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Adalbert Stifters literaturgeschichtliche Bedeutung

Wenn ich als Kind im niedrigen Schranke, den »Onkel Toni« von seiner Mutter, der Bücherliebhaberin, Großmutters älterer Schwester, geerbt hatte, die aneinandergedrängten goldglänzenden Rücken abtastete, geriet ich immer wieder an ein paar schmale zierliche Bändchen, die Adalbert Stifters Namen trugen. Manchmal zog ich eines davon heraus und blätterte es auf. Ein feiner Stahlstich zierte das erste der goldgeränderten Blätter, und ein seltsames melancholisches Gefühl verwelkter Schönheit ging in meinem sehnsüchtigen Herzen auf. Gelesen hab ich von diesen Büchlein – es waren die Heckenastschen Einzelausgaben der in der Jugendzeit der Großtante beliebten Erzählungen – kaum eines; aber die Titel blieben in meinem Gedächtnis haften, »Der Hochwald«, »Abdias«, »Brigitta«, auch sie, diese Titel, von einem herbstlichen Schimmer sanft umwoben. Erst viel später bin ich, in anderer Umgebung, an die »Bunten Steine«, die »Feldblumen« geraten, und der erste große Eindruck war, nach dem romantischen Erlebnis des abenteuerlichen »Condor«, der von »Bergkrystall«. Als junger Mann habe ich sie allgemach alle gelesen, angefangen von den »Studien«, diese stillen, schlichten Geschichten, die anders waren als sämtliche Bücher, die mich damals nach den Engländern vorzugsweise beschäftigten, die Russen, die Dänen, die Schweden, die Norweger, die neueren Deutschen, von Freytag und Fontane bis auf Eduard von Keyserling und meine nächsten Zeitgenossen, die Bierbaum, Wedekind, Mackay, Hesse, Mann. Fast alles, was mich von diesen je eine Weile zu bannen vermochte, ist seither von mir abgeglitten, ich habe niemals mehr ein Bedürfnis empfunden, irgend einen der auf meinen Spinden verstaubenden Begleiter so vieler Stunden aufzuschlagen, und was von den Mitlebenden nach den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts weiterhin geschaffen wurde, habe ich, mit Ausnahme einiger geschätzten Freunde, nicht mehr jenem erledigten Bestände hinzugefügt. Ich weiß auch, daß ich kaum je auf eines dieser Bücher zurückkommen werde, und ich fühle mich nicht im geringsten verpflichtet, sie meinen Kindern, denen ich von »Hans Huckebein«, »Till Eulenspiegel« und »Gulliver« angefangen bis auf Pfeffel, Lichtwer, Gellert, Hebel, Stöber, Goltz alles vermittelt habe, was ich als Seelenspeise fürs Leben erachte, irgend eines davon vorzuführen, hat doch selbst der Versuch an dem einst nächst Jacobsen so geliebten Hamsun zur wehmütigen Überzeugung geführt, daß es, da jene Neugierde, die mich in den zwanziger Jahren dazu vermocht hatte, hier, bei den besser und gründlicher von mir Vorbereiteten nicht einmal aufflackern wollte, keinen Sinn habe, ihre Aufmerksamkeit nachdrücklich auf Verlöschendes zu lenken. Nur die Bücher, die das ewige Licht enthalten, sind es wert, reiner Aufnahmsfähigkeit vermittelt zu werden. Und so haben wir uns denn bei unsern guten Freunden weiter wohl befunden und immer wieder Hebel und Hoffmann, Jean Paul und Hölderlin, Goethe und Shakespeare, Lessing und Dickens, Cervantes und Dante, Wolfram und den Simplizissimus, Fielding und Lafontaine, Sterne und Rabelais, Mörike und Keller, Kleist und Raabe zusammen genossen. Und Raimund und Stifter. Raimund hat sich neben Shakespeare ebenso behauptet wie Stifter neben Goethe. Und ich weiß, daß dem so sein wird in saecula saeculorum.

Worauf aber gründet sich diese Überzeugung von der ungeminderten und nachhaltigen Wirkungsfähigkeit eines Autors, der wie Stifter mir, dem Ahnungslosen, als welkender Liebling einer verstorbenen Großtante überkommen war?

Auf die innere Notwendigkeit seiner sittlichen Existenz, deren wahrhaftigen Ausdruck sein Schrifttum verkörpert. Es ist ein ungeheuerer Unterschied zwischen einem Schriftsteller, dessen einheitliche Persönlichkeit einem ungesucht aus seinem mehr oder minder vollkommenen Werk in Gesetzmäßigkeit aufgeht, und dem andern, der als der Autor einzelner an sich mehr oder weniger gelungener Bücher niemals diese Bücher, sie durchdringend, mit seinem größern Dasein als davon unablöslich vereinigt. Gewiß lebt jeder nicht geradezu schwindelhafte Autor irgendwie in Verbindung mit seinem Werk, aber man findet ihn doch nur gewissermaßen zufälligerweise in solchem unbeträchtlichen Zusammenhang: er besagt nicht mehr von sich, als daß er dessen als solcher bekannte Verfasser ist (und es gibt ihrer, die nicht einmal diese persönliche Kraft haben, da ihre Bücher von jedem anders sein könnten). Ein Autor von Ewigkeitsrang ist nur der, den jeder Grashalm seiner Schöpfung lautlos verkündigt; man mag ganze Landschaften seiner Welt vergessen, ihn selbst wird man, hat man ihn einmal irgendwo in einem Winkel nur erlebt, nie verlieren. So ein Autor ist Stifter, der als bescheiden nach dem sichern Ausdruck seiner tiefen Eindrücke tastender Dilettant mit den schüchternen »Feldblumen«, ein nach Wien verschlagener Böhmerwäldler, die armselige Karriere des dichtenden Hofmeisters antrat, seiner Bestimmung gemäß, Stifter, der, ein halbwegs pedantischer Pädagog, ein Leben der sehnsüchtigen Entbehrung und der herzverzehrenden Enttäuschung in einem selbstmörderischen Aufstand gegen das grausame Schicksal jählings beendete.

Stifters Bedeutung beruht in seiner zeitlos wirkenden tiefsittlichen Persönlichkeit. Montaigne, Voltaire und Anatole France, der Anlage ihrer Nation entsprechend Repräsentanten einer stetigen Entwicklung, gehen mit ihrer Persönlichkeit, die zeitlich bedingt ist, in einer Allgemeinheit auf, die, stärker als ihre jeweilige Einmaligkeit, diese bestimmt. Die deutsche Literatur wie die deutsche Geistesgeschichte überhaupt ermangelt dieser stetigen Selbstvollendung. Sie wird nicht wie die französische repräsentiert von großen Stationen des unverlierbaren Typus, sondern sie versammelt sich gleichsam immer wieder aufs Neue in einer Persönlichkeit, die, einsam, aber weithin wirksam, Epoche schafft. Und jede dieser Epochen, in einer sehr starken schöpferischen Persönlichkeit oder einem gleichgestimmten Kreise verkörpert, erreicht vom Standpunkte geistesgeschichtlicher Betrachtung, zu sich selbst wachsend, Zeitlosigkeit. So Lessing, so Hölderlin, so Kleist, so Stifter. Man darf literarische Bewegungen, Moden, das Echo von Anklängen nicht mit dem tonangebenden Mittelpunkt ihrer geschichtlichen Voraussetzung verwechseln. Sie haben nicht wirkenden Bestand, nur die Tatsache ihrer sozusagen archivalischen Existenz erhält sie im Gedächtnis mehr der Forschung als der Nachwelt. Dagegen sind jene Mittelpunkte unbedingt, trotz der notwendigen Tradition, in der auch sie als im nährenden Erdreich wurzeln. Man kann Stifter auf seine, des Schöpfers, Elemente und Umstände, Charakter und charakteristischen Stil, Zeit und Kolorit bestimmen: die Einheit wird man nicht irgend einzuordnen vermögen, so wenig wie etwa Hölderlin, wenn man den Schwaben und den Schillerjünger in ihm darlegt, in seiner Einheit berührt wird oder Kleist als preußischer Offizierssprößling und Patriot, gar als Romantiker in seinem Wesen bezeichnet ist. Wer Stifter erlebt hat, hat die Idee Stifter in sich ausgenommen, nicht den frommen Mann aus Oberplan, der in Linz Schulinspektor war und den »Nachsommer« und den »Witiko« geschrieben hat.

Die Idee Stifter aber ist tiefste Sittlichkeit, eine unsagbar milde Gerechtigkeit, eine dem gemäße Sicherheit des (rein literarisch gesehen nur allzu schwankenden) Ausdrucks seiner selbst, vollkommene Rundheit, absolute Gesetzlichkeit, von selbst leuchtende Wahrhaftigkeit. Sowie Lessing ganz klare Erkenntnis, reine Vernunft ist, so ist Stifter ganz echtes Gefühl, reine Seele.

Er hat sich selbst nicht als einen Künstler erachtet, er ist es auch nicht im Sinne formaler Tadellosigkeit, sozusagen selbstverständlicher Formwerdung des künstlerisch Darzustellenden, er hat sich kaum Dichter wähnen zu dürfen vermeint, und das Dichterische, wie es etwa den jungen Goethe manchmal übermächtig erfüllt wie ein Rausch, Hölderlin erschöpft und Jean Paul immer wieder über sich selbst, den Moralisten, erhebt ins Traumhafte, wie es ihn anderseits befähigt, gleichsam schlafwandelnd alle Höhen und Tiefen der Menschlichkeit mit vollem Fuße zu beschreiten, dieses elementar Dichterische des Ausdrucks ist nicht sein Wesentliches. Vielmehr ist es eine ungemeine Eindrucks-, eine Aufnahmsfähigkeit, der zwar keine selbstgewisse Meisterlichkeit der Wiedergabe entspricht, die aber eine unbewußte innige Seelenhaftigkeit adelt, wie sie in solcher keuschen Empfänglichkeit nicht ihresgleichen hat, und ein Gefühl für das Maß, das wiederum nicht so sehr als künstlerische wie vielmehr als sittliche Macht jede seiner Schöpfungen, auch die trockenste, lehrhafteste in einem schwebenden Gleichgewicht erhält. Seine Anmut ist Würde zugleich, ein schimmernder Hauch von ewiger Jugend ist über seine irdische Erscheinung gebreitet, und diese rosige Jugend hat die ehrfurchtgebietende Hoheit göttlicher Abkunft. Sein Werk ist, was seinen Gegenstand anbelangt, in seiner scheinbaren Anspruchslosigkeit das Anspruchsvollste, das es geben mag, denn es verlangt Eingebung an das Unscheinbare, Andacht vor dem Geringfügigen. Es ist der allerfeinste Geschmack, der keiner Würze bedarf, sondern sich am Reinen des Ursprünglichen genügen läßt. Wer Stifter liebt und erlebt hat, ist gegen die Anfechtung des Rohen gefeit. In dieser läuternden Kraft beruht seine unerreichte Bedeutung.


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