Christoph von Schmid
Erzählungen
Christoph von Schmid

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Ludwig, der kleine Auswanderer

 

Erstes Kapitel.

Das verirrte Kind im Wald.

Lorenz Linder, der Pächter eines kleinen Landgütchens zu Ellersee, war mit Anbruch der Morgenröte in den Wald gegangen und hatte den ganzen Tag hindurch Holz gefällt. Als die Sonne sich zum Untergang neigte, machte er sich, mit einem grossen Büschel Reisholz auf dem Rücken und mit seiner Axt über der Schulter, auf den Weg nach Hause. Da hörte er aus einem Dickicht des Waldes eine kläglich jammernde Stimme. »Ach«, sagte Lorenz voll Mitleids, »das ist ein Kind, das sich in dem Wald verirrt hat. Ich will es aufsuchen und auf den rechten Weg führen.«

Er drang mit Mühe durch das verwachsene Gesträuch und kam auf einen grünen Platz, der rings von Schlehendornen und Haselstauden umgeben war und in dessen Mitte ein grosser Eichbaum stand. Unter dem Baum kniete ein holder, lieblicher Knabe von etwa sechs bis sieben Jahren. Der Knabe blickte mit seinen schönen, schwarzen Augen andächtig zum Himmel; die hellen Tränen flossen ihm über die rötlichen Wangen, und seine emporgehobenen Hände waren fest gefaltet. Er war sehr gut und zierlich gekleidet. Sein dunkelblauer Frack war von sehr feinem Tuch; alle übrigen Kleidungsstücke waren weiss wie Schnee. Reichliche schwarze Locken hingen ihm auf die Schultern herab; den Hals trug er bloss, und ein schön gestickter Halskragen vom feinsten Nesseltuch war über das dunkelblaue Kleid ausgebreitet. Der bekümmerte Kleine hatte übrigens weder Hut noch Mütze bei sich. Er wiederholte jetzt die Worte, die er schon mehrere Male laut ausgerufen hatte, noch einmal. »Oh mein Gott, mein Gott«, rief er in französischer Sprache, »erbarme dich meiner!«

Lorenz verstand kein Französisch. Allein der gute Knabe hatte die Worte so rührend ausgesprochen, dass sie dem ehrlichen Lorenz dennoch tief in das Herz drangen. Sobald der weinende Knabe den Mann erblickte, sprang er auf, eilte auf ihn zu, nahm ihn freundlich bei der Hand und bat in gebrochenem Deutsch inständig und flehentlich, ihn zu seiner Mutter zruückzuführen.

Lorenz fragte den Knaben, wo seine Mutter sich aufhalte und wie es komme, dass er sich in diesem Wald verirrt habe. Mit Mühe und öfterem Fragen verstand Lorenz die Erzählung, die der Kleine von seinem Unfall machte, so ziemlich. Der Knabe war aus Frankreich und hiess Ludwig. Seine Eltern hatten, als die Revolution ausgebrochen war, sich nach Deutschland geflüchtet. Ludwig war damals kaum drei Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte einen der entflohenen Prinzen begleitet und befand sich gegenwärtig noch unter dessen Gefolge. Die Mutter hatte sich mit Ludwig indessen zu Trier aufgehalten. Als die französischen Kriegsheere sich der Stadt näherten, nahm Ludwigs Mutter auf's neue die Flucht. Auf ihrer Flucht war sie nun heute in einem grossen Dorf unweit des Waldes angekommen. Ludwig war mit seiner Mutter vom frühen Morgen bis Mittag in einer Kutsche gesessen, die gedrängt voll Flüchtlinge war. Er wünschte, bis das Essen fertig würde, in dem Garten am Wirtshaus sich eine kleine Bewegung zu machen. Die Mutter erlaubte es ihm, verbot ihm aber ernstlich, sich aus dem Garten zu entfernen. Ludwig versprach, zu gehorchen, und sprang voll Freude und ohne Hut in den Garten hinab. Allein da erblickte er einen Schmetterling von gar prächtigen Farben und wollte ihn fangen. Der Schmetterling flog über die Hecke. Zum Unglück stand die Gartentür offen. Ludwig verfolgte das bunte, flüchtige Tierchen auf die grosse Wiese, die an den Garten stiess. Nun liess sich auf einmal in dem nahen Wald der Kuckuck hören. Ludwig hatte unter seinen Spielsachen einen Kuckuck gehabt, der sehr artig aus Holz geschnitzt und mit Farben bemalt war. In dem Gestell, auf dem der Vogel sass, befand sich ein kleiner Blasebalg, durch dessen Bewegung man den Ruf des Kuckucks hervorbringen konnte. Ludwig freute sich sehr, jetzt einmal einen lebendigen Kuckuck zu hören; er wünschte ihn auch zu sehen und dachte nicht mehr an den Schmetterling. Er sprang sogleich hinein in den Wald. Es war aber, als wolle der Vogel ihn nur zum Besten haben; er liess sich von Zeit zu Zeit auf einem andern Baum tiefer im Wald hören, ohne dass Ludwig das Geringste von ihm sah. So wurde denn der arme Ludwig sehr tief in den Wald gelockt. Es fiel ihm nun doch ein, wieder zu seiner Mutter zurückzukehren. Er lief, so schnell er konnte. Allein er wusste sich nicht mehr zurechtzufinden. Anstatt nach dem Dorf zu laufen, entfernte er sich immer mehr davon. Er irrte mehrere Stunden im Wald umher und geriet zuletzt so tief zwischen Büsche und dornige Gesträuche hinein, dass er keinen Ausweg mehr fand. Ermüdet und von heftigem Hunger gequält, war er unter dem Baum, unter dem ihn Lorenz fand, auf die Knie gesunken und hatte mit heissen Tränen zu Gott gefleht, ihn aus dieser äussersten Not zu erretten.

Lorenz sprach: »Du hast einen grossen Fehler gemacht, mein lieber Ludwig, dass du dich durch die bunten Farben eines Schmetterlings und den lustigen Ruf des Kuckucks verleiten liessest, den Befehl deiner Mutter zu übertreten.«

Ludwig nickte treuherzig mit dem Kopf und weinte schmerzlicher.

»Nun, nun«, sagte Lorenz liebreich, »weine nicht mehr! Ich denke, Gott hat deine Reue angesehen und dein kindliches Gebet erhört. Ja, glaube mir, er hat dir verziehen und dir Hilfe geschickt. Danke ihm nun dafür, dem lieben Gott, und versprich ihm, dass du künftig vorsichtiger sein und das vierte Gebot nicht mehr so leichtsinnig vergessen willst. Du hast nun erfahren, wie leicht ein Mensch, der nur seiner Augenlust folgt und jeder lustigen Stimme Gehör gibt, auf Abwege und in grosse Not geraten könne.«

»Ach«, fügte Lorenz noch bei, »es gibt in dieser Welt noch manche bunte Dinge, die einen Menschen leichter verführen können als ein Schmetterling; und die lockende Stimme der Verführung kann besonders die Jugend in grösseres Unglück stürzen als der Ruf des Kuckucks. Gott wolle dich davor bewahren und dich glücklich und unbeschädigt durch diese Welt führen. – Doch nun komm mit mir; ich will dich wieder zu deiner Mutter bringen.«

Lorenz führte den Knaben auf einem schmalen Fusssteig, der nicht leicht zu finden war, aus dem Dickicht heraus auf den gewöhnlichen Weg.

Zweites Kapitel.

Die Nachtherberge.

Ludwig ging mit dem freundlichen Mann durch den Wald hin, nach Ellersee zu. Unterwegs fragte ihn Lorenz, wie das Dorf heisse, in dem seine Mutter zu Mittag speisen wollte. Ludwig wusste es nicht zu nennen; er beschrieb es aber. Er sagte, es liege an einem Berg, auf dem ein schönes, grosses Schloss aus dem Wald hervorrage.

»Das ist Waldenberg«, sagte Lorenz; »es ist aber über zwei starke Stunden dahin. Du bist zu müde, heute noch so weit zu gehen. Auch hast du nicht zu Mittag gegessen und wirst wohl sehr hungrig sein. Mein Haus ist gar nicht weit von hier. Da musst du mit mir zuerst zu Nacht essen; dann nehm' ich dich zu mir auf ein Pferd, und wir galoppieren miteinander nach Waldenberg. In einer Stunde bist du dann wieder bei deiner Mutter.«

Der lebhafte Knabe freute sich sehr, reiten zu dürfen, was er sich schon lange vergebens gewünscht hatte; allein noch mehr freute er sich, heute noch seine Mutter wiederzusehen. Er hätte vor Freude hüpfen mögen, wenn er nicht so gar müde gewesen wäre.

Sobald Ludwig mit Lorenz aus dem dunkeln Wald herauskam, erblickte er das freundliche Dörflein Ellersee. Es lag an einem kleinen, mit Erlen umkränzten See und war eben jetzt herrlich von der untergehenden Sonne beleuchtet. Das Haus des guten Lorenz war ihnen das nächste, und sie hatten dahin nur mehr einige hundert Schritte.

Lorenzens Ehegattin, Mutter Johanna, kam mit ihrem kleinsten Kind auf dem Arm und von ihren übrigen fünf Kindern umgeben ihrem Mann aus der Haustür entgegen und rief jammernd: »Hast du es schon gehört? Die französischen roten Husaren sind heute mittag in Waldenberg angekommen, und vieles Fussvolk, das ihnen nachzog, hat bereits alle Ortschaften jenseits des Waldes besetzt.«

Lorenz hatte in dem Wald von allem, was in der übrigen Welt vorging, weder etwas gesehen noch gehört. Er war daher über die Nachricht, die französischen Krieger seien so weit vorgedrungen, nicht wenig erstaunt. Noch mehr aber erstaunte die gute Hausmutter Johanna, dass Lorenz schon einen kleinen Franzosen mit nach Hause bringe. Sie betrachtete indes die zarte, liebliche Gestalt des Knaben mit Wohlgefallen. Die Kinder schauten ihn zuerst eine Weile scheu und betroffen an; sie näherten sich ihm aber nach und nach, und die kleine Liese sagte: »Ich dachte Wunder wie fürchterlich die Franzosen aussehen; allein wenn alle so hübsch und freundlich sind wie dieser da, so werden sie uns Kinder wohl nicht fressen.«

Lorenz erzählte seiner Hausfrau, was er von dem Knaben wusste. Sie hatte grosses Mitleid mit Ludwig und sagte: »Ach! Da wird der arme Kleine wohl recht hungrig sein; ich will daher machen, dass die Suppe bald fertig werde.« Sie eilte in die Küche. Die Kinder plauderten indes mit Ludwig, und die mangelhafte Art, wie er Deutsch sprach, belustigte alle sehr.

Sobald die Mutter die Suppe brachte, setzte Ludwig sich mit den Kindern sogleich zu Tisch, als wäre er da zu Hause. Mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit brachte er den Löffel voll heisser Suppe zum Mund und hätte sich beinahe die Lippen verbrannt. »Ach«, rief er, da ihm das Wörtlein »heiss« nicht sogleich einfiel, »in die Supp' ist viel Sommer!« Die Kinder lachten, allein sie verstanden sehr gut, was er sagen wollte.

Der Vater fragte ihn während des Essens, in welchem Gasthof zu Waldenberg er eingekehrt habe: »In dem goldnen Wildpret!« sagte Ludwig.

»Er meint den goldenen Hirsch«, sprach der Vater und verbot den Kindern ihr lautes Gelächter, obwohl er selbst sich des Lachens nicht ganz enthalten konnte.

Nach der Suppe brachte die Mutter eine grosse Schüssel voll schöner, rötlicher Erdäpfel. Ludwig schälte ein paar, liess sie aber unberührt auf seinem Teller liegen. Er war gewöhnt, die Erdäpfel nur als eine Beispeise zu eingemachtem Fleisch zu essen. Er hätte gern ein eingemachtes Huhn gehabt, wusste es aber in diesem Augenblick nicht zu nennen. Da blickte er durch das Fenster, deutete auf die Turmspitze, auf der ein vergoldeter Hahn in der Abendsonne flimmerte, und fragte: »Was das?« Die Kinder glaubten, er meine den Turm, und sagten: »Der Kirchturm!« – »Nun wohl«, sagte Ludwig, »so koch mir jung Kirchturm!« Eltern und Kinder lachten nun zusammen.

Der Vater erklärte ihm das lustige Missverständnis. Die Mutter aber sagte: »Lieber Ludwig, junge Hühner wären für uns Landleute eine zu kostbare Speise; wir verkaufen die Hühner, die wir ziehen, in der Stadt, um für das Geld andere Dinge einzukaufen, die uns nötiger sind.« Indes brachte sie ihm etwas Butter zu den Erdäpfeln und gab ihm überdies noch ein Stück Butterbrot. Er ass beides mit Lust und versicherte, es schmecke und sättige so gut als der beste Braten.

Nach dem Essen sprach der Vater: »Heute, mein lieber Ludwig, können wir nicht mehr zu deiner Mutter reiten. Waldenberg und die ganze Gegend ist von französischem Kriegsvolk besetzt, und da wäre es sehr gefährlich, in der Nacht zu reisen. Du musst also schon bei uns übernachten und Geduld haben; morgen früh wollen wir dann sehen, was zu tun ist.«

Ludwig, der sehr müde und schläfrig war, ergab sich darein, so gern er heute noch seine Mutter gesehen hätte. Die sorgsame Hausmutter Johanna machte ihm oben in der Schlafkammer ihrer Kinder ein reinliches Bettchen zurecht, und Ludwig schlief fast augenblicklich ein.

Als die Mutter alle ihre Kinder zu Bett gebracht hatte, ging sie vor die Haustür und setzte sich zu ihrem Mann auf die Bank. Denn hier sassen sie an schönen Abenden nach vollbrachtem Tagwerk gewöhnlich noch eine Weile, überlegten, was morgen alles zu tun sei, redeten von der Erziehung ihrer Kinder und dankten Gott für alle den Tag hindurch empfangene Wohltaten.

Nachdem beide eine Weile nachdenkend geschwiegen hatten, sagte Johanna: »Ich halte es für ratsam, dass du morgen vorerst allein, ohne unsern kleinen Gast mitzunehmen, nach Waldenberg gehst. Ludwigs Mutter, die sich vor ihren Landsleuten geflüchtet, hält sich wahrscheinlich im Verborgenen noch dort auf und wartet, bis der Knabe wieder aufgefunden ist. Brächtest du ihn sogleich mit dir, so könnte das gar leicht Aufsehen erregen und der armen Mutter Gefahr bringen.«

»Da hast du recht«, sprach Lorenz. »Morgen will ich zuerst allein dahin gehen, um der guten Frau Nachricht von ihrem Kind zu bringen. Sobald der Tag anbricht, will ich mich auf den Weg machen, um sobald als möglich dahin zu kommen und so ihr eine jammervolle Stunde zu ersparen.«

»Das tu«, sagte Johanna; »ach, ich kann mir denken, wie es der guten Mutter um das Herz sein mag. Ich würde vor Jammer vergehen, wenn ich im fremden Land eines meiner Kinder verloren hätte. Damit du aber auch eine Ursache angeben kannst, warum du nach Waldenberg kommst, so will ich dir ein halbes Dutzend von unsern schönen, jungen Hühnern mitgeben, die jetzt eben gross genug und auch so fett sind, dass man sie sogleich braten kann.«

»Das ist klug«, sagte Lorenz. »Die Hühner werden mir anstatt eines Passes dienen, damit ich leichter durch die aufgestellten Wachen hindurch komme. Auch wird die Frau Hirschwirtin, die gar eine brave Frau ist, sie mir sehr gern abkaufen, um die fremden Gäste gut zu bewirten. Was aber die Hauptsache ist, so kann sie mir über die Mutter des kleinen Ludwig sicher die beste Auskunft geben. Ich will also den Gang dahin wagen.«

»Es ist allerdings ein kleines Wagestück«, sagte Johanna; »allein, da es ein Werk der Barmherzigkeit ist, so wird es mit der Hilfe Gottes gelingen. Dies glaube ich fest; sonst liesse ich bei dieser gefährlichen Kriegszeit dich um alle Welt nicht gehen. Gutes zu tun ist aber der Beruf eines jeden Menschen, und wer in seinem Beruf wandelt, der wandelt unter Gottes Schutz.«

Drittes Kapitel.

Jammer einer Mutter.

Am andern Morgen, bald nach drei Uhr, da noch kaum die erste Morgenhelle zu bemerken war, nahm der gutherzige Pächter Lorenz den Korb mit den Hühnern, hängte ihn an seinen Reisestab, schwang ihn über die Schulter und wanderte mit eiligen Schritten Waldenberg zu. Der rüstige Mann kam deshalb auch sehr bald wieder zurück.

Als es eben auf dem Turm zu Ellersee sieben Uhr schlug, trat er mit dem leeren Korb und dem erlösten Geld schon wieder in seine Stube. Johanna stand eben am Butterfass. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl und wischte sich den Schweiss ab. »Ich habe eben ausgerührt«, sagte Johanna. »Sieh, da hast du ein Glas Buttermilch nebst einem Stück Brot. Erzähle mir nun, was du in Waldenberg erfahren hast.«

»Die Frau Hirschwirtin«, sagte Lorenz, »erzählte mir die Geschichte sehr ausführlich; ich will sie etwas kürzer fassen. Schon am Morgen des vergangenen Tages sah man durch Waldenburg eine Menge Kutschen und Leiterwagen fahren; alle waren gedrängt voll Menschen, die sich vor dem herannahenden französischen Kriegsheeren flüchteten. Gegen Mittag kamen so viele Kutschen mit französischen Ausgewanderten, dass sie in den Wirtshäusern des Ortes kaum mehr ein Unterkommen finden konnten. Die bedauernswerten Leute wollten bloss ein kleines Mittagsmahl nehmen und, sobald ihre Pferde gefüttert waren, eilig wieder weiterfahren. Ludwigs Mutter, eine schöne Frau von zartem, feinem Aussehen, befand sich unter ihnen. Als es Zeit zum Essen war, rief sie dem Knaben, dem sie erlaubt hatte, in den Garten hinab zu gehen; allein es war nichts mehr von ihm zu sehen, noch zu hören. Während sie überall, in dem Garten, auf der nahen Wiese und auf der Gasse, ihn ängstlich suchte, kamen plötzlich einige österreichische Dragoner in das Dorf gesprengt und sagten, dass die französischen Husaren sogleich nachkommen würden. Man hörte in einiger Entfernung scharf schiessen. Es entstand ein allgemeiner Schrecken und ein grosses Getümmel. Die ausgewanderten Franzosen sprangen eilends vom Tisch auf und befahlen, augenblicklich anzuspannen. Einige Herren halfen selbst mit, die Pferde anzuschirren und aus dem Stall zu führen. Die Angst und der Jammer der bekümmerten Mutter aber waren unbeschreiblich. Sie war blass wie eine Leiche und lief, die Hände ringend und mit zerstreuten Haaren umher; sie bat, uneingedenk, dass die Leute die französische Sprache nicht verstanden, mit heissen Tränen und aufgehobenen Händen alle Menschen, die ihr im Haus und auf der Strasse begegneten, ihr den Knaben suchen zu helfen. Indes hörte man immer furchtbarer schiessen; es fiel Schuss auf Schuss bereits sehr nahe an den Hecken und Weingärten des Dorfes. Die Reisegefährten der Frau wollten sie bereden, abzureisen, indem sie sonst in Gefahr stehe, gefangen nach Frankreich ausgeliefert zu werden. Allein sie sagte: 'Lieber will ich sterben als mein Kind im Stich lassen.'

Einer der Ausgewanderten, ein ältlicher Mann, versicherte sie, der Kleine sei mit seinen Gespielen in der Kutsche, die in dem nächsten Gutshof angehalten, sogleich bei dem ersten Lärmen abgefahren. Die Frau lief sogleich selbst hinüber in den Gasthof und fragte, ob das auch gewiss sei. Die Wirtsleute sagten: 'Ja, ganz gewiss!' – Ob die Leute die Frau nicht recht verstanden haben oder ob der alte Mann, der sehr um die Frau bekümmert schien, die Leute nur angelernt habe, die Frau zu hintergehen, damit sie nicht in Gefangenschaft oder gar um das Leben komme, weiss ich nicht. Die arme Mutter wurde, totenbleich und fast ohnmächtig, von dem zitternden Greis in den Reisewagen gehoben. Als der Wagen zu dem Dorf hinausfuhr, ritten die französischen Husaren auf der andern Seite des Dorfes hinein und setzten sich zur Mahlzeit nieder, von der die Geflüchteten, beinahe ohne etwas davon zu kosten, aufgestanden waren.«

»Das ist sehr traurig«, sagte Johanna; »aber sag doch, wer ist die unglückliche Mutter? Wie heisst sie? Und was ist sie sonst für eine Frau?«

Lorenz sagte: »Man nannte sie bloss Madame Düval. Sie schien ehemals reich gewesen zu sein; aber nun scheint sie arm und dürftig. Ihre Kleidung von aschenfarbenem Kattun war nur ganz einfach, wiewohl sehr reinlich. Sie trug weder Gold noch Spitzen. Die Kutsche, in der sie kam, war ganz gemein und ihr Koffer sehr klein. Auch das Mittagsmahl, das sie für sich, ihren Ludwig und jenen alten Mann bestellt hatte, war gar nicht prächtig, ja sogar etwas sparsam. Die Hirschwirtin, die französisch spricht und mir dies alles erzählte, konnte übrigens die Frau nicht genug loben, wie verständig und bescheiden sie sei.«

»Ach, die arme Mutter!« seufzte Johanna, indem ihr die hellen Tränen über die Wangen flossen. »Wie gross wird ihr Schrecken sein, wenn sie jene Kutsche einholt und ihren geliebten Ludwig nicht darin findet. Wegen der nachsetzenden Kriegsheere kann sie nicht zurückkehren, ihn aufzusuchen; sie weiss nicht, wie es ihm unter einem fremden Volk ergehen werde. Sie muss fürchten, ihn lange Zeit oder gar nicht mehr zu sehen. Wahrhaftig, sie muss einen Todeskummer empfinden.«

»Ich bedauere die gute Frau von ganzem Herzen«, sprach Lorenz; »aber wo ist denn ihr Sohn, der kleine Ludwig? Ist er noch nicht aufgestanden?«

»Ach«, sagte die Mutter, »das gute Kind schläft noch sanft und süss. Ich habe eben nach ihm gesehen. Der arme Kleine wird sehr bestürzt sein, seine Mutter vielleicht jahrelang nicht mehr zu sehen.«

Lorenz sprach etwas bekümmert: »Allein, was fangen wir indessen mit dem Kind an?«

»Das gibt sich von selbst!« sagte Johanna. »Gott hat uns das Kind zugeführt – und so behalten wir es, bis die Mutter wiederkommt und das Kind wieder abholt. Ich denke, Gott hat es so gefügt, dass du eben nicht weit von dem alten Eichbaum vorbeigehen musstest, als das Kind unter dem Baum so herzlich betete.«

»Das denke ich auch!« sagte Lorenz. »Aber wenn der Krieg viele Jahre lang dauern und die Mutter gar nicht mehr zurückkommen würde, wenn sie auf ihrer traurigen Flucht, auf der sie sicher vieles auszustehen hat, erkranken und sterben sollte – was machen wir dann mit dem Kind?«

»Dann erziehen wir den armen Kleinen mit unsern Kindern«, sagte Johanna. »Wo sechs essen, isst das siebente auch mit – ohne grossen Aufwand. Gott wird uns das Wenige, das wir haben, wenn wir es mit einem armen Kind teilen, umso reichlicher segnen. Derjenige, der mit fünf Broten fünftausend Mann in der Wüste speiste, lebt noch!«

»Das ist wahr«, sagte Lorenz. »Allein, wenn gute Leute, die reicher sind als wir, sich des Kindes erbarmen und es aufnehmen wollten, so wäre es mir doch lieb!«

»Wenn sich solche Leute fänden und sich selbst dazu erböten«, sagte Johanna, »so wäre mir das vielleicht auch recht. Allein bitten wollen wir sie nicht darum. Die reichsten Leute sind nicht immer die freigebigsten. Und auch die Freigebigsten unter ihnen könnten zwar mehr für den armen Knaben tun als wir, aber mit willigerem Herzen könnten sie es gewiss nicht tun. Ich fühle einmal ein Mutterherz zu dem Knaben, und du, liebster Lorenz – ich weiss es gewiss –, bist nicht weniger liebreich gegen denselben gesinnt; du hast sicher ein Vaterherz für ihn.«

»Das wohl!« sagte Lorenz und fing nun an zu rechnen, ob sie bei dem geringen Ertrag ihres kleinen Pachtgutes soviel erübrigen könnten, den Knaben zu ernähren und zu kleiden. Lorenz kam aber mit seiner Rechnung nicht zurecht.

Allein Johanna unterbrach ihn und sagte: »Wenn man etwas Gutes tun will, muss man nicht gar so genau rechnen; man muss dem lieben Gott auch etwas zutrauen. Ich dachte schon immer, wenn unser kleiner Konrad uns verlorenginge und unter landfremden Menschen, etwa in Frankreich, hilflos und verlassen umherirrte – nicht wahr, da wünschten wir wohl recht herzlich, dass gute Menschen sich seiner erbarmen und ihm unter ihrem Dach und bei ihren Kindern ein Plätzchen gönnen möchten! Nun, was wir wollen, dass man uns tue, das sollen wir auch anderen tun.« Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie dieses sagte.

Lorenz sprach sehr gerührt: »Ich wollte das Kind ja von Herzen gern annehmen und erziehen; allein da wir selbst nichts Überflüssiges haben, so können wir das doch kaum tun.«

»Ei«, sagte Johanna, »wir Menschen können mehr, als wir manchmal meinen! Du wolltest mir ja auf dem nächsten Jahrmarkt ein neues Kleid kaufen; lass das gut sein und verwende das Geld für den armen Ludwig!«

»Du bist doch eine ebenso verständige als gutherzige Frau!« rief Lorenz, indem seine bedenklichen Mienen verschwanden und seine gewöhnliche Fröhlichkeit wieder sein ganzes Gesicht erheiterte. »Ja, ja«, sagte er, »so wollen wir es machen; und auch ich will mich mit meinem alten Sonntagskleid noch ein Jahr länger behelfen. So ist einstweilen für den Knaben gesorgt. Wir wollen ihn also behalten, der liebe Gott wird weiter sorgen!«

In diesem Augenblick trat der kleine Ludwig, völlig angekleidet, zur Tür herein, wünschte beiden sehr freundlich guten Morgen und bat Lorenz, nun sogleich zu satteln und mit ihm zu seiner Mama zu reiten.

»Lieber Ludwig!« sagte Lorenz. »Deine Mutter ist schon gestern mittags von Waldenburg abgereist und jetzt viele Meilen weit von uns entfernt. Sie war sehr bekümmert um dich; allein sie konnte nicht dort bleiben. Die Husaren vertrieben sie. Jetzt stehen mächtige Kriegsheere zwischen ihr und uns, so dass wir jetzt unmöglich zu ihr kommen können.«

Der gute Ludwig fing an, schmerzlich zu weinen; er schluchzte vor Jammer und inniger Betrübnis. Mutter Johanna setzte sich auf die Bank, stellte den weinenden Knaben zwischen ihre Knie, trocknete mit dem kleinen, weissen Taschentuch, das er bei sich hatte, ihm die Tränen ab und sagte liebreich: »Weine nicht, liebster Ludwig! Habe eine kleine Weile Geduld; dann wirst du deine liebe Mutter wiedersehen und dann eine desto grössere Freude haben. Indessen will ich deine Mutter sein, so wie mein Mann sich als Vater gegen dich erweisen wird. Alle meine Kinder werden dich lieben, als wärest du ihr Bruder. Alles, was wir haben, wollen wir mit dir teilen!«

Allein Ludwig wollte sich nicht trösten lassen und hörte nicht auf zu weinen. Da versuchte Johanna ein anderes Trostmittel. Sie ging mit ihm hinaus in den Hof am Haus und sagte zu Lorenz, er solle das Füllen aus dem Stall führen. Lorenz tat es. Ludwig hatte noch nie in seinem Leben ein junges Pferd gesehen und wusste nicht, dass dieses Pferdchen noch gar so jung sei. Er rief daher voll Erstaunen: »Ei, ein kleines Pferd! Ein kleines Pferd!« Er betrachtete das hübsche Tierchen, das kaum drei Monate alt war, mit grossem Wohlgefallen und versicherte, die Pferde, die er in der Stadt und auf der Reise gesehen habe, seien alle sehr gross; dies kleine Pferd aber finde er viel artiger. Lorenz setzte ihn auf das Pferdchen und führte es in dem Hof auf und ab. Ludwig hatte eine ganz ungemeine Freude, das erste Mal zu Pferd zu sitzen, und zwar auf einem so kleinen, niedlichen Pferd, das ganz für ihn geschaffen schien. Aller Jammer war vergessen. Er sagte, wiewohl seine Wangen noch von Tränen nass waren, mit lachendem Mund: »Auf diesem Pferd werde ich morgen oder übermorgen zu meiner Mutter galoppieren.«

»Dies«, sagte Johanna zu Lorenz, »hat geholfen und die Traurigkeit des Knaben auf einmal in Freude verwandelt. Um bei einem Kind eine Empfindung, die unangenehm oder gar unrecht ist, zu überwinden, muss man sie nicht geradezu bestreiten, sondern das Kind auf andere Gedanken zu bringen und in ihm andere Empfindungen zu erregen suchen. Dies tut auch bei Erwachsenen gut, wie ich es öfter an mir selbst erfahren habe. Wenn mir etwas im Kopf herumgeht, singe ich ein fröhliches Liedchen oder plaudere mit meinen Kindern von etwas anderem oder erzähle ihnen ein Geschichtchen, oder ich sehe in dem Garten nach, wie schön alles wachse und gedeihe oder wie schön draussen auf dem Acker der Flachs gerate und wie lieblich er blühe. Neulich war ich gar übel aufgeräumt; da brachte mir die kleine Liese ganz unerwartet einen Strauss von den ersten Maienblümchen, und ich wurde sogleich wieder aufgeheitert und der besten Laune. Freilich, wann schwerere Sorgen oder Leiden der Erde uns darnieder drücken, da hilft so etwas nicht mehr! Allein dann erhebe ich meine Gedanken zum Himmel und denke an den lieben Gott, der für uns alle sorgt und nach dem kurzen Leiden dieser Erde uns ewige Freuden gibt. Da wird es denn sogleich besser mit mir, und ich bin wieder getrost, heiter und fröhlich.«

Viertes Kapitel.

Die Landleute im Dorf.

Die Ankunft des französischen Knaben war sogleich im ganzen Dorf bekannt geworden und machte grosses Aufsehen. Es kamen den Tag über eine Menge Kinder und auch viele Mütter zu Lorenz in das Haus, um den fremden Knaben zu sehen. Gegen Abend versammelten sich die Bauern unter der grossen Linde, die mitten im Dorf, nicht weit von der Kirche, stand. Denn hier pflegten sie nach vollbrachtem Tagwerk auf den Bänken zu ruhen und bei vertraulichen Gesprächen eine Pfeife Tabak zu rauchen. Diesesmal war Ludwig das einzige Gespräch. Über eine Weile kam der Ortsvorsteher und setzte sich zu ihnen. Lorenz bemerkte ihn durch das Fenster und ging mit Ludwig zu ihm hin, um ihm den Knaben vorzustellen. Lorenz erzählte, wie er das Kind in dem Wald gefunden habe, und sagte dann: »Ich mache Euch hiermit die Anzeige, dass ich das Kind, bis die Mutter es abholt, bei mir behalten werde.«

Die Bauern lobten den Lorenz wegen seiner christlichen Liebe; einige meinten jedoch, Lorenz habe schon Kinder genug zu ernähren, es sei nicht klug von ihm, noch ein fremdes Kind anzunehmen. Einer der Bauern aber namens Krall, der kein guter Mensch und gegen Lorenz besonders feindselig gesinnt war, behauptete, man müsse den jungen Franzosen auf der Stelle aus dem Dorf schaffen. »Denn bedenkt, Nachbarn!« sagte er. »Die Ausgewanderten sind Feinde Frankreichs; die französischen Soldaten, vor denen wir keine Stunde sicher sind, werden es uns sehr übelnehmen, dass wir ein Kind ihrer Feinde in unserem Dorf dulden. Sie werden es uns entgelten lassen, unser Dorf plündern oder gar in Brand stecken. Ach du lieber Himmel«, rief er, sich recht wehmütig stellend und mit kläglicher Stimme, »mir ist's, als sähe ich unser gutes Dorf schon in Flammen!« – »Ortsvorsteher«, setzte er noch mit einem grimmigen Blick auf Lorenz bei, »ich mache daher den Antrag, dass Ihr den französischen Knaben noch diesen Abend durch den Gemeindediener über die Grenze bringen lasset – den Lorenz aber, der das Kind hierher schleppte und sich dadurch als einen Anhänger der Franzosen offenbarte und uns leicht hätte unglücklich machen können, zu einer gebührenden Strafe an Geld verurteilet.«

Einige Bauern gerieten über die grosse Gefahr, in der das Dorf schwebe, in Schrecken und stimmten dem Krall bei; andere aber, die mehr Verstand und menschliches Gefühl hatten, widersprachen dem Krall mit Nachdruck. Es entstand ein Wortwechsel, und die Bauern sprachen ziemlich laut. Alle Leute im Dorf, jung und alt, Weiber und Kinder, liefen zusammen, teils, um dem Streit zuzuhören, teils, um den kleinen Franzosen zu sehen, über den der Streit angegangen war.

Als das Gezänk anfing, bedenklich zu werden, kam der Pfarrer herbei, hörte eine Weile zu und sagte dann sehr ruhig: »Liebe Freunde und Pfarrkinder! Ihr ängstet euch ohne Ursache, und die Gefahr für unser Dorf, die einige von euch als sehr gross ansehen, ist gar nicht vorhanden. Die tapfern französischen Krieger sind zu edelmütig, als dass sie euch ein Leid zufügen sollten, weil ihr dieses unschuldige Kind, das von ihrer bürgerlichen Uneinigkeit noch nichts versteht, in euer Dorf aufgenommen; ihr werdet euch vielmehr ihre Zufriedenheit und ihr Wohlgefallen erwerben, wenn ihr diesem armen, hilflosen Kind, das doch zu ihrem Volk gehört, freundlich und liebreich begegnet. Sollte jedoch der eine oder der andere aus ihnen damit unzufrieden sein, so legt nur alle Schuld auf mich allein. Sagt ihnen, ich habe euch geraten, das Kind in euer Dorf aufzunehmen. Ich werde mich zu verantworten wissen. Ich halte es mit dem Ausspruch: 'Tue recht und fürchte niemand.'«

Der Pfarrer nahm hierauf den kleinen Ludwig liebreich bei der Hand und stellte den holden, lieblichen Knaben, der Tränen in den Augen hatte, dass wegen seiner ein so grosser Streit entstanden war, in ihre Mitte. »Seht«, sagte der Pfarrer, »ein solches Kind hat einmal unser göttlicher Erlöser in die Mitte seiner Jünger gestellt und zu ihnen gesagt: 'Wer eines von diesen Kleinen aufnimmt, der nimmt mich auf!' Ja, er warnte die Jünger und sprach zu ihnen noch weiter: 'Sehet wohl zu, dass ihr keines von diesen Kleinen gering achtet; denn ich sage euch, ihre Engel sehen beständig das Angesicht meines Vaters, der im Himmel ist. Euer Vater im Himmel will nicht, dass eines von diesen zarten Kleinen verlorengehe.' So sprach unser göttlicher Erlöser. Nun, meine lieben Freunde! Dieses arme Kind hier, der kleine Ludwig, war wirklich verloren; Lorenz, dieser gute Mann, hat es gefunden und es in sein Haus aufgenommen. Wolltet ihr ihm nun das wehren? Wolltet ihr darauf bestehen, das Kind solle verloren bleiben und gleich einem verlorenen Lämmchen in der Welt herumirren? Da würdet ihr die heiligen Engel Gottes, denen die Kinder lieb sind, betrüben! Unser göttlicher Erlöser, der alles, was man einem solchen Kind tut, so ansieht, als hätte man es ihm selbst getan, würde übel mit euch zufrieden sein. Ihr würdet euch dem himmlischen Vater, der da will, man solle sich solcher verlornen Kinder annehmen, offenbar widersetzen! Nein, meine Freunde, das tut ihr gewiss nicht; es würde euch auch keinen Segen bringen. Wenn ihr aber alle gegen dieses fremde Kind so liebreich gesinnt seid wie der mitleidige Lorenz – das wird euch und euren Kindern Segen bringen. Bedenkt, während wir hier unter diesem friedlichen Baum versammelt sind, befinden sich viele eurer Söhne im Krieg und sind tausend Gefahren von Kugeln und Schwertern ausgesetzt. Sollte einer oder der andere von diesen braven Jünglingen, fern von Eltern und Geschwistern, unter freiem Himmel und auf hartem Boden, verwundet und blutend daliegen und nach Hilfe seufzen – so wird Gott ihm auch gute Menschen zuschicken, die sich seiner erbarmen. Glaubt mir, es wird euch an euren eigenen Kindern reichlich vergolten werden, was ihr an diesem verlassenen, fremden Kind getan habt.«

Die Mütter, Schwestern und Bräute der entfernten jungen Krieger fingen an zu weinen; ja manchem Vater, manchem Sohn, manchem alten, betagten Greis standen Zähren in den Augen. Alle versprachen, die Ermahnung ihres ehrwürdigen Pfarrers zu befolgen, lobten den menschenfreundlichen Lorenz und tadelten den feindseligen Krall, dass er ihnen eine eitle Furcht eingejagt habe und sie bald zu Torheit und Sünde verleitet hätte. Der kleine Ludwig aber küsste dem Pfarrer dankbar die Hand, dass er sich seiner so liebreich angenommen habe; und der Pfarrer sprach freundlich, Ludwig solle ihn morgen besuchen.

Fünftes Kapitel.

Der würdige Landpfarrer.

Ludwig machte sich am folgenden Tag eine grosse Angelegenheit daraus, den Herrn Pfarrer zu besuchen. Er bürstete seinen blauen Frack reinlich aus und bat seine Pflegemutter, ihm seine langen Haare zierlich auszukämmen. Er nahm, nachdem er erst um Erlaubnis gebeten, des kleinen Konrads Strohhut, indem es sich nicht schicke, ohne Hut Besuche zu machen. Johanna sagte, der einfache Strohhut werde sich wohl nicht zu dem schönen Kleid schicken. Allein Ludwig versicherte, das schicke sich sehr wohl; es sei eben jetzt die neueste Mode. Er ging nun in das Pfarrhaus, liess sich bei dem Herrn Pfarrer erst melden, trat dann mit feinem Anstand und einer Verbeugung in das Zimmer und sagte in französischer Sprache, er komme, dem Herrn Pfarrer seine Aufwartung zu machen und ihm für die Güte, mit welcher gestern abends der Herr Pfarrer sich für ihn verwendet habe, nochmal zu danken.

Der Pfarrer, ein ehrwürdiger Greis und ein grosser Kinderfreund, verstand die französische Sprache sehr gut und hatte in seiner Bibliothek auch mehrere französische Bücher, die er sehr schätzte und sehr oft darin las; allein Französisch reden konnte er nicht, weil er auf dem abgelegenen Dorf, in dem er bereits vierzig Jahre lebte, nie Gelegenheit gehabt hatte, sich darin zu üben. Er hiess also den Knaben in deutscher Sprache willkommen, liess ihn sich neben sich auf das Kanapee sitzen und sagte zu ihm: »Wiewohl ich, mein lieber Ludwig, bloss in deutscher Sprache mit dir reden kann, so verstehe ich deine Sprache dennoch sehr wohl; zumal du eine sehr deutliche und reine Aussprache hast. Rede du also immerhin mit mir französisch; ich werde, da du von unserer Sprache das meiste verstehst, dir deutsch antworten, jedoch hier und da mit einem französischen Wort nachhelfen.« Das war dem kleinen Ludwig sehr lieb, und er war nun sehr beredt.

Dem Pfarrer ging es sehr zu Herzen, dass der zarte, liebenswürdige Knabe von seiner Mutter getrennt worden und in einem fremden Land leben musste. Er unterredete sich daher sehr liebreich und freundlich mit ihm, tat mancherlei Fragen an ihn und überzeugte sich, dass Ludwig eine sehr gute Erziehung genossen habe und dass seine Mutter eine sehr edle und gebildete Frau sein müsse.

»Nun, lieber Ludwig«, fragte der Pfarrer unter anderem, »hast du auch schon angefangen, lesen zu lernen?«

»Oh ja«, sagte Ludwig; »ich kann Französisch lesen, aber Deutsch nicht.«

Der Pfarrer holte aus seinem Büchergestell ein französisches Buch, das für Kinder geschrieben war, legte es offen vor Ludwig hin, zeigte mit dem Finger auf eine kleine Erzählung und sprach: »Sieh, da lies einmal!« Ludwig las mit grosser Fertigkeit und vielem Ausdruck.

»Wer hat dich so schön und gut lesen gelehrt, lieber Ludwig?« fragte der Pfarrer nicht ohne Verwunderung.

»Meine Mutter«, antwortete Ludwig; »ich hatte ausser ihr nie einen Lehrmeister.«

Der Pfarrer hätte nun auch gern gewusst, ob der Knabe in der Religion unterrichtet sei, und tat deshalb mehrere Fragen an ihn. Ludwig beantwortete alle sehr gut, ja mit Andacht und gerührtem Herzen. Mit besonderer Rührung sprach er von der Güte Gottes gegen die Menschen, von der göttlichen Vorsehung, die alles, auch die Leiden, den Menschen zum Besten lenkt, vom Vertrauen auf Gott und dem Gebet, und von dem besseren Leben dort in jener Welt, im Himmel, wo wir einst alle hinkommen, wenn wir das tun, was der himmlische Vater uns durch seinen lieben Sohn zu tun befohlen hat.

Der Pfarrer war sehr erfreut und sagte: »Ich sehe wohl, deine Mutter hat dir jene Lehren besonders eingeprägt, mit denen sie in ihrem Leiden sich tröstete und die auch wirklich in allen Leiden uns den besten Trost gewähren. Du hast eine sehr fromme, gute Mutter, liebster Ludwig!«

»Oh, sie ist so gut«, sagte Ludwig mit Tränen in den Augen, »und hat mich so lieb, dass ich es gar nicht aussprechen kann! Sie ist auch recht fromm! Jeden Morgen und Abend betete sie mit mir – besonders für den Vater, dass wir ihn wieder finden mögen, und dann alle drei wieder miteinander in unser Vaterland zurückkehren dürfen. – Ach, die liebe Mutter war oft recht traurig, dass wir so aus unserem Vaterland verstossen wurden, und dass wir wegen des Kriegs nicht zu meinem Vater kommen können. Ja, die Leute wussten gar nicht, wie traurig sie oft war. Wann sie Besuch bekam, war sie zwar immer heiter und klagte nie. Aber wann sie in dem Zimmer so allein an ihrem Arbeitstischchen sass, da seufzte sie oft und blickte mit nassen Augen zum Himmel!«

»Nun«, sagte der Pfarrer, »Gott wird ihr frommes Gebet und auch dein kindliches Flehen erhören!«

»Das glaube ich auch«, sagte Ludwig, »allein ich weiss nicht, was das ist! Als ich dort im Wald betete, erhörte mich Gott gleich und schickte mir den Lorenz zu. Allein es ist heute schon der dritte Tag, seit ich beständig bete, der liebe Gott wolle mich doch wieder zu meiner Mutter führen. Allein er scheint gar nicht darauf zu achten. Ich begreife gar nicht, warum er mich so lange vergebens bitten lässt. Wenn ich an seiner Stelle wäre, ich würde die Menschen sogleich erhören und jedem geben, um was er bittet.«

»Da würdest du grosses Unheil anrichten, mein lieber Ludwig!« sagte der Pfarrer. »Gott, der Allwissende, allein weiss, was uns Menschen gut ist. Nach seiner Weisheit kann er, der nichts als unser Bestes will, uns nicht immer so schnell erhören oder uns gerade auf die Art helfen, wie wir es wünschen. Die Wünsche der Menschen sind oft sehr töricht; ja manchmal würde auch das, was uns sehr gut scheint, uns doch nicht zum Besten gereichen. Indes ist ein frommes Gebet nie vergebens. Gott hilft oft später und anders, als wir wünschen, aber besser, als wir es immer wünschen können. Für jetzt hat Gott für dich gesorgt und dich zu guten Pflegeeltern gebracht; deiner lieben Mutter wird es in ihren Leiden auch Trost in das Herz geben, und ich denke, der Tag wird bald anbrechen, an dem er dich wieder in ihre Arme zurückführt.«

»Ach, die liebe, liebe Mutter!« rief Ludwig, und drückte beide Hände auf seine Brust, »ich kann es gar nicht sagen, wie lieb ich sie habe, und wie es mich schmerzt, dass ich durch meinen Leichtsinn die Leiden, die sie schon hat, noch vermehrt habe. Sie wird sehr in Sorgen um mich sein und oft weinen.« Der arme Knabe brach selbst in einen Strom von Tränen aus.

»Nun, nun, liebster Ludwig«, sagte der Pfarrer, »sei ruhig. Sich kümmern und plagen hilft nichts. Alles, was du jetzt tun kannst, ist dies, dass du für deine Mutter betest und recht fromm und gut seiest und fleissig lernest, um ihr Freude zu machen. Ich will dir täglich eine oder zwei Stunden Unterricht geben. Da du so gut Französisch lesen kannst, so musst du nun auch das Schreiben lernen; und da du bereits so ziemlich gut Deutsch sprichst, so will ich dich in deutschen Büchern lesen lehren. Ich will mit Hilfe der französischen Bücher, die ich habe, dich in allem unterrichten, was ich für dich als nützlich erachte. Deine guten Pflegeeltern werden es gewiss gerne zugeben. Grüsse sie mir freundlich, und komm morgen zu dieser Stunde wieder – und weine nun nicht mehr, liebster Ludwig! Gott wird alles recht machen und dein und deiner Mutter Leiden noch in Freude verwandeln.«

Ludwig besuchte die Lehrstunden, die ihm der Pfarrer gab, mit Herzenslust, und sie waren ihm die angenehmsten Stunden des Tages. Er war sehr wissbegierig, hatte immer etwas zu fragen, und seine Fragen veranlassten Gespräche, die für ihn so unterhaltend als lehrreich waren. Er hatte ein sehr gefühlvolles Herz, wurde von den schönen Lehren oft sehr gerührt und empfand die kindlichste Ehrfurcht und Dankbarkeit gegen den edlen Mann.

Ludwig hätte ihm auch gern seine Dankbarkeit zu erkennen gegeben. Am Vorabend von dem Namenstag des Pfarrers, der Bonifazius hiess, bat Ludwig seine Pflegemutter, ihm einen Groschen zu schenken. Die Mutter fragte, wozu.

»Ach«, sagte Ludwig, »ich möchte dem lieben, guten Herrn Pfarrer zu seinem Namensfest gern ein Geschenk machen!«

»Oh, mein lieber Ludwig«, sprach die Mutter, »was kannst du für einen Groschen kaufen, das den Herrn Pfarrer freuen könnte? Denn einen Groschen wirst du ihm wohl nicht schenken wollen?«

Ludwig sagte: »Ihm einen Groschen zu schenken wäre allerdings sehr unschicklich. Ich werde ihm aber etwas kaufen, das ihm gewiss Freude machen wird. Der Herr Pfarrer ist ein grosser Liebhaber von Blumen. Er hat viele Rosenstöcke in seinem Garten und freut sich sehr auf die Rosen. Allein noch sieht man da nichts als Knospen. Auch in unserm Gärtchen gibt es nur erst Rosenknospen, und so ist es in allen Gärten des Dorfes. Ich habe überall nachgesehen. Allein vor dem Fenster des Müllers steht ein Rosenstock, der schon herrliche Rosen trägt. Ich bat den Knaben des Müllers nur um eine einzige Rose; allein er wollte mir keine schenken, sondern sagte, für einen Groschen wolle er mir eine verkaufen.«

Mutter Johanna sagte lächelnd: »Nun, das ist schön, dass du den Herrn Pfarrer so in Ehren hältst und soviel Aufmerksamkeit für ihn hast; sieh, da gebe ich dir den Groschen mit Freuden.«

Ludwig eilte mit dem Groschen in die Mühle und sprach zu dem Müllersknaben, er solle ihm nun die Rose dafür geben. Der Müller, der dies hörte, sagte: »Das ist ein törichter Einfall von dir, Ludwig, dass du für eine Rose Geld ausgeben willst. Warte noch vierzehn Tage, so kannst du Rosen genug umsonst haben. Allein so töricht wie du handeln noch viele Menschen, die sich viel Geld kosten lassen, um etwa zwei oder drei Wochen früher Baumfrüchte oder Gemüse zu essen, die späterhin wohlfeiler und auch besser und schmackhafter zu bekommen wären. Man muss warten können, die Zeit bringt Rosen.«

Ludwig sagte betrübt, dass er die Rose nicht für sich kaufen, sondern dem Herrn Pfarrer ein Geschenk zum Namenstag damit machen wolle. Da wurde der Müller sehr freundlich. »Das ist etwas andres!« sagte er. »Das ist ein herrlicher Einfall von dir! Stecke aber deinen Groschen nur wieder ein, lieber Kleiner. Nicht nur eine Rose sollst du haben, sondern den ganzen Rosenstock. Für unsern lieben Herrn Pfarrer ist mir nichts zuviel.«

Wer war nun je glücklicher, als Ludwig sich fühlte! Er trug den Rosenstock wie im Triumph nach Hause, ordnete seinen Anzug so zierlich, als er konnte, eilte dann in den Pfarrhof, überreichte dem Herrn Pfarrer den Rosenstock und sagte dabei ein Sprüchlein, das er kürzlich gelesen hatte: »Gott woll', Ihr Leben zu erfreuen, auf Ihre Wege Rosen streuen.«

Der Pfarrer sagte gerührt: »Wo nahmst du doch den herrlichen Rosenstock her, liebster Ludwig?«

Als Ludwig nun erzählte, wie er zu dem Rosenstock gekommen sei, und der Pfarrer aus der Erzählung ersah, welche Angelegenheit sich Ludwig daraus gemacht habe, ihn zu erfreuen, traten dem ehrwürdigen alten Mann die Tränen in die Augen. »Gott segne dich, liebster Ludwig«, sagte er; »du gleichest jetzt noch einer dieser zarten Rosenknospen; bleibe immer fromm und gut, und du wirst schöner blühen als diese vollen Rosen hier.«

Als Ludwigs Namensfest kam, schenkte ihm der Pfarrer ein kleines, französisches Gebetsbüchlein, das er eigens für ihn aus der Buchhandlung hatte kommen und sehr schön in roten Saffian mit Gold hatte einbinden lassen. Er hatte auch den Spruch hineingeschrieben: »Jugend und Schönheit welken dahin gleich den Blumen; wer aber den Willen Gottes tut, besteht ewig.«

Ludwig hatte an dem schönen Büchlein eine unbeschreibliche Freude. Er versicherte, es sei ihm das angenehmste Geschenk von der Welt, das man ihm nur immer hätte machen können. Allein es war auch das nützlichste Geschenk für ihn; denn es enthielt sehr schöne Gebete, und Ludwig las darin morgens und abends, zu Hause und in der Kirche mit grosser Andacht.

Sechstes Kapitel.

Das Landleben.

Der kleine Ludwig war in seinem neuen ländlichen Aufenthalt bald eingewöhnt. Er gewann seine guten Pflegeeltern sehr lieb und ging mit ihren Kindern so vertraulich um, als wären sie seine Geschwister. Die Freundlichkeit, mit der alle im Haus ihm begegneten, machte ihn vergessen, dass er sich in einem fremden Haus befinde. Zwar hatte er noch immer eine grosse Sehnsucht nach seiner Mutter; allein er war deshalb nicht traurig. Er tröstete sich mit der Hoffnung, die geliebte Mutter bald wiederzusehen; und die fröhliche Gemütsart, die dem kindlichen Alter eigen ist, und mit der besonders Ludwig reichlich begabt war, verscheuchte alle traurigen Gedanken. Er war immer so fröhlich, so freundlich und dienstfertig und hatte so gute Einfälle, dass alle im Haus ihn täglich lieber hatten. Ja, in dem ganzen Dorf war er bei jedermann beliebt.

Die ländliche Kost kam ihm anfangs etwas seltsam vor. Sogleich am ersten Morgen, an dem er sich wieder heiter und fröhlich fühlte, machte er mit den Kindern einen Spaziergang um das Dorf und den kleinen See, um die Gegend zu besehen. Sobald er aber zurückkam und in die Stube trat, fragte er, ob der Kaffee noch nicht fertig sei?

Die Mutter lächelte und sagte: »Lieber Ludwig! Wir haben dahier unsern eigenen Gebrauch, in den du dich fügen musst. Einige vornehme Leute in der Stadt trinken den Kaffee ohne Milch; wir Landleute dahier trinken die Milch ohne Kaffee. Wir finden dies viel wohlfeiler; überdies ist die Milch viel gesünder und schmeckt uns viel besser. Versuch es einmal!« Sie brachte eine Schüssel Milch und ein grosses Stück Roggenbrot. Da Ludwig beinahe zwei Stunden lang die Felder und Wiesen durchwandert hatte und der schöne Morgen sehr warm gewesen, so schmeckte ihm die frische Milch sehr gut. Er sagte, der beste Kaffee würde ihm lange nicht so gut geschmeckt haben, und er würde künftig zu seinem Frühstück anstatt des Kaffees sich immer Milch ausbitten. So ging es auch mit andern Speisen. Er bekam selten Fleisch, sondern meistens nur Speisen von Mehl, Milch und Butter, gekochtes Obst und allerlei Gemüse, was aber Johanna alles sehr gut zu bereiten wusste. Er gewöhnte sich sehr gut daran. Da er auf dem Land mehr Bewegung hatte als in der Stadt, so hatte er auch mehr Appetit, und die Speisen schlugen ihm auch besser an. Da er anstatt des Zuckerbrotes nur schwarzes Brot und anstatt des Konfektes nur Obst zu essen bekam, so waren seine Zähne schöner und weisser als das reinste und weisseste Elfenbein. Überhaupt bekam er ein viel gesünderes Aussehen und blühte wie eine Rose.

Das Angenehme des Landlebens hat wohl kein Mensch lebhafter gefühlt als der kleine Ludwig. Da er, so lange er sich denken konnte, in einer engen Strasse der Stadt gewohnt hatte, so gefiel es ihm auf dem Land ganz ungemein wohl, und er sah fast täglich etwas Neues, das ihm Freude machte. Seine Pflegemutter Johanna hatte für die Schönheiten der Natur viel Gefühl und suchte es auch in ihren Kindern zu wecken. Und da Ludwig in der deutschen Sprache bewundernswerte Fortschritte machte, so konnte die liebevolle Pflegemutter sich bald ungestört mit ihm unterhalten.

Eines Tages hatte Johanna die gewöhnliche Wohnstube frisch ausweissen lassen, die Fenster und den kleinen Spiegel wohl gereinigt und den Stubenboden nach Landessitte mit feinem, weissem Sand bestreut. Als Ludwig am andern Morgen in die Stube trat, betrachtete er die Stube und sagte: »Sie ist nun wohl recht hell und freundlich; aber in der Stadt haben wir doch in einem viel schönern Zimmer gewohnt. Da waren schöne Landschaften an die Wände gemalt, zwischen den Fenstern hing ein grosser Spiegel in einer goldenen Rahme, und der Fussboden war mit einem farbigen Teppich bedeckt. So solltest du deine Stube auch auszieren lassen!«

»Lieber Ludwig«, sagte die Mutter, »wir Landleute haben nicht soviel Geld, uns so prächtig einzurichten. Dies ist aber auch gar nicht notwendig. Es wäre töricht, wenn wir uns eine Landschaft wollten an die Wand malen lassen; wir sehen ja hier in unserer Stube immer die schönste Landschaft vor Augen. Sieh nur einmal durch das Fenster! Wie schön blau ist die Luft, wie lieblich grün sind Feld und Wald, und sieh nur, wie eben jetzt die Bäume und dort der Kirchturm im Morgengold glänzen! So etwas kann kein Maler zustande bringen. Die blumige Wiese, die sich vor unsern Fenstern ausbreitet, ist ein so schöner, bunter Teppich, dass nie ein Prinz oder eine Prinzessin auf einen von schöneren Farben getreten ist. Und der See dort, in dem sich der Himmel, Wald, Felsen und die Mühle mit dem neuen roten Ziegeldach abspiegeln, ist ein grösserer Spiegel und viel herrlicher, als man in einem fürstlichen Palast einen finden kann. Meinst du nicht?«

»Oh ja«, sagte Ludwig; »in der Stadt sah ich nie etwas so Schönes. Da sah ich, wann ich zum Fenster hinausschaute, nur Dachziegel, Mauern und Pflastersteine. Auf dem Land ist es viel schöner!«

»Nicht wahr«, sprach die Mutter, »der liebe Gott hat unsern Aufenthalt auf Erden recht schön eingerichtet? Sag einmal selbst, hat er nicht alles, was wir sehen, sehr schön gemacht und mit den lieblichsten Farben bemalt?«

»Ja, das ist wahr!« rief Ludwig. »Er ist doch ein recht lieber, gütiger Gott. Das erkennt man auf dem Land viel besser als in der Stadt.«

Ludwig machte manchmal selbst sehr gute Bemerkungen über das Stadt- und Landleben. Lorenz stand mit allen den Seinigen im Sommer mit Aufgang der Sonne auf, und bald nach Untergang der Sonne gingen sie zu Bett. Den Sommer über wurde in dem Haus kein Licht angezündet. Ludwig fügte sich in diese Ordnung, und sie gefiel ihm sehr wohl. Er sah früherhin die Sonne nie aufgehen; nun aber konnte er die schönen, goldenen Morgen, die ihm ins Fenster schienen, nicht genug bewundern. »Die Leute in der Stadt«, sagte er, »sind doch rechte Toren, dass sie den schönen Morgen verschlafen und dann die halbe Nacht beim Kerzenlicht zubringen. Sie könnten viel mehr Freude haben, wenn sie früher aufstehen und früher zu Bett gehen wollten. Auch würden sie viel Geld für Kerzen ersparen.«

Die Kinder gingen mit Ludwig öfter in den nahen Wald, um Erdbeeren zu pflücken. Da kamen sie einmal in ein kleines Tal, das gar nicht schöner hätte sein können. Die Hügel umher waren von prächtigen Eichen und schlanken Birken mit hellgrünem Laub und die rötlichen Felsen von dunkelgrünen Tannen beschattet; der Wiesengrund, durch den ein silberhelles Bächlein floss, war mit reichlichem Gras und unzähligen Blumen von allen Farben bedeckt und herrlich von der Sonne beleuchtet. Unten an den Hügeln und Felsen wuchsen eine Menge Erdbeeren, und die Ufer des Bächleins waren blau von Vergissmeinnicht. »Hier ist es doch recht schön!« rief Ludwig. »Der grosse herrschaftliche Garten, in den mich meine Mutter zu Zeiten führte, ist nichts dagegen. Dort sah man mehr Sand als Gras und Blumen; und an den Bäumen sah man keine Äste; sie sahen wie grosse, grüne Kugeln aus. Aber hier in diesem Waldtal – wo duftende Erdbeeren in Fülle wachsen, wo zu beiden Seiten des klaren Bächleins viele tausend und tausend zierliche blaue Blümchen blühen, wo diese grossen Eichen ihre mächtigen Arme ausstrecken – da ist es herrlich! Das ist ein rechter Garten; ja, die ganze Gegend, die unser Dörflein umgibt, ist ein wahrer Lustgarten; und ich lobe und preise den Gärtner, der Erdbeeren, Vergissmeinnicht und Eichen gepflanzt hat – den lieben Gott! Wann ich wieder zu meiner Mutter komme, so gehe ich nicht mehr mit ihr in die Stadt; sie muss mit mir auf das Land ziehen. Da wollen wir uns der lieben Sonne und der frischen Luft, der Blumen und Kräuter und Bäume recht freuen und Gott dafür danken.«

Was dem fröhlichen Ludwig das Leben auf dem Land noch angenehmer machte, war die Fröhlichkeit, mit der alle Kinder des Dorfes abends bei der grossen Linde oder draussen auf der Wiese ein gemeinschaftliches Spiel machten. Wie es zu Kriegszeiten gewöhnlich geht, so spielten die Knaben jetzt meistens Soldaten. Ludwig, der in der Stadt einigemale die Soldaten exerzieren gesehen, sah den Knaben zu und sagte zu ihnen: »Ihr macht es nicht recht! Wenn es euch beliebt, so will ich euch zeigen, wie ihr es machen müsst.«

Das war den Knaben sehr lieb, und Ludwig lehrte sie nun, schön aufrecht hinstehen, die Füsse auswärts setzen und das Gewehr auf mancherlei Art handhaben, das übrigens nur ein Haselstock war; er liess sie bald im langsameren, bald in schnellerem Schritt marschieren, sie bald rechts, bald links wenden und allerlei Schwenkungen und Stellungen machen. Die Knaben sagten, dass er die Sache verstehe, und erwählten ihn einmütig zu ihrem Oberst, auf welche Ehre Ludwig nicht wenig stolz war. Er liess es sich recht angelegen sein, alles herbeizuschaffen, was, wie er sagte, zum Dienst nötig sei. Auf Ludwigs Bitten kaufte der reiche Müller seinem Knaben auf dem Jahrmarkt eine kleine Trommel, und Johanna gab ein Taschentuch von feinem Musselin her, das zur Fahne dienen musste; es war zwar rein gewaschen, allein etwas schadhaft. Doch Ludwig sagte: »Das macht nichts! Wenn die Fahne recht zerfetzt ist, so ist das nur umso ruhmvoller.«

Er fand in Johannas Nähzeug einige versilberte Flitter und verfertigte daraus, nachdem er zuvor um Erlaubnis gebeten, einen Stern, den er aber nur bei grosser Parade an seinem blauen Frack trug; er wusste sich einige farbige Papierstreifchen zu verschaffen und bestimmte sie für die flinkesten und gewandtesten Knaben zu Ordensbändern.

Wann nun die Bauern abends unter der Linde ihre Pfeife rauchten, so sahen sie dem Spiel der Kinder mit Vergnügen zu. Sogar der Herr Pfarrer schaute manchmal eine halbe Stunde zum Fenster heraus und bezeigte seine Zufriedenheit mit diesen Spielen; denn er hatte es gern, wenn die Kinder fröhlich waren und sich öffentlich und gemeinschaftlich belustigten. Auch viele Bäuerinnen kamen herbei und hatten an der Geschicklichkeit ihrer Söhnchen grosse Freude. Sie gaben indessen gern zu, dass Ludwig sich vor allen übrigen Knaben auszeichne. Die Bauernknaben waren bräunlich von Angesicht und stark von Gliedern; Ludwig aber sah aus wie Milch und Blut und war so zart wie ein Prinz. Er wusste alles sehr gut anzuordnen und gab seine Befehle mit so grossem Ernst, als wäre dieses Spiel die wichtigste Angelegenheit.

Johanna sagte einmal besorgt zu ihm: »Möchtest du denn wirklich einmal Soldat werden?« – »Oh ja!« sagte Ludwig freudig: »Warum denn nicht?« – »Aber da könntest du ja um das Leben kommen!« sagte sie. »Das weiss ich wohl«, sagte Ludwig; »allein ich habe neulich gelesen und glaube es auch: 'Es ist schön und rühmlich, für das Vaterland zu sterben!'«

Siebentes Kapitel.

Grosser Kummer, Hilfe und frommer Dank.

Der gute Pächter Lorenz und seine treffliche Ehegattin Johanna brachten den Sommer bei ihren mancherlei ländlichen Beschäftigungen sehr vergnügt zu. Ihre Kinder, auch Ludwig, halfen, soviel es ihre Kräfte erlaubten, bei der Arbeit und machten ihnen viele Freude. Allein die Ernte fiel nicht so gut aus, als man erwartet hatte. Lorenz hatte überdies das Unglück, ein Pferd zu verlieren, und er musste, da die Feldarbeit dringend war, sogleich ein anderes kaufen, das ihm vieles Geld kostete. Indes nahte der Tag heran, an dem er das Pachtgeld erlegen sollte; er wusste aber die vollständige Summe nicht aufzubringen. Er fragte bei diesem und jenem wohlhabenden Bauern bescheiden und bittweise an, ob er ihm das fehlende Geld nicht vorstrecken wolle. Allein diejenigen, die ihm hätten helfen können, wollten nicht; und die ihm gern helfen wollten, konnten nicht. Lorenz und Johanna waren sehr bestürzt; denn in dem Pachtbrief stand, wenn die betreffende Summe nicht jedesmal an dem bestimmten Tag voll und rund in der herrschaftlichen Kanzlei zu Waldenberg erlegt werde, so habe der Pachtherr sich auf diesen Fall das Recht vorbehalten, den Pacht aufzukünden, und der Pächter müsse dann auf der Stelle abziehen. Als der gefürchtete Tag anbrach, zählte Lorenz noch einmal alles Geld, das er hatte, zusammen. Allein es fehlten daran noch zweiundzwanzig Gulden. »Ach!« sagte Lorenz bekümmert. »Der Herr Verwalter wird freilich sehr unzufrieden sein. Allein ich hoffe, er werde doch wohl einsehen, dass es bei der geringen Ernte und dem Unglücksfall, den wir mit dem Pferd gehabt haben, mir unmöglich war, die ganze Summe herauszuschlagen; er wird Nachsicht mit uns haben und uns und unsere Kinder nicht verstossen.«

»Gott geb' es!« sagte Johanna mit weinenden Augen. »Ich werde indes aus meinem bekümmerten Mutterherzen unausgesetzt zu Gott flehen, er wolle unsere armen Kinder, die sonst keine Heimat haben, nicht aus diesem Hause vertreiben lassen.«

»Tu das«, sagte Lorenz wehmütig; »ich will es auch tun. Auf dem ganzen Weg bis in die Kanzlei werde ich unausgesetzt zu Gott flehen.« Er blickte schmerzlich zum Himmel und ging betrübt zur Tür hinaus.

Der Verwalter war ein strenger Mann, der wenig Worte machte. Er antwortete gar nicht auf Lorenzens Bitten und Vorstellungen. Er zählte das Geld, strich es ein, schrieb eine Quittung über den richtigen Empfang des erhaltenen Geldes, jedoch mit der Bemerkung, wieviel noch daran fehle, und sagte dann: »Ihr wisst, wie der Pachtbrief lautet. Wenn nicht heute noch vor Sonnenuntergang die zweiundzwanzig Gulden bei Pfennig und Heller hier auf dem Tisch liegen, so habt Ihr aufgehört, Pächter zu sein; Ihr müsset morgen das Haus räumen und Euren Stab weiter setzen. Von Eurer Hauseinrichtung oder Eurem Vieh werde ich soviel zurückbehalten, als die fehlende Summe beträgt. Übrigens hat sich schon ein anderer Pächter gemeldet, der mehr Pachtgeld als Ihr zu bezahlen verspricht.« Er langte den Pachtbrief aus dem Aktenkasten hervor, schlug ihn auseinander und sagte: »Da leset! Den Vertrag habt Ihr unterschrieben. Da steht Euer Name. Daran ist nichts mehr zu ändern. Ihr wisst hiermit meine Meinung und könnt gehen.«

Lorenz ging mit schwerem Herzen durch den Wald zurück, seiner Wohnung zu. Er dachte beständig daran, was für einen Jammer sein Weib und seine Kinder erheben würden; die Tränen drangen ihm in die Augen, und er seufzte öfter so mächtig, als wollte er die Seele aushauchen. Der Weg führte nicht weit von jenem Eichbaum vorbei, unter dem er den kleinen Ludwig gefunden hatte. Er begab sich auf dem schmalen Seitenweg dahin, kniete unter dem Baum nieder und betete mit Inbrunst, mit heissen Tränen und fest gefalteten Händen: »Lieber Gott! Hier auf dieser Stelle kniete Ludwig als ein armes verlassenes Kind und flehte mit erhobenen Händchen zu dir – und du hast sein Flehen erhört! Nun knie ich hier und flehe in meiner Not ebenso zu dir. Ach, lass mein Flehen zu dir kommen! Erbarme dich meiner – meines Weibes – meiner Kinder – auch des guten Ludwigs! – Ach du lieber Gott, du sagtest ja selbst: Seid barmherzig, so will ich auch gegen euch barmherzig sein! Nun, ich habe mich des fremden Kindes erbarmt; erbarme du dich nun auch meiner und meiner Kinder! Oh du guter Gott, lass mein Flehen nicht unerhört.«

Lorenz stand sehr getrost von seinem Gebet auf. Er war kaum einige hundert Schritte weit gegangen, so kam ihm seine Johanna eilig entgegen. Lorenz war darüber nicht wenig befremdet und rief: »Ist etwas Unangenehmes vorgefallen, dass du so eilig hierherkommst?«

Allein sie rief: »Nichts als Gutes!« und lächelte dabei so heiter wie ein Engel.

»Nicht wahr«, sagte sie, »der Verwalter will nicht warten?«

»Nein«, sprach Lorenz bekümmert, »das will er nicht!«

»Das dachte ich wohl!« sagte Johanna mit freudigem Angesicht.

Lorenz sprach: »Und das kannst du mit lachendem Mund sagen?«

»Jetzt wohl«, sagte Johanna; »denn Gott hat uns geholfen. Mein Herz ist so voll Dank und so voll Freude, dass ich laut jubeln und Gott vor aller Welt danken möchte! – Ich konnte nicht solange warten, bis du nach Hause kämest; ich musste dir entgegeneilen, um dir das grosse Glück, das uns zuteil ward, sogleich zu verkünden. Gott hat uns wunderbar gerettet! Da sieh einmal!« Sie öffnete die Hand und zeigte ihm zwanzig glänzende Goldstücke, alle fast neu geprägt und mit scharfem Rand.

Lorenz traute kaum seinen Augen. »Um Gottes Willen«; rief er, »wie kommst du zu so vielem Gold?«

Johanna sagte: »Du könntest Tage, ja wohl jahrelang raten und würdest es doch nicht erraten. Ich will es dir also nur sogleich ausführlich erzählen! Als du fort warst, wurde mir das Herz recht schwer, ach so schwer, dass ich es gar nicht aussprechen kann. Die grösseren Kinder waren mit Ludwig in der christlichen Lehre; die kleineren spielten draussen auf dem grünen Rasen im Baumgarten; das Kleinste lag in der Wiege und schlief recht sanft und süss. Ich suchte die Kleidungssstücke der Kinder zusammen, die des Ausbesserns bedurften, und setzte mich an den Tisch in der untern Stube. Ich nähte sehr emsig und betete dabei beständig, recht aus dem Innersten meines Herzens. Ich blickte dabei bald durch das Fenster auf die Kinder im Garten, bald auf das Kind neben mir in der Wiege. 'Ach Gott', seufzte ich öfter, 'erbarme dich dieser armen Kinder, die von dem Kummer, der mich drückt, und von dem Jammer, der ihnen droht, noch nichts wissen!' Manche Mutterzähre fiel auf das Kinderkleidchen, an dem ich eben nähte. Ich kam nun an Ludwigs blauen Frack, der auch anfängt, hier und da etwas schadhaft zu werden. Ich nähte eine Naht zu, die aufgegangen war, und sah nun noch nach, ob nicht ein oder der andere Knopf beschädigt sei oder gar fehle. Da bemerkte ich, dass an einem der mit blauem Tuch überzogenen Knöpfe der Rand etwas aufgeritzt sei. Aus der kleinen Ritze schimmerte etwas hell wie Gold hervor. Ich machte die Öffnung mit dem Nagel des Fingers etwas grösser – und ein Goldstück kam zum Vorschein. Du kannst dir denken, wie ich erstaunte. 'Lieber Himmel', dachte ich, 'das ist ja Gold! Wie kam dieses da hinein?' Ich sann nach; ich konnte mir nichts anderes denken, als man müsse es da eingenäht haben, um es zu verbergen. Die Mutter des guten Ludwigs, dachte ich, musste sich flüchten. Die Geflüchteten sind vielen Gefahren ausgesetzt. Sie suchte daher das Geld auf diese Art vor räuberischen Händen zu verwahren. Sicher enthalten die übrigen Knöpfe auch noch Gold. Ich trennte einen Knopf nach dem andern ab, öffnet den Überzug und fand in jedem ein Goldstück. So kam ich zu diesen zwanzig Dukaten; so hat Gott uns aus der Not geholfen. Du kannst nun den Herrn Verwalter bezahlen, und wir dürfen mit unsern lieben Kindern wieder in unserer Wohnung bleiben!«

Lorenz fragte bedenklich: »Ich weiss nicht, ob uns mit dem Geld geholfen ist! Es ist ja nicht unser; es gehört Ludwigs Mutter. Vor fremdem Gut bewahr mich Gott!«

»Mir fiel das auch ein«, sagte Johanna, »und ich überlegte die Sache. Höre einmal, was ich davon denke. Da Ludwigs Mutter nicht so arm ist, als wir dachten, ja wohl reicher, als wir es sind, so ist sie gewiss bereit, uns für ihr Kind ein billiges Kostgeld zu bezahlen. Wir können es auch mit allem Recht fordern. Und da denke ich, ein Gulden für die gänzliche Verpflegung die Woche hindurch sollte nicht zuviel sein. Überdies haben wir auf Ludwig sonst noch manches verwendet. Er kam zu uns, wie er stand und ging, und hatte nicht einmal einen Hut; du kauftest ihm einen hübschen Hut, ich versah ihn mit Weisszeug und kleidete ihn in selbstgesponnene, dichtgewebte blaue Leinwand, damit er seinen schönen Frack für die Sonntage sparen könne; wir liessen auf seine alten Schuhe neue Sohlen machen und schafften ihm ganz neue Schuhe an. So haben wir ihn vom Kopf bis zu den Füssen gekleidet. Kost und Kleidung beträgt bis diese Stunde schon bei weitem mehr als zweiundzwanzig Gulden. Nimm du daher diese vier Dukaten hier, die gerade zweiundzwanzig Gulden ausmachen, getrost, und bringe sie dem Verwalter.«

»Wahrhaftig!« rief Lorenz hocherfreut. »Du hast recht. Wir können die vier Dukaten mit gutem Gewissen für uns verwenden. Gott hat uns aus unserer grossen Not errettet. Ihm sei Lob und Dank!« Er schwieg voll frommer, dankbarer Rührung. »Aber«, fing er über eine Weile an, »der Verwalter wird sich wundern, wie ich so schnell zu dem Geld gekommen bin. Was soll ich ihm sagen, wenn er mich darum fragt?«

»Ei«, sprach Johanna, »sag nur, deine Hausfrau habe dir das Gold gegeben; es sei ein heimliches Geld, von dem du bis zu dem Augenblick, da ich es dir gab, nichts gewusst habest. Aber nun geh; ich will auch, so schnell ich kann, zu unsern Kindern nach Hause eilen!«

»Komm erst noch ein wenig mit mir!« sagte Lorenz. »Ich muss dir noch den Eichbaum zeigen, unter dem ich den guten Ludwig gefunden habe.« Er ging voran in das Gebüsch, und sie folgte ihm. »Sieh, Johanna«, sagte Lorenz, als sie auf dem kleinen, grünen Platz standen, »dies ist der Baum, unter dem Ludwig so herzlich zu Gott gefleht hat und von ihm erhört wurde. Unter ebendiesem Baum flehte auch ich eben jetzt in meiner betrübten Lage zu Gott – und auch mein Gebet wurde erhört. Ach, ich dachte nicht, ja, ich hätte es kaum für möglich gehalten, das ich dem barmherzigen Gott noch in ebendieser Stunde unter ebendieser Eiche für seine Hilfe in der Not würde danken können.«

Lorenz sank mit erhobenen Händen und zum Himmel gerichteten Blicken auf die Knie und rief: »Liebster himmlischer Vater! Ebenso innig, als ich vorhin zu dir betete, möchte ich dir jetzt danken. Du hast mein Gebet nicht verschmäht; oh lass dir nun auch meinen Dank nicht missfallen!«

Johanna kniete neben ihren Mann hin und stimmte in seinen Dank mit ein. Beide freuten sich unaussprechlich, dass der grosse, allmächtige Gott so liebreich für uns arme Menschen sorge, unser gedenke und uns aus unsern Nöten errette; ihre Liebe, ihr Vertrauen zu Gott, ihre kindliche Dankbarkeit gegen ihn erfüllte ihr Herz mit einer höheren, reineren Freude, als alles Gold der Erde ihnen hätte verschaffen können.

Johanna eilte nach Hause; Lorenz machte sich wieder auf den Weg nach Waldenberg. Es ward ziemlich spät, bis er in sein kleines Tal zurückkam. Der Vollmond stand bereits hoch am Himmel, beleuchtete das freundliche Dörflein und spiegelte sich in dem stillen See. Johanna sass auf der Bank vor ihrer Haustür und wartete auf ihren lieben Mann. Sie hatte die Kinder schon längst zu Bett gebracht und das Nachtessen auf die Glut gestellt. Beide gingen nun in die Stube, assen zusammen zur Nacht und redeten von den Begebenheiten des verflossenen Tages.

Lorenz fragte unter anderm: »Weiss Ludwig davon, dass in seinem Frack Geld eingenäht war?«

»Nein«, antwortete Johanna. »Ich habe ihn darüber ausgeforscht. 'Du, Ludwig', sagte ich zu ihm, 'die Knöpfe an deinem Frack sind bereits sehr abgenützt. Ich habe sie herausgenommen und werde sie wegwerfen. Anstatt der tuchenen Knöpfe will ich metallene hineinsetzen, die dauerhafter sind und wie Gold glänzen.' Darüber freute er sich sehr und hatte nichts dagegen einzuwenden. Wenn er von dem Gold gewusst hätte, so hätte er gewiss gesagt, ich solle zuvor das Gold herausnehmen, ehe ich das Tuch wegwerfe.«

»Nun wohl«, sprach Lorenz; »da seine Mutter nicht für ratsam hielt, ihm etwas von dem Gold zu sagen, so sagen wir ihm auch nichts davon.«

»So meine ich auch«, sagte Johanna. »Obwohl er indes nichts von dem Gold weiss, so soll es doch nur allein für ihn verwendet werden. Ich will schon so gut damit haushalten als wie mit einem anvertrauten Gut, von dem ich einst Rechenschaft ablegen muss. Ich will alles, was ich davon ausgebe, fleissig aufschreiben und gleichsam die Vormünderin des Knaben sein. – Ich war bisher oft recht bekümmert, woher wir Geld nehmen wollen, ihn zu kleiden. Der lebhafte Knabe ist sogleich wieder mit einem Paar Schuhe fertig. Nun hat Gott auch dafür gesorgt. Die Mutter des guten Ludwig hat ihm, ohne diese Absicht zu haben, soviel, ja mehr Geld, als er jetzt nötig hat, mitgegeben, indem sie das Gold in sein Kleid einnähte.«

»Das Gold«, sagte Lorenz, »war ein heimlicher Schatz, den Ludwig, ohne es zu wissen, in unser Haus brachte, und der nun auch uns zum Segen gereicht. Ohne die Beihilfe dieses Geldes hätten wir das Pachtgeld nicht bezahlen können.«

»Sicher nicht«, sagte Johanna. »Was wir für den Knaben an barem Geld ausgelegt haben, ist wenig; was er bei uns verzehrte, achteten wir in der Haushaltung kaum. Wir hätten, wenn wir das Kind nicht zu uns genommen hätten, keine zehn, viel weniger zweiundzwanzig Gulden erspart.«

»So ist es, meine liebste Johanna«, sagte Lorenz. »Wenn wir das Kind nicht in unser Haus aufgenommen hätten, so müssten wir jetzt dieses Haus mit unsern Kindern verlassen. Indem wir diesem Kind eine Wohltat erzeigten, hat Gott uns und unseren Kindern durch eben dieses Kind eine noch viel grössere Wohltat erwiesen. Oh lass uns Gott loben und preisen, der alles so weislich fügt und auch das kleinste Gute, das wir tun, hier oder dort reichlich belohnt.«

Lorenz blickte gerührt zum Himmel. Johanna faltete die Hände. Beide schwiegen. Es war eine andächtige Stille. Der Mond schien durch die grünen Zweige der Bäume am Haus hell und freundlich ins offene Fenster; die milde Abendluft wehte süsse Wohlgerüche der Lindenblüte herein. Das fromme Dankgebet der guten Leute aber war vor Gott ein angenehmeres Abendopfer als der köstlichste Weihrauch.

Achtes Kapitel.

Die fremden Krieger.

Indes hatte der Herbst, der sich sehr heiter und freundlich eingestellt, die Wälder um Ellersee bunt gefärbt, und noch immer hatte kein Soldat das freundliche Dörflein betreten. Man merkte es nur an den höheren Abgaben, dass es Krieg sei. Allein eines Abends widerhallte das kleine Tal plötzlich von kriegerischen Trommeln. Ein französisches Regiment zog durch das Dorf, und eine Kompagnie davon blieb da, um auf unbestimmte Zeit hier zu verweilen. Johanna war doch etwas ängstlich, die französischen Soldaten möchten dem guten Ludwig als dem Kind ausgewanderter Eltern feindselig begegnen, und es auch ihr und ihrem Mann entgelten lassen, dass sie ihn in ihr Haus aufgenommen hatten. Es ward dem Lorenz angesagt, auch er werde einen Mann in das Quartier bekommen, er solle sich unter die Linde des Dorfes begeben, um ihn abzuholen.

Ludwig wollte geschwind seinen Sonntagsfrack anziehen, um darin dem erwarteten Gast sein Kompliment zu machen. Allein Johanna sagte: »Behalte nur deine Werktagskleider an; es wird gut sein, wenn du um nichts besser gekleidet erscheinst als Konrad. Hüte dich auch, Französisch zu sprechen, und lass beileibe kein französisches Wörtlein von dir hören. Unsere fremden Gäste müssen es nicht sogleich wissen, dass du ein kleiner Landsmann von ihnen bist. Wir müssen erst sehen, wie sie sich gegen uns betragen.«

Als der Soldat, ein Mann von ernstem kriegerischem Aussehen, in die reinliche Stube trat und lauter freundliche Gesichter erblickte, schien er sehr zufrieden. Er setzte sich an den Tisch und stopfte seine Pfeife. Ludwig brachte eilig Licht, den Tabak damit anzuzünden. Konrad brachte einen Krug gutes Bier und ein sehr reines, helles Trinkglas dazu. Liese deckte indes den Tisch. Sobald der Mann seine Pfeife ausgeraucht hatte und sie ausklopfte, trug Liese die Suppe auf. Ludwig brachte hierauf ein paar gebratene Tauben, und Konrad folgte ihm mit dem Salat. Der ernste Krieger lächelte freundlich und nickte stillschweigend mit dem Kopf; es gefiel ihm sehr, dass die Kinder ihn so emsig bedienten. Auch liess er es sich wohl schmecken. Ludwig setzte sich indes in die Ecke der Stube und verwandte kein Auge von dem Mann.

Nach dem Essen kam noch ein anderer Soldat herein, seinen Kameraden zu besuchen, und fing ein lebhaftes Gespräch mit ihm an. Als Ludwig nach so langer Zeit seine Muttersprache wieder reden hörte, war es ihm, als höre er eine himmlische Musik. Er sprang auf und begrüsste die zwei Soldaten in französischer Sprache aufs freundlichste. Die Soldaten schauten den zarten, lieblichen Knaben in Bauernkleidern, der so rein und fertig Französisch sprach, verwundert an. Sie zweifelten keinen Augenblick, dass er ein geborener Franzose sei, und fragten ihn, wie er hierher geraten. Ludwig erzählte, wie er mit seiner Mutter eine Reise gemacht, wie er von dem bösen Kuckuck in den Wald gelockt wurde und sich dort verirrte, wie Lorenz und Johanna ihn so gütig und liebevoll aufgenommen und wie er seit dieser Zeit nichts mehr von seiner Mutter gehört habe. Beide Soldaten bezeigten ihm ihre herzlichste Teilnahme und wurden gegen Lorenz und Johanna ganz ungemein freundlich. Sie drückten Lorenz und Johanna kräftig die Hand und ersuchten Ludwig, auch in ihrem Namen und in deutscher Sprache diesen seinen Pflegeeltern zu danken, dass sie ihm so viele Liebe erwiesen.

Am andern Morgen wurde es sogleich unter allen Soldaten im Dorf bekannt, dass sich ein kleiner Knabe aus Frankreich in dem Dorf aufhalte. Viele Soldaten kamen in das Haus, ihn zu sehen, und hatten eine grosse Freude an ihm. Der Offizier aber, dem Ludwig als ein sehr liebenswürdiger Knabe geschildert wurde, liess ihn zum Mittagessen einladen. Ludwig eilte sogleich in seine Kammer hinauf und kam bald wieder festlich gekleidet herab. Er hatte seinen dunkelblauen Frack angezogen; seine Weste und langen Beinkleider waren so weiss wie Schnee. Johanna brachte sein schönes, schwarzlockiges Haar in Ordnung. So schön geputzt und den Hut in der Hand, trat er mit seinem gewöhnlichen Anstand in das Zimmer des Offiziers, verneigte sich und sagte, er rechne es sich zur Ehre, mit ihm speisen zu dürfen. Der Offizier fand grosses Wohlgefallen an dem artigen Knaben und unterhielt sich während der Mahlzeit mit ihm sehr gut; denn Ludwig war ganz ungemein fröhlich und gesprächig.

Der Offizier mit seinen Soldaten zog wieder ab; von Zeit zu Zeit kamen wieder andere. Der kleine Ludwig ward von nun an in dem Dorf eine Person von grosser Wichtigkeit. In vielen Häusern entstand zwischen den fremden Kriegern und den Hauseinwohnern Streit – bloss weil die einen die Sprache der andern nicht verstanden. Ludwig wurde gerufen, und half oft mit einigen Worten aus aller Verlegenheit. Oft stand der zarte Knabe unter der Linde des Dorfes zwischen den ergrauten Gemeindemännern und bärtigen Kriegern, die ohne seine Vermittlung einander nicht verstanden hätten, und beide Teile bezeigten ihm ihren Dank. Mancher Trupp kam mit trotzigen Mienen und drohenden Blicken in das Dorf! Sobald aber Ludwig sie in ihrer Muttersprache freundlich grüsste, erheiterten sich plötzlich alle Gesichter, und manches Unheil, das sie sonst vielleicht angerichtet hätten, unterblieb.

Die Bauern erkannten es auch, welche grosse Dienste ihnen Ludwig leiste. »Wenn Ludwig nicht wäre«, sagten sie öfter, »so wäre es uns schon manchmal übel gegangen.« Der Ortsvorstand machte daher den Vorschlag, weil Lorenz schon einen kleinen Franzosen, der dem ganzen Dorf sehr nützlich ist, im Quartier habe, so solle er künftig von anderen Einquartierungen frei sein. Nach einigem Widerspruch von etlichen Wenigen nahm die Mehrzahl diesen Vorschlag an, und Lorenz, dem es doch etwas schwerfiel, seine zahlreichen Kinder zu ernähren, wurde dadurch sehr erleichtert.

Neuntes Kapitel.

Der Verwundete.

Nunmehr wurden die Begebenheiten immer ernsthafter. Die Franzosen hatten die waldige Gegend, worin das Dorf lag, besetzt; die Deutschen suchten sie daraus zu vertreiben. Nicht weit vom Dorf über dem See, in einer sumpfigen, mit zerstreutem Gebüsch bedeckten Gegend, fiel ein hitziges Gefecht vor. Die Einwohner von Ellersee standen in Scharen auf einer kleinen Anhöhe neben dem Dorf und schauten zu. Man sah hier das Feuer und hörte den Knall von jedem Schuss; von den Kämpfenden konnte man jedoch wegen des Rauches und der Entfernung wenig unterscheiden. Ludwig war einer der ersten, die sich auf dem Hügel eingefunden hatten. Mit begierigen Blicken und klopfendem Herzen sah er dem Kampf zu; es war ihm, als ginge jeder Schuss ihm durch das Herz, weil er dachte, dass jeder einem Menschen das Leben kosten könne. Der gute Knabe war sehr blass und stand unbeweglich da – und wie stumm. Nur bezeigte er seine Verwunderung, dass man zuerst das Feuer vor dem Schuss auffahren sehe, den Knall aber erst eine gute Weile nachher vernehme.

Das Gefecht währte bis an den späten Abend. Als es bereits dämmerte und das Gewehrfeuer sich immer weiter entfernte, kam aus jener Gegend her ein Bauersmann und erzählte mit bleichem Angesicht und bebender Stimme, was er von dem Kampf wusste. »Mir wäre es bald übel gegangen«, sagte er. »Ich wanderte ruhig meines Weges hin; da fing es auf einmal an, zu beiden Seiten des Weges zu krachen. Ich war gerade zwischen die zwei Feuer der streitenden Parteien geraten. Die Kugeln pfiffen rechts und links an mir vorbei. Voll Angst und Schrecken kroch ich in einen Busch und blieb da versteckt, bis das entsetzliche Schiessen sich weit genug hinweg gezogen hatte. Auf dem Weg hierher«, fügte er noch bei, »sah ich einen verwundeten französischen Offizier liegen. Ich hätte ihm gerne Hilfe geleistet; allein ich war froh, dass ich mit dem Leben davongekommen, eilte weiter, so schnell ich konnte.«

Da Ludwig dies hörte, bat er die Bauern flehentlich, doch hinauszugehen und den Verwundeten hereinzubringen. Einige Bauern schienen dazu geneigt. Allein einer der Männer, jener Krall, der sich schon früherhin gegen Ludwig und Lorenz so feindselig gezeigt hatte, rief: »Nein, das ist nicht zu wagen! Mich dünkt, das Schiessen rücke wieder näher. Hört ihr nicht, wie es kracht und donnert und im Wald widerhallt? Wie leicht könnte da einen von euch eine Kugel treffen! Wann der Kampf geendet ist, so werden diejenigen, die das Schlachtfeld behaupten, schon für die Verwundeten sorgen; uns haben sie dazu nicht nötig.«

Auf diese Rede wagte es keiner aus den Bauern, dem verwundeten Offizier zu Hilfe zu kommen. Als das Schiessen nachliess, zerstreuten sich die Bauern nach und nach und gingen nach Hause. Ludwig blieb noch und horchte ängstlich nach der Gegend hin. Das Gewehrfeuer hörte auf, und es herrschte eine schauerliche Stille. Allein Ludwig vernahm von Zeit zu Zeit eine Stimme, die um Hilfe zu rufen schien. Der gute Knabe hatte gegen alle Menschen das wohlwollendste Herz, besonders aber gegen seine Landsleute. Er konnte sich nicht mehr halten. Er sprang den Hügel hinab, lief längs dem See hin und eilte der Stimme des Rufenden zu. Unter einem Weidenbaum fand er den französischen Offizier. Er lag auf dem sumpfigen Boden, war noch sehr jung, totenblass, aber von sehr edler Gesichtsbildung. Eine Kugel hatte ihn am rechten Fuss schwer verwundet. Weder Freund noch Feind konnte sich in der Hitze des Gefechtes um ihn annehmen. Er hatte die Wunde, um das Verbluten zu verhindern, mit seinem Taschentuch verbunden und hatte versucht, indem er sich auf eine Flinte stützte, die während des Gefechtes verlorengegangen, das Dorf zu erreichen. Allein er vermochte nicht sich weiter fortzuschleppen und war unter dem Weidenbaum entkräftet liegengeblieben. Seine Wunde schmerzte ihn heftig; der leichte Verband konnte das Blut nicht ganz stillen, und er litt brennenden Durst. Die Abendluft wehte kalt. Er hatte sich schon darein ergeben, hier auf dem feuchten Boden in der kalten Nacht umzukommen, und hatte eben seine Seele Gott empfohlen. Da erblickte er den holden Knaben in ländlichen Kleidern, der ihn zu seinem nicht geringen Erstaunen in französischer Sprache anredete, auf das freundlichste grüsste und voll des herzlichsten Mitleids versprach, ihm Hilfe zu verschaffen. Dem jungen Offizier war es nicht anders, als sähe er einen Engel des Himmels. Er klagte ihm seine Not. Ludwig sagte, er wolle ihm sogleich zu trinken bringen und Leute zu Hilfe rufen. Er lief der Mühle zu, wo er einige hundert Schritte näher hatte als zu dem Dorf. Er bat den Müller, den verwundeten Offizier in die Mühle hereintragen zu lassen, weil er sonst draussen umkommen würde.

Der Müller sagte mit bedenklicher Miene: »Das wäre höchst gefährlich! Das Treffen ist zwar vorbei, allein vor wenigen Augenblicken hörte ich doch noch einigemale schiessen, und mich deuchte, ziemlich nahe. Ich getraue mir nicht, mich und meine Leute der Gefahr auszusetzen, erschossen zu werden.«

Allein Ludwig fiel dem Müller zu Füssen und flehte mit aufgehobenen Händen, um der Barmherzigkeit Gottes willen sich des Unglücklichen zu erbarmen. »Denkt an den barmherzigen Samariter«, sagte er unter anderem, »und geht hin und tut desgleichen.«

Der Müller wurde gerührt und befahl seinem Knecht, eine Tragbahre zu nehmen und mit ihm zu kommen. Ludwig eilte mit einem Krug Wasser voran, reichte dem Offizier, der vor Durst fast verschmachtete, zu trinken, und dieser trank mehrmals in starken Zügen. »Ach, wie das erquickt!« sagte er; »Gott, der den Trunk Wasser, dem Durstigen gereicht, nicht unbelohnt lässt, wolle dich dafür belohnen, du guter Knabe!«

Die zwei Männer, der Müller und sein Knecht, legten nun den Verwundeten sanft auf die Tragbahre. Ludwig war mit einem Mal verschwunden. Allein kaum hatten die Männer den Offizier in der Mühle auf ein Bett gebracht, wobei die Müllerin mit einem Kerzenlicht leuchtete, so trat Ludwig mit dem Wundarzt herein, den er indessen aus dem Dorf herbeigeholt hatte. Der Wundarzt verband die Wunde, die er allerdings sehr bedeutend fand, versicherte aber, mit der Hilfe Gottes hoffe er, sie glücklich zu heilen. Ludwig übersetzte das in die französische Sprache, und der Verwundete ward sehr getröstet.

Die Müllerin brachte ihm noch etwas zu essen, und bald darauf schlief er ein. Ludwig sorgte noch dafür, dass ein Nachtlicht angezündet wurde, und begab sich dann sehr vergnügt nach Hause. Das Bewusstsein, eine so edle Handlung vollbracht und einem Menschen das Leben gerettet zu haben, erfüllte sein Herz mit Seligkeit.

Am andern Morgen, bevor die Sonne aufging, war Ludwig schon wieder da und fragte den Kranken, wie er geschlafen habe. Bald darauf kam der Wundarzt und fand den Zustand des Kranken beruhigend. Er sagte unter anderem, zu dem Verband sei viel Scharpie nötig. Ludwig lief sogleich zu seiner Pflegemutter, Scharpie zu bestellen. Sie wusste nicht recht, was das sei. »Das weiss ich wohl, was das ist« ,sagte Ludwig; »es ist gezupfte Leinwand. Meine Mutter und ich haben schon viele gezupft. Ich will euch einmal zeigen, wie das gemacht wird.« Die Mutter und alle Kinder bereiteten nach Ludwigs Anleitung und Beispiel um die Wette Scharpie. Ludwig brachte dem Chirurg bald einen ziemlichen Pack. Auch überreichte er den Offizier ein frisches Taschentuch, indem er sagte: »Das Ihrige ist ja voll Blut und für jetzt nicht mehr zu gebrauchen.«

Der Offizier ward von der Aufmerksamkeit und Dienstfertigkeit des guten Knaben sehr gerührt. Die Tränen kamen ihm in die Augen. »Sieh«, sagte er, »der erste Gebrauch, den ich von dem Tuch mache, sei dieser, dass ich mir die Tränen des Dankes damit abtrockne.«

Ludwig besuchte den jungen Offizier, der sonst keinen Menschen hatte, mit dem er reden konnte, täglich mehrmals und sass manche Stunde an seinem Bett. Er erzählte von seinem Vater, dessen er sich zwar nur mehr dunkel erinnerte, ihn aber aus den Erzählungen seiner Mutter kannte; er sprach sehr oft von seiner Mutter, von ihrer Liebe zu ihm und von ihrer traurigen Flucht; er erwähnte auch seines strafbaren Leichtsinnes und seiner Verirrung im Wald. »Ach«, sagte er voll des innigsten Schmerzes, »welch einen grossen Kummer habe ich meiner innigst geliebten Mutter verursacht! Ich kann ihrer Muttertränen, die sie über meinen Verlust weinte, nicht gedenken, ohne, wie Sie sehen, selbst zu weinen.«

Der Offizier, fast noch ein Jüngling, gedachte der Tränen, die seine Mutter beim Abschied von ihm vergossen hatte und des tiefen Schmerzes seines Vaters. Er hatte, wiewohl er der Sohn reicher Eltern war, Soldat werden müssen, jedoch bei seiner Bildung und seinem Mut sich vom Gemeinen bald zum Offizier emporgeschwungen. »Liebster Ludwig«, sagte er, »es ist wunderbar, dass wir beide, nachdem wir von unsern Eltern so weit entfernt worden, im fremden Land so zusammentreffen mussten! – Du, lieber Knabe, hast mir das Leben gerettet und erzeigest mir täglich grosse Gefälligkeiten und Wohltaten. Ich bin jetzt arm und habe keinen Heller mehr in meinem Vermögen. All mein Taschengeld und meine Uhr sind mir als Beute abgenommen worden. Allein ich hoffe, es werde noch die Zeit kommen, da ich dir deine Liebe vergelten und etwas für dich und die Deinigen tun kann. Gott, der dich schon früher – zu meiner Rettung! – in dieses Dorf geführt hat, liess vielleicht auch mich hierherkommen, dir in der Folge nützlich zu werden.«

Mit der Wunde des jungen Offiziers, der Lebrun hiess, ging es täglich besser; sie heilte sehr schön, wiewohl etwas langsam. Das grösste Leiden war es ihm, dass er sich so ganz ohne Beschäftigung sah. So angenehm er sich manche Stunde mit dem kleinen Ludwig unterhielt, so hatte er doch oft Langeweile. Da brachte ihm Ludwig einige französische Bücher, die er von dem Herrn Pfarrer entlehnt hatte. Obwohl die Bücher ernsten Inhaltes und mehr zur Belehrung als Unterhaltung geschrieben waren, so las Lebrun sie dennoch mit grossem Vergnügen. Er bezeigte öfter sein Erstaunen, dass diese Bücher, von denen er bisher nicht die beste Meinung hatte und sie gering achtete, so grosse Wahrheiten in einer so edlen, schönen Sprache enthielten. »Diese Bücher«, sagte er in der Folge öfters, »haben vieles zu der Bildung meines Verstandes und Herzens beigetragen. Ich sehe es als eine eigene Fügung Gottes an, dass er mich aus dem Getümmel der Welt und dem Tumult des Krieges herausriss, mich in diese einsame Kammer versetzte und diese lehrreichen Schriften in meine Hand kommen liess. Ich lernte dadurch Gott und mich selbst mehr kennen und ward ein besserer Mensch. In der Tat, Gott weiss alles sehr gut zu fügen.«

Indessen drangen die französischen Kriegsheere wieder vorwärts. Viele Offiziere und Soldaten kamen durch Ellersee. Sie hatten eine unbeschreibliche Freude, den trefflichen Lieutenant Lebrun, den sie sehr schätzten und liebten, aber für tot hielten, wiederzusehen. Sie überhäuften Ludwig mit Lobpreisungen. Lebrun, der so weit hergestellt war, dass er an einem Stab gehen konnte, wurde eingeladen, sich in eine etwas entfernte Stadt zu begeben, wo er besser konnte verpflegt werden. Er nahm, bevor er in den Reisewagen stieg, von Ludwig den zärtlichsten Abschied, dankte ihm für die erwiesenen Wohltaten und sagte noch: »Weine nicht, lieber Ludwig! Wir nehmen nicht auf immer Abschied; wir sehen uns wieder.«

Ein Hauptmann mit einer Schar Soldaten blieb noch einige Zeit in dem Dorf. Als endlich auch dieser abziehen sollte und mit seinen Soldaten unter der grossen Linde des Dorfes zum Abzug bereit stand, berief er die ältesten Männer der Gemeinde. Es kamen aber noch viele andere Leute, Männer, Weiber und Kinder herbei. Der Hauptmann, ein Elsässer, der gut Deutsch sprach, lobte sie sehr, dass sie den kleinen Ludwig so liebreich aufgenommen. »Der gute Knabe«, sagte er, »hat den französischen Kriegern, besonders aber dem verwundeten Offizier, grosse Dienste erwiesen. Indes werdet Ihr auch uns bezeugen müssen, dass wir Euch mit grosser Schonung behandelt, uns mit Wenigem begnügt und Euch alle unnötigen Kosten erspart haben. Ihr wisst, dass Ihr noch eine nicht geringe Summe Geldes an Kriegs-Kontribution zu bezahlen habt. Auf Befehl des Obergenerals, dem Euer freundliches Benehmen gegen Ludwig gemeldet worden, ist Euch diese Summe erlassen, und ich übergebe hiermit dem Ortsvorstand die schriftliche Urkunde, dass wir an Euch keine weitere Forderung mehr zu machen haben. Diese milde Behandlung habt Ihr dem liebenswürdigen Ludwig zu danken!« Er drückte hierauf dem Ortsvorstand, dem Müller, einigen anderen Männern, besonders aber dem Lorenz, mit Tränen in den Augen die Hand – und winkte dann dem Tambour. Die Trommel wirbelte; die Soldaten schwangen die Hüte, stimmten in den Dank des Hauptmanns mit ein und zogen zum Dorf hinaus.

Die Bauern waren von dem Dank des Hauptmanns sehr gerührt und über den Nachlass der grossen Geldsumme hoch erfreut. »Hab ich es nicht gesagt«, rief bald dieser, bald jener, »man solle den Ludwig in unser Dorf aufnehmen?« Diejenigen aber, die davon abgeraten hatten, besonders Krall, schwiegen still und hingen die Köpfe. Der Ortsvorstand sprach: »Es ist gut, dass wir dem guten Rat unsers Herrn Pfarrers gefolgt haben. Er ist doch ein frommer, weiser Mann! Er sagte es uns voraus, Ludwig, wiewohl er ein armer Knabe sei, werde dem ganzen Dorf zum Segen gereichen. Und diese seine Weissagung ist nun in Erfüllung gegangen.«

»Ja, ja!« rief einer der erfreuten Bauern. »So ist es. Es bleibt doch wahr, was wir als Kinder schon in unserm Katechismus gelernt haben: 'Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. '« Und die übrigen Bauern gaben ihm recht.

Zehntes Kapitel.

Eine gerichtliche Anklage.

Nunmehr wurde Waffenstillstand gemacht. Schon seit einigen Wochen hatten sich weder ein feindlicher noch freundlicher Krieger in Ellersee blicken lassen. Alles freute sich auf den Frieden, den man sehr nahe glaubte, und es war den Leuten, als scheine die Sonne heller und freundlicher in das Dorf. Nur über Lorenz und die Seinigen kam eine grosse Trübsal. Er wurde beschuldigt, dem Kirchenbauer, einem der reichsten Bauern im Dorf, eine ansehnliche Summe Geldes entwendet zu haben.

Die Sache war diese: Lorenz hatte in dem Garten dieses Bauers einige Bäume gepfropft, was er sehr gut verstand. Der Garten war von einer niedrigen, etwas baufälligen Mauer aus Ziegelsteinen umgeben. Lorenz hatte die Pfropfreiser und übrigen Gerätschaften auf die Mauer gelegt, weil sonst kein bequemer Platz vorhanden war. Allein an eben der Stelle hatte der Bauer, hinter einem Ziegelstein, der los war und leicht konnte herausgenommen werden, mehrere Goldstücke aus Furcht vor feindlicher Plünderung verborgen. Als nun die fremden Krieger aus dem Dorf abgezogen waren und der Bauer sein Gold wieder hervorlangen wollte, war es zu seinem Entsetzen nicht mehr vorhanden. Sein Verdacht fiel auf Lorenz. Er wusste, dass es dem Lorenz an Geld gefehlt habe, seinen Pacht ganz zu bezahlen; denn Lorenz hatte ihn damals, als er bei ihm die Bäume pfropfte, wiewohl vergebens, gebeten, ihm Geld vorzustrecken. Der bestürzte Bauer forschte heimlich weiter nach und vernahm von dem Gerichtsdiener, Lorenz habe, was ihm an dem Pachtgeld gefehlt, in Gold bezahlt. Der Bauer hielt es nun für ausgemacht, Lorenz habe das vermisste Gold gestohlen. Er ging daher zu dem Verwalter in Waldenberg, der zugleich Gerichtshalter war, und verklagte den Lorenz. Der Verwalter war sehr betroffen. Er hatte die Goldstücke noch, die er von Lorenz bekommen, holte sie, verbarg sie aber in der Hand und fragte den Bauer, von welcher Art und Beschaffenheit die entwendeten Goldstücke gewesen? Sie waren von eben der Sorte. Der Verwalter legte ihm nun die Goldstücke vor. Der Bauer rief höchst erfreut: »Es sind die nämlichen, die mir Lorenz gestohlen hat!« und wollte sogleich zugreifen und sie einstecken. Allein der Verwalter sagte: »So schnell geht es nicht! Ich muss den Lorenz zuvor auch noch hören.«

Lorenz wurde gerufen und verhört, wie er zu dem Geld gekommen sei. Er versicherte, dass die Goldstücke sich in den tuchenen Rockknöpfen Ludwigs vorgefunden hätten; er berief sich auf den Zettel, auf dem seine Ehegattin Johanna sowohl den Fund als was sie davon für Ludwig ausgegeben, getreulich verzeichnet hatte.

Der Verwalter liess nun durch den Gerichtsdiener unverzüglich Johanna vorrufen, mit dem Befehl, den angeblichen Zettel mitzubringen. Johanna kam zitternd und bebend; sie hielt es schon für eine grosse Beschämung, von einem Gerichtsdiener vor Gericht geführt zu werden. Lorenz musste abtreten, und Johanna wurde vernommen; ihre Aussage stimmte genau mit den Aussagen ihres Mannes überein. Das Blatt, das sie mitgebracht, durchsah der Verwalter mit sichtbarem Wohlgefallen. Allein er sagte dennoch: »Das wäre alles gut; wer steht mir aber dafür, dass Ihr den Zettel nicht in der hinterlistigen Absicht geschrieben habt, im Falle der Handel vor Gericht käme, mich zu hintergehen?«

Er liess nun auch noch Ludwig rufen; allein dass Ludwig ganz und gar nichts von den Goldstücken wusste, war für Lorenz und Johanna ein bedenklicher Umstand. Der Verwalter war ein strenger Mann, aber gerecht. Er war deshalb in Verlegenheit und wusste nicht, ob er der Aussage des Lorenz Glauben beimessen oder alles für Lug und Trug und einen abgeredeten Handel ansehen sollte. Er getraute sich nicht, den Lorenz zu verurteilen, aber auch nicht, ihn loszusprechen. Er liess die Sache einstweilen beruhen; allein auf Lorenz und Johanna blieb in den Augen vieler Menschen der schwere Verdacht liegen, sie hätten gestohlen.

Die Begebenheit machte in Ellersee grosses Aufsehen und erregte keinen geringen Lärm. In allen Häusern und wo im Dorf oder Feld ein Mensch dem andern begegnete, wurde davon gesprochen. Die Kinder des guten Lorenz, Konrad und Liese, kamen oft mit weinenden Augen nach Hause und klagten es ihren Eltern, dass sie von anderen Kindern ein Diebsgesindel gescholten worden.

Lorenz und Johanna wurden zwar von manchem ehrlichen Bauersmann im Dorf als verständige und tugendsame, friedliche und arbeitsame Leute geachtet; allein sie hatten doch auch ihre Feinde. Da sie als fremd in das Dorf gekommen, so waren schon deswegen aller Augen auf sie gerichtet und manches Löbliche an ihnen, das den Leuten ungewohnt vorkam, wurde getadelt. Den Bauern war es überhaupt nicht recht, dass ein Fremder das schöne herrschaftliche Landgütchen in Pacht bekommen. Überdies hätte jener bekannte böse Krall schon früherhin das Gütchen gern gepachtet und hatte damals die Bauern, die ihn fürchteten, zu überreden gewusst, ihn bei der Verpachtung desselben an den Meistbietenden nicht zu steigern. Krall hatte auch geglaubt, er sei, für ein ganz geringes Pachtgeld, schon wirklich Pächter. Er geriet daher, als anstatt der erwarteten herrschaftlichen Genehmigung, Lorenz als neuer Pächter ankam, in den heftigsten Zorn, wurde von der Stunde an Lorenzens abgesagter Feind und schmähte und lästerte bei jeder Gelegenheit über ihn. Jetzt aber behauptete er, Lorenz sei ein ausgemachter Lügner und Dieb, und der eigennützige Kirchenbauer gab ihm vollkommen recht und schalt überdies noch den Verwalter einen ungerechten Richter, weil er ihm jene Goldstücke, die er ihm in der Kanzlei vorgelegt, nicht sogleich zugesprochen und den Lorenz nicht zum Ersatz der übrigen Goldstücke verurteilt habe.

Auch einige Bäuerinnen waren der guten Johanna gar nicht geneigt. Denn Johanna war in einem entfernten Marktflecken, wo sich eine sehr gute Schule befand, von sehr guten Eltern erzogen worden. Sie hatte eine reinere Aussprache und einen feinern Anstand in ihrem Betragen und konnte manchen abergläubischen Meinungen der Bäuerinnen zu Ellersee nicht beistimmen. Überdies behielt sie aus ihrem Geburtsort die dortige Art, sich zu kleiden, auch hier bei, die zwar bei weitem nicht so kostbar als jene der Weiber im Dorf, aber viel netter und zierlicher war. Deshalb wurde sie von ihnen schon bisher immer mit neidischen Blicken angesehen; nunmehr aber begegneten viele von ihnen ihr und ihrem Mann mit der grössten Verachtung.

Lorenz tröstete sich mit seiner Unschuld; Johanna aber war sehr betrübt und weinte oft stille Tränen. Lorenz suchte sie zu erheitern und ihr mehrmals Trost einzusprechen. »Liebste Johanna«, sagte er einmal zu ihr, als sie noch spät in der Nacht am Fenster sass und bitterlich weinte, »sieh da den Mond an, der jetzt so schön und hell am Himmel glänzt! Sieh, jetzt kommt eben eine schwarze Wolke und verdunkelt ihn ganz. Allein habe nur eine kleine Weile Geduld. Sieh, jetzt ist die Wolke vorübergezogen, und der liebe Mond glänzt wieder so hell und schön wie zuvor. So ist es mit der Unschuld. Sie kann wohl durch Verleumdungen und falsche Anklagen angeschwärzt und verdunkelt werden, aber am Ende trägt sie doch den Sieg davon. So wird Gott auch die Wolken zerstreuen, die jetzt unsere Unschuld bedecken, und sie wird allen Menschen so hell und klar in die Augen leuchten wie jetzt der Mond.«

Elftes Kapitel.

Das Wiedersehen.

Eines Sonntags gingen Lorenz und Johanna mit ihren Kindern, wie gewöhnlich, in die Kirche. Es war ein herrlicher Herbstmorgen. Die Kinder waren sehr fröhlich. Die Mutter aber war sehr betrübt, weil viele der festlich geputzten Leute sie nicht einmal grüssten, sondern sie nur mit verächtlichen Blicken ansahen. Sie betete in der Kirche besonders herzlich, Gott wolle die grosse Schmach, dass man sie für eine Diebin und ihren Mann für einen Dieb halte, von ihr nehmen.

Als sie nach geendetem Gottesdienst mit ihrem Mann und den Kindern aus der Kirche trat – sieh, da hielt vor ihrem Haus eine prächtige Kutsche, mit vier Pferden bespannt. Die Leute, die vor Johanna hergingen, riefen erfreut: »Das ist die Kutsche unserer Herrschaft! Oh gottlob – unsere gnädige Herrschaft ist wieder von der Flucht zurückgekommen.«

Wirklich stand die Frau von Waldenberg unter Lorenzens Haustür; neben ihr stand eine andere Frau von sehr feinem, adeligem Aussehen, die den Leuten unbekannt war. Ludwig aber tat plötzlich einen lauten Schrei: »Oh mein Gott!« rief er, »Oh, meine beste Mutter!« und sprang mit weit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie fasste ihn in ihre Arme und benetzte sein Angesicht mit reichlichen Freudentränen. Auch Ludwig weinte vor Freuden. Die Leute, die umherstanden, wurden sehr gerührt, und viele hatten Tränen in den Augen. »Es ist Ludwigs Mutter!« flüsterten sie einander zu. »Wer hätte gedacht, dass der arme Knabe eine so vornehme Mutter habe?«

Da indes das Gedränge des Volkes immer grösser wurde, führte Frau von Waldenberg den hocherfreuten Ludwig und seine Mutter in die Stube. Die Mutter setzte sich, von der Freude so mächtig angegriffen, dass sie fast nicht mehr zu stehen vermochte, auf die Bank. Sie betrachtete Ludwig mit innigem Vergnügen. »Ei, wie bist du indes gewachsen«, sagte sie, »und wie gesund und blühend siehst du aus!« Sie bemerkte mit Wohlgefallen, wie nett und reinlich Ludwig gekleidet war; denn er hatte einen neuen blauen Frack an, der ebenso gemacht war wie sein voriger, der ihm aber zu klein geworden; sein Halskragen war zwar nicht gestickt, aber weiss wie Schnee, und seine schwarzen Haarlocken waren aufs schönste geordnet. Die Mutter tat hunderterlei Fragen an ihn. Er konnte nicht genug rühmen, wie liebreich seine Pflegeeltern ihn aufgenommen und wie gütig sie ihn diese lange Zeit hindurch behandelt hatten.

Ludwigs Mutter erzählte hierauf, welchen Jammer sie über seinen Verlust empfunden und was ihr seit jener Zeit alles begegnet sei; wie bestürzt der Vater, laut seiner Briefe, über die Nachricht gewesen, Ludwig sei verlorengegangen; wie sie den Vater bisher nicht mehr gesehen habe; wie sie sich freue, ihren lieben Ludwig wiederzusehen, und wie sie hoffe, nun, da der Friede nahe sei, auch den Vater bald wiederzusehen. Beide, Mutter und Sohn, fühlten sich so glücklich und selig, dass sie die ganze Welt um sich her vergassen.

Lorenz und Johanna verstanden von der ganzen Unterredung nichts; denn es wurde kein deutsches Wort, sondern nur Französisch gesprochen. Indes sahen sie an den lebhaften Reden, an den Mienen, Blicken und Tränen der Redenden, dass ihre Freude unaussprechlich sein müsse.

Frau von Waldenberg wendete sich, da Ludwig und seine Mutter jetzt von Dingen redeten, die ihr längst bekannt waren, zu Lorenz und Johanna. Sie bezeigte ihnen ihre Freude, unter ihren Untertanen so menschenfreundliche Leute zu finden, und sagte ihnen, wer Ludwigs Mutter sei. Lorenz und Johanna vernahmen mit Erstaunen, dass Ludwig, den sie als Sohn einer verarmten, landesflüchtigen Mutter in ihr Haus aufgenommen, ein junger Graf und seine Mutter eine sehr vornehme Gräfin und überaus edle, tugendhafte Frau sei.

Frau von Waldenberg erzählte nun auch, wie es zugegangen, dass Ludwigs Mutter – bis aus Böhmen, sehr eilig und geraden Weges – hierher gekommen sei. Die Geschichte war kurz diese: Ludwigs Mutter, die Gräfin, hatte sich nach Prag geflüchtet. Auch Herr und Frau von Waldenberg hielten sich dort auf. Allein die Gräfin wusste nichts davon; sie lebte in Prag sehr zurückgezogen und besuchte keine Gesellschaften. Der Verwalter zu Waldenberg musste seiner Herrschaft von Zeit zu Zeit berichten, was in seinem Amtsbezirk vorgehe. Er berichtete denn auch den Rechtsfall, der sich mit den Goldstücken zugetragen, die angeblich in den Rockknöpfen eines ausgewanderten französischen Knaben sich sollen befunden haben. Frau von Waldenberg erzählte die seltsame Begebenheit in einer Gesellschaft. Eine adelige Dame, die zugegen und mit Ludwigs Mutter bekannt war, erzählte es dieser. Ludwigs Mutter, die Gräfin, begab sich augenblicklich zu Frau von Waldenberg, sich näher zu erkundigen. Der Verwalter hatte sehr ausführlich berichtet. Der Ort Waldenberg, der Name Ludwig, der Tag, an dem er seine Mutter verloren, der angenommene Name, unter dem seine Mutter sich geflüchtet hatte, die Anzahl, ja auch das Gepräge der Goldstücke traf aufs genaueste zu. Die Gräfin zweifelte keinen Augenblick, der Knabe, in dessen Rock die Goldstücke gefunden worden, sei ihr geliebter Ludwig; denn sie selbst hatte die Goldstücke heimlich eingenäht. Sie brannte vor Begierde, ihren innigst geliebten Ludwig wiederzusehen. Allein sie wollte es nicht wagen, nach Waldenberg zu reisen, weil bloss Waffenstillstand und noch nicht Friede war und die französischen Kriegsheere noch auf deutschem Boden standen. Allein Herr von Waldenberg sagte zu der Gräfin: »Ich und meine Frau sind bereit, unverzüglich mit Ihnen nach Waldenberg zu reisen. Können Sie sich entschliessen, in dem Pass für eine Kammerfrau meiner Gemahlin zu gelten, so stehe ich Ihnen dafür, Sie werden ganz sicher, ohne irgendwo angehalten zu werden, nach Waldenberg kommen und dort einen sicheren Aufenthalt finden.« Die Gräfin nahm diesen Vorschlag mit der grössten Freude an, und alle drei machten sich sogleich auf die Reise.

»So«, sagte Frau von Waldenberg am Ende ihrer Erzählung, »gaben diese Goldstücke Veranlassung, dass Ludwigs Mutter so schnell hierher kam. Ohne den falschen Verdacht, in den Ihr, guter Lorenz, und Ihr, meine liebe Johanna, gekommen seid, wäre es vielleicht noch jahrelang angestanden, bis die Frau Gräfin ihren geliebten Ludwig wiedergesehen hätte.«

»Ach«, sagte Johanna höchst erfreut, »die grosse Freude, die Ludwig und seine Frau Mutter empfinden, hat mich die unverdiente Schmach, die uns getroffen hat, ganz vergessen gemacht! Meine Freude gleicht wahrhaft der ihrigen. Ja, ich sehe es auch hier wieder, dass Gott alle Widerwärtigkeiten, die er über uns kommen lässt, uns und andern zum besten zu lenken weiss.«

Frau von Waldenberg erinnerte nun Ludwigs Mutter, es sei Zeit, nach Waldenberg zurückzukehren. Die Gräfin stand auf, wendete sich zu Lorenz und Johanna und bezeigte ihnen in den rührendsten Worten, die von der Frau von Waldenberg in das Deutsche übersetzt wurden, den innigsten Dank. Johanna brachte die noch übrigen Goldstücke nebst dem Verzeichnis, was sie davon für Ludwig verwendet habe, und wollte sie zurückgeben; allein Ludwigs Mutter sagte: »Davon kann keine Rede sein! Behaltet sie, und ich werde darauf bedacht sein, Eure Liebe zu meinem Sohn noch reichlicher zu belohnen.«

Johanna beeilte sich nun, Ludwigs Kleidungsstücke und weisses Zeug zusammenzupacken, und ihre zwei Kinder, Liese und Konrad, brachten nach wenigen Minuten jedes ein Päckchen. Als Ludwig die Wanderbündelein erblickte und nun scheiden sollte, ward er tief betrübt; sein liebliches Gesichtchen zeugte von der innigsten Wehmut, und der gute Knabe brach in Tränen aus. Er nahm von seinen Pflegeeltern den rührendsten Abschied und umarmte alle Kinder des Hauses als seine Geschwister. Lorenz, Johanna und alle Kinder weinten. Auch Ludwigs Mutter war sehr gerührt, und die Tränen kamen ihr in die Augen. »Ich sehe da einen neuen Beweis«, sagte sie, »dass alle im Haus meinen Ludwig herzlich liebten und dass er hier so gut aufgehoben war wie ein Kind vom Hause.«

Frau von Waldenberg tröstete die Kinder und Lorenz und Johanna. »Weinet nicht, ihr guten Leute«, sprach sie; »Ludwig nimmt noch nicht für immer Abschied; er bleibt mit seiner Mutter noch lange bei uns zu Waldenberg. Da könnt ihr einander noch recht oft sehen.«

Ludwig stieg nun mit seiner Mutter und Frau von Waldenberg in die Kutsche, und nachdem sie an dem Pfarrhaus angehalten und dem edelmütigen Pfarrer einen Besuch gemacht und auch ihm für seine Liebe und Güte gegen Ludwig gedankt hatten, fuhren sie zurück nach Waldenberg in das Schloss.

Zwölftes Kapitel.

Belohnung und Strafe.

Ludwigs Mutter blieb vorerst zu Waldenberg. Nachdem es Friede geworden, kam auch ihr Gemahl, der Graf, dahin. Die Freude des Grafen und der Gräfin und ihres einzigen Sohnes Ludwig, sich nach so langer Trennung wieder vereinigt zu sehen, lässt sich nicht mit Worten ausdrücken. Ebenso gross als ihre Freude war ihr Dank gegen Gott.

Nachdem alle drei mit grosser Lebhaftigkeit einige Stunden hindurch von nichts anderem sprachen als von dem, was ihnen alles begegnet, seit sie voneinander getrennt worden – da sagte die Gräfin zu ihrem Gemahl: »Nun lasst uns überlegen, wie wir Ludwigs Pflegeeltern belohnen wollen.«

Der Graf und die Gräfin hatten zwar ihre Güter in Frankreich verloren; allein sie besassen noch ansehnliche Kapitalien, die sie schon früher in England angelegt hatten. Auch hatte die Gräfin ihren Schmuck von kostbaren Edelsteinen glücklich gerettet. Sie brachte ihr Schmuckkästchen, öffnete es und sagte: »Alle diese edlen Steine hätte ich mit Freuden hingegeben, mein verlorenes Kind wiederzufinden! Sollten wir nun nicht wenigstens einen dieser Steine, etwa diesen schönen Diamant hier, daran wenden, die Liebe zu vergelten, die Lorenz und Johanna, diese guten Landleute, unserm Kind erwiesen haben? Wir wollen den Herrn von Waldenberg bitten, dass er das Gütchen, das Lorenz und seine Hausfrau bloss in Pacht haben, uns zu kaufen gebe. Dieses Gütchen wollen wir dann den guten Leuten schenken. So kann ein Edelstein das Glück mehrerer Menschen machen – was sie um uns auch wohl verdient haben.«

Dem Grafen gefiel der Vorschlag sehr wohl. »Ja«, sprach er, »der Diamant soll zum Besten dieser menschenfreundlichen Landleute verkauft werden! Denn sie haben uns einen Edelstein aufbewahrt, gegen den alle diese Steine hier nichts sind – unser geliebten Sohn Ludwig.«

Der Graf und die Gräfin redeten mit Herrn und Frau von Waldenberg. Frau von Waldenberg zeigte Lust zu dem schönen Stein, der sehr zierlich in einen Ring gefasst war. Der Wert des Edelsteines betrug indes nur ungefähr die Hälfte von dem Wert des Pachtgütchens. Die Gräfin wollte noch ein paar kleinere Diamanten, die in goldenen Ohrringen prangten, dazulegen. Allein Herr von Waldenberg sprach: »Das ist nicht notwendig; das wäre zuviel! Wir wollen es so machen: Sie geben meiner Frau den Diamantring, der ihr so sehr gefällt und der für sie, als ein Andenken an eine edle Freundin, einen doppelten Wert haben wird. Ich aber gebe dem Lorenz das Pachtgut, das er nur auf neun Jahre gepachtet hat, in Erbpacht, und er soll in Zukunft nur mehr die Hälfte des Pachtgeldes, das er jetzt bezahlt, zu entrichten haben. So kann er das hübsche Gütchen als sein Eigentum betrachten, jedoch nur mit der Verbindlichkeit, jährlich die sehr mässige Abgabe davon zu entrichten. Er kann sich dann sehr wohl darauf ernähren; ja, noch wohl etwas für seine Kinder erübrigen!«

Der Graf und die Gräfin fanden diesen Vorschlag sehr vernünftig, und der Verwalter musste sogleich die Schenkungsurkunde ausfertigen.

Herr von Waldenberg wollte nun den Lorenz rufen lassen. Allein die Gräfin sagte: »Nein! Ich und mein Gemahl wollen selbst nach Ellersee fahren, und Ludwig soll seinen geliebten Pflegeeltern die Urkunde überreichen.«

Herr von Waldenberg sprach: »Nun wohl, so ist es noch besser. Sie wissen auf eine sehr schöne, edle Art zu geben. Ich und meine Frau werden auch mitfahren.«

Es wurde sogleich angespannt, und man fuhr hin. Die Kutsche hielt vor der Haustür der guten Leute. Ludwig sprang voll Freude zuerst aus der Kutsche und überreichte dem Lorenz die Schrift. Lorenz las, staunte und blickte gerührt zum Himmel; Johanna zitterte vor Freude und rief mit Tränen in den Augen und gefalteten Händen: »Mein Gott, so dürfen wir dieses Haus, in dem wir bisher mit unseren Kindern gleichsam nur zur Miete wohnten, und die Äcker und Wiesen, die dazugehören, nunmehr als unser Eigentum ansehen?«

»So ist es!« sagte Herr von Waldenberg. »Eure Freundlichkeit gegen ein armes Kind, das ohne Obdach umherirrte, hat Euch und Euren Kindern eine eigene Heimat verschafft.«

Frau von Waldenberg fügte noch bei: »So bleibt keine edle Tat unbelohnt; und so liebreich sie hier auf Erden auch zuweilen belohnt werden mag – in jener Welt wartet auf sie noch ein schönerer Lohn!«

Die Einwohner von ganz Ellersee konnten sich über diesen vornehmen Besuch bei dem armen Lorenz und über das reiche Geschenk nicht genug wundern; und die reiche Kirchenbäuerin sagte zu ihrem Bauer: »Wenn wir das voraus gewusst hätten, so hätten wir an dem kleinen Franzosen das Werk der Barmherzigkeit getan und nicht geruht, bis Lorenz ihn uns in die Kost gegeben hätte.«

Der Kirchenbauer aber sah nun wohl ein, dass der Verdacht, den er wegen der entwendeten Goldstücke auf den rechtschaffenen Lorenz geworfen hatte, falsch gewesen. Er ging zu Lorenz, bekannte reumütig sein Unrecht und bat ihn um Verzeihung, dass er ihn überall als Dieb verschrien und verlästert habe. Allein der argwöhnische Bauer richtete nun seinen Verdacht sogleich auf einen andern, und zwar auf einen Mann, den er bisher für seinen besten Freund gehalten hatte, auf seinen Nachbarn Krall. Er ging sogleich nach Waldenberg, erschien vor Amt und sagte, dass er eine neue Klage wegen seiner gestohlenen Goldstücke vorzubringen habe.

»Das ist gewiss wieder eine so dumme Klage wie die gegen Lorenz«, sprach der Verwalter. »Doch lasst einmal hören!«

Der Bauer erzählte, nach seiner Art etwas ausführlich: »Als der Franzosenkrieg uns so schnell über den Hals gekommen, wusste ich gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Meine Kapitalbriefe und meine armen, seit 20 Jahren sauer ersparten Sparpfennige, fünfzig Goldstücke an der Zahl, lagen mir sehr am Herzen. Ich hätte sie gern recht gut vor dem Feind versteckt und wusste nicht, wohin. Da fragte ich meinen Nachbarn Krall um Rat. Der ist ein gescheiter Mann, dachte ich, und hat mir schon oft gut geraten. Krall sagte zu mir: 'Versteck dein Geld heute nacht hinter einem der lockern Steine in deiner Gartenmauer; da findet es kein Mensch. Deine Papiere lass, wo sie sind; die nimmt dir der Feind nicht.' Dieser Rat gefiel mir sehr wohl; ich befolgte ihn. Nachts um zwölf Uhr, da alles schlief, schlich ich heimlich und in aller Stille in den Garten. Weil es gar so finster war, leuchtete mir meine Bäuerin mit der Laterne; denn um das Geld recht geschickt zu verbergen, musste ich dazu ja doch auch sehen. Das Geld ging mir indes bei Tag und bei Nacht im Kopf herum. Sobald die Franzosen fort waren, wollte ich die gut verwahrten Goldstücke wieder aus der Mauer herausnehmen. Allein ich war vor Schrecken fast des Todes; denn leider war nicht ein einziges davon mehr vorhanden. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun; bevor es Tag wurde, lief ich zu Nachbar Krall, klopfte und polterte an seinem Haus, bis er aufwachte. Ich klagte ihm mein entsetzliches Unglück.«

»Nun«, sprach der Verwalter, »und was sagte Nachbar Krall?«

»Er hat sich recht über mich erzürnt«, sagte der Bauer, »und zu all meinem Unglück mich noch recht ausgescholten. 'Ich sehe wohl', hat er gesagt, 'wenn der Rat eines gescheiten Mannes gut sein soll, so muss ihn auch ein gescheiter Mann ausführen. Du aber bist ein dummer Kerl', hat er gesagt; 'du hättest keine Laterne mitnehmen sollen; denn da konnten sich die Leute ja sehen. Da wundert's mich gar nicht', hat er gesagt, 'dass die goldenen Vögel ausgeflogen sind, und dass das Nest leer ist. Doch', hat er gesagt, 'ich will dir einen guten Rat geben, wie du sie wiederbekommen kannst. Hast du, als du von dem Lorenz, wiewohl ich dir davon abwehrte, deine Bäume pfropfen liessest, nicht gesehen, dass er dort an der Gartenmauer, die ihn doch nichts anging, sich immer etwas zu schaffen machte? Glaube mir«, hat er gesagt, »das Geld hat kein anderer Mensch gestohlen als Lorenz. Wenn ich an deiner Stelle wäre, so würde ich ihn verklagen.' Nun, wie Sie wissen, habe ich auch geklagt; nur habe ich Ihnen damals nicht gesagt, dass Krall mir den Rat gegeben, wo ich das Gold verstecken soll; denn er hat mir befohlen, keiner Seele etwas davon zu sagen, dass er mir den guten Rat gegeben habe.«

»Sieh, sieh«, sprach der Verwalter für sich, »so wollte Krall, dieser rachgierige Mensch, sich an dem Lorenz rächen und ihn verdächtig machen, und wohl gar aus dem Dorf bringen, um an Ende an seiner Statt doch noch Pächter zu werden.«

Der Verwalter fragte hierauf den Bauer: »Habt Ihr schon irgendeinem Menschen von Eurem neuen Argwohn etwas gesagt?«

»Oh, beileibe nicht«, sprach der Bauer, »keiner Seele hab ich ein Sterbenswörtlein davon gesagt. Ich setzte zwar von langer Zeit her mein grösstes Vertrauen in Krall; aber ich traue ihm doch nicht recht und fürchte mich vor ihm. Er darf es auch nicht inne werden, dass ich ihn verklagt habe. Sagen Sie ihm beileibe nichts davon!«

»Nun«, sprach der Verwalter, der bei all seiner Ernsthaftigkeit über die Einfalt des Bauern lächeln musste, »so schweigt ferner; ich werde Euch wieder rufen lassen.«

Der Verwalter kannte den Krall als einen schlauen Kopf und dachte: »Es könnte gar wohl sein, dass Krall das Gold in seine Krallen zu bekommen suchte und dem einfältigen Bauern bloss deshalb geraten, das Gold in der Mauer zu verstecken, um den Bauer zu belauschen und das Gold zu holen. Krall ist ein schlechter Hauswirt, ein Schuldenmacher, ein Trinker und Spieler; wenn er das Geld entwendet hat, so hat er sicherlich schon das meiste davon ausgegeben. Und das wird leicht zu erfahren sein.«

Er rief seinen Gerichtsdiener, erzählte im Vertrauen ihm die Sache und trug ihm auf, nachzuforschen, ob Krall nicht irgendwo eine oder die andere seiner vielen Schulden in Gold bezahlt oder sonst Gold ausgegeben habe.

Nach einigen Tagen kam der Gerichtsdiener morgens in die Kanzlei und sagte: »Von seinen Schulden hat Krall nicht einen Heller abbezahlt, allein in der Stadt hat er im Wirtshaus zum schwarzen Bären eine ganze Nacht hindurch getrunken und gespielt, und da er sehr im Verlust war, einige Goldstücke wechseln lassen. Ich wusste mir ein paar davon zu verschaffen, die ich für Silbergeld einwechselte. Hier sind sie; sie sind, wie Sie sehen, von der nämlichen Art, wie der Kirchbauer die gestohlenen beschrieben hat.«

Der Verwalter liess nun durch den Gerichtsdiener den Krall auf der Stelle rufen und hielt ihm den Diebstahl vor. Krall fing an zu toben und zu wüten, das man einen so ehrlichen Mann, wie er sei, wegen solcher ehrlosen Streiche in Verdacht haben könne. Er konnte zwar nicht leugnen, dass er Goldstücke habe wechseln lassen; er beteuerte aber mit hohen Schwüren, dass er sie nicht gestohlen habe.

»Das kann sein«, sprach der Veralter; »indes ist nur noch eine Kleinigkeit ins Reine zu bringen. Ihr habt nachzuweisen, von wem Ihr die Goldstücke eingenommen habt.«

Da erblasste Krall; er wusste keinen Menschen zu nennen, von dem er die Goldstücke erhalten. Er musste den Diebstahl bekennen und wurde zum Erlass des gestohlenen Geldes und überdies als Dieb und Verleumder auf mehrere Jahre Zuchthaus verurteilt.

»So geht es«, sagte der Verwalter, »wenn man nicht arbeitsam und sparsam ist, sich dem Trinken und Spielen ergibt und am Ende gar betrügt und stiehlt. Schlechte Taten bringen schlechte Früchte, Jammer und Elend; nur Tugend und Rechtschaffenheit machen glücklich. Wie die Unschuld des ehrlichen Lorenz an den Tag gekommen, so ist nun auch Eure Schuld offenbar geworden. Wie Lorenz für seine Redlichkeit und Menschenfreundlichkeit belohnt wurde, so werdet nun Ihr für Eure Falschheit und Euer feindseliges Wesen bestraft.«

Da Krall ohnehin schon viele Schulden hatte und nun die entwendeten und verschwendeten Goldstücke ersetzen sollte, so musste er vergantet werden. Er kam an den Bettelstab, und seine Kinder kamen oft an Lorenzens Fenster und bettelten ein Stücklein Brot, und die Leute im Dorf sagten: »Dies hat Krall nicht nur wegen seines liederlichen Lebenswandels, seiner Falschheit und seiner Betrügereien, sondern noch besonders wegen seiner Hartherzigkeit gegen den guten Ludwig verdient. Er wollte den armen, verlassenen Knaben aus dem Haus des Lorenz und aus dem Dorf vertreiben und musste nun selbst mit seinen Kindern sein eigenes Haus verlassen.«

Letztes Kapitel.

Der Oberst.

Wie Frau von Waldenberg und die Gräfin sehr gute Freundinnen geworden, so wurden auch Herr von Waldenberg und der Graf sehr gute Freunde; denn alle hatten gleich edle Gesinnungen. Obwohl es Friede war, so konnten die Ausgewanderten sich doch noch wenig Hoffnung machen, in ihr Vaterland zurückkehren zu dürfen. Der Krieg brach auch bald wieder mit erneuerter Heftigkeit aus, wurde jedoch in Gegenden geführt, die weit von Waldenberg entfernt waren. Herr und Frau von Waldenberg baten daher den Grafen und die Gräfin dringend, mit ihrem Sohn Ludwig bis auf bessere Zeiten in Waldenberg zu bleiben, und alle drei freuten sich sehr, einen so sichern und angenehmen Aufenthalt gefunden zu haben. Sie brachten da längere Zeit sehr vergnügt zu.

Eines Tages nun, da man an nichts weniger dachte als an französisches Militär, kam ein französischer Offizier, von einigen Husaren begleitet, in den Schlosshof gesprengt. Er liess sich als einen französischen Oberst bei Herrn von Waldenberg melden. Alle im Schloss waren über diesen unerwarteten Besuch nicht wenig erstaunt. Ludwigs Eltern aber hatten keinen geringen Schrecken; die Gräfin fürchtete gar, verhaftet und nach Frankreich abgeführt zu werden. Der Besuch musste indes angenommen werden.

Ein schöner junger Mann in goldgestickter dunkelblauer Uniform trat in das Zimmer. Ludwig tat einen Freudenschrei und sprang mit offenen Armen auf ihn zu. Der Oberst war jener Offizier, der bei Ellersee verwundet worden, sich aber indessen durch seine Einsicht und Tapferkeit so hoch emporgeschwungen hatte. Er hatte mit seinem Regiment einige Meilen weit von Ellersee Rasttag und war die Nacht durch geritten, um seinem kleinen Freund Ludwig, dem Erretter seines Lebens, einen kurzen Besuch zu machen und zu sehen, wie es ihm gehe. Zu Ellersee hatte der Oberst vernommen, Ludwig befinde sich samt seinen Eltern zu Waldenberg. Er ritt also, ohne vom Pferd zu steigen, augenblicklich dahin.

Er umarmte Ludwig und erzählte den erfreuten Eltern, wie unaussprechlich viel Gutes Ludwig ihm erwiesen habe. Herr von Waldenberg lud ihn ein, einige Tage auf dem Schloss zu bleiben. Allein der Oberst sagte: »Nicht länger als einige Stunden; ich muss auf die Minute wieder bei meinen Leuten eintreffen.« Er redete mit dem Grafen und der Gräfin über deren Schicksale und sagte bei seinem Abschied: »Ich werde wiederkommen und hoffe, Sie und meinen jungen Freund Ludwig dann unter fröhlichern Umständen wiederzusehen.«

Der Oberst hielt Wort; er kam einige Zeit, nachdem der Frieden wiederhergestellt war, nach Waldenberg, und brachte Ludwigs Eltern die schriftliche Zusicherung, dass sie nach Frankreich zurückkehren dürften, und ihre Güter wieder zurückerhalten würden. Da der Oberst mächtige Verwandte in Frankreich hatte, so war es ihm gelungen, den Eltern Ludwigs diese Begünstigung zu bewirken, deren die meisten Ausgewanderten sich erst nach vielen Jahren zu erfreuen hatten. Die Menschenfreundlichkeit, womit Ludwig als ein zarter Knabe einem ausgezeichneten Offizier das Leben gerettet hatte, wurde allgemein bewundert; jedermann sagte, den Eltern eines so liebenswürdigen Kindes dürfe man die Rückkehr in ihr Vaterland nicht wehren.

Der Oberst fuhr hierauf mit Ludwig und dessen Eltern nach Ellersee. Er besuchte den Pfarrer, der ihm so manches gute Buch zum Lesen geschickt und gar oft selbst gebracht hatte, und verehrte ihm eine schöne Sammlung guter französischer Bücher, alle in den schönsten Auflagen und vortrefflich gebunden. Er beschenkte seine ehemaligen Hauswirte, den Müller mit dem feinsten himmelblauen Tuch zu einem Rock und die Müllerin mit Taft von gleicher Farbe und mit Band und Spitzen. Er gab Ludwigs Pflegeeltern eine ansehnliche Summe Geldes, damit sie davon sich selbst anschaffen möchten, was ihnen das Nötigste oder Angenehmste wäre. Überdies gab er Johanna und ihren Kindern noch einen grossen Pack von mehr als sechzig Ellen feiner Leinwand. »Dies«, sagte er, »ist für die Scharpie.«

Dem Oberst war es eine grosse Freude, Ludwig und dessen Eltern wie im Triumph nach Frankreich zurückzuführen. Ludwig sah sein ganzes Leben hindurch es für eine grosse Wohltat an, dass er einige Jahre seiner Kindheit auf dem Land zugebracht hatte. Sein Aufenthalt auf dem Land hatte nicht nur seine etwas schwächliche Gesundheit sehr gestärkt; auch sein Verstand und Herz hatten dabei sehr gewonnen. Die frommen, einfachen Sitten seiner Pflegeeltern, die jeden Tag mit Gebet anfingen und beschlossen, vor allem Bösen eine heilige Scheu hatten und alle Widerwärtigkeiten des Lebens mit Ergebung und Geduld von Gott annahmen; der Unterricht und die Frömmigkeit des würdigen Landgeistlichen und der andächtige Gottesdienst in der kleinen Dorfkirche nährten und befestigten seine Gefühle für Religion und Tugend. Häusliche Andacht und öffentlicher Gottesdienst, Wort und Beispiel hatten sehr schön zusammengewirkt, ihn wahrhaftig fromm und gut zu machen. Er hatte bei seinen dürftigen, aber genügsamen Landleuten gelernt, mit wie wenigem der Mensch gesund und zufrieden leben könne; aller unnütze Aufwand und überhaupt alles Gekünstelte und Gezierte in den Sitten blieb ihm verhasst. Er behielt eine grosse Vorliebe für das Landleben. Sein Schloss in Frankreich war sein liebster Aufenthalt; nicht weil es prächtig gebaut und wohl eingerichtet, sondern weil es in einer schönen ländlichen Gegend gelegen und von reichen Kornfeldern, blumigen Wiesen und schattigen Wäldern umgeben war. Gottes Werke näher zu betrachten war seine Lust, und er fand in ihrer Betrachtung eine eigene Seligkeit. Er war von einer ganz vorzüglichen Achtung gegen die niedern Stände durchdrungen; denn er hatte sich mit eigenen Augen überzeugt, wieviel Mühe sie sich geben müssen, die höheren Stände zu ernähren, und welche edle Seelen unter manchem Strohdach wohnen. Diese Gesinnungen äusserte er in reiferen Jahren sehr oft, und sein Vater, der Graf, gab ihm vollkommen recht.

»Wir haben uns«, sagte der Graf, »durch eitle Prachtliebe zu weit von der Natur entfernt, und diejenigen, die von den niedrigen Ständen uns zunächst stehen, traten in unsere Fussstapfen ein. Daher rührt alles Elend, alle Unordnung und alle Verkehrtheit unserer Zeiten. Wenn es besser werden soll, müssen wir zur einfachen Natur zurückkehren. Nur auf diese Art kann die Unzufriedenheit vieler Bedrängter unter dem Volk behoben werden, und auch wir werden dann zufriedener, ruhiger und glücklicher leben.«

Auch Ludwigs Mutter, die Gräfin, war dieser Meinung; eine ganz besondere Freude aber fand sie darin, die Wege der göttlichen Vorsehung in Ludwigs Geschichte zu betrachten. »Gott«, sprach sie, »hat ihn mir entzogen, um ihn mir vernünftiger und tugendhafter wiederzugeben. Ein bunter Schmetterling, ein flüchtiges, unbedeutendes Geschöpf, gab die erste Veranlassung zu einer Reihe von Begebenheiten, die nicht nur für Ludwig, sondern noch für viele Menschen höchst wohltätig waren. Einem edlen jungen Mann, dem Oberst, ward das Leben gerettet; eine arme, aber edle Familie, der Pächter Lorenz mit seinem Weib und seinen Kindern, wurden in bessere Umstände versetzt; uns aber ward die Bahn gebrochen, unser liebes Vaterland wieder betreten und unser väterliches Schloss wieder bewohnen zu dürfen. Ich war bei den Widerwärtigkeiten, die uns betroffen haben, manchmal sehr verzagt und kleinmütig; allein nun habe ich einsehen gelernt: 'Eine höhere, unendlich weise und gütige Macht lenkt im geheimen die Schicksale der Menschen und leitet alles zu unserm Besten; und dieser Glaube ist bei allen Trübsalen, die auf unserer Lebensbahn uns treffen, der einzige feste, sichere Stab, an den wir uns halten können, um auf dem Weg in ein besseres Vaterland nicht mutlos zu erliegen.'«

 


 


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