknecht dem Ritter Kunerich überbracht, der sie zu Nacht immer selbst in Verwahrung nahm.

Die Torwärterin war wieder schlafen gegangen. Rosa blieb in der einsamen Torstube allein. Leise und sorgsam löste sie nun den Schlüssel zu dem Gefängnis ihres Vaters, den sie sich wohl gemerkt hatte, aus dem Bunde heraus, nahm die alte Laterne des Kerkermeisters, die neben dem Schlüsselbund in dem Kasten hing, ging damit in ihre Kammer und verweilte da noch einige Zeit. Jetzt, als alles im Schlosse wieder ruhig und still war, stellte sie ihr kleines Öllicht in die Laterne, schützte sie mit sorglichen Händen, schlich, nachdem sie die Schuhe abgelegt hatte, durch den langen schauerlichen Gang zu dem Gefängnis ihres Vaters und öffnete so still wie möglich die Tür.

Sie leuchtete mit der trüben Hornlaterne, die der viele Ruß noch trüber gemacht hatte, hinein. Edelbert saß mit ineinander verschlungenen Armen auf dem Stein neben dem Tisch. Er verwunderte sich, als er bei dem braungelben Schein der Laterne das Dienstmädchen des Torwärters zu erkennen glaubte.

»Bist du's, gutes Kind?« fragte er. »Was willst du hier so spät in der Nacht oder vielmehr so früh am Morgen? Es ist noch nicht lange, daß der Wächter zwei Uhr gerufen hat.«

»Vergebt«, flüsterte Rosa, »daß ich Euch störe! Doch wie ich sehe, habt Ihr auch nicht geschlafen. Ich möchte gern allein mit Euch reden; deshalb komme ich zu dieser nächtlichen Stunde.«

»Oh, mein Kind«, sagte Edelbert, »das ist gefährlich; das könnte dir böse Händel machen. Ein wackeres Mädchen sollte überhaupt zur Nacht keinen Fuß über die Schwelle ihrer Kammer setzen, ja lieber die Tür fester verriegeln als mein eisernes Kerkertor hier.«

»Seid ohne Sorgen«, sagte Rosa. »Alles im Schlosse, den Turmwächter ausgenommen, liegt im tiefen Schlafe. Nicht ohne Überlegung und Gebet komme ich hierher. Gott leitete meine Tritte; er ist gewiß mit mir. Nur ein paar Wörtchen möchte ich mit Euch reden. Euer Jammer um Eure Tochter geht mir so zu Herzen, daß ich nicht schlafen kann; ich komme, Euch Nachricht von ihr zu geben.«

»Von meiner Rosa?« sagte er schnell. »O Gott, wenn das wäre, so wärest du, liebes Kind, mir willkommen wie ein Engel des Himmels, der meinen Kerker besuchte! Sage an, sage an, kennst du sie? Hast du sie gesehen? Hast du selbst mit ihr geredet? Ist sie gesund? Geht's ihr wohl? Oh, rede, rede! Kannst du mir etwas Gewisses von ihr sagen?«

»Ich kann Euch die sicherste Nachricht von ihr geben«, sprach Rosa. »Da, seht! Kennt Ihr diese goldene Kette? Diese goldene Münze?«

»Gott im Himmel!« rief Edelbert und griff mit zitternden Händen danach. »Das ist ja die goldene Denkmünze, die ich meiner Rosa in der Stunde des Abschieds zum steten Andenken gegeben habe. Ich habe ihr sehr nachdrücklich befohlen, dieses kostbare Geschenk nie aus den Händen zu lassen. Du mußt sehr gut mit ihr bekannt sein, liebes Kind, und sie muß sehr viel auf dich halten, daß sie es dir anvertrauen konnte. Gewiß tat sie das nur, damit ich dir leichter glaube, und die Nachrichten, die du mir von ihr bringst, sind gewiß sehr wichtig.«

»Sie gab es nicht in fremde Hände, lieber Vater«, sprach jetzt Rosa; »ich bin Rosa, deine Tochter!«

»Du?« rief Edelbert erstaunt. »Oh, betrüge mich nicht! Meine Tochter war, was ihr Name sagt, eine blühende Rose, und du – du, nein, du bist es nicht!«

Rosa hatte, bevor sie zu ihrem Vater ging, ihr Angesicht von der entstellenden braunen Farbe sorgfältig mit Seifenwasser gereinigt. Sie nahm jetzt das helle Öllichtlein aus der düsteren Laterne heraus, und siehe da, ihr sanftes, holdes Angesicht war lieblicher und schöner, als es der Vater je gesehen hatte; weiß und rötlich gleich einer zarten Lilie im purpurnen Morgenscheine. Ihre braunen Locken schwebten in Ringeln um ihr Haupt. Tränen schimmerten in ihren Augen, obwohl sie mit der Freundlichkeit eines Engels lächelte.

»Rosa, du?« rief jetzt der Vater außer sich, und die goldene Kette entfiel seinen Händen. »Du hier? Komm in meine Arme! Oh, jetzt, da ich dich wieder habe, mag dieser feste Bau von schweren Quaderstücken über mir zusammenstürzen, ich achte es nicht!«

Er schloß sie in seine Arme und benetzte ihr Angesicht mit Tränen, und auch sie weinte lange an seinem Halse. »Vater! Vater! Liebster Vater!« war alles, was sie hervorbringen konnte.

»Aber sage mir doch, liebste Rosa«, sprach der Vater, »wie kommst du hierher? Enthülle mir doch dieses Geheimnis! Welches schreckliche Schicksal hat meine Rosa so tief erniedrigt, die geringste Dienstmagd, die Dienerin eines Dieners in diesem Schlosse zu werden?«

Rosa erzählte nun endlich ihre ganze Geschichte, wie freundlich sie der redliche Köhler im Walde aufgenommen, wie sie da immer so bekümmert um ihren Vater gewesen, wie sie auf den Gedanken gekommen, als Köhlermädchen gekleidet, in die Dienste des Kerkermeisters zu treten, um so wieder zu ihrem Vater zu gelangen, wie schmerzlich sie sich nach dem seligen Augenblick gesehnt, ihn wiederzusehen.

»Und nun«, sprach sie am Ende ihrer Erzählung, »hat Gott mein Gebet erhört, meinen herzlichsten Wunsch erfüllt, mir Gelegenheit verschafft, dich, bester Vater, öfter zu sehen, mit dir zu sprechen, dir hie und da eine bessere Nahrung zu verschaffen, dir allerlei kleine Dienste zu erweisen. Oh, ich bin die glücklichste Tochter! Mein ganzes Leben soll ein lauteres Dankgebet sein!«

Der Vater blickte weinend zum Himmel. »Ach«, sagte er, »nicht die glücklichste, aber die beste Tochter bist du! Ich bin der glücklichste Vater. Wie oft schmerzte mich mein hartes Schicksal, daß ich die goldene Kette hier mit der eisernen vertauschen mußte! Aber jetzt danke ich dir, o Gott, für diese Schickung! Ohne sie hätte ich das Herz meiner Tochter nie so kennen gelernt. Ich meinte, wie glücklich ich sei, als der Kaiser mir die goldene Kette umhing. Allein jetzt, mit dieser eisernen Kette beschwert, die meine Glieder längst wundgedrückt hat, bin ich glücklicher als damals. Ich fühle sie nicht mehr. Ich gäbe diesen Augenblick, da ich dich in meinen Armen halte, nicht für alle Schätze der Welt! Jetzt erfüllen sich an uns die tröstlichen Worte und Sinnbilder auf dieser Denkmünze. Gottes Auge wacht über uns! Er bewahrte dich und führte dich unschuldig und gut wieder in meine Arme. Er, dessen Blicke sich von keiner Mauer abhalten lassen, schaute in meinen Kerker und erbarmte sich meines Elends. Er bereitete uns in diesem engen Keller ein beglückendes Wiedersehen. Durch Leiden führt Gott zu den edelsten Freuden. Dies fühle, dies erfahre ich jetzt schon. Kunerich mag, wenn er bei rauschender Musik, Trunk und Tanz die Nächte durchschwärmt, mich wohl für höchst elend halten; allein laß den Jubel der Trompeten und das Geschrei der Zecher bis in mein Verlies herabschallen, wie ich's oft noch um Mitternacht hören muß, ich tausche nicht mit ihm. Bei Wasser und Brot hier unten in diesem dumpfen Gefängnis bin ich glücklicher als er oben in den Prachtzimmern des Schlosses bei köstlichem Wein in goldenen Pokalen und bei ausgesuchten Speisen auf silbernen Tellern; denn die Kette ist noch nicht geschmiedet, die den freien Geist fesseln und zurückhalten könnte, sich zu Gott aufzuschwingen und jeden Augenblick sein Glück in ihm zu suchen und zu finden.

O meine Rosa! Wohl dir, daß du früh erfährst, was Kreuz und Leiden sind, daß du in den Stunden der Nacht, die andere bei Spiel, Tanz und Lärm zubringen, deinen bedrängten Vater im Gefängnis aufsuchst! Durch Leiden wirst du vor vielen Versuchungen zum Bösen bewahrt und lernst die Schönheit der Tugend mehr kennen. O Rosa, Rosa, bleibe ferner gut! Halte dich an Gott und befolge alle seine Gebote wie das vierte; besiege im Glauben an den Gekreuzigten das Böse und verachte die falschen Freuden der Welt, so wirst du auch im Leiden nie unglücklich sein!«

Rosa versprach ihrem Vater, innig gerührt, alles getreu zu befolgen, und gab ihm die Hand darauf. Sie löschte nun ihre Öllampe und eilte fort; denn eben verkündete das Horn des Turmwächters den anbrechenden Morgen.


Zwölftes Kapitel.
Rosa erleichtert das Elend ihres Vaters

Rosa, von Angesicht und Gestalt nun wieder ganz das bräunliche Köhlermädchen, hatte sich mit der Torwärterin und den zwei Kindern kaum an den Tisch gesetzt, um die Morgensuppe zu essen, da trat ganz unvermutet Ritter Kunerich sehr stürmisch und eilfertig in die Stube. Rosa bekam einen großen Schrecken. Seit sie hier diente, war der Ritter nicht in die Torstube gekommen. Was konnte sie anders denken, als sie sei verraten? Kunerich sprach mit befehlender Stimme: »Von nun an braucht ihr euch um das Burgtor nicht mehr zu bekümmern. Ich werde es von vier Kriegsknechten besetzen lassen. Ihr beide begebt euch auf der Stelle in die Schloßküche, um dort zu helfen; denn heute und morgen bekomme ich viele Gäste.« Nun wurde es Rosa wieder leichter ums Herz. Ritter Kunerich hatte wohl gesehen, wie heftig sie erschrocken war. Er glaubte aber, ihr Schrecken rühre von der übergroßen Ehrfurcht her, die sie vor ihm habe. Er lächelte selbstgefällig und blickte sie, das erstemal seit sie in Fichtenburg war, nicht ganz unfreundlich an; denn er hatte nichts lieber, als wenn die Leute ihn recht fürchteten und vor ihm zitterten.

Rosa ging mit der Torwärterin an die Arbeit. Schon gegen Mittag kam ein benachbarter Ritter namens Theobald mit großem Gefolge an; am folgenden Tage kam Siegbert, ein anderer sehr tapferer Ritter, und viele Reisige, wie man damals die reitenden Krieger nannte, begleiteten ihn. Beide Ritter waren Kunerichs gute Freunde und Bundesgenossen. Beinahe stündlich rückte viel Volk, teils zu Fuß, teils zu Pferd, in Fichtenburg ein. Nicht nur das eigentliche Schloßgebäude, in dem Ritter Kunerich wohnte, sondern auch alle Nebengebäude, die den geräumigen Schloßhof umgaben, waren voll von Kriegsleuten. Sie zündeten abends im Hofe große Feuer an, kochten, aßen und tranken und machten ein großes Gelärm. Rosa begriff sehr wohl, was dieses alles zu bedeuten habe; sie hatte schon manche derartigen Zurüstungen zum Kriege erlebt. Wirklich trat auch, da sie eben abends spät den zwei Kindern zu essen gab, die Torwärterin totenbleich in die Stube und rief, indem sie die Hände über dem Kopfe zusammenschlug: »O Kinder, betet! Es ist Krieg. Euer Vater, der die Leute aufbot und eben heimkam, muß auch mit fort. Morgen in aller Frühe brechen sie auf.«

Am folgenden Morgen, noch vor Tagesanbruch, wurde zum Aufbruch geblasen. Der Torwärter, der einer von des Ritters tapfersten Kriegern war, hatte sich schon gewaffnet. Im eisernen Harnisch und mit dem Schwert an der Seite, die eherne Pickelhaube auf dem Kopfe und den Spieß in der Hand, nahm er Abschied von Weib und Kindern. Mutter und Kinder weinten, und Rosa weinte so herzlich mit, als wäre sie auch seine Tochter. Er ermahnte sein Weib und seine Kinder, alle Tage für ihn zu beten. »Bete auch du für mich, fromme Röse«, sagte er, »daß ich Weib und Kinder wiedersehen möge!«

Die fremden Ritter, alle prächtig gerüstet, die Reisigen, mit blanken Schwertern, das Fußvolk, mit langen Piken bewaffnet, zogen geordnet zum Tore und über die Fallbrücken davon. Kunerich war der letzte des Zuges. Er übergab, als alle hinaus waren, die Torschlüssel dem alten Burgvogt und sprach: »Du, alter Getreuer, behalte diese Schlüssel nun bei Tag und bei Nacht in deiner Verwahrung; ohne daß du selbst mit wenigstens zwei von meinen Kriegsknechten, die zur Besatzung zurückbleiben, dabei bist, darf niemand zum Tore herein oder hinaus. Dafür bürgst du mir mit deinem alten grauen Kopf.« Er gab dem Pferde die Sporen, sprengte über die donnernde Fallbrücke, und sogleich wurde diese aufgezogen. Das Tor wurde verschlossen und verriegelt.

Rosa und die Torwärterin hatten, nachdem die vielen Leute fort waren, den ganzen Tag sehr viel Arbeit, in der Schloßküche die Geschirre zu reinigen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Am Abend sagte die Torwärterin zu Rosa: »Röse, morgen früh will ich mit den Kindern meine alte Mutter im nächsten Dorfe heimsuchen. Mir ist vom Kriegsgetümmel der Kopf ganz voll und vom Abschied das Herz wund. Dieser Besuch wird mich ein wenig aufheitern. Vor spätem Abend komme ich nicht heim, denn der Weg ist für die Kinder ziemlich weit. Du kannst morgen auch ausruhen; das Schloßtor geht dich ja jetzt nichts mehr an. Nur vergiß das Essen für die Gefangenen nicht und sorge dafür, daß du auch uns, wenn wir heimkommen, ein gutes Abendessen vorsetzen kannst!« Am Morgen, beim Aufgang der Sonne, ging sie mit ihren Kindern fort.

Wer war nun glücklicher als Rosa? Sie dachte an keine Ruhe. In den verflossenen Tagen konnte sie wegen vieler Arbeit ihren Vater nur auf Augenblicke sehen; jetzt durfte sie ihm, was ihre kühnsten Wünsche übertraf, einen ganzen Tag widmen. Sie hatte schon lange alles ausgedacht und vorbereitet, ihm sein Elend zu erleichtern. Vor allem war sie darauf bedacht gewesen, ihn mit frischem weißen Zeuge zu versehen. Sie hatte von der feinen Leinwand, die ihr die Köhlerin geschenkt hatte, ihrem Vater einige Hemden gemacht und in den wenigen freien Stunden, die ihr bei dem harten Dienst übrig blieben, oft noch um Mitternacht daran genäht. Ebenso hatte sie von dem Garn, das sie selbst gesponnen, einige Paar Strümpfe für ihn gestrickt. Sie eilte nun zu ihrem Vater und brachte ihm die neuen Hemden und Strümpfe; sie stellte ihm ein großes Geschirr mit lauem Wasser nebst Seife und Handtuch in sein Gefängnis; auch gab sie ihm den Schlüssel, seine Ketten abzulegen. Dem guten Edelbert, der die Reinlichkeit überaus liebte, war dies eine große Wohltat, nach der er sich lange vergebens gesehnt hatte. »Ich fühle mich wie neugeboren!« sagte er, als Rosa nach einer Stunde wiederkam, das Waschgeschirr zu holen.

»Nun mußt du doch wieder einmal frische Luft schöpfen, liebster Vater!« meinte Rosa. Aus dem dunkeln Gang, der zum Gefängnis führte, ging ein enges Türchen in den freundlichen Garten, der dem Kerkermeister zur Verfügung stand, und den Rosa sehr gut in Ordnung hielt. Dahin führte sie ihren Vater. Der Morgen war unvergleichlich schön. Die Sonne schien warm und lieblich; die Luft wehte lau und erquickend. Es war dem guten Ritter, da er so aus dem dunkeln Kerker an Gottes freie Luft und an das Sonnenlicht herauskam, als träte er in den Himmel. »Mein Gott«, sagte er, »wenn es einem nach dem Tode so leicht und wohl ist, so sollte man gern sterben!«

Rosa brachte ihm nun sein Frühstück, eine kräftige Fleischsuppe, heraus unter den Nußbaum, der in einer Ecke des Gärtchens nächst dem Wartturme stand, wo ein Tisch und eine Bank angebracht waren. Sie sagte, daß er den ganzen Tag im Freien zubringen könne. »Gern«, sagte sie, »bliebe ich den Tag hindurch bei dir, liebster Vater, wenn ich nicht so manches, das höchst nötig ist, zu tun hätte. Ich will aber öfter nach dir sehen!« Sie eilte fort, und er ging, den herrlichen Morgen recht zu genießen, im Glanze der Sonne auf und ab. Ihre erwärmenden Strahlen taten ihm innig wohl und belebten ihn gleichsam neu. Er dankte Gott mit Tränen für die Sonne, und noch mehr für die Liebe seiner guten Tochter. »Liebe ist die rechte Sonne in der Welt«, sagte er, »die alles erwärmt und belebt; ohne sie wäre die Erde ein dumpfes, trauriges Gefängnis.«

Rosa, die ihrem Vater auch ein gutes Mittagessen herausgebracht und ihn den Tag hindurch wohl zehnmal, aber allemal nur auf einige Augenblicke, besucht hatte, kam nun abends wieder und führte ihn, ach – mit schwerem Herzen! – zurück ins Gefängnis. Aber wie erstaunte er, als er hineintrat! Er glaubte, Rosa habe sich verirrt und ihn anstatt in seinen Kerker in ein Zimmer des Schlosses geführt. Die Wände und das Gewölbe, die vorhin schwarzgrau wie Eichenrinde aussahen, waren licht und weiß getüncht und den heißen Tag hindurch bereits völlig getrocknet. Der unfreundliche Ziegelboden war gesäubert und mit weißem Sande bestreut. Schutt und Nesseln vor dem Fenster waren weggeräumt, und der schöne blaue Himmel blickte durch die hellgereinigten Fensterscheiben freundlich herein. In der Bettlade lag frisches Stroh, über das ein weißes Leintuch ausgebreitet war; auch ein Kopfkissen, das bisher fehlte, war da und frisch überzogen; ein neuer, dichter Teppich von reiner Wolle diente zur Bettdecke. Auf dem weißgedeckten Tisch stand ein Geschirr voll schöner, wohlriechender Blumen. Die dumpfe Kerkerluft war verschwunden, und liebliche Blütendüfte erfüllten das Gefängnis. »Oh, wie viele Freude machst du mir!« sagte Edelbert. »Wahrhaftig, die kindliche Liebe kann die Lebenswege der Eltern mit Blumen bestreuen; Liebe kann einen düsteren Kerker zu einem Paradiese umschaffen.

Aber«, fuhr er fort, indem er das reingeweißte Gewölbe und die Mauern betrachtete, »dir allein war es nicht möglich, das alles zustande zu bringen. Wer in dieser feindlichen Burg konnte so gutherzig sein, dir zu helfen?«

Rosa sagte: »Es lebt ein alter Kriegsmann in dieser Burg, der in seiner Jugend Maurer war und von seinem Handwerk noch hie und da Gebrauch macht. Vorige Woche war er einige Tage krank. Die Torwärterin schickte ihm auf meine Fürbitte öfters allerlei Speisen, die dem kranken Manne gut waren. Ich brachte sie ihm, und wenn es meine Zeit erlaubte, setzte ich mich an sein Bett und redete mit ihm. Da sprach er einmal, ohne zu wissen, daß ich deine Tochter sei, mit großer Ehrfurcht und herzlichem Bedauern von dir. Er sagte, er habe in jener Schlacht, die durch Kunerich beinahe verloren gegangen wäre, durch dich aber gewonnen wurde, auch mitgefochten und sei schwer verwundet worden; er würde damals auf dem Schlachtfeld liegen geblieben und umgekommen sein, versicherte er, wenn du dich nicht seiner angenommen hättest. Gestern abend bat ich ihn nun sehr schüchtern, mir zu helfen, dein düsteres Gefängnis ein wenig besser instand zu bringen. Ich dachte, er würde Schwierigkeiten machen. Aber er lobte mein Vorhaben sehr und übernahm den größten Teil der Arbeit mit Vergnügen. ›Mag es auch Kunerich innewerden‹, sagte er; ›ich frage nichts danach. Er kann nichts dagegen haben, daß ich den Ritterstand ehre.‹«

Edelbert erkundigte sich bei Rosa näher nach dem alten Krieger und sagte dann: »Ich erinnere mich nicht mehr, ihm Gutes erwiesen zu haben; allein die Dankbarkeit des Mannes rührt mich sehr. Du siehst hier, liebe Rosa, wie das Gute, das wir längst vergaßen, nach vielen Jahren noch gute Folgen haben kann.«

Nun brachte Rosa das Abendessen. »Heute wollen wir wieder einmal zusammen speisen, liebster Vater!« sagte sie. Sie hatte einen Stuhl mitgebracht und setzte sich zu ihm. Die Mahlzeit war klein, aber ausreichend und sehr gut bereitet. Es war der zärtlich sorgsamen Tochter geglückt, gerade die Lieblingsgerichte ihres Vaters zusammenzubringen: eine Suppe von geperlter Gerste, ein Paar gebratene Feldhühner nebst Endiviensalat und zum Nachtische einen Teller rotgesottener Krebse, die mit grünen Sellerieblättern zierlich umlegt waren. Auch trug sie ihrem Vater, der bisher nichts als Wasser und rauhes Brot bekommen hatte, eine Flasche guten Weines nebst sehr gutem Brot auf.

»Aber um des Himmels willen, liebste Rosa«, fragte der Gefangene, indem er auf den Tisch und auf das Bett blickte, »woher nimmst du bei deiner Armut das alles?« Rosa erwiderte, die Köhlerin habe ihr die weiße Leinwand geschenkt, und Agnes habe ihr erst gestern die Feldhühner und die Krebse gebracht; das wenige übrige habe sie von ihrem Lohne und von dem Trinkgeld angeschafft, das ihr die Gäste für das Aufschließen des Tores schenkten. Daß sie aber ihr eigenes Kopfkissen unter dem Kopfe hervor ihrem Vater abgetreten hatte, davon ließ die gute Tochter sich nichts merken. Der Vater war höchst vergnügt. »Ich speiste schon an der Tafel des Kaisers«, sprach er, »allein so hat mich noch nie eine Mahlzeit erfreut und erquickt! Gott wird dir deine Liebe vergelten, liebste Rosa!«

Rosa fühlte sich aber noch glücklicher; ja, in ihrem Leben hatte sie noch nie eine solche Seligkeit empfunden wie in dieser Stunde, da sie ihren Vater so bewirten konnte. Sie empfand es recht: »Geben ist seliger als nehmen.« – »Wie glücklich könnten die Reichen sein«, sagte sie, »wenn sie das wüßten! Wie selig könnten Kinder sein, die reich genug sind, ihren Eltern recht viel Gutes zu tun! Sie müßten auf Erden schon den Himmel haben.«

Rosa mußte nun wieder an ihre Arbeit gehen und für die Torwärterin und deren zwei Kinder kochen. Sie wünschte ihrem Vater gute Nacht und eilte schnell zur Tür hinaus. Das Gefühl der Freude, eine solche Tochter zu haben, ließ ihn lange nicht schlafen. Und als er endlich einschlief, war sein Schlummer so sanft und erquickend wie noch nie in seinem Leben.

Rosa machte nun ihrem Vater jeden Tag eine neue Freude. Morgens brachte sie ihm zu seinem Stückchen trockenen Brotes ein Glas frische Milch oder ein paar weichgesottene Eier oder goldgelbe Butter auf einem grünen Rebenblatt, was dem armen Gefangenen sehr wohl bekam. Sie gab ihm, sooft sie es ohne Aufsehen tun konnte, ihre gute, kräftige Mittagsuppe und nahm dafür mit seiner geringen Suppe vorlieb. Sie aß oft nicht zu Nacht und trug das Stücklein Braten, das sie am Sonntag, oder das Stücklein Kuchen, das sie sonst zuzeiten bekam, ihrem Vater zu. Sie stellte ihm von Zeit zu Zeit frische Blumen in das Gefängnis, die er sehr liebte, und brachte ihm die Früchte, die sie hie und da geschenkt bekam. Sie hatte das Paar goldene Ohrringe, das sie bei der Gefangennehmung ihres Vaters getragen hatte, den einzigen Schmuck, der ihr geblieben war, durch den Köhler verkaufen lassen, um ihrem Vater von dem Gelde manches Notwendige, besonders aber alle Tage einen Becher guten Weines, der ihm sehr wohltat, anschaffen zu können. Sie lebte ganz für ihn.

Als der Kerkermeister einmal auf einige Tage aus dem Felde nach Hause kam, einiges zu bestellen, sah er nach den Gefangenen. Er staunte nicht wenig, als er die Tür zu Edelberts Gefängnis geöffnet hatte. Er schüttelte den Kopf und sprach: »Ritter Kunerich dürfte das nicht sehen, sonst könnte ich auch in eine solche Zelle mit vergittertem Fensterlein kommen, die aber sicher nicht so freundlich aussehen würde. Indessen gefällt mir doch alles sehr wohl. Was es doch Schönes um die Reinlichkeit ist! Einige Hände voll Kalk und Sand nebst etwas Mühe und Arbeit haben dieses dunkle Gefängnis in ein reines, helles Zimmer umgeschaffen, indes mancher seine gute Stube durch Nachlässigkeit und Unreinlichkeit zu einem düsteren Kerker macht.«

Draußen auf dem Gang sagte der Torwärter aber sehr ernsthaft zu Rosa: »Höre, Röse! Ich will dein mitleidiges Herz gegen den Ritter nicht tadeln. Ich kann mir auch denken, daß du ihm sonst noch viel Gutes erweisest, und will auch das gelten lassen. Aber laß dich dein Mitleid nicht verleiten, ihm zur Flucht zu verhelfen. Es würde ihm zwar nie gelingen; dafür ist mit den Schlössern und Riegeln am Burgtor und mit den Fallbrücken zu gut gesorgt. Allein schon der Versuch könnte mich unglücklich machen. Ich käme um Amt und Brot und würde mit Weib und Kind für immer aus dieser Burg verstoßen. Ja, mein Herr wäre imstande, mich in der Wut zu erstechen. Denn ich habe es ihm mit meinem Kopfe verbürgt, daß die Gefangenen gut verwahrt sind. Mache mich also nicht unglücklich und setze mein Leben keiner Gefahr aus!« Rosa mußte ihm das heilig versprechen und es ihm, bevor er wieder abreiste, noch einmal auf das feierlichste angeloben.


Dreizehntes Kapitel.
Rosa und die Familie des Ritters

Während Edelbert in der kindlichen Liebe seiner Tochter so viel Trost fand und Rosa durch die zufriedenen Blicke ihres Vaters sich beglückt fühlte, war zu Fichtenburg vieles anders geworden. Ritter Kunerichs Schloß war bisher der Sitz der Freude gewesen; allein jetzt hatte das Leiden, das sich durch verriegelte Tore und durch Fallbrücken nicht abwehren läßt, auch dort in jenen Prachtzimmern seinen Einzug gehalten. Die Nachrichten von dem Kriege, den Kunerich aus Übermut mit einem sehr mächtigen Ritter und dessen Verbündeten angefangen hatte, lauteten gar nicht gut. Kunerich war verwundet, seines ganzen Gepäcks beraubt und beinahe gefangen worden. Er lag in einer weit entfernten Burg eines seiner Anverwandten an seinen Wunden sehr krank und elend danieder. Anstatt daß er, wie sonst, Wagen voll Beute auf seine Burg führen ließ, mußte man nun ihm Geld und Gut zuschicken. Seine Gemahlin konnte ihn nicht einmal besuchen, weil es ihr an Kriegsknechten fehlte, unter deren Schutz sie hätte reisen können. Sie durfte sich nicht aus den Mauern wagen; sie wußte es zu gut, daß nicht Liebe, sondern nur Furcht ihrem Manne die Menschen umher gefällig mache. Kunerichs Feinde waren auch wirklich erwacht und schritten bereits zu öffentlichen Gewalttätigkeiten. Sie hatten schon einigemale die Leckerbissen, die man in einem benachbarten Flecken aufgekauft hatte und in das Schloß bringen wollte, weggenommen, so daß die Frau und ihre Kinder mit ganz einfacher Kost vorliebnehmen und manchmal Mangel leiden mußten. Die Kinder bekamen die Blattern, und man zweifelte lange an ihrem Aufkommen. Zuletzt wurde die Frau von Kummer, Sorgen und schlaflosen Nächten selbst krank.

Rosa hatte das alles bis auf die kleinsten Umstände von der gesprächigen Torwärterin erfahren. Denn sie selbst war äußerst selten, und nur wenn es ihr befohlen wurde und sie den Befehl nicht ablehnen konnte, in jene oberen Zimmer und Gänge des Schlosses hinaufgekommen, die der Ritter und seine Familie bewohnten. Bei jeder Treppenstufe, die sie betrat, wuchs ihr Widerwille, und sie eilte, so sehr sie konnte, wieder die steinerne Stiege hinab. Ein Stich war ihr ins Herz gegangen, sooft sie den Ritter erblickte. Sie nährte in ihrem Innern eine tiefe Abneigung gegen Kunerich, der ihrem Vater so schreckliches Unrecht getan und ihm Gut und Freiheit geraubt hatte. Aber dies unwillkürliche Gefühl übertrug sie doch nicht auf des Ritters Frau und Kinder. Die Schloßherrin litt selbst oft genug unter ihres Mannes rauhem, unbändigem Wesen, und die Kinder waren ja ganz unschuldig am Schicksal des armen Gefangenen. Das überdachte Rosa oft, und als die Kinder wieder gesund waren, suchte sie Gelegenheit, sich ihnen zu nähern. Sie kamen jetzt öfters in Begleitung ihres Kindermädchens in den Schloßhof herab und spielten dort. Rosa grüßte sie mit freundlichem Lächeln, ließ sich mit ihnen in kleine Gespräche ein und suchte ihnen allerlei Gefälligkeiten zu erweisen. Sie ließ sich von Agnes das zahme Reh und das Paar Turteltäubchen bringen und schenkte das Reh dem Knaben und die Täubchen den zwei kleinen Mädchen. Sie fand in den drei Kindern liebenswürdige, heitere Geschöpfe und erkannte, wieviel besser es ist, freundlich und versöhnlich, als feindlich und rachgierig zu sein.

Bald war es Rosa vergönnt, die Wahrheit dieses Satzes noch besser zu erproben. Es war nach langem Regen wieder einmal ein ungemein schöner, freundlicher Herbsttag angebrochen. Die Sonne war hell aufgegangen, sie schien so freundlich zwischen die hohen Mauern der Burg herein, daß alles wie neu auflebte. Die Leute im Schlosse hatten sich auf das Feld hinausgewagt, den Rest der Früchte hereinzubringen. Das Kindermädchen, namens Thekla, war nach Tisch mit Kunerichs drei Kindern in den Schloßhof herabgekommen.

Mitten in dem großen, geräumigen Hofe befand sich ein prächtiger Brunnen. Er war mit einer Mauer von schön behauenen Steinen eingefaßt, und sechs schlanke Säulen trugen das hohe steinerne Spitzdach, das nach der Art altertümlicher Münstertürme sehr kunstreich mit allerlei steinernen Verzierungen geschmückt war. Der Brunnen war von ganz ungemeiner Tiefe. Man hatte beinahe eine Viertelstunde zu tun, den einzigen großen Eimer vermittels eines angebrachten Rades hinab- und heraufzuwinden. Die Fremden, deren gar viele die Burg besuchten, bewunderten alle den Brunnen als die größte Merkwürdigkeit. Um ihnen einen Begriff von der ungeheuren Tiefe des Brunnens zu geben, warf man kleine Kieselsteine hinab, und da war kein Reisender, der nicht erstaunte, wie lange es dauerte, bis der Schall des ins Wasser fallenden Steines endlich wieder heraufkam. Auch stellte man ein brennendes Lämpchen in den Eimer und ließ ihn hinab. Es war wundersam anzusehen, wie das Licht rings die Mauer, aus der hie und da ein grünes Kräutchen zwischen den Steinen herauswuchs, so schön beleuchtete, sich in jedem Tropfen der nassen Mauersteine spiegelte und zuletzt wie ein rötlicher Stern aus der tiefen Nacht heraufstrahlte. Die Maurer, die zuzeiten hinabsteigen und den Brunnen ausbessern und reinigen mußten, brauchten eine Menge Leitern, die sie an eigens dazu in die Mauer geschlagene Haken befestigten. Es hieß, bevor der Brunnen mit einem Dache versehen worden sei, habe man von seinem Grund am hellen Mittag die Sterne vom blauen Himmel herab glänzen sehen können. Der Brunnen war mit einem großen runden Rasenplatze, dessen freundliches Grün sich in dem gepflasterten Hofe sehr gut ausnahm, und mit einem Kreise von Vogelbeerbäumen umgeben.

Die drei Kinder spielten nun auf dem grünen Platze am Brunnen. Die kleinen Mädchen, Ida und Emma, waren über den Anblick der schönen, scharlachroten Vogelbeeren, die jetzt reif waren, hoch erfreut. Thekla mußte ihnen einige Trauben abbrechen. Sie reihten sehr geschäftig die Beeren auf Fäden, nannten das ihre Korallenschnüre, schmückten damit Hals und Arme und bildeten sich auf den seltsamen Schmuck nicht wenig ein.

Eberhard, der Knabe, warf zum Zeitvertreib Kieselsteine in den Brunnen; er suchte immer die größten heraus, die er finden konnte, horchte aufmerksam, bis der Stein im Wasser klatschte, und hüpfte dann vor Freude. Als er dieses Spiels überdrüssig wurde und sich ein wenig von dem Brunnen entfernte, kam ein Vöglein herbeigeflogen, setzte sich auf den Rand des Eimers, und weil, wie gewöhnlich, ein klein wenig Wasser im Eimer geblieben war, so flog es hinein, um zu trinken oder zu baden. Der Knabe sah das Tierchen. »Wartet«, sagte er in seiner kindlichen Einfalt zu seinen zwei kleinen Schwesterchen, »das Vöglein will ich jetzt leicht fangen. Habt nur wohl acht, das wird einen hübschen Spaß geben.« Er kletterte an der steinernen Einfassung des Brunnens hinauf, reckte sich nach dem Eimer aus, neigte, als er seine Ärmchen bei weitem zu kurz fand, sich immer weiter, bekam das Übergewicht und stürzte hinunter in den schrecklichen Abgrund.

Die beiden kleinen Mädchen am Brunnen erhoben ein entsetzliches Jammergeschrei. Thekla, das Kindermädchen, war in die Schloßküche geschlichen, um dort zu naschen. Auf das Geschrei der Kinder sprang sie erschrocken herbei. Gegen alle ihre Erwartung hörte sie auch den Knaben im Brunnen noch jammern und schreien. Sie schaute hinunter. Er war weit unten mit einem Zipfel seines Kleides an einem Mauerhaken hängengeblieben. Allein sie stand da und wußte nicht, was sie anfangen sollte. Die Rittersfrau lag noch krank zu Bett und konnte nicht aus dem Zimmer; die übrigen Leute des Schlosses waren draußen auf dem Felde. Das zitternde, totenbleiche Mädchen schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und rief laut jammernd Gott und alle Heiligen um Hilfe an.

Jetzt kam plötzlich Rosa herbei. Sie hatte zu Hause bleiben müssen, weil das kleine Mädchen der Torwärterin in der vergangenen Nacht erkrankt war und die Blattern zu bekommen schien. »Oh, geschwind«, sagte Rosa zu Thekla, »hilf mir in den Eimer steigen und laß ihn dann sorgfältig hinunter. Sobald ich ›Halt‹ rufe, laß den Eimer nicht weiter hinab; rufe ich aber ›Auf‹, so winde ihn wieder herauf! Horche aufmerksam auf meinen Ruf und sei gutes Muts! Mit Gottes Hilfe hoffe ich den Knaben zu retten!« Rosa befahl sich mit einem vertrauensvollen Blick zum Himmel dem Schutze Gottes und stieg in den Eimer. Ein Schauder nach dem andern überlief sie, als sie immer tiefer und tiefer hinabsank, die feuchte, kalte Luft des Brunnens sie anwehte, die Sonne ihr zu erlöschen schien und es immer dunkler um sie her wurde. Endlich kam sie dem jammernden Knaben nahe; sie schrie aus der Tiefe heraus »Halt!«, und der Eimer stand. Sie bemühte sich nun, den Knaben in ihre Arme zu fassen und ihn von dem Haken loszumachen. Das war aber sehr schwer und höchst gefährlich. Sie konnte nicht beide Arme ganz frei gebrauchen, weil sie, um nicht selbst in den Abgrund zu stürzen, immer die Kette mit einem Arm umschlungen halten mußte.

Es wollte nicht gehen. Da überfiel sie eine unbeschreibliche Angst, die ihr den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Sie flehte aus der schauerlichen, dunklen Tiefe mit inbrünstigen Seufzern zu Gott, er wolle sie in dieser äußersten Not nicht verlassen. Endlich gelang es! Sie nahm den Knaben auf den Arm, und er schlang beide Händchen fest um ihren Hals, als fürchtete er noch immer, zu fallen. Er hörte auf zu weinen, und sie schrie nun: »Auf, zieh auf!« Mit Freuden spürte Thekla das vermehrte Gewicht des Eimers und fing nun an, ihn hurtig heraufzuwinden.

Die kranke Mutter des Knaben war auf das Geschrei im Schloßhof an das Fenster gekommen. Mit einem Schrecken, der sie gleich einem Blitze traf, hörte sie von den jammernden Kindern die Worte: »Eberhard ist in den Brunnen gefallen.« Die furchtbare Nachricht dünkte ihr gleich einem Donner im ganzen Schlosse widerzuhallen. Die arme leichenblasse Frau hielt sich am Fenstergesimse; ihre Knie wankten, ihre Hände zitterten, sie konnte nicht von der Stelle. Es war ihr, als wollte das Klopfen des Herzens ihr die Brust zersprengen.

Thekla rief ihr zu, Eberhard sei hängengeblieben; des Torwärters Dienstmädchen suche ihn heraufzuholen. Da regte sich ein schwaches Fünklein von Hoffnung im Herzen der Mutter. Sie fing an zu beten. Die Stimme versagte ihr; aber aus allen Tiefen des Herzens flehte sie zu Gott um Rettung ihres Erstgeborenen, ihres einzigen Sohnes. Unverwandt waren ihre Augen auf den Brunnen gerichtet. Endlich kam Rosa zum Vorschein. Sie hielt den Knaben, der sich fest an sie schmiegte, als schlummerte er, mit einem Arme umschlungen, mit dem andern klammerte sie sich an die Kette. Als der Eimer weit genug heraufgewunden war und Rosa mit dem Kinde in der Mitte der steinernen Einfassung über dem Abgrunde schwebte, befestigte Thekla das Rad, trat an den Rand des Brunnens, zog den Eimer mit dem dazu bestimmten Haken zu sich herüber und wollte den Knaben in ihre Arme fassen. Allein es fehlte dem schwächlichen und noch immer zitternden und bebenden Mädchen an Kraft und Gewandtheit, zu gleicher Zeit den Eimer festzuhalten und den Knaben aus Rosas Armen in die ihrigen zu nehmen. Sie bemühte sich lange vergebens. Das war für die Mutter ein schreckliches Bild. Jeden Augenblick glaubte sie, alle drei würden in den Abgrund stürzen.

Rosa sah, daß es so nicht gelingen werde, und Thekla ließ den Eimer wieder los. Rosa wollte ihr nun den Knaben reichen. Aber so weit auch Thekla sich mit weit vorgestreckten Armen hinüberneigte, so fehlte immer noch ein weniges, ihn zu fassen. Die Mutter am Fenster konnte dieses gar nicht mehr ansehen; es wurde ihr dunkel vor den Augen; sie versuchte, so laut es ihre schwachen Kräfte erlaubten, zu rufen: »Oh, nicht so, nicht so!« Rosa vernahm die Worte nicht; allein sie hatte selbst sogleich bemerkt, auf diese Art sei es noch gefährlicher.

Das tapfere Mädchen hielt sich eine Weile still, blickte zum Himmel auf, sann nach und sagte dann schnell: »Thekla, stoße mit dem Haken den Eimer sanft an, daß er in der weiten Öffnung des Brunnens langsam hin und her pendelt!«

Thekla gehorchte, ohne zu wissen, wozu dies helfen sollte.

»Jetzt«, sprach Rosa und lächelte der bebenden Gehilfin Mut zu, »jetzt, wenn dir der Eimer von selbst nahekommen wird, so fasse das Kind schnell und kräftig in beide Arme. Warte aber noch, bis ich es dir sagen werde! Sieh – jetzt – jetzt!« Thekla nahm nun mit leichter Mühe den Knaben in die Arme und setzte ihn auf die Erde.

Dann bot sie Rosa die Hand, ihr herauszuhelfen. Aber sie sagte: »Stoße lieber den Eimer so an, daß er sich der Säule da nähern muß!« Thekla tat es, und als der schwebende Eimer der Stelle nahe kam, umklammerte Rosa die Säule, trat auf die Einfassung des Brunnens und sprang herab auf den Erdboden. Wie froh war sie, als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen fühlte; wie freute sie sich des hellen Sonnenlichtes und des blauen Himmels! Sie sank auf die Knie und blickte zu Gott auf, der sie und das Kind gerettet hatte.

»Guter Gott, dir sei Dank!« war ihr erster Gedanke. »Wie wird sich mein Vater freuen, wie zufrieden wird er mit seiner Rosa sein!« war der zweite. Sie eilte, ihm sogleich die Freudennachricht von der glücklichen Rettung des Kindes zu bringen. Er umarmte sie mit Tränen der süßesten Freude. »Du hast eine bessere Heldentat vollbracht als der kühnste Ritter, der den mächtigsten Feind tot zur Erde hinstreckt; du hast ein Menschenleben gerettet! Werde aber nicht stolz, liebste Rosa. Gott ist es, der dir die Gelegenheit und den Mut dazu gegeben hat; gib alle Ehre ihm allein!«


Vierzehntes Kapitel.
Rosas edelmütige Gesinnungen

Indessen hatte Thekla den geretteten Knaben der Mutter gebracht. Die Mutter fühlte in diesem Augenblick ihre Krankheit nicht mehr, stürzte auf ihn zu, umfaßte ihn mit beiden Armen, benetzte ihn mit Freudentränen und fragte ihn hundertmal, ob ihm nichts wehe tue. Er war unversehrt; nur sah er von Angst und Schrecken noch sehr bleich aus. Sie fiel, indem sie ihren innigst geliebten Eberhard in den Armen hielt, auf die Knie und rief weinend: »Du, o Gott, hast mir ihn wiedergeschenkt; dir will ich ihn erziehen!«

Sie stand wieder auf, setzte sich erschöpft auf das Bett, nahm den Knaben auf ihren Schoß und sprach: »Du böses Kind, welchen Schrecken hast du mir durch deinen Leichtsinn gemacht! Wie oft habe ich dich vor solchen gefährlichen Dingen gewarnt! Wie oft habe ich dir gesagt, nicht zu dem Brunnen hinzugehen, von den Pferden wegzubleiben, nicht auf die Bäume zu klettern! Nun hätte dein Ungehorsam dich beinahe um das Leben gebracht. Was hätte dein Vater gesagt, wenn ich dich so verloren hätte! Sei doch von nun an gehorsamer! Wie durch ein Wunder bist du mir wiedergeschenkt. Danke Gott, der dich durch seinen heiligen Engel gerettet hat!«

»Doch der Engel, der dich rettete, ist das arme Köhlermädchen!« sprach sie, um sich blickend. »Ist sie nicht da, das gute Kind? Geh, Thekla, suche sie, eile, laß sie herbeikommen, daß ich ihr danke. Diese Tat soll ihr reich belohnt werden!«

Thekla eilte in die Torstube. Rosa saß schon wieder am Bett des kranken Mädchens und strickte. »Komm«, rief Thekla, »du sollst den Augenblick herauf zur gnädigen Frau! Freue dich; du bekommst gewiß ein gutes Trinkgeld!« Was Thekla vom Trinkgeld sagte, hatte Rosas feines Gefühl beleidigt. Sie hatte keine Lust, mitzugehen; sie wollte keinen Lohn. Indessen dachte sie, wenn sie die Einladung nicht annähme, so wäre es unfreundlich und könnte die erfreute Mutter betrüben. Sie ging also mit Thekla.

Bescheiden und mit errötenden Wangen trat Rosa in das Zimmer. Die gnädige Frau, die neben dem schlummernden Knaben auf dem Bett saß, eilte ihr mit offenen Armen entgegen; sie schloß das dürftig in Zwilch und rauhe Wolle gekleidete Mädchen zärtlich in die Arme. »Oh, meine Tochter« sagte sie, »wieviel Dank bin ich dir schuldig! Welch edle Tat hast du vollbracht! Welchen unendlichen Jammer hast du von mir abgewendet! Welche unaussprechliche Freude machst du mir! Ohne dich läge der holde Knabe, der jetzt so sanft auf dem Bette ruht, kalt und tot im Abgrunde jenes Brunnens. Du hast mein Kind dem Tode entrissen und es mir wiedergeschenkt; von nun an sollst du gehalten sein wie eines meiner Kinder und in mir eine wahre Mutter finden. Bleibe von nun an auf immer bei mir!«

»Dich aber«, sprach sie, zu Thekla gewendet, mit Ernst, aber dennoch sanft und ohne alle Aufwallung von Zorn, »dich kann ich ferner nicht mehr in meinem Dienste behalten. Du hast die Pflicht, die Kinder nie aus den Augen zu lassen, die jeder Kinderwärterin heilig sein soll, schlecht erfüllt. Ich werde dir heute noch deinen Lohn auszahlen lassen, und morgen räumst du dieses Schloß!«

Thekla weinte und schluchzte und bat um Verzeihung und Gnade. Sie fiel auf ihre Knie; sie sagte, daß sie als eine arme Waise nicht wisse wohin, und daß sie gewiß sich bessern werde.

Allein die Frau sprach: »Das hast du mir schon öfters versprochen, aber nie Wort gehalten. Ich kann mich nicht mehr auf dich verlassen. Es fällt mir schwer, dich fortzuschicken; aber ich kann dir zu Gefallen meine Kinder nicht einer beständigen Todesgefahr aussetzen. Geh also und betrage dich in deinem künftigen Dienste vernünftiger!«

Nun sagte Rosa: »Erlaubt mir, gnädige Frau, ein Wort für Thekla zu sprechen, und nehmet meine Freimütigkeit nicht ungütig auf! Es ist wahr, Thekla hat einen großen Fehler begangen. Ihr Leichtsinn hat Euerm Mutterherzen Todesangst verursacht und hätte Euerm Sohne bald das Leben gekostet. Thekla, die das leider nicht zuvor bedachte, wird sich diese schreckliche Begebenheit zur Warnung sein lassen und gewiß in ihrem Leben nicht mehr so leichtsinnig handeln. Und hat denn Thekla nur gefehlt? Hat sie nicht sich redlich bemüht, ihren Fehler wieder gutzumachen? Hat sie nicht treulich mitgeholfen, ja, wie Ihr es selbst gesehen, wohl gar ihr Leben daran gewagt, Euern Sohn zu retten? Und soll nun nur ihres Fehlers gedacht werden und von ihrer treuen Hilfe gar keine Rede sein? Wollt Ihr sie, die sich bei der Rettung Eures Sohnes wahrhaft als eine gute, treue Seele erwiesen, ohne Erbarmen verstoßen? Gott hat eben jetzt Euer Gebet erhört; verschmäht in der nämlichen Stunde die Bitten und das Flehen einer Unglücklichen nicht! Gott hat Euch Barmherzigkeit erzeigt; erweist sie nun auch Ihr! Gott selbst verzeiht ja dem Reuigen, der sich ernstlich bessern will; so verzeiht denn auch Ihr. Ach, wie haben Thekla und ich uns über die glückliche Rettung des Kindes gefreut und mit Euch Freudentränen vergossen! Könntet Ihr, ehe diese noch auf Euern Wangen vertrocknet sind, der armen Thekla Tränen des bittersten Schmerzes auspressen, ohne diese Tränen wieder mit milder Hand zu trocknen? Nein, das könnt Ihr nicht, edle Frau. Was übrigens mich betrifft, so nehme ich die mir angebotene Stelle nicht an. Ich würde mich vor der Sünde fürchten, ein armes Dienstmädchen um ihr Brot zu bringen und mein Glück auf fremdes Unglück zu bauen.«

Die Frau sah das vermeintliche Köhlermädchen mit großen Augen an. »In der Tat«, sagte sie, »ich weiß nicht, soll ich deinen Heldenmut oder deine edelmütigen Gesinnungen mehr bewundern! Wer könnte einer solchen Fürbitterin widerstehen? Thekla soll ihre Stelle nicht verlieren, aber du mußt dennoch bei mir bleiben. Ich lasse dich nicht mehr von mir, – wunderbares Mädchen! hätte ich bald gesagt. Dich ganz zu belohnen, sehe ich mich jetzt außerstand, da mein Gemahl weit entfernt ist und ich gleich einer armen Gefangenen in dieses Schloß eingesperrt bin. Ich hoffe aber, es soll bald der Tag anbrechen, da mein Gemahl aus dem Felde zurückkommen und dich dann herrlich belohnen wird. Indes gib deinen Dienst bei der Torwärterin auf und sei meine Tochter, meine Gesellschafterin, meine Freundin. Ich lasse dich sogleich neu kleiden; du bist zu etwas Besserem geboren als zu dem Stande der Dienstbarkeit.«

Rosa wurde von dem Wesen der sanften, freundlichen Frau, die ihr so unbeschreiblich liebreich begegnete und die auch der reuigen Thekla so großmütig verzieh, innig gerührt. Sie war von aufrichtiger Hochachtung gegen die Frau erfüllt und wäre gern bei ihr geblieben. Allein sie gedachte ihres Vaters, zu dem sie dann nicht mehr oft hätte kommen können und den man dann fremden Händen übergeben hätte. Das Geheimnis, daß sie Edelberts Tochter sei, zu entdecken, trug sie Bedenken. Sie wollte zuvor ihren Vater um Rat fragen. Sie sagte daher: »Verzeiht mir, daß ich auch dieses Anerbieten nicht annehmen kann. Ich erkenne Eure Güte mit Dank. Allein einesteils ist es besser, daß wir, wenn uns mit Gottes Hilfe etwas Gutes auf Erden gelungen ist, keinen Dank verlangen; wir haben ihn dann im Himmel zu erwarten, und andernteils bin ich in meinem Dienst so zufrieden und vergnügt, daß ich mich nach keiner andern Stelle sehne; auch habe ich als Dienstmädchen des Kerkermeisters Gelegenheit, den Gefangenen manche kleine Wohltat zu erweisen. Ich bin glücklich; macht mich durch Eure Güte nicht unglücklich.«

»Sonderbares Kind!« sagte die Frau, »ich begreife dich nicht. Deine Reden vom Glück in deiner dunklen Torstube und von dem Unglück hier bei mir kommen mir seltsam vor. Ist denn gar nichts in meiner Macht, womit ich dir dienen kann? Verlange, was du willst, und ich verspreche dir bei meiner Ehre, es soll dir, wenn es möglich ist, gewährt sein.«

»Nun denn«, sagte Rosa, »so nehme ich Euch beim Wort. Gebt mir, solange ich es notwendig finden werde, Bedenkzeit, um was ich Euch bitten soll. Ich denke, die Zeit wird nicht ausbleiben, da Ihr mir zu einem großen Glück verhelfen könnt. So lange laßt mich in meiner glücklichen Armut. Doch verzeiht, daß ich jetzt gehe; ich darf das kranke Kind der Torwärterin nicht länger allein lassen.« Sie verneigte sich mit dem freundlichsten Blick gegen die edle Frau und ging eilends zur Tür hinaus.


Fünfzehntes Kapitel.
Rosas adelige Abkunft wird entdeckt

Frau Hildegard von Fichtenburg, Kunerichs Gemahlin, zeichnete sich durch ihr edles Herz ebensosehr aus wie durch ihren Verstand. Sie wußte Rosas Edelsinn zu schätzen; sie fühlte das innigste Wohlwollen gegen sie und wünschte, sie glücklich zu sehen; allein sie konnte aus ihrem Betragen nicht klug werden. Sie glaubte in ihrem ganzen Wesen etwas Geheimnisvolles zu finden. Sie stützte den Kopf auf die Hand und sann darüber nach.

»Wie kam dieses arme Köhlermädchen zu solchen Gesinnungen«, sagte sie, »und zu der Art, sie auszudrücken? Wo nimmt sie diesen Anstand her, mit dem sie in das Zimmer trat und der in ihrem ganzen Benehmen sichtbar ist? Sie war so wenig verlegen, mit mir zu reden, als wäre sie von jeher mit dem Adel umgegangen, als hätte sie die sorgfältigste Erziehung genossen! In der Tat, das alles befremdet mich fast noch mehr, als ich ihren Heldenmut, ihre Besonnenheit und ihre Geistesgegenwart bewundern muß. Und was kann wohl die Ursache sein, daß sie nicht beständig um mich sein mag, da sie es bei mir doch viel besser hätte? Da muß etwas Besonderes dahinterstecken. Sollte sie unerlaubte Wege gehen? Sollte es ein Geheimnis sein, über dessen Entdeckung sie erröten müßte? Ich glaube nicht. Indes muß ich sie näher beobachten.«

Sie gab vorerst dem alten Burgvogt den Auftrag, auf alle Tritte und Schritte Rosas wohl achtzuhaben. Der Mann tat es und hatte nichts als lauter lobenswürdige Dinge zu berichten. Eines Morgens aber brachte der dienstfertige Alte, wie man zu sagen pflegt, mit brennendem Kopfe die Nachricht, daß Rosa spät in der Nacht, wenn alles bereits in tiefem Schlafe liege, den feindlichen Rittersmann im Gefängnis besuche und stundenlang bei ihm verweile. »Die Sache deucht mir äußerst bedenklich und gefährlich«, sagte er; »dieses Köhlermädchen könnte ein großes Unglück über uns bringen, wenn sie dem Ritter hilfreiche Hand böte, zu entrinnen; und an Mut dazu fehlt es dem kühnen Mädchen nicht. Indessen weiß ich noch nicht, was für Anschläge sie miteinander verabreden. Ich horchte an der Kerkertür aus Leibeskräften, hörte aber nichts als ein unverständliches Gemurmel.« Dies kam nun eben nicht daher, weil Edelbert und Rosa besonders heimlich redeten, sondern weil der ehrliche Burgvogt beinahe taub war.

Frau von Fichtenburg erstaunte nicht wenig. »Edelbert«, sagte sie, »ist unser ärgster Feind, unser Todfeind. Das hat mir mein Gemahl öfter beteuert, wenn ich ihn bat, den armen Ritter nicht so zu quälen. Ja, mein Kunerich wußte mir von diesem Edelbert so viel Nachteiliges zu erzählen, daß ich nicht daran zweifeln kann, Edelbert ist höchst feindselig gegen uns gesinnt. Daß dieses fremde Mädchen mit unserm ärgsten Feind in solcher Vertraulichkeit steht, gefällt mir nicht. Ich will einmal selbst hören.«

Sie befahl dem Burgvogt, ihr sogleich Nachricht zu geben, wenn Rosa sich mit dem Ritter wieder unterreden würde, sonst aber keinem Menschen in der Burg etwas von der Sache zu sagen. Sie selbst änderte in ihrem Betragen gegen Rosa nicht das geringste, begegnete ihr wie bisher mit ausnehmender Güte und ließ sie von dem Verdacht nichts merken. Ein paar Tage nachher ging Frau von Fichtenburg gegen Abend mit ihren Kindern in den Schloßgarten; sie lud Rosa ein, mitzukommen, redete sehr freundlich mit ihr und beschenkte sie mit einigen Pfirsichen, die jetzt eben reif geworden waren. In der Nacht darauf, eine Stunde nach Sonnenuntergang, kam der Burgvogt eilfertig und rief mit Eifer: »Jetzt, gnädige Frau, plaudern der gefangene Ritter und das Köhlermädchen wieder angelegentlich miteinander; nun könnt Ihr selbst hören, was für Anschläge beide gegen Euch und den gestrengen Herrn schmieden.«

Frau von Fichtenburg warf, um nicht so leicht bemerkt zu werden, ihren schwarzen Mantel um und eilte an die Tür des Gefängnisses. »Es ist wohl kein lobenswertes Geschäft, das ich da treibe«, sprach sie bei sich selbst. »Horchen ist etwas Schlechtes und Niedriges. Indes tue ich es ja nur, weil ich um das Wohl des armen Mädchens aufrichtig besorgt bin und dann auch das Wohl der Meinigen nicht aus den Augen verlieren darf.« Die Tür war nur angelehnt, und in dem Gefängnis brannte ein Licht. Sie konnte jedes Wort vernehmen, das geredet wurde. Sie hörte also zu, was Edelbert und Rosa miteinander sprachen.

»Die Pfirsiche sind vortrefflich«, sagte der gefangene Ritter; »sie sind gerade wie die aus unserm Schloßgarten. Sie waren mir immer die liebste Frucht. Lieblich für das Auge ist das sanfte, wie hingehauchte Rot, angenehm und kräftig ist ihr Geruch, saftreich und fein der Geschmack.«

»Ach, mein Gott!« sagte Rosa. »Mir kommen die Tränen in die Augen, indem ich diese Pfirsiche ansehe! Wenn ich nur wieder einmal solch liebliche Früchte von jenem Baume in unserm Garten pflücken und sie dir, lieber Vater, wie in den vergangenen Zeiten in einem reinlichen, zierlich mit Rebenlaub ausgelegten Körbchen auf dein Zimmer bringen könnte!«

»Danke Gott, liebe Tochter, daß du mir diese bringen kannst!« sprach Edelbert. »Kaum zehn Pfirsiche trug dieses Jahr der Baum, sagtest du, und drei davon gab dir die edle Frau? Sie ist sehr, sehr gütig gegen dich.«

»Darum meinte ich immer«, sagte Rosa, »ich sollte ihr einmal sagen, daß ich deine Tochter bin. In ihrer Brust ist das Geheimnis, denke ich, gut bewahrt, und sie könnte es von Ritter Kunerich am besten erbitten, daß er dir die Freiheit schenke.«

»Das denke ich nicht!« sprach Edelbert. »Du hast gar keine Vorstellung davon, wie grimmig er mich haßt. Der Sinn der holden Frau mag wohl sanft und mild sein wie dieser zarte, weiche Pfirsich hier; aber Kunerichs Sinn ist hart wie der Pfirsichstein. Du würdest dir eher die Zähne ausbeißen, als ihn zerbrechen.«

»Aber ich denke doch«, sagte Rosa, »wenn Kunerich hört, daß deine Tochter mit Gottes Hilfe seinem Sohne das Leben rettete, wird er dich nicht in diesem Gefängnis sterben lassen. Wenn ich mich ihm zu Füßen werfe und ihn bitte, so wird er mich gewiß erhören!«

»Oh, glaube das nicht so leicht!« sprach Edelbert. »Ich kenne ihn zu gut. Wenn er auch deine Tat schön findet, weil sie ihm nützt, wenn er sogar daran denkt, sich dir dankbar zu bezeigen, so wird er sich doch nicht entschließen können, seinen Haß gegen mich aufzugeben. Der ist zu tief gewurzelt. Eher würdest du einen Eichbaum ausheben, als Kunerich umstimmen.«

»Aber, lieber Vater«, sagte Rosa, »wenn man ihn davon überzeugen könnte, daß du, den er um alles brachte, ihm verzeihst, daß du mich darin bestärktest, ihn und die Seinigen zu lieben und ihnen Gutes zu tun, daß ich ohne deine vorhergehende väterliche Ermahnung auf das Kindergeschrei am Brunnen vielleicht nicht so schnell herbeigeeilt wäre und seinen Sohn wohl nicht gerettet hätte, daß also du Ursache dieser Rettung bist, müßte das nicht seinen harten Sinn auftauen, wie die laue Frühlingsluft die Eisschollen auftaut? Sollte es denn gar nicht möglich sein, ihn zu besänftigen?«

»Möglich«, sagte Edelbert langsam und nachsinnend, »ist es vielleicht; aber mir ist es gar nicht wahrscheinlich. Indes ist für jetzt nichts zu machen; bis er kommt, muß ich im Gefängnis bleiben. Wenn die Frau mich auch entließe, ohne seine Einwilligung möchte ich's nicht annehmen. Sie könnte es teuer büßen müssen. Ja, wenn sie mich nur frei im Schlosse herumgehen ließe, so könnte der argwöhnische, feindselige Mann tausend böse Dinge daraus folgern. Du, liebste Rosa, sage daher der guten Frau nichts davon, daß du meine Tochter bist; ich aber will in Gottes Namen bis auf weiteres gefangen bleiben. Ich will der edelmütigen Frau keine Leiden zuziehen. Gott wird am Ende alles recht machen. Doch diese Reden machen uns beide weichherzig. Darum genug für heute.« Edelbert und Rosa fingen ein anderes Gespräch an.

Die Frau hatte aber genug gehört; sie eilte zurück auf ihr Zimmer. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen; Erstaunen, Bewunderung, Schmerz wechselten stets in ihrem Herzen. »Dieses vermeintliche arme Köhlermädchen«, sagte sie zu sich, »ist also ein adeliges Fräulein! Sie hat, um ihrem Vater nahe zu sein, schlechte Kleidung gewählt und einen so harten Dienst übernommen. Sie hat die Baumfrüchte und ähnliche Geschenke, die ich ihr gab, sich vom Munde erspart und ihrem Vater gebracht. Aus Liebe zu ihm schlug sie das Glück aus, das ich ihr anbot, und wollte lieber alles Elend ihrer gegenwärtigen Lage ertragen. Welch ein Herz hat dieses Kind! Wie glücklich wäre ihre Mutter, wenn sie noch lebte! Und dieses Mädchen, sie, die Tochter eines Vaters, den wir in Ketten und Banden halten, rettete meinem Sohne das Leben? Und dieser Vater lehrte seine Tochter so denken, so handeln? Welche Gesinnungen, welcher Edelmut müssen sein Herz erfüllen!«

Sie brach in Tränen aus. »Nein«, sagte sie, »er soll frei werden, der gute, edle Mann! Er soll seine Burg und seine Güter wieder zurückerhalten! Der vortreffliche Vater und die gute Tochter sollen so glücklich sein, wie sie es verdienen. Oh, daß es in meiner Macht stände, ihn sogleich aus seiner Gefangenschaft zu befreien und ihm all das Seinige zurückzugeben! Noch diese Nacht sollte er seinen traurigen Aufenthalt im Kerker verlassen und morgen am Tage seinen Einzug in Tannenburg halten. Aber das ist unmöglich! Der alte taube Burgvogt, der immer behauptet, die Frauen hätten in Staats- und Kriegsachen keine Stimme, würde für meine Befehle doppelt taub sein. Er würde Edelbert weder aus dem Kerker noch aus der Burg entlassen. Unser Burgvogt zu Tannenburg würde mir ebensowenig gehorchen; er würde die Tore vor Edelbert sorgfältig verschließen und die Burg gegen ihn, als gegen den gefährlichsten Feind, verteidigen. Wenn aber Kunerich hörte, daß ich auch nur verlangt hätte, die Tannenburg ihrem rechtmäßigen Herrn zurückzugeben, würde er es mir in seinem Leben nicht verzeihen. Doch wo die Frauen weder befehlen noch selbst helfen können, vermögen sie oft noch durch ihre Fürbitten Hilfe zu verschaffen. Ich will, sobald mein Mann aus dem Felde zurückkommt, einmal versuchen, was Bitten und Tränen über ihn vermögen. Gott gebe dazu seinen Segen!

Wie benehme ich mich aber indessen gegen Fräulein Rosa?« dachte sie weiter. »Soll ich ihr sagen, daß ich sie kenne? Soll ich, da die Fehde zwischen Kunerich und ihrem Vater auf sie keinen Bezug haben kann, sie ganz ihrem Stande gemäß behandeln, sie als ein adeliges Fräulein kleiden, ihr ein Zimmer im Schlosse einräumen, sie an meinen Tisch nehmen? Welches Aufsehen würde das in der ganzen Burg machen! Der alte, starrsinnige Burgvogt würde, unterstützt von seinen alten Kriegsgenossen, es nimmermehr gestatten, daß Rosa auch nur noch ein Wort mit ihrem Vater spräche. Er würde ihn aufs strengste bewachen lassen; an eine mildere Haft wäre nicht zu denken. Ich hätte so den Jammer des guten Fräuleins nur vergrößert. Nein, nein, kein Mensch in der Burg darf im Augenblick erfahren, daß Rosa Edelberts Tochter ist. Ihr selbst will ich nicht einmal sagen, daß ich davon weiß. Denn, was könnte sie, was könnte ihr Vater dadurch gewinnen? Und in welche Verlegenheit würde ich mich verwickeln! Es ist das beste, ich tue dem edlen Fräulein und durch sie ihrem Vater, ohne Aufsehen zu erregen, im stillen so viel Gutes, wie ich kann, und überlasse die Enthüllung des Geheimnisses einem glücklichen Augenblick, der nicht mehr fern sein wird.«


Sechzehntes Kapitel.
Rosa bittet um die Befreiung ihres Vaters

Frau von Fichtenburg ließ am folgenden Morgen Rosa rufen und begegnete ihr mit noch größerer Güte als zuvor. »Ich weiß«, sprach sie zu ihr, »daß du mit dem guten Ritter, der in unserer Burg gefangen sitzt, großes Mitleid hast und ihm manches Gute erweisest. Das gefällt mir sehr wohl, und ich lobe dich darum. Allein du, mein gutes Kind, hast ja selbst sehr wenig, ja beinahe gar nichts. Ich will künftig deine Wohltätigkeit aus meiner Küche und meinem Keller unterstützen. Von nun an holst du Speise und Trank für den Ritter bei mir!« Sie gab der erfreuten Rosa für Edelbert täglich die auserlesensten Speisen von ihrem eigenen Tisch und den besten Wein, besseren, als sie selbst trank. Sie richtete es so ein, daß der grämliche Burgvogt nichts davon erfuhr, und wußte den alten Mann über den Argwohn, den er gegen Rosa gefaßt hatte, vollkommen zu beruhigen. Sie kam täglich mit ihren Kindern in die Torstube herab, um, wie sie sagte, die Retterin ihres Sohnes zu besuchen, und brachte es durch die Auszeichnung, mit der sie Rosa behandelte, und durch das Ansehen, in dem sie bei der Torwärterin stand, dahin, daß Rosas schwerer Dienst um gar vieles erleichtert wurde. Rosa mußte in ihren freien Stunden die gnädige Frau in deren Zimmer besuchen und durfte auch die Kinder der Torwärterin mitbringen, eine Gunst, auf die sich die Torwärterin nicht wenig einbildete. Sie schätzte sich glücklich, ein Dienstmädchen zu haben, das bei der gnädigen Herrschaft so gut angeschrieben war.

Indessen wartete Frau von Fichtenburg mit doppelter Sehnsucht auf die Zurückkunft ihres Gemahls. Hätte er nicht Kunde geschickt, er sei wiederhergestellt und werde bald zurückkommen, sie hätte es gewagt, zu ihm in das Kriegslager zu reisen. Endlich kam Ritter Kunerich mit den beiden Rittern und den Kriegsleuten, die mit ihm zu Felde gezogen waren, nach Fichtenburg zurück. Ritter und Krieger hatten ihre Helme und Spieße mit grünem Eichenlaub geschmückt und zogen mit großer Pracht und unter dem Schalle der Trompeten zum Burgtor herein. Kunerich sprang vom Pferde, begrüßte seine Gemahlin und seine Kinder, die im Schloßhof standen, mit großer Freude und begab sich dann mit ihnen, den Rittern und Edelknechten und den tapfersten Kriegern in den großen Rittersaal. Nachdem der laute Jubel der ersten Begrüßungen vorbei war und Ritter Kunerich an seinem Sohne, der ein sehr schöner, blühender Knabe war, sich noch immer nicht satt sehen konnte, erzählte die Mutter dem Vater die Geschichte, wie der Kleine in den Brunnen stürzte und Rosa ihn rettete. Sie erzählte sehr ausführlich und beschrieb alles nach dem Leben. Dem Ritter schauderte. »Also«, rief er, »wärest du bald ertrunken, und ich hätte dich nicht mehr gesehen, lieber Eberhard! Welch ein namenloser Jammer wäre das für mich und deine Mutter gewesen! Das Blut in den Adern möchte mir gerinnen, wenn ich nur daran denke. O Knabe, werde vorsichtiger!«

Die Mutter brachte das Gewand, das der Knabe damals anhatte und das sie zum Andenken an diese Geschichte aufbewahrte. Sie zeigte dem Vater den Riß, den der eiserne Haken gemacht hatte. Kunerich betrachtete den Riß sehr aufmerksam und sprach mit Entsetzen: »Es war die höchste Zeit, daß Hilfe kam; wären nur noch einige Fäden gerissen, so war Eberhard verloren. Das arme Dienstmädchen hat uns einen sehr großen Dienst erwiesen. Ja, beim Himmel, das war schön und edel von ihr; das war sehr viel von einem Mädchen! Es war eine Heldentat. Die schnelle Entschlossenheit und der Mut gefallen mir noch ganz besonders. Hast du sie aber dafür belohnt?«

»Das«, sagte Kunerichs Gemahlin, »überließ ich dir. Alles, was ich ihr hätte geben können, schien mir zu gering, ja, gar nichts; denn sie wagte ihr Leben daran! Mir vergingen fast die Sinne, als ich sie so in dem Eimer über dem Abgrund schweben sah! So etwas läßt sich nicht mit einigen Goldstücken bezahlen. Ich verwies sie auf eine Belohnung von dir. Ich hoffe, du wirst mich nicht beschämen!«

Der Ritter war so gerührt wie noch nie in seinem Leben. Der ungestüme Mann wollte das Mädchen auf der Stelle sehen. Rosa wurde gerufen. Mit bescheidenem Anstande trat sie herein in den Saal. Der Ritter grüßte sie mit dem lauten, freudigen Zurufe: »Willkommen, junge Heldin, willkommen, du Retterin meines Sohnes! Doch sieh, soviel ich mich erinnere, kennen wir uns ja schon. Ja, ja, ich habe dich einmal in der Torstube gesehen. Allein damals hätte ich es dir nicht angemerkt, daß ein solcher Mut in dir steckt. Nun, ich bin dir einen großen Dank schuldig, denn ohne dich wäre ich ein unglücklicher Vater! Der heutige frohe Tag wäre für mich ein Tag der tiefsten Trauer. Verlange, was du willst, und du sollst es haben! Ja«, rief er, der nie gelernt hatte, seine Empfindungen zu mäßigen, im Übermaße seiner Vaterfreude laut aus, »ich schwöre es dir auf Ritterehre, verlangtest du auch eines meiner zwei Schlösser, Fichtenburg oder Tannenburg, ich würde es dir abtreten.«

Rosa sagte ruhig und mit jungfräulicher Bescheidenheit: »Ihr habt ein großes Wort gesprochen, Herr Ritter, und diese zwei edlen Ritter hier haben es vernommen. Ich könnte Euch um eine große Gnade bitten, und Ihr dürftet sie mir nicht abschlagen. Allein, ich verlange keine Gnade, nur um Recht flehe ich Euch an! Gebt mir, gebt meinem Vater zurück, was Ihr uns genommen habt!«

»Wie? Was? Wie war das?« sagte Kunerich betroffen. »Ich sollte euch beraubt und geplündert haben? Wer bist du? Wer ist dein Vater?«

»Ich bin Rosa von Tannenburg«, sprach sie; »Ritter Edelbert ist mein Vater. Entlaßt ihn aus dem Gefängnis und gebt ihm seine Güter wieder zurück!«

Die zwei fremden Ritter und alle Edelknechte und Krieger, die sich im Saale befanden, waren starr vor Staunen. Ritter Kunerich aber trat einen Schritt zurück und stand wie versteinert da. So tief und mächtig ihn die edle Tat der Tochter gerührt hatte, so wild und heftig empörte sich sein alter, vieljähriger Groll gegen den Vater. In seinem Herzen erhob sich ein fürchterlicher Streit der widersprechendsten Empfindungen. Er wurde blaß wie eine Wand, blickte mit seinen schwarzen Augen wild um sich und murmelte zwischen den Zähnen: »Eines von meinen beiden Schlössern wollte ich darum geben, wenn mir jemand anders den Dienst erwiesen hätte als die Tochter dieses Mannes.«

Alle im Saale erschraken über die plötzliche Veränderung des Ritters und sahen einander stillschweigend und mit verlegenen Blicken an.

Kunerichs Gemahlin aber sprach mit sanfter Stimme: »Ich weiß es erst seit einigen Tagen, daß dieses ärmlich gekleidete Mädchen hier Edelberts Tochter ist. Aus kindlicher Liebe zu ihrem Vater, um ihn im Gefängnis besuchen zu können, ihn in seiner traurigen Einsamkeit zu trösten, ihn zu bedienen und den Bissen von ihrem Munde mit ihm, dem geliebten Vater, zu teilen, kam sie in diesem schlechten Anzug in unsere Burg, trat in die Dienste des Kerkermeisters und ertrug alle Launen der Kerkermeisterin, bei der es das ärmste Mädchen im Lande nicht aushalten mochte, mit himmlischer Geduld. Sie unterzog sich den härtesten Arbeiten, die ihr noch zehnmal härter als andern Mägden vorkommen mußten. Mir zerriß es das Herz, wenn ich von meinem Fenster aus sah, wie sie, ein Fräulein, das mit uns ebenbürtig ist, den schweren Wasserkübel auf dem Kopfe trug, oder wenn ich sie gleich der geringsten Magd mit dem Besen erblickte, wenn sie den Schloßhof kehrte. Ich ließ es mir nicht anmerken, daß mir ihr Stand und ihr Rang bekannt sei. Ich getraute mir nicht, ohne deine Genehmigung in der Sache etwas Entscheidendes zu tun. Mit Schmerzen wartete ich auf deine Rückkehr. Aber nun, liebster Kunerich, laß die Güte und die Menschlichkeit walten. Wenn Fräulein Rosa deinen Sohn auch nicht vom Tod errettet hätte, ihre kindliche Liebe zu ihrem Vater allein schon sollte dich bewegen, dich mit dem Vater einer solchen Tochter auszusöhnen.«

»Bei meinem Schwerte!« rief jetzt Siegbert, einer der beiden fremden Ritter, »was das Fräulein an ihrem Vater getan hat, ist noch unendlich mehr, als was sie für den Knaben wagte. Die Rettung des Kindes war das Werk eines kühnen Entschlusses, dessen auch junge Gemüter fähig sind. Die langen, schweren Leiden aber, die das Fräulein für ihren Vater mit bewundernswürdiger Standhaftigkeit ertrug, zeugen von einer großen Seele. Ein kindliches Gemüt voll Liebe ist ein wahrer Edelstein. An deiner Stelle, Kunerich, würde ich mich nicht lange bedenken, was ich zu tun hätte.«

»Kunerich,« sagte Theobald, der andere Ritter, »wenn Edelbert feindlich gegen dich gesinnt wäre, so hätte er dir wohl genug schaden können. Hilf, Himmel! Während du dich im Felde mit auswärtigen Feinden herumschlugst, war der, den du für deinen schlimmsten Feind hieltest, mitten in deiner Burg, und seine Tochter hatte die Schlüssel zu seinem Gefängnis. Neun unter zehn hätten die Gelegenheit benutzt, hätten die Burg zu Nacht in Brand gesteckt und sich während des Tumultes aus dem Staube gemacht. Kunerich, Kunerich, du hast wahrlich keine Ursache, dem wackeren Edelbert feind zu sein!«

Kunerich stand mit starren Blicken stumm da; er atmete schwer auf und rieb sich die glühende Stirn. Es war, als habe er von allem, was seine Gemahlin und die zwei Ritter sagten, nichts gehört. Aller Augen waren voll banger Erwartung auf ihn gerichtet. Rosa blickte seufzend zum Himmel. Es herrschte eine schauerliche Stille im Saale.

Da trat seine Gemahlin näher zu ihm hin und sprach mit großer Rührung: »Liebster Kunerich! Nur eines will ich dir noch sagen! Oh, höre mich gütig an! Kunerich, du glaubst, Edelbert sei dein grimmigster Feind! Aber darin hast du dich bisher geirrt. Ach, wenn er so gegen dich gesinnt wäre, wie es dir vorkam, wie könnte ich, deine treue Gemahlin, dich bitten, ihn seiner Haft zu entlassen? Ich müßte dir vielmehr raten, ihn im Gefängnis noch sorgfältiger bewachen zu lassen. Aber es ist nicht so, wie es dir bisher geschienen hat. Davon will ich dich jetzt überzeugen. Sieh, ich war es einzig und allein, die es entdeckte, daß Rosa Edelberts Tochter sei. Bis auf den Augenblick, da sie es dir selbst bekannte, wußte kein Mensch in der ganzen Burg etwas davon als ich allein. Deine Leute, denen du die Burg anvertrautest, ahnten es sowenig, als du selbst es ahnen konntest. Ohne mich wäre niemand, selbst dein getreuer Burgvogt nicht, darauf gekommen, daß Rosa in nächtlichen Stunden den gefangenen Ritter besuche. Ich wollte wissen, was diese Besuche für einen Zweck hätten. Ich ließ mich, oh, nicht ohne Erröten kann ich es vor dir und diesen werten Rittern und Edelknechten hier bekennen, so weit herab, in später Nacht, als Vater und Tochter im Gefängnis miteinander sprachen, an der Tür zu horchen. Mehr um dich und deine Burg besorgt als um mich, tat ich diesen Schritt, den ich selbst tadeln muß. So weit ging meine Sorgfalt für dich! Ich wollte mit eigenen Ohren hören, ob kein Anschlag gegen dich im Werke sei. Vater und Tochter dachten nicht daran und konnten nicht daran denken, daß ich jedes ihrer Worte vernehme. Aber, o Gott, was mußte ich da hören, wie beschämt stand ich da! Wie gut sind diese Menschen, wie gut! Der arme gefangene Edelbert weiß nichts von Haß und Rachgier gegen dich. Er billigte nicht nur die Tat seiner Tochter, er hat sie vielmehr dazu ermuntert. Er war es, der sie väterlich ermahnte, uns zu verzeihen und uns, soviel in ihren Kräften stand, Gutes zu erweisen. Ohne diese treuherzigen Ermahnungen ihres Vaters hätte Rosa deinen Sohn wohl schwerlich gerettet. Ihm, dem guten Edelbert, hast du die Rettung zuerst zu danken. Wie könnte er nun dein Feind sein! Ach, wie kannst du ihm noch zürnen! Was stehst du noch zweifelnd und unschlüssig da? Ach, Kunerich, nein, du kannst, du darfst Fräulein Rosa nicht unerhört aus diesem Saale scheiden lassen! O Gott, rühre du sein Herz!«

Kunerich sagte mit dumpfer, halblauter Stimme: »Rosa mag die Tannenburg mit allem, was dazu gehört, zurücknehmen. Ich habe nichts dagegen. Edelbert muß bleiben, wo er ist!« Dabei sah er seine Gemahlin nicht einmal an.

Da wandte sie sich zu ihrem Sohne und rief mit bewegtem Herzen und in heiße Tränen ausbrechend: »Komm, Eberhard, bitte du deinen Vater für deine Retterin, daß er ihre Bitte nicht halb, sondern ganz erhöre! Knie nieder und erhebe deine Händchen zu ihm. Sieh, ich knie mit dir vor ihm. Ich will dir bitten helfen! Ich will dir jedes Wort vorsprechen. Sprich mir nach!«

Der holde Kleine sah die Mutter weinen und auch Rosa, die ihm fast so lieb wie seine Mutter war, traurig und mit Tränen in den Augen dastehen und fing selbst an zu weinen. Die finstere Miene seines Vaters schreckte ihn; er begriff sehr wohl, daß viel daran gelegen sei, ihn zu besänftigen. Er kniete nieder, erhob zitternd die kleinen Hände und sprach mit Nachdruck und deutlicher, herzdurchdringender Stimme, wie die Mutter es ihm vorsagte:

»Lieber Vater! Sei nicht hart! Besinne dich nicht so lange, Rosas Vater zu befreien! Rosa besann sich ja auch nicht, ihr Leben für mich zu wagen. Sie, dieses gute Fräulein, hat mich aus dem Brunnen gezogen; befreie nun auch du den Ritter Edelbert aus dem Kerker. Sie errettete mich von dem schauerlichen Tode im Wasser, laß nun ihren Vater nicht den traurigen Tod im Gefängnis sterben! Sie schenkte dir, liebster Vater, mich, deinen Sohn, wieder, gib nun auch ihr, der geliebten Tochter, ihren lieben Vater wieder zurück! Oh, blicke nicht seitwärts, liebster Vater! Ach, sieh mich, deinen Sohn, doch nur an! Sieh, wenn Fräulein Rosa nicht gewesen wäre, so hättest du mein Angesicht und meine Augen, die mit Tränen zu dir aufblicken, gar nicht mehr gesehen. Diese Hände, die ich zu dir emporhebe, würden jetzt im Grabe modern!«

»Halt inne! Es ist zuviel!« rief jetzt Ritter Kunerich. Er bemühte sich vergebens, die Zähren zurückzuhalten, die nach seiner Meinung einem Ritter nicht geziemten. Er sprach, zu Rosa gewandt: »Euer Vater, Fräulein Rosa, ist frei, und seine Burg gebe ich ihm mit allen Gütern wieder zurück. Ich habe ihm unrecht getan. Ein Mann, der eine solche Tochter erzog, kann kein böser Mann sein.«

»Gottlob!« rief jetzt die edle Hildegard und fiel ihrem Gemahl unter Tränen um den Hals und hieß den kleinen Eberhard die väterliche Hand küssen. Rosa war wie im Himmel. Die beiden Ritter verbargen ihre Tränen nicht und boten Kunerich die ritterliche Rechte.

»Ihr habt gehandelt«, sprach Siegbert, »wie es einem biederen Ritter geziemt. Gerecht sein ist mehr, als tapfer sein; sich selbst überwinden besser, als die Feinde besiegen.«

Die Edelknechte und die übrigen Krieger, von denen mancher sich eine Zähre abwischte, murmelten freudig durcheinander, ja sie lobten den Ritter laut. »Das ist schön! Das ist brav! Das ist edel!« sagte bald der eine, bald der andere, und zuletzt riefen alle einmütig und von ganzem Herzen: »Es lebe Kunerich, Hildegard und der kleine Eberhard! Es lebe Edelbert und Rosa!«


Siebzehntes Kapitel.
Rosa kündigt ihrem Vater seine Befreiung an

Ritter Kunerich war jetzt, da die edleren menschlichen Gefühle in seinem Herzen die Oberhand gewonnen hatten, gleichsam in einen neuen Menschen verwandelt. Das Bewußtsein, seine feindselige Leidenschaft besiegt und der Stimme der Vernunft Gehör gegeben zu haben, erfüllte ihn mit hohem, nie gefühltem Vergnügen; Ruhe und Friede kamen in seine erst noch so empörte Brust gleich der lieblichen Stille nach einem Gewitter. Sein Angesicht hatte sich aufgeheitert, und Freude strahlte aus seinen Augen. Sogar der kleine Eberhard bemerkte diese glückliche Veränderung. »Nun, lieber Vater«, sagte er, »siehst du so freundlich aus wie die Mutter und Fräulein Rosa. Jetzt kann ich dich erst recht ansehen und dich recht liebhaben.«

Fräulein Rosa trat zu dem Ritter und dankte ihm in sehr rührenden Ausdrücken. »Nun, nun, mein wertes Fräulein«, sprach er, »macht von der Sache nicht soviel Aufhebens. Ich verdiene weder Lob noch Dank! Ich müßte ja ein Unmensch sein, wenn ich anders handelte. Laßt es gut sein und kommt nun mit mir! Wir wollen zu Euerm Vater in das Gefängnis. Ich halte es jetzt für Sünde, ihn nur einen Augenblick länger darin schmachten zu lassen. Kommt, werteste Rosa! Euch hat er seine Befreiung zu danken; Ihr sollt sie ihm nun auch ankündigen. Legt aber dann auch ein gutes Wort für mich ein, daß er mir das Unrecht, das ich ihm antat, verzeihe!«

Frau Hildegard winkte ihrem Gemahl, ging mit ihm an ein Fenster und redete heimlich mit ihm. Er nickte ein paarmal freundlich, und Hildegard sprach hierauf zu Rosa: »Kommt erst noch ein wenig mit mir, wertes Fräulein!« Die edle Frau führte Rosa in ein prächtiges Zimmer, in dem schon einige Zeit Kleider und Kostbarkeiten für den Augenblick bereit lagen, da Rosa wieder in ihren Stand würde eintreten können.

Rosa reinigte ihr Angesicht von der bräunlichen Farbe. Frau Hildegard brachte ihr die reichlichen Haare in kunstlose Locken und zog ihr ein kostbares weißes Kleid an mit stehendem Kragen von den allerfeinsten Spitzen. Rosa war jetzt unbeschreiblich schön. Ihr blühendes Angesicht übertraf das liebliche Weiß und Rot der frischen Apfelblüte; ihre geringelten Locken flossen auf ihre Schultern; edel war ihr Anstand und ihre ganze Gestalt. Die Frau betrachtete sie mit wohlgefälligem Lächeln. Indes schwieg sie; sie hielt es für unweise, ein Mädchen mit Lobsprüchen auf seine Schönheit eitel zu machen.

Frau Hildegard brachte hierauf ein niedliches Kästchen von glänzend schwarzem Ebenholz, das sehr schön mit Gold verziert war. »Seht, liebes Fräulein«, sagte sie und öffnete das Kästchen, »das ist der Schmuck Eurer seligen Mutter. Mein Mann, der ihn für eine gute Beute hielt, hat ihn mir geschenkt. Allein nie trug ich ihn; ich hätte es für eine Schmach gehalten, mich mit geraubten Kostbarkeiten zu schmücken. Der Schmuck war mir als Euer Eigentum heilig, und immer habe ich mich nach dem Augenblick gesehnt, ihn Euch wieder zurückzugeben. Empfangt ihn hiermit aus meinen Händen. Es fehlt daran kein Edelstein und keine einzige Perle.«

Rosa nahm den Schmuck mit aufrichtigem Danke. Sie betrachtete die schönen Steine und Perlen; allein sie zeigte keine solche Freude, wie es Frau Hildegard von Rosas Jugend erwartete. »Oh, meine selige Mutter«, sprach Rosa mit Tränen in den Augen, »wie lebhaft erinnern mich diese Steine an dich! Nur als ein Andenken an dich sind sie mir wert!

Ach, seht, gnädige Frau«, sagte sie zu Hildegard, »dieser Ring mit Diamanten war der Brautring meiner guten Mutter; diese Perlenschnüre erhielt sie von der Herzogin zum Hochzeitsgeschenk; diese diamantenen Ohrgehänge gab ihr mein Vater an dem Tage, da ich zur Welt kam. Ach Gott, mir ist es, als sehe ich die geliebte Mutter, mit den Perlen und Steinen geschmückt, jetzt vor mir stehen! Ach, wie hinfällig sind wir Menschen! Die Perlen sind noch da, die Steine funkeln noch mit unverändertem Glanze; die Gestalt der edlen Frau aber ist jetzt Moder und Staub! Was wäre der Mensch, das herrlichste Geschöpf Gottes auf Erden, wenn nichts in ihm wäre, das länger dauerte als diese schimmernden Steine!«

Frau Hildegard sagte: »Liebstes Fräulein! Die Tränen, die in Euern Augen glänzen, sind mehr wert als alle diese Perlen, und Eure edeln Gesinnungen sind schätzbarer als diese Edelsteine. Ja, wenn auch Eure blühende Gestalt wird in Staub zerfallen sein und wenn die Macht der Zeit selbst diese festen Diamanten zerstäubt haben wird, werden Eure edeln Gesinnungen noch die Zierde Eures edeln Geistes sein und ihn schöner schmücken, als der prächtige Schmuck jetzt Euern Leib zieren kann.«

Frau Hildegard zierte nun Rosas Haar und Hals mit den sanft glänzenden Perlen, schmückte sie mit den funkelnden Ohrringen und steckte ihr den prächtigen Diamantring an den Finger. Er war aber zu weit. Rosa lächelte und sagte: »Den Ring können wir weglassen. Er schickt sich ohnedies nicht für meine Jugend; nur ein verlobtes Fräulein darf einen Ring tragen.«

Aber Frau Hildegard sagte: »Seht, der Ring, der für den Goldfinger zu groß ist, ist für Euern Zeigefinger vollkommen recht. An diesem tragt ihn also! Die Hand der Tochter, die ihrem Vater so viel Gutes tat, verdient wohl, daß man sie mit Edelsteinen ziere.«

Frau Hildegard begleitete nun Rosa bis an die Kerkertür. Rosa öffnete schnell die Tür und rief im Hineingehen: »Gottlob, liebster Vater! Du bist frei!« Aber wie überrascht war sie. Ihr Vater stand da wie ehemals an festlichen Tagen, in Rittertracht von schwarzem Samt gekleidet, mit der goldenen Kette und Denkmünze geziert. Kunerichs Gäste, Siegbert und Theobald, standen ihm zur Seite.

Frau Hildegard hatte nämlich ihrem Gemahl vorhin heimlich gesagt, er solle, indessen sie Rosa, wie es einem Fräulein gezieme, ankleiden wolle, auch den Ritter Edelbert ritterlich kleiden lassen; auch möchten Siegbert und Theobald den Gefangenen, damit ihm die unvermutete Freude nicht schade, etwas darauf vorbereiten, jedoch ohne ihn merken zu lassen, daß seine Befreiung so nahe sei, um der edeln Tochter die Freude nicht zu verderben, ihrem Vater seine Befreiung zuerst anzukünden. Die zwei Ritter hatten das Geschäft mit Vergnügen übernommen, ja, sie selbst hatten die Kleidung, die man ihm ehemals raubte, ihm überbracht und ihn ankleiden helfen.

Edelbert umarmte seine Tochter mit großer Rührung; sie sank nach so vielen überstandenen Leiden unaussprechlich selig an die Brust des hochbeglückten Vaters. »Meine liebste Rosa!« sprach er, »mit Gottes Hilfe hast du einen Sieg errungen, den ein ganzes Heer mit Schwert und Spieß nicht hätte erzwingen können. Gewalt der Waffen hätte nur Ritter Kunerichs Burg erstürmen und ihn nur dem Leibe nach besiegen können; allein die sanfte Macht deiner Liebe zu deinem Vater und zu allen Menschen hat Kunerichs Herz erobert und ihn aus unserm Feinde in einen Freund umgeschaffen. Laßt uns Gott danken! Gott hat alles wunderbar gefügt! Er ist es, der deine kindliche Liebe gesegnet und deine Bemühungen mit dem glücklichsten Erfolge gekrönt hat!«

Jetzt erst achtete Edelbert darauf, wie reichlich Rosa mit Perlen und Edelsteinen geschmückt war. »Sieh«, sagte er, »Gott hat nicht nur das, worum du ihn so oft gebeten, erfüllt und deinem Vater die Freiheit gegeben, er hat auch den Schmuck deiner seligen Mutter, um den du wohl niemals bätest, dir wieder geschenkt. Ich habe oft mit gerührtem Herzen daran gedacht, daß du deine Ohrringe, das letzte Kleinod, das du noch von allem Glanze deines Standes übrig hattest, aus Liebe zu mir verkauftest; auch dafür gibt dir nun Gott, ohne daß du es erwartetest, reichlichen Ersatz. Er ist ein treuer Vergelter.«

Die beiden Ritter Siegbert und Theobald waren über Rosas Schönheit nicht wenig erstaunt. »Wahrhaftig, mein holdes Fräulein«, sagte Theobald, »Ihr habt Euerm Vater kein geringes Opfer gebracht, daß ihr dieses liebliche Angesicht unter der nußbraunen Farbe verborgen und Eure Gestalt durch jene schlechte Kleidung entstellt habt.« Rosa errötete und nahm dies für eine Schmeichelei, die sie nicht verdiente.

Siegbert, der andere Ritter, sagte aber: »Schönheit ist des Fräuleins geringster Vorzug; die kindliche Liebe zu ihrem Vater ist noch unendlich mehr wert. Wie ein Engel stieg sie bisher in das Gefängnis ihres Vaters hinab, seine Not zu lindern; als ein Engel erscheint sie jetzt, ihm seine Freiheit, die sie ihm ausgewirkt hat, anzukündigen!«

Rosa brachte nun Kunerichs Bitte vor, ihr Vater solle ihm verzeihen. Edelbert war sehr gerührt. »Du siehst meine Tränen«, sagte er, »und du weißt, daß ich ihm längst verziehen habe.« In diesem Augenblick öffnete sich die Gefängnistür, und Ritter Kunerich trat mit dem kleinen Eberhard herein; Kunerichs edle Gemahlin folgte. Edelbert und Kunerich boten sich die ritterliche Rechte mit großer Rührung. Aller Groll war verschwunden. Sie empfanden die Seligkeit der Aussöhnung und gelobten sich von nun an gute Kameradschaft.

Der menschenfreundliche Edelbert hatte noch eine besondere Freude daran, den holden Knaben zu sehen, dem Rosa das Leben gerettet hatte. Er setzte sich, von den vorhergegangenen Empfindungen ermüdet, auf den steinernen Sitz des Gefängnisses, nahm den Knaben auf den Schoß, blickte ihn mit Tränen in den Augen freundlich an, segnete ihn und sagte: »Lieber, holder Knabe! Gott lasse dich zur Freude deines Vaters und deiner Mutter aufwachsen und einen edeln Mann aus dir werden.«

»Oh, mein teurer Ritter«, sagte die Mutter des Knaben, »Gott gebe, daß der Knabe uns so liebe, wie Euch Eure Tochter liebt, und daß er ihr an edeln Gesinnungen gleiche! Dann werden wir die glücklichsten Eltern sein.«

Der Tag wurde mit einer festlichen Abendmahlzeit in dem großen, hell erleuchteten Rittersaale beschlossen. Edelbert und Rosa mußten die ersten Plätze an der Tafel einnehmen; Kunerich saß neben Edelbert und Hildegard neben Rosa. Alle Gäste waren sehr fröhlich; den Ritter Kunerich aber hatte man seit vielen Jahren nicht so vergnügt gesehen. Er selbst beteuerte es und sprach: »So seelenvergnügt wie heute war ich in meinem Leben noch nie. Meine tolle Feindseligkeit gegen dich, lieber Edelbert, vergällte mir meine besten Freuden. Was ist es doch Seliges um Eintracht und Frieden! Jetzt fühle ich es recht: Haß und Feindschaft stammen aus der Hölle; Liebe und Freundschaft aus dem Himmel!«

Kunerich hatte heute die großen silbernen Pokale, die innen prächtig vergoldet waren, auftragen und sie mit dem besten und ältesten Weine, den er im Keller hatte, füllen lassen. Bei Edelberts Gedeck aber stand der schöne silberne Becher, aus dem er zu Hause auf seiner Burg gewöhnlich trank und der ihm als ein Andenken von Rosas Ahnherrn so schätzbar war. Rosa hatte den Becher sogleich bemerkt und der Frau Hildegard mit einem Blicke für diese Aufmerksamkeit gedankt.

Kunerich ergriff zuerst den Pokal und leerte ihn auf Edelberts und Rosas Wohl. Die zwei Ritter Siegbert und Theobald folgten seinem Beispiel. Edelbert trank auch, sagte aber sehr bedeutsam: »Vor diesem starken Wein, ihr Herren Ritter, müssen wir wohl auf unserer Hut sein; er wäre imstande, einen Rittersmann, den noch kein Feind besiegte und der sich vor keinem Türkensäbel fürchtet, zu Boden zu werfen!«

Kunerich lachte; das Lob seines Weines gefiel ihm. Übrigens verstand er den Wink. »Weiß wohl«, sagte er zu Edelbert, »als wir noch Edelknechte an dem Hofe des Herzogs waren, ermahntest du mich und unsere Spießgesellen immer zur Mäßigkeit. Nun, nun, du hattest Ursache dazu. Sei aber außer Sorgen! Recht lustig wollen wir heute beieinander sein, aber dabei doch sattelfest bleiben. Wir wollen in der schönsten Ordnung verfahren! Jeder muß, bevor er trinkt, einen schönen Trinkspruch vorbringen, und du, Hildegard, und Ihr, Fräulein Rosa, müßt heute auch mit anstoßen.«

Hildegard und Rosa stießen mit an; allein sie benetzten mit dem feurigen Wein kaum die Lippen. Die Trinksprüche und Segenswünsche, die den meisten Beifall fanden, waren diese:

Edelbert rief: »Alle deutschen Männer sollen in Frieden und Eintracht leben und sich nie mehr über Nichtswürdigkeiten entzweien!«

Theobald sagte: »Alle deutschen Frauen und Jungfrauen sollen an liebenswürdigen Tugenden der Frau Hildegard, der holden Rosa und der seligen Mathilde gleichen!«

Siegbert sprach: »Alle Eltern sollen ihre Kinder erziehen, wie Edelbert und Mathilde ihre Tochter erzogen, und alle Kinder ihre Eltern ehren und lieben, wie Rosa ihren Vater liebt!«

Kunerich schloß mit den Worten: »Mögen alle Eltern so viel Freude an ihren Kindern erleben wie Edelbert an seiner Tochter!«


Achtzehntes Kapitel.
Rosa und ihr Vater erhalten ihre Güter zurück

Am andern Morgen sehr früh kam Kunerich in Reisekleidern, gestiefelt und gespornt in Edelberts Zimmer. »Edelbert«, rief er, »ich habe schon lange meine Leute aus den Federn gejagt und eben die Pferde satteln lassen. Ich wollte spornstreichs mit dir nach Tannenburg reiten und dir deine Burg und deine Güter wieder zurückgeben. Allein, meine Hildegard meinte, das Schloß, in dem eine Zeitlang bloß die Reitersknechte wirtschafteten, dürfte nicht besonders gut aussehen; man müsse es zuvor in Ordnung bringen. Darin«, sagte Kunerich lachend, »mag sie wohl recht haben; mir wäre es aber nicht eingefallen. Bleibe also mit deiner Rosa noch eine Weile bei mir, lieber Edelbert! Du hast viele traurige Wochen in diesen Mauern zugebracht, laß uns nun auch einige freudige Tage zusammen verleben.«

Edelbert war mit dem Vorschlag sehr zufrieden. Kunerich ging mit ihm in den großen Saal. Siegbert und Theobald fanden sich mit ihren Edelknechten auch bald ein. Alle setzten sich zusammen an die Tafel zum Frühstück. Hierauf nahmen die zwei fremden Ritter, die sich nach Hause sehnten, von Kunerich und Edelbert Abschied und zogen mit ihren Kriegsleuten, die im Schloßhof ihrer warteten, ab.

Kunerich sagte zu Edelbert: »Nun mußt du vor allem meine Burg besehen; nach Tisch reiten wir dann auf die Jagd. Zuerst sieh einmal die Bildnisse meiner Ahnen, mit denen dieser Saal geziert ist!« Edelbert betrachtete die alten Ritter, die alle im Harnisch, und deren Frauen, die in altertümlicher Tracht abgemalt waren. Bei den meisten blieb Kunerich sehr lange stehen und wußte vieles von ihnen zu erzählen. Hierauf zeigte Kunerich ihm die Rüstkammer, worin Waffen aller Art, alle blank und glänzend, und nicht nur viele vollständige schimmernde Harnische für Ritter, sondern sogar einige für die Rosse aufgestellt waren. Dann führte ihn Kunerich in der ganzen Burg herum und zeigte ihm in den gewölbten Gängen, durch die sie kamen, besonders gern die künstlich gearbeiteten und bemalten Hirschköpfe, auf denen natürliche Geweihe von zehn bis zwanzig Enden befestigt waren. Nun zeigte der Burgherr ihm seine Stallungen und die mutigen, wohlgenährten Pferde. Auch in den hochgewölbten Felsenkeller mußte Edelbert hinabsteigen, die großen Fässer bewundern und von den besten Weinen, er mochte nun wollen oder nicht, kosten. Zuletzt besuchten sie den Brunnen im Schloßhofe. Beide schauten mit einem schauerlichen Gefühl hinunter. Edelbert freute sich aufs neue der edlen Tat seiner Tochter und Kunerich seines geretteten Sohnes. Beide Väter umarmten sich am Brunnen und dankten Gott für die gelungene Rettung.

Frau Hildegard hatte indessen dem Fräulein ihre ganze Hauseinrichtung, die mit blendend weißer Leinwand gefüllten Kästen, ihre sehr schönen und reichen Stickereien, die große blinkende Küche und manches andere gezeigt. Zuletzt öffnete sie noch einige Kästen, die in einer besonderen Kammer standen und in denen sich alles befand, was Kunerich an seiner Leinwand, schönen Frauenkleidern und dergleichen von Tannenburg nach Fichtenburg gebracht hatte. »Ich habe alles auf das sorgfältigste aufbewahrt«, sagte die edle Frau, »und werde es unverzüglich auf Eure Burg bringen lassen. Die schönsten dieser Stücke hat, wie man mir sagte, Eure selige Mutter mit eigenen Händen verfertigt. Sie zeugen noch von ihrem unermüdlichen Fleiß und von ihrer Liebe zu Euch. Schon damals war die liebevolle Mutter für Eure Ausstattung besorgt. Kein einziges unrechtmäßig erworbenes Stück befindet sich darunter, wie ich sehr wohl weiß. Darum ruht auch ein Segen darauf, und darum, denke ich, konnten sie Euch nicht auf immer genommen werden!«

Rosa wollte hierauf die Torstube noch einmal besuchen. Frau Hildegard begleitete sie. Als sie über den Schloßhof gingen, gesellten Edelbert und Kunerich sich zu ihnen. Der Torwärter saß eben in dem großen Lehnsessel, um von der Reise auszuruhen. Als er Kunerichs Stimme vernahm, sprang er auf und öffnete die Tür. Da stand Rosa vor ihm.

»Je, Röse!« rief er, »doch verzeiht, Fräulein Rosa wollte ich sagen. Je, je, was habe ich an Euch erleben müssen! Aber kommt mit der gnädigen Herrschaft doch erst herein in die Stube. So! Ja, ja! Ich hätte mir eher eingebildet, der Himmel werde einfallen, als daß ich geglaubt hätte, mein Dienstmädchen sei ein Fräulein von Tannenburg. Es ist etwas ganz Unerhörtes. Ich kann es fast jetzt noch nicht glauben, daß ein gnädiges Fräulein den reinlichen Stubenboden, auf dem ich stehe, gefegt haben soll. Und doch muß ich mich wieder wundern, daß ich Dummbart nicht früher merkte, daß Ihr Ritter Edelberts Tochter seid. Gestern abend, als auf einmal unter den verwunderten Kriegsleuten draußen im Schloßhof über diese seltene Geschichte der große Lärm entstand und ich sie von ihnen vernahm, ging mir erst das Licht auf, warum Ihr gegen den gefangenen Ritter gar so voll Mitleid gewesen! Nun, nun, ich lobe Eure kindliche Liebe, und Gott und mein gestrenger Ritter hier haben Euch, wie ich sehe, dafür belohnt. Aber meine Hedwig, was erst die für Augen machte! Das ist gar nicht zu sagen. Sie kam fast von Sinnen; sie riß sich fast den Kopf ab! Nun, sie mag die Grobheiten, die sie Euch, gnädiges Fräulein, angetan hat, Euch selbst abbitten.«

Die zwei Kinder des Torwärters standen scheu in einer Ecke. Rosa ging zu ihnen hin und redete mit ihrer gewohnten Freundlichkeit mit ihnen. Da bekamen die Kinder wieder Mut.

Die kleine Berta sagte: »Du bist aber jetzt prächtig geputzt, Fräulein Röse; alles ist schön und neu an dir, sogar dein Gesicht.«

Der kleine Otmar sprach: »Das ist kein Fehler! Das lasse ich mir gern gefallen; wenn nur Fräulein Röse unsere Magd bleibt! Denn eine so gute bekommen wir doch in unserm Leben nicht mehr.«

Kunerich und alle übrigen lachten. Rosa fragte hierauf die Kinder: »Wo ist denn eure Mutter?« Die kleine Berta sagte: »Sie hat eben dort Brot zur Suppe eingeschnitten. Die Schüssel steht noch auf dem Tisch.«

»Ja«, sagte der kleine Otmar, »als sie hörte, daß die Herrschaften zu der einen Tür hereinkämen, da hat sie sich zur andern hinausgeflüchtet, als jagte sie der Wolf.« Rosa ging zu der Tür, die aus der Stube in die Küche führte, hinaus und führte die Torwärterin in die Stube.

Das arme Weib stand sehr beschämt da, als sie den Ritter Edelbert und Fräulein Rosa prächtig gekleidet vor sich stehen sah und auch den gestrengen Ritter Kunerich, ihren Herrn, und Hildegard, ihre gnädige Frau, in der Stube erblickte. Sie ward bald blaß und bald rot. »In ein Mausloch«, sagte sie, »möchte ich mich vor den gnädigen Herrschaften verkriechen; denn Sie werden nun wohl alle wissen, was für saubere Reden in mir stecken und welche schönen Namen ich oft dem gnädigen Fräulein gegeben habe. Allein, wenn ich gewußt hätte, von welcher Abkunft meine Röse sei und zu was für hohen Ehren sie noch ferner gelangen werde, so hätte ich mich freilich ganz anders gegen sie aufgeführt.«

Frau von Fichtenburg sagte: »Meine gute Torwärterin! Der geringste Mensch ist göttlicher Abkunft; das ist der höchste Adel, mit dem sich kein anderer vergleichen darf. Der ärmste Bettler wird, wenn er ein guter Mensch ist, in jener Welt zu einer Herrlichkeit gelangen, gegen die aller Glanz auf dieser Erde nichts ist. Wir haben also wohl Ursache, auch dem geringsten Menschen gut zu begegnen. Ihr empfindet Reue und Scham, daß Ihr gegen Euer ehemaliges Dienstmädchen unfreundlich gewesen seid, weil sie jetzt in veränderter Gestalt, als ein adliges Fräulein, vor Euch steht. Noch eine schmerzlichere Reue würde uns quälen, noch eine größere Beschämung uns treffen, wenn wir die Armen hier in dieser Welt mit Stolz und Verachtung behandeln und sie dann dort in jener Welt in ihrer Herrlichkeit erblicken würden.«

Die Torwärterin gab ihr sehr recht und bat das Fräulein mit vielen Worten und unter reichlichen Tränen um Verzeihung. Rosa sprach zu ihr:

»Meine liebe Hedwig! Ich hätte Euch manchmal manches sagen mögen. Allein damals hielt ich es nicht für ratsam; ich sparte es auf einen schicklicheren Augenblick, der nun gekommen ist. Ich muß daher jetzt schon ein Wörtchen anbringen. Zuvor muß ich Euch aber vor Eurer gnädigen Herrschaft und meinem Vater hier aufrichtig bezeugen, daß Ihr sehr viel Gutes an Euch habt. Ihr seid eine sorgsame, liebevolle Ehegattin, eine gute Mutter Eurer Kinder, eine treffliche Hauswirtin. Ihr seid unermüdlich fleißig, und in Eurer Haushaltung herrscht Reinlichkeit und Ordnung. Ihr seid sparsam, ohne karg zu sein, und tut den Armen viel Gutes. Ja, Ihr seid gegen jedermann dienstfertig, freundlich und zuvorkommend, solange nichts vorfällt, das Euern Zorn reizt. Aber dann wißt Ihr Euch selbst nicht mehr zu beherrschen. Ihr sagt und tut dann Dinge, die nichts taugen. Dieser Jähzorn verbittert Euch und denen, die um Euch sind, das Leben und hat Euch in den übeln Ruf gebracht, als wäret Ihr ein sehr böses Weib. Ja, wenn Ihr diesen Gewohnheitsfehler ablegt, so wird Euch jedermann als eine vortreffliche Frau schätzen. Ihr werdet nur Ehre und Freude, Glück und Segen davon haben.«

»Das heißt einmal klug und ehrlich gesprochen!« rief Kunerich. »Es ist ein Zuspruch, den sich mancher Mann und auch manche Frau, die meinige jedoch ausgenommen, zu Herzen nehmen dürfte. Was Ihr doch für ein verständiges, wohlunterrichtetes Fräulein seid, meine werte Rosa! Ich selbst will mir meinen Teil aus Euern Reden entnehmen. Was Ihr da vorbrachtet, stimmt mit dem überein, was mir mein seliger Vater öfter gesagt hat. Nur faßte er es gewöhnlich in ein kurzes Sprüchlein zusammen. ›Kunerich, Kunerich‹, sagte er, ›mehr Witz und weniger Hitz'; damit kommt man am besten durch die Welt!‹«

Einige Tage darauf zogen Ritter Kunerich und seine Gemahlin mit Edelbert und Rosa nebst einem ansehnlichen Gefolge bewaffneter Krieger und schön gekleideter Diener nach Tannenburg. Der Ruf von dem, was sich in Fichtenburg zugetragen, hatte sich schon überall verbreitet. In allen Dörfern und Weilern Kunerichs, durch die sie zogen, kamen aus jedem Hause und jeder kleinen Hütte fröhliche Menschen hervor, die sich über die Eintracht der beiden Ritter freuten, besonders aber das Fräulein sehen wollten, das so liebreich an ihrem Vater gehandelt und den kleinen Eberhard so heldenmütig aus dem Brunnen errettet hatte.

Als Edelbert in sein eigenes Gebiet kam, da war es überall sehr still, und alle Ortschaften schienen wie ausgestorben. Edelbert wunderte sich und machte sich darüber allerlei Gedanken; allein als er durch das äußere Tor seiner Burg ritt, erblickte er den ganzen Hof voll Menschen. Alle seine Gutsangehörigen hatten sich eingefunden und in der schönsten Ordnung aufgestellt. Auf der einen Seite standen reihenweise die Knaben, Jünglinge und Männer, auf der andern die kleinen Mädchen, Jungfrauen und Weiber. Alle waren festlich gekleidet. Im Namen der Männer führte Burkhard, der Köhler, das Wort; im Namen der Weiber die Köhlerin Gertraud.

Burkhard hatte sich von dem alten Burgvogt einen nach damaliger Sitte sehr langen und ausführlichen Spruch einüben lassen und fing mit sehr ernsthaften Mienen und Gebärden an: »Sintemalen, alldieweilen und was Maßen es sich begeben, zugetragen und ereignet hat, – daß – daß –« Hier wußte er nicht mehr weiter. Er faßte sich aber und sagte: »Verzeiht, lieber gestrenger Herr Ritter! In dem Augenblick, da ich Euch von Angesicht sah, ist mir all das gelehrte Zeug, das sehr schön sein soll, aus dem Sinn gekommen. Ich weiß nun nichts mehr zu sagen als: Da ich diesen Tag noch erlebt habe, so will ich gern sterben.« Auch die gute Gertraud begrüßte ihren Herrn und Rosa statt mit auswendig gelernten Worten fast nur mit Freudentränen. Ja, die Rührung aller der guten Landleute war so groß, daß sie vor Weinen ihr »Lebe hoch!« kaum hervorbringen konnten.

Edelbert und Rosa gingen, beide selbst zu Tränen gerührt, durch die Reihen hochbeglückter Menschen. Auf dem erhöhten Platze vor der inneren Schloßpforte, durch die man in die Ritterwohnung kam, waren Ritter Siegbert und Theobald nebst mehreren andern mit ihren Frauen, Söhnen und Töchtern in festlichem Schmuck und einer zahlreichen Dienerschaft versammelt. Zuvörderst stand Agnes, jenes gute Köhlermädchen, mit Blumen bekränzt und weiß gekleidet, und hielt ein purpurrotes Kissen, auf dem, silberhell und mit goldenen Quasten geschmückt, die Burgschlüssel lagen. »Edles Fräulein!« sprach sie, »Ihr habt Euern geliebten Vater nicht nur aus seinem Kerker befreit, Eure kindliche Liebe hat ihm auch die Tore seiner Burg wieder geöffnet, empfangt hiermit diese Schlüssel und überreicht sie Euerm Vater.«

Rosa bot das Kissen ihrem Vater dar. Dieser nahm die Schlüssel mit einem frommen Blick zum Himmel. Er gedachte jener schauerlichen Nacht, da er vor eben dieser Pforte in Sturm und Regen gefesselt auf einem Karren saß, aus seiner Burg geführt wurde und Rosa jammernd und weinend ihm folgte. Der freundliche Empfang, den Kunerichs Gemahlin so schön veranstaltet hatte, war für ihn deshalb umso rührender. Er sprach: »Bevor ich die Schwelle der Schloßpforte betrete, laßt uns in die Burgkapelle gehen! Gott hat alles, was geschehen ist, uns zum Besten gelenkt. Er hat Trauer in Jubel verwandelt. Laßt uns ihm ein herzliches ›Herr Gott, dich loben wir!‹ darbringen.« Alle Ritter und ihre Frauen gaben ihm Beifall und folgten ihm in die Kapelle.

Hierauf ging man zur Tafel, die in dem großen Saale bereit stand; das Volk wurde in dem Schloßhofe bewirtet. Edelbert konnte es aber nicht erwarten, bis abgespeist war. Er ging noch vor dem Ende der Mahlzeit hinunter in den Schloßhof und war in der Mitte seiner Gäste so vergnügt wie ein Vater unter seinen Kindern. Vor allem suchte er den ehrlichen Köhler Burkhard und dessen gutes Weib auf. »Du alter, treuer Diener«, sprach er zu ihm, »der du mit deiner frommen Hausfrau meine Tochter so freundlich in deine Wohnung aufgenommen hast, du sollst nun diese meine Burg nicht mehr verlassen und für immer hier wohnen. Ich mache dich hiermit zu meinem Stallmeister, ein Amt, auf das du dich, da du von Jugend auf als Reiter dientest, wohl noch besser als auf das Kohlenbrennen verstehst. Deine gute Gertraud, die mich in meiner Gefangenschaft mit weißem Zeuge versah, soll von nun an Beschließerin in meiner Burg sein. Die gute Agnes aber, die meiner Tochter im Unglück eine so treue Gefährtin war, soll nun auch im Glück ihre stete Gesellschafterin sein. Eine treuere Dienerin und Freundin kann sie unmöglich finden.«

Edelbert ging hierauf bei allen Tischen herum und redete mit allen Gästen. Jedem wußte er etwas Angenehmes zu sagen. Frau von Fichtenburg hatte, da sie unmöglich alle Dorfbewohner einladen konnte, die ältesten Hausväter mit ihren Kindern und Enkeln ausgesucht, ohne einen Unterschied zwischen Reichen und Armen zu machen. Den übrigen hatte sie gesagt, Edelbert werde sie ein andermal bewirten. Manche der Anwesenden hatten vormals monatliche oder jährliche Wohltaten von Edelbert bezogen, allein seit das Schloß sich in fremder Gewalt befand, nichts mehr erhalten. Edelbert sicherte ihnen diese Unterstützungen aufs neue zu. Die Freude darüber war allgemein. Alle beteuerten, daß sie bereit seien, für ihren guten Herrn Gut und Blut daranzusetzen. Kunerich, der auch herabgekommen war und Edelbert zur Seite ging, sagte: »Es ist doch wahr, Güte geht über Gewalt, und es ist besser, geliebt als gefürchtet zu sein.« Edelbert sprach: »Ein Herr, den die Bösen fürchten und die Guten lieben, ist jedenfalls der beste.«


Neunzehntes Kapitel.
Was von Rosas Schicksalen noch weiter bekannt ist

Edelbert und Kunerich, Rosa und Hildegard besuchten einander sehr oft. Kunerich zog zu seinem und seiner Untergebenen Wohl in allen Angelegenheiten seinen Freund Edelbert zu Rate. Rosa ehrte die edle Hildegard als eine zweite Mutter und suchte immer noch von ihr zu lernen. Die Freundschaft, in der alle zusammen lebten, trug sehr viel dazu bei, ihr Leben zu verschönern und zu veredeln.

Einige Zeit war Kunerich nicht mehr nach Tannenburg gekommen; ja, er hatte sogar die Besuche, die Edelbert und Rosa ihm zudachten, unter unbedeutenden Vorwänden abgelehnt. Ganz unvermutet sprengte er jedoch eines Tages auf seinem Schimmel wieder in den Burghof und lud Edelbert und Rosa ein, unverzüglich sich mit ihm nach Fichtenburg zu begeben. Sie merkten es ihm wohl an, daß er etwas Besonderes im Sinn habe. Es gelang ihnen nicht, das Geheimnis herauszubringen. Indessen reisten sie mit ihm.

Als sie in Fichtenburg angelangt waren, ließ Kunerich ihnen kaum Zeit, seine Gemahlin zu begrüßen. »Edelbert!« sagte er, »du mußt sogleich mit mir, und Rosa muß auch mit!« Er zog Edelbert fast mit Gewalt fort, und Hildegard und Rosa folgten den beiden Rittern. Sie kamen in den dunkeln Gang zu Edelberts Kerker. »Himmel, wohin führst du mich?« sprach Edelbert befremdet. »Mich schauert es«, sagte Rosa; »was sollen wir in dem traurigen Gefängnis?« Kunerich schwieg, öffnete die Tür des Gefängnisses, und sie traten erstaunt in eine sehr schöne, nach damaliger Art prächtig verzierte Kapelle. Einige hohe Fenster mit bunten Glasgemälden gaben ihr Licht; das Gewölbe und die Mauern waren himmelblau bemalt und mit goldenen Sternlein besät; der Altar prangte reichlich mit vergoldetem Schnitzwerk.

Edelbert und Rosa bezeigten ihre Verwunderung und ihren Beifall. »Das dachte ich«, sagte Kunerich, »daß euch diese Umwandlung gefallen werde. Ich wollte euch damit überraschen; deswegen verbat ich mir, während wir bauten, eure Besuche. Nicht wahr, die Kapelle ist schön? Allein meiner frommen Hildegard gebührt die Ehre, sie eingerichtet zu haben. Sie wußte es sehr klug einzuleiten, daß ich das Kirchlein herstellen ließ. Laßt euch erzählen, wie sie es anfing. Als wir euch vorigen Herbst nach Tannenburg begleitet hatten und wieder nach Hause gekommen waren, bat sie mich, mit ihr das Gefängnis, in dem du ehemals gefangen lagst, zu besehen. Ich hatte wenig Lust dazu. ›Wozu das?‹ sagte ich, ›mir graut davor!‹ Indessen ging ich doch mit ihr. Sie bat gar zu beweglich. Als wir hereingetreten waren, sagte sie zu mir: ›Sieh doch, wie die kindliche Liebe das düstere Gefängnis zu einer so freundlichen Wohnung umzuschaffen wußte!‹ – ›Es ist wahr‹, sagte ich, ›vorher sah es hier furchtbar aus, jetzt ist es da so hell und schön wie in einer Kapelle.‹ Da rief meine gute Hildegard sehr erfreut: ›Du hast da, lieber Kunerich, einen herrlichen Gedanken, der im stillen auch der meinige war. Er kam mir zuerst in den Sinn, als ich die schöne Burgkapelle in Tannenburg sah. Ja, zu einer Kapelle läßt sich diese geräumige gewölbte Halle leicht machen. Etwas müssen wir doch tun, um unsere Dankbarkeit gegen Gott für die glückliche Rettung unseres Sohnes an den Tag zu legen. Die Stiftung einer Kapelle ist das Beste, was wir tun können. Dies fehlt uns gerade noch, so trefflich unsere Burg auch sonst eingerichtet ist. Bisher mußten wir immer in die Dorfkirche unten am Berg in den Gottesdienst gehen, was sehr beschwerlich, ja manchmal beinahe unmöglich war. Eine eigene Burgkapelle ist ein Denkmal, das noch unsern Nachkommen Segen bringen wird.‹ So sagte sie. Der Vorschlag gefiel mir. ›Du hast vollkommen recht‹, sprach ich, ›ja, so sei es. Hier soll kein Gefangener mehr schmachten; hier wollen wir Gott stets für seine Gnade und Erbarmung danken, daß er unsern Sohn durch Rosa rettete, mich mit Ritter Edelbert aussöhnte und mir den Frieden meines Herzens wiedergab.‹ So ist die Kapelle zustande gekommen.«

»Und morgen«, fügte Frau Hildegard noch bei, »wird der fromme Abt Norbert als Weihbischof die Kapelle einweihen. Siegbert, Theobald und mehrere andere Ritter, die uns lieb und wert sind, werden mit ihren Frauen und Kindern bei diesem Fest erscheinen. Allein die liebsten und wertesten Gäste seid Ihr uns, werter Edelbert, und Ihr, meine teure Rosa. Wir glauben auch, daß ihr an der Einweihung dieser Kapelle, die euch ihr Dasein dankt, einen besonderen Anteil nehmen werdet. Ihr werdet diesem schönen Feste gewiß mit frommer Rührung beiwohnen.«

Die Einweihung der Kapelle zum Gottesdienste war auch wirklich eine sehr schöne und rührende Feierlichkeit. Die eingeladenen Ritter trafen mit allen den Ihrigen zur bestimmten Stunde ein. In ihrem feierlichsten Anzuge, nach damaligem Gebrauche in Helm und Harnisch und mit dem Schwerte umgürtet, stellten sich die Ritter zu beiden Seiten des Altars; die Ritterfrauen erschienen, wie es in jener Zeit an hohen Festen Sitte war, in Schwarz mit Gold gekleidet, die Fräulein aber in Weiß und mit Blumen bekränzt. Alle waren feierlich gestimmt; der kleine Eberhard und seine zwei Schwesterchen knieten mit aufgehobenen Händchen und einer Andacht vor dem Altare, daß man kleine Engel in ihnen zu erblicken glaubte.

Die Kapelle war mit grünen Maien und der Altar mit frischen Blumen geschmückt; reine, weiße Wachskerzen brannten, und Weihrauchwolken stiegen empor.

Der ehrwürdige Abt Norbert betrat mit Inful und Stab, von mehreren Geistlichen in reichem Ornat umgeben, den Altar, wandte sich zu der Versammlung, bemerkte mit frommer Freude ihre sichtliche Andacht und hielt eine kleine Anrede, in der er die Kindesliebe als höchste Tugend eines dankbaren Herzens pries.

Nachdem die Kapelle eingeweiht und der erste Gottesdienst darin gehalten war, ging man im großen Saale zur Tafel. Kaum hatte man sich gesetzt, so erschollen Trompeten im Schloßhofe. Kunerich und die übrigen Ritter horchten hochauf, sprangen an die Fenster und sahen eine Schar von bewaffneten Reisigen im Schloßhofe. Mehrere Diener stürzten zur Saaltür herein und riefen: »Der Herzog!« Die Ritter wollten ihm entgegeneilen, allein schon trat er, von mehreren Rittern begleitet, in den Saal. Er war ein ansehnlicher Mann von hoher, edler Gestalt. Seine Locken waren bereits grau, seine Augen noch voll Feuer. Er begrüßte Edelbert zuerst, bot ihm die Rechte und sprach: »Mein lieber Ritter Edelbert, ich wollte Euch die erste Nachricht von dem ruhmvoll erkämpften Frieden und meinen und des Kaisers Dank für die durch Eure Krieger dabei geleistete Hilfe selbst überbringen und diese Eure tapferen Leute, die den Frieden erkämpfen halfen, Euch persönlich wieder zuführen. Gestern abend spät kam ich auf Tannenburg an, wo ich hörte, daß Ihr in Fichtenburg wäret. Ich ritt also mit meinen Kriegsgefährten sogleich nach Anbruch des Tages hierher, überzeugt, daß wir nun auch in Ritter Kunerich einen aufrichtigen und getreuen Freund finden würden.

Nicht wahr«, sprach er, zu Kunerich gewandt und ihm die Hand bietend, »eines solchen Überfalls wart Ihr nicht gewärtig? Ich versichere Euch hiermit auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers dessen höchste Zufriedenheit über Eure Aussöhnung mit dem vortrefflichen Edelbert und gebe auch meinem Wohlgefallen Ausdruck, zwei so tapfere Ritter in Frieden und Eintracht hier beisammenzufinden.« Kunerich war vor Freude fast außer sich. Die Gnade des Kaisers und des Herzogs wirkte fast wie Rheinwein auf ihn; sie machte ihn beinahe trunken.

Der Herzog bemerkte jetzt den frommen Abt, ging zu ihm hin, bezeigte ihm seine aufrichtige Freude, ihn hier zu treffen, und setzte noch hinzu: »Ich freue mich umso mehr, Euch hier zu sehen, hochehrwürdiger Vater, da dieses Glück uns Weltleuten so selten zuteil wird; Ihr zeigt Euch nirgends außer den Mauern Eures Klosters, als wo Euch die fromme Pflicht hinruft.«

Hierauf wandte sich der Herzog an Kunerichs Gemahlin und sprach: »Auf Eure gütigen Gesinnungen vertrauend, edle Frau, lade ich mich als ein ungeladener Kirchweihgast selbst zu Tisch und begrüße in Euch meine und der Ritter, die mit mir kamen, freundliche Hauswirtin! An Euch, mein liebenswürdiges Fräulein«, sagte er zu Rosa, »habe ich noch besondere Aufträge, die Ihr nach Tisch vernehmen sollt.

Jetzt«, wandte sich der Herzog zu der übrigen Gesellschaft, »will ich alle die Herren Ritter und deren Frauen und Fräulein Töchter, die ich hiermit sämtlich grüße, nicht länger von der Tafel zurückhalten und sogleich mit gutem Beispiel vorangehen; denn, die Wahrheit zu gestehen, ich habe von dem etwas starken Ritt hierher wirklich Hunger bekommen. Wir wollen einmal recht freundschaftlich und ohne Umstände zusammen speisen. Frau von Fichtenburg und Fräulein Rosa wünschte ich hier zu meinen beiden Seiten zu haben, obwohl ich so dreifach gegen das Sprichwort verstoße: ›Die Tugend befindet sich in der Mitte.‹ Euch, hochehrwürdiger Abt, hätte ich am liebsten mir gegenüber zwischen den zwei ausgesöhnten Rittern. Friedenstiften war von jeher Euer liebstes Geschäft; dieser Platz kann Euch also nicht anders als angenehm sein. So haben wir auch die vier Personen, die an der Geschichte, die uns hier zusammenbringt, den meisten Anteil haben, zunächst um uns und können umso vertraulicher zusammen sprechen. Die übrigen wissen ihre Plätze.«

Der Herzog setzte sich an die erste Stelle der Tafel, wo man ein frisches Gedeck aufgelegt und einen goldenen Pokal für ihn hingestellt hatte; alle übrigen setzten sich, wie er es angeordnet hatte. Nachdem der erste Hunger der Gäste gestillt war, sprach der Herzog: »Die Fehde zwischen Edelbert und Kunerich, ihre Aussöhnung und was Frau Hildegard und vorzüglich Fräulein Rosa dazu beigetragen, ist uns zwar schon in dem kaiserlichen Lager zu Ohren gekommen, allein die Geschichte ist mir so wichtig, daß ich auch die näheren Zusammenhänge wissen möchte.« Er fragte nun bald nach diesem, bald nach jenem Umstand. Edelbert und Rosa, Kunerich und Hildegard mußten abwechselnd erzählen. Der Herzog hörte sehr aufmerksam zu und bezeigte dem trefflichen Edelbert öfter sein Bedauern und der edeln Rosa seinen Beifall. Auch der Frau von Fichtenburg erteilte er verdiente Lobsprüche und fand an Kunerichs gegenwärtigem Betragen ein besonderes Vergnügen. Edelbert und Rosa wollten, um Kunerich zu schonen, in ihrer Erzählung manches verschweigen oder doch schnell darüber wegeilen. Aber Kunerich erzählte es dann selbst mit freimütiger Aufrichtigkeit. »Ich habe grob gefehlt«, sagte er; »ich weiß es. Allein der Fehler ist nun einmal geschehen, und ihn verheimlichen, macht ihn nicht ungeschehen. Rühmlicher ist es, den Fehler frischweg zu bekennen und ihn, so gut man kann, wieder gutzumachen. Das glaube ich redlich getan zu haben; und ich rate jedem, der gefehlt hat, es auch zu tun. Er wird dabei nicht übel fahren, und auf einem andern Wege kommt Ruhe und Zufriedenheit niemals in sein Herz.«

Am Ende der Erzählung blickte der Herzog vergnügt im Kreise umher und sprach, indem er auf Rosa deutete: »Dem werten Fräulein hier haben wir es zu danken, daß wir bei dieser Freudenmahlzeit friedlich beisammensitzen. Ohne ihre Dazwischenkunft würden wir uns jetzt einander im blutigen Kampfe feindlich gegenüberstehen. Denn es versteht sich von selbst, daß wir den Ritter Edelbert nicht im Kerker hätten sitzen lassen. Es war im kaiserlichen Lager schon beschlossen, sobald der Friede mit den auswärtigen Feinden zustande gebracht wäre, sollte ich mit großer Macht vor Kunerichs Burg rücken, um sie zu erobern. Kunerich hätte uns den Kampf gewiß sehr heiß gemacht, und viel Menschenblut wäre geflossen. Gott sei gepriesen, daß er durch eine zarte Jungfrau, das edle Fräulein hier, es anders lenkte!«

Die bescheidene Rosa errötete. »Ach, gnädigster Herr«, sagte sie, »so viel Ehre gebührt mir nicht! Gott allein fügte alles so. Das Vögelein, das in den Brunneneimer flog, hat an dem glücklichen Ausgang der Mißverständnisse zwischen Ritter Kunerich und meinem Vater so viel Anteil wie ich.«

Der fromme Abt Norbert sprach sehr gerührt: »Diese feine und liebliche Bemerkung, die Fräulein Rosa machte, ist nicht mit Gold zu bezahlen. Tausend kleine Umstände kommen im täglichen Leben vor, auf die wir nicht achten, die doch von den wichtigsten Folgen sind, sogar das Schicksal vieler Menschen entscheiden. Oft verherrlicht sich die göttliche Vorsehung in den scheinbaren Zufällen des menschlichen Lebens und fügt tausenderlei teils angenehme, teils unangenehme Ereignisse zu einem wohl übereinstimmenden Ganzen zusammen. Möchten wir unser Leben in dieser Hinsicht öfter aufmerksam überdenken, wie oft würden wir Anlaß finden, Gott für seine weisen und liebreichen Anordnungen mit frohem Herzen zu loben und zu preisen!«

Alle gaben im Beifall. Der Herzog ergriff jetzt feierlich den goldenen Pokal, stand auf und rief: »Auf das Wohl des Kaisers!« Alle, der Abt, die Ritter, die Edelknechte, Frauen und Fräulein, erhoben sich ehrerbietig, wiederholten den Ausruf mit lauter Stimme und tranken. Hierauf stellte der Herzog den goldenen Becher auf die Tafel, wandte sich zu Rosa und sprach: »In diesem feierlichen Augenblick entledige ich mich des Auftrages des Kaisers an Euch, mein teures Fräulein. Mit hohem Wohlgefallen hat der Kaiser Eure große Liebe zu Euerm Vater vernommen, die uns nach glücklich beendigtem auswärtigen Kriege eine einheimische blutige Fehde ersparte. Er beschloß daher in seiner Weisheit, was ich jetzt Euch, wertes Fräulein, Euerm geliebten Vater und allen Anwesenden kund und zu wissen tun werde.« Der Herzog winkte einem der Ritter, die mit ihm gekommen waren. Dieser brachte einen großen, mit vielen Verzierungen auf Pergament geschriebenen Brief in rotem, samtenem Umschlag, von dem an seidenen, mit Gold durchflochtenen Schnüren ein großes kaiserliches Siegel in einer Kapsel von Elfenbein herabhing. Der Herzog überreichte den Brief der erstaunten Rosa und sprach: »Mein verehrtes Fräulein! Da Euer Vater keinen Sohn hat und Tannenburg als ein Mannslehen nebst allen Gütern an den Kaiser und das Reich zurückfallen würde, Ihr aber dem Kaiser und dem Reiche größere Dienste geleistet habt, als es vielleicht zehn Söhne hätten tun können, so wird, wie dieser Brief ausführlicher sagt, dieses Lehen vom Kaiser und den Fürsten des Reiches Euch übertragen. Ihr könnt nun aus den edelsten Rittersöhnen Deutschlands Euch einen Gemahl nach Euerm Herzen wählen, und er hat keine andern Bedingungen zu erfüllen, als daß er sich von Tannenburg schreibt. Möge so der ruhmwürdige Name von Tannenburg sich noch auf Enkel und Urenkelsöhne forterben und dieses edle Geschlecht noch lange ein Segen für das Land bleiben.«

Edelbert war von dieser ausgezeichneten Gnade des Kaisers tief gerührt. Rosa, die sich einer solchen Auszeichnung nicht für würdig hielt, konnte kaum Worte finden, ihren Dank auszudrücken.

Der Wunsch des Herzogs wurde in der Folge vollkommen erfüllt. Viele edle junge Ritter bewarben sich um Rosas Hand. Sie wählte den besten unter allen, mit dem sie auch in der glücklichsten Ehe lebte – Ekbert, den jüngsten Sohn des Herzogs. Doch dies geschah erst nach einigen Jahren.

Jetzt äußerte der Herzog, daß er nach beendigter Tafel noch den Brunnen und die Kapelle zu sehen wünsche. Hildegard ordnete sogleich an, daß der Eimer des Brunnens, bevor man ihn hinabließe, rings mit brennenden Wachskerzen umgeben werde, um die dunkle Tiefe zu beleuchten.

Der Herzog begab sich mit der ganzen Gesellschaft zum Brunnen, lobte dessen kunstreiche Bauart und sprach, als er den Kranz von schimmernden Lichtern immer tiefer hinabsinken sah: »Wahrhaftig, mein wertestes Fräulein, mich wundert's, wo Ihr den Mut hergenommen habt, Euch da hinabzuwagen. Solange diese Burg steht, wird man von dem kühnen Fräulein von Tannenburg reden. Ihr habt Euch hier ein Denkmal gestiftet, desgleichen dem größten Helden kaum eines zuteil wird.«

»Ach, nicht doch, gnädigster Herr«, sagte die anspruchslose Rosa. »Der Brunnen sei vielmehr ein Denkmal der Allmacht und der Barmherzigkeit Gottes. Ich fühle in diesem Augenblick, da ich in die Tiefe sehe, nur zu wohl, daß der Mut, mich hinabzuwagen, nicht in mir lag. Gott hat mir den Mut eingehaucht, Gott hat den Knaben gerettet. Nur ihm, dem Allbarmherzigen, von dem alles Gute kommt, wollen wir danken! Ihn lobe und preise, wer immer diesen Brunnen erblickt.«

Der Herzog begab sich hierauf in die Kapelle, kniete einige Minuten an den Stufen des Altars, stand dann auf und sprach: »Da eigentlich Rosas kindliche Liebe zu ihrem gefangenen Vater sein Gefängnis in eine Kapelle umgeschaffen hat, so sollte man mit goldenen Buchstaben die Inschrift über den Altar setzen: ›Dem Andenken der kindlichen Liebe.‹«

Rosa antwortete, abermals errötend: »O nein, nein! Das wäre zu viel Ehre für einen Menschen. Dem Allerhöchsten allein, der große Dinge an uns getan hat, bleibe dieser Altar und diese Kapelle gewidmet.«

Der fromme Abt lobte Rosas Bescheidenheit und sprach dann weiter: »Ich schlage vor, anstatt der Inschrift, die das bescheidene Fräulein mit Recht ablehnt, mit großen goldenen Buchstaben die Worte anzubringen: ›Ehre Vater und Mutter, so wird es dir wohlgehen, und du wirst lange leben auf Erden!‹« Es geschah, und die göttliche Verheißung, die in diesen Worten enthalten ist, wurde auch ferner an Rosa im reichlichsten Maße erfüllt.


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