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Das Buch Immergrün

Sonntagabend

Sonntagnachmittag im Jänner. Leichter Schnee liegt auf den Dächern. Man sieht vom Stuhl aus durchs Fenster nicht, daß die Straße nur naß ist. Es dunkelt. Mein Blick geht unter der Hängelampe hin zur Uhr. Die Zeiger stehen lang in einer Geraden: die sechste Stunde. Die Kinder spielen am runden Tisch mit Zinnsoldaten ... Sonntagnachmittag im Jänner. Sechs Uhr. Ich sehe mich – seltsamerweise sieht man »sich« immer in der Erinnerung –, ich sehe mich bei Tante Struck im alten Hause: »Numero Sieben« hieß es bei uns allen. Es stand (und steht noch) »am Glacis«. Der Bruder meiner Mutter bewohnt es seit Jahren, einst Großmutters täglicher Abendbesuch. (Seine mir so vertraute Gebärde: mit dem Taschentuch unter dem gelüfteten Strohhut über die Stirn und den Nacken entlang ...) Seine Tochter und ihr Mann haben Tante Strucks verehrte Zimmer im ersten Stockwerk. Wo Onkel Christian Strucks Standspiegel den Eintretenden zusammendrückte, sitzen jetzt auch blonde Kinder um einen Tisch unter der Lampe ... Damals war ich, der Leser, abseits von den »Großen«, die im Speisezimmer nach der Sonntagsjause, jede Frau mit ihrer Handarbeit beschäftigt, während die zwei, drei Männer, die Faust auf dem Rücken, langsam hinter ihnen einhergingen, ihr Alltägliches in behaglichem Geräusch verplauderten, damals war ich einsam zwischen den hoch ins Unersehliche hinaufreichenden Wänden meines Knabentums, ich, der Schüler, dem der kommende, der schon hinter der Nacht lauernde Montag von allen Seiten hereinschattete in den ach so rasch verbrauchten Sonntag, diesen Sonntag, der uns nachmittag, sobald man ans Nachhausegehen am Abend dachte, schon nicht mehr Sonntag war, sondern der Vormontag, die Leiche der Woche. Ich saß auf irgendeinem alten, mit dunkelrotem, fast schwarzrotem Samt bezogenen Polsterstuhle allein und las, las »Götz« oder »Tasso« oder Appel-Laun »Gespensterbuch«, denn über das Spielen war ich längst hinaus ...

Ich vergegenwärtige mir die Runde drinnen, drüben um den lang ausgezogenen Speisetisch, der mit einem schönen verzierten Tuche bedeckt war – bei uns hatten sie alle unzählige solcher gediegen gearbeiteten Tischtücher – und auf dem viele Teller standen, Teller aus Porzellan und von Glas, kostbare alte und mindere neuere, Aufsätze und flache Schüsseln, Gläser und Gläschen, diese für gewisse unschuldige rote und weiße Schnäpse; ich vergegenwärtige mir diese Runde von Gespenstern; denn alle, alle sind ja tot, und selbst die davon, die noch leben, zwei, drei alte Tanten, sind mir, so gesehen, gespenstisch; ich erlebe sie bloß in ihrer, meiner Vergangenheit, nicht so, wie sie noch dort, in der alten Stadt und bei ihren unverrückbar aufgestellten Geräten leben, denn ihr Leben von heute hat mir keinen Sinn mehr, es hat dort nur Zusammenhang mit mir, wo ich von einst bin, das Kind, der Knabe, schon kaum noch der Jüngling, der an losen Fäden – lose scheinbar damals, heute so fest, so gut, so schmerzhaft unzerreißbar – mit dem schon zu Verlassenden zusammenhing, der sich zum Sprung, ungeduldig zusammengebückt, anschickte, zum Sprung ins Freie, ins Leere, in die Enttäuschung (bis erst spät dann wieder aus ihm, um ihn sich neuer Zusammenhang erbildete, der, Wunder der Ewigkeit, an den alten sehnend sich zurückschob, in die Fülle, in die Gebundenheit: da ist Großmutter, in ihrer milden Traurigkeit trotz ihrer breiten Fülle so schlicht, so in sich gesammelt, warm von Güte, aber still, scheu; da ist Tante Struck, die einzige ihr von vieren noch überlebende Schwester Karoline, gleichfalls breit und doch nicht schwer, wenn auch schwerfällig, siech, mühsam nur hinhumpelnd, aber von einer eigenen, fast majestätischen Würde, mit dem flachen, feinen Häubchen über dem glatten Scheitel, beide einst blonden Frauen weiß und alles an ihnen so an sich genommen, freundlich ablehnend; diese freilich die Gesellige, im gewohnten, uns Kinder, so versammelt, geradezu ausschließenden Kreise alter Damen, die Bésigue zu spielen pflegten; jene bis auf Kinder, Enkel, die Nächsten sich vereinsamend, die geflissentlich Vereinsamte; und die jungen Tanten dann, gutmütige, freundliche Gestalten alle, und die von uns unlösliche, von uns erfüllte, uns erfüllende, unser Segen, Heim, Schicksal, Sonne, Mond, Taghelligkeit und Nachtschein, Glück, Glanz, Stolz, Altar und Beichtstuhl, und wir ihr Sorge, Segen, Heil und Inhalt: Mama ...

Es ist ganz dunkel geworden draußen. Unter der Lampe nebenan um den runden Tisch spielen meine Kinder mit Zinnsoldaten ... Kann ich ihnen einen Hauch geben von diesem Traum aus meinem Totenreich, darin ich mehr und mehr heimisch geworden bin, das allnächtlich mich umringt, als gehörte ich ihm eigentlich schon längst, wie ich ihm ja auch wirklich längst gehöre?

Die Uhr zeigt die siebente Stunde. Da hieß es immer, an jenen meinen alten Sonntagen: »Nach Hause ...« Und man ging über das dunkle »Glacis«, an Mama geschmiegt, und kam dann unter die spärlichen Laternen in die Stadt, wo alle Laden geschlossen waren, und wenn zu Hause wieder die Lampe brannte, war der Sonntag noch einmal da, ganz klein und freundlich, wie eine alte Tante, und man ging mit einer sonderbaren Sehnsucht zu Bett, derselben Sehnsucht, nur von der andern Seite gleichsam, mit der ich heute zu Bett gehe, neben meinen Kindern ...

 

Lichter im Dämmer

Ein grüntaftner Lichtschirm gibt der Nacht meiner Kindheit träumerisch milden Schein. Er stak mit einer Klammer an der Kerze, die auf Papas Nachttisch brannte. Die Tapetentüre, die ins Kinderzimmer führte, stand offen.

Ich sehe die Form der Flamme durch den Schirm wabern, sehe den Schatten des Schirms über die Schwelle wachsen, höre den metallnen Klang der Zwinge, wenn sie an das Leuchterglas schepperte. Auch das Nachtlicht im Kinderzimmer seh ich, dessen Schatten hinterm Ofen hervor geisternd an der Wand schwammen. Und früh, verschlafen die Augen öffnend, die alte Hängelampe, die in den langen Wintermonaten im längst erwärmten Zimmer, anders heimlich als abends, über dem zum Frühstück gedeckten runden Tisch brannte, während vom kleinen Fenster in der tiefen Nische schneedämmernd der Tag hereinsah.

Damals war das Leben lang hingestreckt, sicher, geradeaus, ruhig. Es bestand aus Schule und Heim, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend und Nacht. Es bestand aus kleinen, vertrauten Geschehnissen, dem wöchentlichen Erscheinen des Brotweibs mit der großen Butte, dem Wasserholen vom Marktbrunnen, der Friseurin, der Näherin, der Großmutter, den mittäglichen Gassenspritzern, dem summenden Betriebe der Handlung im Hinterhofe, den verschiedenen Vorbereitungen zu den immer wieder wie die Abenteuer im Glücksstrumpf eingestreuten Festen. Es hatte seine schön eingeteilte, unverrückbare Ordnung. Höchstens daß die verschiedenen Kinderkrankheiten, die wir zwei fast alle miteinander durchgemacht haben, seine geliebte Einförmigkeit mit ihrer auch nicht unangenehmen Fieberromantik auf Fristen unterbrachen. Dann gab es allerlei bald vertraute Arzneien in behaglichen Flaschen mit großen Zetteln um den Bauch, manche regelmäßige liebe Besuche, die Bilderbogen und angenehm verdächtige »Schkarnizel« brachten, und vor allem die Entdeckung des Lebens im Bette mit seinen verschiedenen Bequemlichkeiten: dem quergelegten Brett, auf dem man Soldaten aufstellte oder zeichnete, den bald als Rückenstütze aufgebauten, bald, wenn man so eigentümlich müde geworden war, nach gehöriger Schüttelung wieder umgelegten Polstern, dem Glattmachen und Strecken der verknitterten Leintücher, während man, in Decken gehüllt, auf einem Stuhle gegenüber saß und als Hauptperson zusah.

Damals war das Leben ewig, man sah seinen Anfang nicht, ahnte kein Ende, man zählte die Tage bloß vor Weihnachten oder wenn das Schuljahr sich den grünrauschenden Ferien zuneigte. Nicht einmal, daß man heranwuchs, war zu merken, bis es endlich so weit gediehen war, daß mit einem Male die ganze warme Welt versank: da stand ich dann draußen und war wach und mich fror, und irgendein häßlicher Bub in der Schule hatte mich aufgeklärt, und man hatte Angst vor dem und jenem Lehrer, der einem aufsässig war, und war beunruhigt Zeuge irgendeines Zwistes Verehrlicher, und vieles im Alltäglichen machte den Eindruck eines dumpfen Gefängnisses, aus dem man sich hinaussehnte nach einer Freiheit, vor der einem doch irgendwie graute.

 

Heimgang im Winter

Ich sehe den Schatten einer Hängelampe, der über abwechselnd schwarze und weiße Steinfliesen wallt. Ich sehe den tiefern Schatten in der spitzzulaufenden Ecke des schmalen Vorzimmers. Ich sehe die an Messingstäben zusammengeschobenen Fältelvorhänge vor der Eingangstür. Ich fühle den warmen Winterabend im Zimmer hinter mir, dessen weißgestrichene Tür offen steht, während wir uns, von Großmutter über die Schwelle begleitet, zur Heimkehr rüsten. Man hüllt mich in den dicken Mantel, zieht mir Handschuhe an die Finger, sie einzeln feststreifend, setzt mir die Pelzmütze auf und bindet die Ohrschutzlappen unterm Kinn zusammen. Und dann gehen wir. Wir steigen unter der großen düstern Laterne über die hohen breiten Stufen in den dunklen Hof hinab, ich greife mit der freien Hand gern nach dem kalten Eisengeländer, das über dem scharfkantigen Schuhreiniger an der nun in ihrem Holzmantel starrenden Pumpe endigt. Neben unserm vom alten Hausmeister gesäuberten Tretweg zum Torgang liegt, am Rande beleuchtet und hochgestapelt, hinten in den Hof räum hinein matt schimmernd und verflacht, Schnee. Ein schneidender Wind fährt uns entgegen. Die schwarze Masse des Hofgebäudes steht, kaum vom Nachthimmel unterscheidbar, unbeweglich. Nun schreiten wir durch den Torgang. Die Schritte widerhallen in der Wölbung. Das große Tor wird aufgeklinkt. Es fällt schwer ins Schloß. Wir stehen vor dem lieben Hause, sehen Großmutters Fenster schwachen Lichtschein hinaussenden, sehen hinter den Scheiben Großmutters dunkle Gestalt. Wir überschreiten die schwarze Straße, steigen jenseits zwischen mächtigen Schneewällen in die Anlagen. Wunderbar ist die schweigende Wanderung durch die Winteröde. Nun nähern sich Lichter, vereinzelte Laternen, die sich allmählich mehren. Wir sind am Ende des durchquerten »Glacis«. Nun haben wir noch die breite Ringstraße zu überschreiten, wo sich schon der spärliche Abendverkehr bemerkbar macht. Dann gehts auf gepflastertem Pfad durch den umgitterten Garten der Statthalterei und aus dem großen hochgewölbten Tor, das um zehn Uhr nachts verschlossen wird, hügelab ins Stadtinnere. Die Gassen sind eng; man sieht in die bekannten Kaufladen hinein, deren Scheiben verfroren sind. Man kommt an den drei Standplätzen der Kastanienbrater vorüber, macht an einem davon Halt und bewundert den schwarzen gebeinten Kessel, unter dessen Rost es glüht und in dem die Kastanien knistern, bewundert den raschen Griff des frierenden Verkäufers, seine aus einem der braunen Papiere, die am Kessel durchstochen hängen, die Tüte flink formende Fingerbewegung, knuspert vergnügt an einer von der dürr raschelnden Schale befreiten heißen Frucht. Immer mehr füllt sich das Kinderherz mit Heimkehrseligkeit. Endlich steht man am düstern Eingang des vertrauten Gebäudes. Die Fenster sind finster, aber auf die Holztreppe, die man stampfend erklimmt, fällt durch die Spalten der Gattertür oben das freundliche Licht der Ganglampe. Mit der ins Schloß klirrenden Pforte summt die innen angebrachte Glocke metallen mit. Und nun stürmt man durch den warmen Dunst der Vorkammer ins geliebte Kinderzimmer. Noch ist es auch hier finster, aber im Kachelofen glüht's. Und jetzt wird die Hängelampe über dem runden Tisch entzündet. Das Streichholz flammt auf, der Zylinder schlägt an die Glocke, wird wieder festgesteckt, der Docht wird langsam höher geschraubt: die Gegenstände an den Wänden begrüßen einen, als sagten sie gemütlich: Na, da seid ihr ja wieder, Kinder. Ungeduldig läßt man sich auskleiden, und gleich werden Bücher und Spielsachen ausgekramt. Immer heller brennt die brave Lampe, Mama geht die abgelegten Kleidungsstücke ordnend ab und zu. Drüben, in der Fensternische, piept bewillkommnend auch der Kanarienvogel, der sich nun hanfknipsend an die Abendmahlzeit macht.

 

Sonntag bei Tante Laura

Hatte man am Sonntag bei Tante Laura in festlicher Mahlzeitstimmung gut und reichlich gegessen – man aß sehr gut bei Tante Laura, sie hielt etwas darauf und verstand es, ihren wohlhabenden Mahlzeiten freundlich und geschmeichelt vorzusitzen –, dann zog sich alles, dem Hausherrn gefällig, der, als der Älteste, daran gewöhnt war, zur Ruhe zurück; jedem war irgendein Zimmer, ein Plätzchen zugemutet und aufgenötigt, mochte er nun davon Gebrauch machen oder nicht, es war ein stillschweigendes Abkommen unter allen, daß einige sich schwach wehrten, andere hinwiederum selbst- und wohlgefällig sagten: Ich geh, was soviel hieß wie: Macht, was ihr wollt. Es war jedesmal dasselbe kleine, allen Beteiligten vertraute Spiel.

Wir zwei Kinder unter den Alten blieben dann auf uns gestellt. Und dann erlebten wir das Dämmern des Winternachmittags. Hinter den altdeutschen Fenstern des großen Speisezimmers ging rotglühend, wie ohne Wimpern, die Sonne unter; das Feuer im Ofen ging, während die Kohlen krachten, röter auf, die Schatten wurden voller. Es war behaglich und wehmütig. Hinten irgendwo war das fremde Leben – in das später der Jüngling eben aus solchen Familiennachmittagen, vom schmerzlich sich fügenden Blick der Mutter duldsam entlassen, entfloh, ach ins Leere entfloh, um oft verlegen nach einer Ewigkeit von vergeudeten Stunden, schiffbrüchig, irr, mit flackernden Augen, schwülem Herzen, beschmutzt, reuig und trotzig zugleich, an den langweiligen, an den friedlichen Jausentisch, der gleichsam immer noch dastand, heimzukehren –, hinten, irgendwo, war, bewegt, das Leben, hier war Ofendämmerung und Uhrenticken, bis endlich von allen Seiten die Alten wieder sich zusammenfanden, um den inzwischen abermals gedeckten schweren Tisch unter der nunmehr breit herumleuchtenden Lampe: rings im Zimmer, das anders geworden war, schimmerten auf Gefäßen und Geräten Kanten und Streifen, die Vögel in ihren Käfigen schliefen geplustert, von obenher durch die Decke klangen die weichen Töne eines Klaviers. Plötzlich holte die Standuhr im Schatten am Fenster zum Schlag aus.

 

Mein Vater

Mein Vater war ein Kaufmann. Ob er es mit Leib und Seele gewesen ist, wie man hinzuzusetzen pflegt, wenn man nicht nachdenkt, weiß ich nicht. Aber mit Kopf und Körper war er's. Nach acht Uhr ging er ans Geschäft, um halbacht kam er vom Geschäft: wir sagten »ins« Geschäft und »aus« dem Geschäft. Denn »Geschäft« hieß bei uns nicht die Tätigkeit, sondern ihr Schauplatz, die Ladenräume und die Schreibstube, Kontor genannt. Für uns Kinder war das Kontor Papas Aufenthaltsort. Bei uns war er wohl zu Hause, aber nicht daheim. Wir sahen ihn die langen Schuljahre hindurch nur dreimal täglich auf eine kurze Weile. Unser Verkehr war an Worten karg und an Gefühlen noch ärmer. Um so lebhafter war unsre Beziehung zum »Geschäft« selbst und seinen Anhängen.

Im Hause zu ebener Erde lag die Handlung, nach vorn hinaus der geräumige hohe Laden, nach hinten das Kontor, zu dem man auf drei Stufen emporstieg, um auf eine Bretterbühne zu gelangen, die, mit zwei Stühlen bestellt, den Empfangsraum abgab und durch ein, von oben betrachtet, knietiefes Gestänge gegen den untern Teil abgeschlossen war: dort standen, Stirn an Stirn aneinandergeschoben, zwei Schreibtische, an deren einem, sitzend, der Buchhalter arbeitete, am andern, stehend, der Vater. An einem dritten und einem vierten Schreibtisch in den zwei tiefen Fensternischen schrieben Gehilfen. Der eine sah in den mit einem Glasdach überdeckten Zwischenhof, wo das Stehpult eines Geschäftsführers und die große Waage standen, der andre in den eigentlichen Hof hinterm Hause, der in einen hölzernen Lagerraum überging. Die Stube war so hoch wie der Laden und, da hinter den Fenstern sich nahe steile Mauern erhoben, düster. Im Sommer half bei Tag ein vor dem Hoffenster aufgehängter Lichtspiegel dem Mangel etwas ab, den größten Teil des Jahres aber brannten Gasflammen zu Häupten der schweigend Tätigen.

Trat man aus dem Kontor, so stand man unmittelbar hinter dem großen Gestell, das den Schauwarenaufbau trug. Es war wie hinter den Kulissen. Zumal die die Auslagen säumenden riesigen Glasgefäße, hochangefüllt mit »Zuckerln«, bannten den Blick des emporschauenden Knaben. Es waren die schwarzen, weißen, gelben, braunen und rosa »Teigzeltel«, süßliche, leichte Arzneiware. Die farbigen Bildchen von Nestles Kindermehl und Malzextrakt lagen zu Stößen geschichtet. Hievon ward uns des öftern eine Anzahl zuteil, ein Vergnügen, das meine Einbildungskraft zu schwach ist, nachzuempfinden.

Im ersten Stockwerk, unmittelbar an unsre nicht helle, aber wunderbar heimliche Wohnung anschließend, lagen zweierlei Stapelplätze. Dem Aufgang gegenüber, jenseits einer Holzbühne, hinten an dem Glasdach des Zwischenhofes war eine jeweils mit dem Schlüssel zu öffnende schmale Türe, die zu drei engen, mit Gefachen bis hinauf erfüllten Räumen führte; im ersten, der Schachtelkammer – dort befanden sich unzählige nette runde Schachteln, den Leib mit farbigem Papier umwunden, Deckelplatte und Boden weiß –, stieg eine steile, kurze Holzstiege in einen Dachboden, denn das kleine Gebäude war eigentlich ein selbständiges Häuschen mitten im alten Hause. Dort hinauf wagten wir uns selten und offenbar zur Unlust des stets in Eile ins »Magazin« abgeordneten Gehilfen. Oben, schon zu den Stufen hinabquellend, lag Stroh, und in dem Stroh bargen sich Flaschen. Man sah dort aus Luken in die Welt der Gegenwände. Aber man konnte dort – eine Seltenheit in unsrer Enge – auch den Himmel erblicken, und was fast mehr war, jedenfalls abenteuerlicher, das Dach unsres Hauses, nämlich das Dach über dem Teil der Wohnung, der die Kammer der Dienstboten und das Kinderzimmer enthielt. Ja, es war ein merkwürdiges Haus, an Ecken und Winkeln überreich. Es besteht nicht mehr ...

Der andere Stapelplatz blieb uns fast unzugänglich, denn er war nur vom Hinterhof aus erreichbar, und zu dem Zwecke mußte man vor allem hinunter und um das Kontor herum durch einen finstern Gang, der nur aus schweren Schubladen bestand, wie sie auch sonst die Wände des Verkaufsraumes umgaben, eben in den Hof; durch den Zwischenhof, wo stets Bewegung war und wo man am andern Fenster der Schreibstube hinterm Rücken Papas, der sich aber umkehren konnte, vorbeigehen mußte, war's zu gewagt. Vom Hof aus führte eine lange Holzstiege in die Stockhöhe empor. Stürmisch polternd erklommen sie täglich, unserem Fenster gegenüber, Lehrlinge.

 

Herr Tandler

Herr Tandler, der Kleiderjude, erschien von Zeit zu Zeit bei uns, von Papa eingeführt und mit ausgesuchter Grobheit behandelt, was ihn im Geschäft des Prüfens von abgelegten Stücken nicht im geringsten zu stören schien. Er hatte in jedem Betracht eine harte Haut. Sein Anblick weckte kaum das, was man gemeiniglich Vertrauen nennt, aber er war nichts weniger als unangenehm, zumal wenn er den Zwicker auf die Nase klemmte und auf die den Stoff derb anreibenden Daumen mit schief gehaltenem Haupte hinunterschielte. Man empfand ihn wie die Natur, wo sie ganz unbegreiflich wird, etwa den Wasserfall, unter dem man einmal auf einer Reise, betäubt vom Tosen, steht; man geht weg, und er ist immer noch dort, und auf einer zweiten Reise, nach fünfzig Jahren, kann man sich wieder hinstellen. Eine Handvoll Kirschen bildete man sich ein zu begreifen, da sie zu bestimmter Zeit im Jahre wuchsen und zum Essen da waren. Herr Tandler aber war rätselhaft, weil er ohne Geschichte, unvermittelt die zufällige Gegenwart bedeutete. Die Fragen: »Wie ist Herr Tandler geworden?« »Wie wird man ein Herr Tandler?« stellte man sich nicht. Man hatte auch niemals darnach gefragt, warum eigentlich die Pyramiden errichtet worden wären. Denn daß sie Grabkammern von Königen enthielten, erfuhr man erst später, als einen die Pyramiden nichts mehr angingen, nämlich in der Geschichtsstunde, und es blieb auch immer Nebensache dem Ureindruck gegenüber: »die Pyramiden«. So war Herr Tandler. Wozu und für wen also später Geschichtsunterricht?

 

Mein Zimmer

Wenn ich vormittag aus der Schule heimgekehrt war, vom stürmischen Jubelgeschrei Kokos, des Rosenkakadus, begrüßt, schon während ich die steilen hölzernen Stufen der düstern Stiege hinaufeilte, ward mir sogleich auf einer mit einem weißen Tuch bedeckten Blechplatte mein Gabelfrühstück, Rühreier im Pfännchen und Weißwein im silbernen Taufbecher nebst einem Stück Schwarzbrot, aufgetragen; ich schob, am Schreibtisch, zwischen die Platte und den Aufsatz, wo kleine rote Tonbüsten von Goethe und Schiller standen, ein Heft der in Lieferungen erscheinenden Sauerschen Gesamtausgabe von Grillparzers Werken oder ein andres Buch und schmauste und las behaglich. Links war das schmale, hohe Hoffenster; ich hatte dort Aussicht auf die Feuermauer des ehemaligen Stadttheaters und die daran anstoßende Hinterwand eines alten dreistöckigen Hauses mit Hängegängen, doch konnte ich, mich duckend, auch ein Stück Himmel erblicken.

In dem kleinen Gemache, das nach langem Sträuben mein Vater vom Hinterhaus, den Stapelräumen der Warenhandlung, hergegeben hatte – es hatte dazu die über einen Meter tiefe Grundmauer durchgebrochen werden müssen –, hat sich mein Leben die acht Jahre zusammengedrängt, während deren ich das Gymnasium besuchte.

Dort saß ich von einhalbzwölf bis einviertelzwei und von fünf bis elf Uhr über meinen Lernbüchern und Schreibheften, plagte mich mit Physik und Mathematik, langweilte mich bei Botanik und Mineralogie, erquickte mich an der mit zahlreichen Hilfswerken getriebenen Geschichte und genoß, zumeist am Abend und am seligsten im Winter, wenn vorm Fenster der weiße Rollvorhang herabgelassen und an der Wand mein Stolz, die große Petroleumlampe mit der milden Milchglasglocke angezündet war, umringt von Wörterbüchern und Erläuterungen, die Klassiker; dort hab ich meine ersten Trauerspiele und Gedichte geschrieben; dort hab ich alljährlich die ersten Ferientage mit der breiten Aussicht auf zwei herrliche Lesemonate, stolz auf das Vorzugszeugnis und dankbar für das geschenkte Buch, im Vollgefühl der Freiheit geschlürft; dort hab ich unbeschreibliche Lust geschöpft aus neuen Bleistiften, blanken Federstielen, braunen Linealen, den noch ungebrauchten Schulbüchern, die ich, zumal die interessanten Lesebücher, vorkostend durchblätterte; dort hab ich aber auch unendliche Qualen durchgelitten, wenn ich mathematische Aufgaben nicht lösen konnte oder zwar die Lösung wußte, aber nicht begriff, gar wenn am kommenden Morgen die fürchterliche mathematische Schularbeit bevorstand; dort hab ich, wie oft noch an der Arbeit, den tröstenden Gutenachtkuß Mamas empfangen, dort hat sie mir früh zu jeder Arbeit die Feder geweiht, die ich, sorglich in den Weihezettel »Mit Gott vorzüglich« gehüllt, mit mir führte, um sie, in der Schule angelangt, an den Stiel zu stecken (weh mir, vergaß ich's einmal im Drang des Augenblicks!); dort, im langen, eisernen Bett, das die Schmalseite gegenüber der Fensterwand erfüllte, lag ich, vorm Einschlafen neben der Kerze mindestens noch eine halbe Stunde lesend, unterm alten Porzellanschutzengel in festem Schlafe von Mitternacht bis einhalb acht Uhr morgens, da mich denn die seit je nur geringen Schlafs genießende Mutter geduldig immer wieder erweckte und endlich gegen dreiviertel acht Uhr sorgend aus dem Bette trieb; zur Winterszeit brannte längst im Nebengemach, unserm alten Kinder- und Märchenzimmer, die vertraute Hängelampe, und rasch ward nach dem Waschen und dem stets überhasteten Ankleiden, im Stehen meist, Hut auf dem Kopf, Bücherpacken unterm Arm, am runden gedeckten Tisch der Kaffee hinabgegossen: die still-behende Schwester war schon ihres Wegs gegangen ...

Unglaublicher- und doch natürlicherweise ist dann einmal die Zeit gekommen, da ich mich vor einem neugewonnenen Freunde, dem verwöhnten Sohn eines reichen Vaters, des kleinen Zimmers, wie überhaupt der engen Wohnung meiner Eltern, schämte, sehr zu Unrecht, nicht nur im moralischen Sinne, sondern auch, wie ich erst viel später erkennen lernte, vom Standpunkt des guten Geschmackes aus geurteilt, da die winklige Wohnung in dem uralten Hause und nicht zuletzt mein liebes schmales Zimmerchen voll heimlichen Reizes waren, der ja auch Räumen und Geräten angeboren wird, während das hohe und breite Jungeherrengemach jenes beneideten Freundes im neuerbauten Hause des Emporkömmlings mir in der Erinnerung den schalen Eindruck charakterloser Ödnis hinterlassen hat.

 

Das »Tor«

Dort, wo heut in der Ferdinandsgasse, wie auch sonst überall an der Stelle ehrlicher, gewachsener Häuser, ein neuer, unechter Prunkbau sich erhebt, stand in meinen glücklichen Kinderzeiten ein altes düsteres Haus, ehemals wohl eines der vielen herrschaftlichen, die die einst so schöne mährische Hauptstadt unauffällig zierten, damals längst von unachtsamen Erstehern verwahrlost, immer aber noch würdig in gelassener Schlichtheit trotz den mancherlei Brandmalen der handeltreibenden und -übertreibenden kleinbürgerlichen Zeiten. Seinen gewaltigen hochgewölbten Torbogen, die ehemalige Einfahrt, hatte ein italienischer Bilder- und Bücherkrämer seit langem in Besitz genommen. Früh, wenn ich zur Schule eilte, vervollständigte er seine Auslage, abends gegen acht Uhr räumte er seine Waren in die großen eisenbeschlagenen Kisten und legte klappernd die dunkeln Vorhängeschlösser daran. Sein Lager hatte drei ineinander übergehende Abteilungen: die Volksbilderbogen, die Bücher, meist Büchel, die Heiligenbilder, diese im Hintergrunde. Seinen Hauptstand bildeten aneinandergeschobene Tische, auf denen schwere flache verglaste Holztruhen sich erhoben, angefüllt mit bunten Heften. Mein Gebiet waren die kleinen niedlichen Theaterbüchel mit farbigen Falzrücken, später die Indianerbüchel, jene zu sechs, diese zu zwölf Kreuzern. Die Verbrecher-, die Gespenster-, die Rittergeschichten, die Volksbücher und die Volkslieder beachtete ich ebensowenig wie die vielen historischen, geographischen, zeitgemäßen, humoristischen Bilderbogen, die, an Schnüren mit Klammern aneinandergeschoben und die Torpfeiler hoch hinauf bedeckend, geradezu die Gasse belebten. Der Inhaber humpelte, ein Bein im rechten Winkel über eine Stelze gelegt, die andere Achselhöhle von einer Krücke gestützt, gelbhäutig, schwarzschnurrbärtig, mit regungsloser Miene und gleichmäßiger Stimme unter seinen Schätzen umher, kaum je etwas anpreisend, ungehalten über zudringliche Neugierige, die, die Bilderbogen an den Enden anfassend, sich niederhockten, um sie besser betrachten und halblaut ablesen zu können. Mir schien er ein mächtiger Herr über unerschöpfliche Wunder. Denn alles das war mir abenteuerlich, wunderbar. Ich betrat das Reich des Fremdartig-Weltfremden mit Bangen, verließ es stets mit ehrfürchtigen Schauern. Wenn mittags die Sonne auf den vordersten Ausläufern des hinten immer dunkeln und kühlen Gewölbes lag, war es mir fern und abweisend. Unter dem Scheine der spärlichen Straßenlichter des Abends, zumal im Winter, der in meiner Kinderzeit fast immer schneereich und prächtig war, wärmelte es mich an wie ich denn auch meist erst gegen Abend mich hineinstahl, da die einzige große Stallaterne am Eingang schwankende Schatten über den Wust von bedrucktem Papier schüttete.

Zwanzig Jahre später bin ich durch das »Tor« zum erstenmal als ein Besucher des Hauses hindurchgegangen; hinten eröffnete sich eine früher wohl bemerkte, aber nie fester ins Auge gefaßte Tür zu einer steinernen Stiege: eine Schauspielerin wohnte damals im ersten Stockwerk, der mein eitles, hoffnungsloses Werben – übrigens ein nach kurzem Flackern in sich selbst zusammensinkendes Flämmchen – galt. Das Tor war noch immer ein staubiger Bilder- und, wenn ich mich recht entsinne, auch ein Bücherladen. Ich hatte darauf nicht acht ...

 

Der Maler

Am Winterjausentisch bei Großtante Struck – es war die gute alte Zeit der langen guten Familienjausen – unter der Hängelampe sitz ich, ein Bub von drei, vier Jahren, und male, male mit dem Birnenstiel. Über mich beugt sich Mintschi, die Malerin, mit dem geistreichen Tituskopf, Tante Minnas Freundin, und lacht, sich schüttelnd, und bewundert meine stillen Werke; denn ich malte still für mich. Sie sagten damals alle, sie, die's verstehen mußten, Mintschi, die so herzlich auflachen konnte – Gott, sie konnten ja alle gut lachen, die Toten, als sie jung waren! –, und die andern, die bloß bewunderten, was immer ich Wunderkind tun mochte, Wunderkind schon deshalb, weil ich das erste und ein paar Jahre hindurch das einzige kleine Kind in der großen Familie gewesen bin, sie sagten alle, daß ich ein Maler oder sonst was Ungewöhnliches werden würde, und später sagten sie und andre, an mir sei ein Maler verlorengegangen. Etwas Wahres ist ja daran, denn ein Maler steckt in mir oder ein Zeichner, jedenfalls ein Beobachter, dem nichts entgeht, worauf er von innen heraus aufmerksam geworden ist, dann aber ein Maler auch in dem Sinn, daß Farben mich geradezu glücklich machen können, daß ich in Farben auflebe, an Farben mein Gemüt erfrische und erkräftige, mich wahrhaftig satt daran sehen kann. Aber ein wirklicher Maler ist nun doch nicht aus mir geworden, obwohl ich später um meines angeblichen ungemeinen Talentes willen sogar regelrecht zeichnen zu lernen anfing, bei einem sonderbaren Lehrer, der zwar nicht ohne Hände, aber ohne Finger auf die Welt gekommen war, denn seine Finger – das Grausen meiner Mama, die jedermann auf die Hände sah und jedermanns Hände kannte, von jedermanns Händen als von dem für ihn Ausschlaggebenden sprach – waren die reinen Stumpen, staken wie abgehackt an der klobigen Hand. Ich hab nicht viel bei ihm erlernt, noch weniger in der Schule, obwohl ich Professor Gärtners ausgesprochener Liebling gewesen bin, des kleinen, eingedörrten Männleins, das so entsetzlich wüten konnte gegen gewisse unverbesserliche Übeltäter, bei mir aber in der Bank liebevoll festsaß und aus meinen mühsamen Nachbildungen mit runden, vollen, saftigen Strichen ausdrucksame Darstellungen gestaltete. Auch später nichts bei dem schrulligen, läppisch kichernden verabschiedeten alten Zeichenlehrer in der mährischen Kleinstadt, dessen mißgestaltete und verwahrloste Hände mich an die jenes mir bis auf den Namen verschollenen, stillen ernsten Künstlers erinnerten. Ich hab eben kein Maler werden sollen, wenigstens nicht in Öl- und Wasserfarben, Buntstiften und Kreiden, obwohl ich alle diese Mittel zur Kunst von klein auf inbrünstig liebte und noch heute zumal an einer Reihe feingespitzter und verschiedenfarbiger Bleistifte ein geradezu kitzelndes Vergnügen empfinde, auch stets ihrer eine größere Anzahl in den Taschen mit mir trage. Aber es ist nichts damit; mein Malen hat sich einen andern Weg gebahnt. Mintschi, die kluge, mit dem Bubenkopf, wäre mit mir zufrieden gewesen, ja, ich glaube, sie hätte mich wieder bewundert wie einst das Kind.

 

Brunnen

Edi war ein Kind von zwei bis drei Jahren, krummbeinig und nur mit einem Hemd bekleidet, zwischen den Hinterbacken und die Schenkel entlang stets dreckig. Bimbo war ein Hund von einigen Monaten, klein und kurzbeinig, mit einer dichten schwarzen Wolle bedeckt, aus der zwei runde Augen wie Johannisbeeren hervorglänzten. Beide Geschöpfe gehörten den Hausleuten. Das Haus selbst war ebenerdig, hatte nach vorn rechts und links je ein Fenster und in der Mitte eine vorgebaute hölzerne Veranda, durch die man über zwei, drei Stufen eintrat.

Im Hofe vor dem Häuschen, den ein Zaun umschloß, befand sich ein Röhrbrunnen mit einem Schwengel. Unter diese Pumpe zwangen wir eines Tages – die Sonne strahlte wie immer wunderschön auf unser Gebaren herab – erst Edi und dann Bimbo, sie zu reinigen. Es war eine ernste Sache, und wie bei allen ernsten und notwendigen Dingen im Leben ging es nicht ohne Gewalt und Wehren der Betroffenen ab. Aber es gelang. Der Hund zumal hätte den Tod davontragen können. Doch hat ihn unser Geschick davor bewahrt. Ich war damals fünf, meine Schwester Lotte drei Jahre alt. Wir waren einig und überzeugt von unserm Beruf, und das soll man sein, wenn man sich dort zu reinigen entschließt, wo es nottut. Geholfen hat es wohl kaum; jene beiden Geschöpfe blieben schmutzig, nach ihren Gaben, wie »Wildtöter« zu sagen pflegte, der zwar nicht lesen konnte, aber das Leben um so besser verstand.

Ein anderer Brunnen war bedenklicher als dieser mit seinem leichten, immer hoch hinaufsteigenden Holzschwengel. Der andere stand im Hofe des Hauses, wo, nach ihres Vaters Tod und ihrer vom Leben enttäuschten verwitweten Mutter Heimkehr, meiner Mutter Mädchenjahre gleichmäßig hingeflossen waren und wo auch meine Kinderjahre wie ein in sich selbst zurückkehrender gemächlicher Gartenkiesweg eine ihrer regelmäßigen Sonnenseiten erlebt haben: dem lieben Hause mit dem roten Dach, das wie ein Hühnerhaus alle meine Verwandten beherbergte und von früh bis abend vom geruhigen Geräusch der freundlich miteinander Verkehrenden erfüllt war. Der Brunnen ward von allen Nachbarsleuten aufgesucht und gab geduldig und unerschöpflich her, was man ihm abgewann, recht mühsam, wenn er nicht, an die Dampfmaschine der kleinen Fabrik angeschlossen, unaufgefordert und gleichsam unaufhörlich spendete. Sein Schwengel war aus schwarzem Stein. Ein leicht stöhnendes Sausen ging von diesem Schwengel aus, wenn er wie von einem Geist getrieben pumpte. Das Wasser strömte dann in einem dicken, starken Strahl aus der gebogenen Eisenröhre und verschwand durch ein an den Rändern fein bemoostes Loch, das inmitten eines viereckigen stumpfrandigen Steinbeckens starrte, in der Tiefe: ein Anblick, der mich immer wieder zu fesseln vermochte. Aber die Magie des selbsttätigen schweren Schwengels hätte mir einmal fast das Leben gekostet. Denn angezogen von der nicht zu hemmenden Bewegung dieses Unermüdlichen, versuchte ich, ihm mein Dasein aufzuzwingen, erprobte seine vernichtende tote Macht und sank unter seinem wuchtigen Schlag zusammen; der Schwengel hatte meinen Kopf getroffen. Fast möchte ich meinen, mich noch an das Gefühl dieses dumpfen Hiebs des Kolbens erinnern zu können, der, nachdem er mich erledigt hatte, dumm und roh weiterwerkte im zugemessenen Ausholbogen. Ich habe den Schlag überlebt und manchen andern auch.

 

Stallgeruch

Ich bin an manchem Pferdestall vorbeigegangen, ich habe viele Tage und Nächte und jeweils wieder manche Stunden in Stallungen verbracht, ohne die Erinnerung an den einzigen Stall zu empfinden, der meine Kindheit seltsam beseligt hatte ... Eines Tages eilte ich in voller Sonne einen dünn mit Bäumchen besetzten Fußsteig in der Vorstadt zur inneren Stadt hinab, als mich plötzlich voll der dumpfe Heu- und Mistgeruch eines Pferdestalles, den ich nicht sah, befiel: da stand jener erste Stall meiner Seele leibhaftig vor mir.

Es war bei einem Oheim, der damals auf der Höhe ehrfurchtgebietender Wohlhabenheit sich sonnte. Er führte den Knaben, kurz und knapp im geräumigen Hofe Grüße Untergebener mehr ablehnend als erwidernd, über ein paar rote Ziegelstufen durch eine rasch aufgestoßene schwere Tür in die vornehme Dunkelheit seiner Kühle. Die Pferde wandten die Köpfe. Durch ein hochangebrachtes Fenster sah man belaubte Äste, strich grüner Wind. Da war der unendlich wohlige Geruch, gemischt mit stumpfem Stampfen auf vollem Stroh. Kein Märchen von einsamen Schlössern, die man nachts mit der Laterne betrat, um vor dem angekündigten Spuk die reichlich mitgebrachte Mahlzeit bei hohen Kerzen erwartungsvoll zu verzehren (dem Leser bangt in wonnigem Gruseln das Herz, zumal da er schon weiß, was kommen wird: der Rotmantel oder der Alte im schlohweißen Barte), hat je meine Kinderseele abenteuerlicher ergriffen als dieser ewige Augenblick ... Eine Weile später stand man wieder im Freien, im Hofe, und das Stalltor mit den Handbügelringen schloß sich knarrend; atmend setzte die Welt ein ...

 

Kindersommergeräte

Ein buntes Ballnetz, wie es Kinder umgehängt tragen: kann ich die Kinderempfindung davon ausdrücken? Das Geheimnis daran ist die Verbindung von Gewichtslosigkeit mit Behälter. Es ist eine leichte Stricksache, leer liegt es weich und flach, hängt schlaff; aber schiebt man, seinen Mund geschickt aufspannend, einen dicken Gummiball hinein, so schwillt es zu sich selbst, hat Form und Gehalt, Gewicht und Gewichtigkeit, Ausdruck und Wesenhaftigkeit.

Und der wohlige Gummigeruch des Balles, seine glatte, glänzende Lackschale, die hellen Farben, die gleichmäßigen Flächen der sich wiederholenden Farbenbezirke, durch feine Rippen voneinander geschieden, atmen Verheißung: Hochspringen und den dumpfen, vollen Ton des Aufpralls.

Netz und Ball zusammen aber sind Frühling, sind gleichbedeutend mit froh-ungeduldigem Aufbruch, mit vollem, grünem Laub, mit braunem Sand, mit blauem Himmel und schwankenden Sonnenflecken.

Und die Botanisierbüchse: kühl, grün, innen von glänzendem Zinn; der Deckel, aufgetan und hintenübergelegt, eröffnet die in ihrer Unberührtheit unendliche Bergungsmöglichkeiten bietende Höhlung; zugeklappt angenehm weich mit den klammernden Bügeln übergreifend um den behaglichen gewölbten Bauch, dessen schlanke Walzenform etwas Jägermäßiges hat, verleiht er der Büchse, sie zur festen Gestalt beschließend, Würde; man schwingt sie am breiten, grünen Band, an dessen angespannter Rauheit mit dem Finger hinzugleiten oder ihn unterspreizend den Stoff zu straffen so angenehm besitzerhaft ist, leicht über den Rücken, steckt den Arm durch das Tragband und ist nun, den gelben Rohrstab mit dem Schmetterlingsnetz obenan in der Hand, auf jegliches Abenteuer gefaßt.

Das Schmetterlingsnetz: man steckt gern das Gesicht hinein, läßt die engen steifen Maschen des Florgewebes kitzelnd über die Wangen streichen, oder man stülpt es sich über den Kopf, also daß der Drahtrand, vom Gewicht des hinten herabhängenden Stabes fest an die Stirn gezogen, fremd in seiner Kühle, einen sekundenlang Ferne träumen macht.

 

Alter Hausrat

Bei uns gab es Trumeaus, Chiffonièren, Appliquen, Etagèren, Kanapees, Chaiselongues, Kredenzen, Sekretärs, Fauteuils, Toiletten; Capricepölsterchen, Jardinièren, Ridiküls, Portemonnaies, Etuis, Souvenirs, Pompadours, Notes, Nippes: alle diese fremden Worte, zum Teil mißbraucht und falsch verwendet, wie Plumeau und Jalousie, waren den Kindern vom häufigen Hören geläufig wie der Salon, die Visite, die Parte (man sagte: der Partezettel und meinte Todesfallanzeige), die Reconnaissance, der Portier, die Capote, die Saucière, die Galoschen, der Crayon, der Plafond, der Plaid, das Podium; man dachte darüber nicht nach und gab sie als vertraute Bezeichnungen im Kreise weiter, obwohl manche von ihnen längst Gespenstern galten, die in der schlechten Übergangszeit der achtziger Jahre aus dem Hausrat entfernt und durch Parvenüs ersetzt worden waren.

Heute leben die alten Dinge rings um uns wieder auf, und ihre Namen kleiden sie altertümlich-heimlich, da man sie nicht mehr auf die beseitigten Eindringlinge verwendet. Alte Geräte sind aus Gesindestuben und Bodenkammern hervorgeholt, vom Trödler und auf Versteigerungen erstanden, sind gereinigt und instand gesetzt worden; was den vom Ungeschmack ihrer neuerungssüchtigen Tage mißleiteten Eltern getaugt hatte, die plötzlichen historischen Möbelmoden sind verschwunden, der falsche überladene Prunk der Plüsche, Rahmen und Spiegel, der bemalten Wandbretter, gestanzten Schaugefäße und Majoliken, die Fabrikseuche der Bijouterie- und Galanteriewaren hat dem blanken, glatten, dauerhaften Wesen der Urgroßvätergeräte weichen müssen: man lebt unter aufpolierten Vergangenheiten, unter hundertjährigen geruhigen Pendeluhren, während draußen Lärm und Stank der Neuzeit hausen. Es ist eine süße Melancholie um alle diese uralten Dinge, die so lang unter Staub und Motten verbannt gewesen waren und nun mit den verblichenen Eingeweiden von Roßhaar, Drahtgestänge und Tragbändern, mit den aus Rost und Fäulnis aufgeweckten Verbindungsstücken unter die elektrischen Lampen neben die neuen schweren englischen Messing- und Ledergefährten gestellt worden sind. Man träumt wohl davon, daß sie im Mondlicht manchmal zu sich gelangen und murmelnd Erinnerungen austauschen aus den Tagen der Toten.

Dort steht ein sanft geschwungener Armstuhl, zwischen dem leichtgeschnörkelten glänzenden Holzrahmen mit sattem, dunkelrotem Samt bezogen. Auf ihm hat wohl schon der Vater dessen gesessen, der ihn, siebenundachtzigjährig, vor zehn Jahren verlassen hat, auf ihm hab ich, immer wieder mit dem Schlafe kämpfend, der mich endlich, während ihr Todesröcheln andauerte, übermannt hatte, die letzte lange Nacht am Sterbelager Mamas verbracht: nun steht er neben Genossen, die ihm zum größten Teile fremd gewesen sind, ihn aber anheimeln müssen, da sie ihm wesensgleich, ebenso schlicht und gesetzt sind wie er selbst, der Großvaterstuhl aus dem ehrlichen Geschlechte der vierziger Jahre. Und zu der langen Mahagonipendeluhr über der Büste des Herzogs von Reichstadt mag er leicht geschmeichelt wie zu einer unerreichbaren Marquise aufschauen.

In meiner Kinder Zimmer steht breit auf vier gekrümmten festen Füßen der alte runde Tisch, an dem ich selbst den seligen Traum der Kindheit träumte, Robinson, Lederstrumpf und Gulliver las, meine Zinnsoldaten-Schlachten schlug und meine braun gewandeten Schreibhefte mit steifen Schriftzeichen vollschrieb, der Tisch, dessen auseinanderschiebbare, weiße, rein gescheuerte Platte meine grübelnden Ellenbogen gedrückt haben und der, auf die Seite gerückt und mit einem Stuhl bestellt, von dem ein wallendes Bettuch herabhing, als prächtigste Seitenkulisse alle die zahllosen Gasthäuser meiner Theaterabende vorzustellen gehabt hat, wie unter ihm früher unser Hausdämmerglück bei Puppengeschirr zeitlos hinflutete.

Einmal werd ich euch aber verlassen, treugehegte stumme Gefährten meiner erfüllten Erdenfrist, kann keinen von euch mitnehmen, und wer weiß, vielleicht wandert auch ihr noch zum Trödler, bis euch ein anderer zu sich heimholt, vom Staube reinigen und herrichten läßt, um euch befriedigt zu betrachten und, diese Blätter in der Hand, dem ehemaligen Eigner nachzusinnen, ahnungslos und ahnungsvoll, von einem Etwas aus dem Dunkel angesprochen, dem er sich vergeblich müht, wie aus traumhaftem Einklang heraus zu antworten ...

 

Goldfische

Goldfische sind aus der Mode gekommen. Bei uns gab's noch Goldfische. Jahrelang glitten sie, ausdruckslos, aber glitzernd, in ihrem runden Gefäß durch die sorglich erneuerten Fluten ihrer kleinen Welt, standen, den wippenden Mund ans Glas gepreßt, glotzig, starr hinter der manchmal geheimnisvoll das Zimmer spiegelnden Wand ihres Gefängnisses, schnappten auftauchend nach Brocken und schwammen eines Tages, den weißlichen Bauch zuoberst, tot auf der unbeweglichen Wasserfläche.

Es gab niedliche Goldfischtischchen mit eingelegten Porzellan- und Emaillebildchen, mit vergoldeten Arabesken, mit holzgeschnitzten Gnomen, die auf dem umlaufenden Rande der Behälter hockten.

Ich habe niemals eine Beziehung zu den seelenlosen Geschöpfen fassen können; nur wenn sie gestorben waren, dauerten sie mich. Einen Tag. Wie die Kanarienvögel, die immer wieder einmal auf dem sandbestreuten Boden ihres angenehm riechenden Käfigs die dünnen Ständerchen mit den gespreizten Zehen so unendlich traurig in die Luft streckten. Diese hüllte man in Watte, barg sie in Schächtelchen und begrub sie. Jene warf man weg.

 

Geruch von Damals

Es ist eben nicht dasselbe. Eines zumal fehlt den Dingen: der besondere Geruch, der Geruch des einzigen Erlebnisses. Zum Beispiel die Zinnsoldaten. Zinnsoldaten, genauso verpackt, in ebenso sauberen Holzschachteln, gerade so nett aneinander rundum geschoben auf farbigen Papierscheiben, haben ja auch meine Kinder, aber es ist nicht der Geruch meiner Zinnsoldaten, nicht der Geruch meiner Zinnsoldatenschachteln. Es gibt nichts Wunderbareres, als wenn man einmal – es geschieht zuweilen, selten, und es ist das zauberhaft Flüchtigste, was es geben mag – diesen selben alten Geruch an den Dingen spürt: mit einemmal ist alles da von einst, gleichsam als wäre man plötzlich wieder eingepuppt in sein seliges einsames, allen andern unzugängliches Kinderdasein. Auch bei Zinnsoldaten ist mir einmal, ein einziges Mal, die Gnade dieses Wunders zuteil geworden, flüchtig, o unendlich flüchtig, aber es hatte genügt: ich war das Ich gewesen von damals, in einem schwindelnden Augenblick von Ewigkeitskraft.

Ob man drüben, jenseits des Menschendaseins, auch so sich selbst von einst erlebt, den Menschen? ...

 

Grossmutter

Großmutter erzählte manchmal aus ihrer Kinderzeit, und das war mir eines der merkwürdigsten Märchen. Von ihrer Mutter Fanny erzählte sie, die nur verschleiert zur Kirche ging: so vornehm war sie, und von ihrem Vater, der, »bürgerlicher Goldarbeiter« und Hauptmann der Bürgergarde, außer den Wagenpferden ein Reitpferd besaß und ein strenger und würdiger Herr gewesen zu sein scheint, denn wenn sich die Mutter einmal beim Spiel verspätet hatte, zu dem sie im Winter täglich gegen Abend, da's nicht bei ihr stattfand, außer Haus ging, kam sie in größter Hast, ängstlich vor ihres Mannes Rüge, heim. Von ihrem einzigen Bruder Moritz erzählte sie, der so gern an der heiligen Messe als Ministrant diente und auch sonst sich in den äußern Dienst der Kirche stellte, was aber der Vater nicht leiden mochte, also daß es bloß insgeheim und mit Gewissensbissen geschah. Einmal begegnete er, an der Spitze eines Leichenzuges als Kreuzträger schreitend, dem Vater, der zu Pferde war: der Schrecken überwältigte ihn, er lehnte das Kreuz an die nächste Hauswand und entfloh, obwohl ihn jener gar nicht bemerkt hatte.

Großmutter besaß manches alte Gerät, hielt aber nicht eben viel darauf. Damals waren die alten Sachen noch nicht Mode geworden, und vieles ward verschleudert, was heute mit Bedauern gemißt wird. Was sich erhalten hat, steht freilich in um so höheren Ehren bei uns Enkeln. Bilder und Schriften hat sie leider fast alle verbrannt, darunter auch Großvaters Bildnis.

Sie war von einem eigentümlichen Geist, abhold jedweder äußerliche Andenken pflegenden Rücksicht, nicht mißtrauisch, aber ablehnend gegen noch so wohlwollende Neugierde. Sie hatte gleichsam ein großes Grab gemacht, selbst, rasch und heimlich, und nun war der Hügel da, und Gras sollte darauf wachsen. Was geht das andere Menschen an, war der Sinn dieses von Bitterkeit nicht freien Abtuns werter Dinge. Aber um so inniger lebte in ihr, tief, raunend, die Vergangenheit, und manchmal spendete sie davon dem gerne fragenden Enkel. Ich habe viel mit ihr verkehrt, liebte ihre starke Frömmigkeit, ihre herbe Weltmeinung und ihre derbe, wahrhaftige Sittenlehre. Sie war ein Mensch von großen, einfachen Zügen und verstand alles, wenn sie es auch, bescheiden, nicht Wort haben mochte. Ihre Augen waren graublau, traurig, mild, ihr Mund, von verschwiegenem Schmerz gekrümmt, fest, die Nase markig, die Stirne trotz den vielen feinen Falten rein. Güte, selbstverleugnende, durch Kasteiung zur Größe geadelte Güte war ihr Wesen. Ihre Rede war aufrecht, klar, ihre Schrift, ein wenig schnörklig, lief rund und schön in deutlicher Aussage dahin, schlicht und kernig. Sie war Adalbert Stifter ähnlich, in ihrer Lauterkeit und Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern auch im körperlichen Ausdruck. Sie hing an den Ihren und hielt auf sie, hat sich jedem andern Menschen, oft mit entschiedener Ablehnung, verweigert. Einsamkeit war der Grundton ihrer Art. In ihrer treuen Nähe war man sicher. Kein Hund hat sie je angebellt. Vor ihrem Fenster sang noch, da sie starb, die Nachtigall.

 

Die Lori

Die Lori war nicht etwa ein Papagei, sondern eine Näherin von unbestimmbarem Alter. Sie fletschte beim Grinsen ein riesiges, gelbes Gebiß, und sie grinste immer, wenn sie sprach oder das tat, was ihr anstatt des Sprechens als Ausdrucksmittel gegeben war. Sie war, wenn man es gelinde bezeichnen mag, schwerhörig, gröber, aber immerhin zutreffender ist das Wort taub. In ihrem Fletschen und Grinsen – diese Verbindung war eine Einheit und nicht etwa ein Lachen, wenn auch freundlich gemeint – hatte sie einen von allen längst gebilligten Ersatz für das Hören, das ihr wohl seit jeher mangelte, aber nicht fehlte. Sie brauchte es eben nicht. Um so unverständlicher sprach sie. Ihr Sprechen oder das, was ihr dafür gelten mußte, war dem Geräusch der Nähmaschine ähnlich, die sie unausgesetzt fußhabte (handhabte, was selbstverständlicherweise hier nicht am Platze ist, klingt nicht etwa schöner, lieber deutscher Leser; lassen wir es bei fußhaben bewenden; es ist unbedingt richtig). Die Lori saß immer bei jemand anders von uns, einmal bei Großmutter, einmal bei Tante Struck, einmal bei Mama. Für uns Kinder war es ein Ereignis, wenn sie da war. Morgen kommt die Lori, war eine Ankündigung von einer sozusagen heisern Festlichkeit. Es war keine Freude, aber eine Abwechslung. Ein bißchen Grauen war wohl auch dabei. Wie vor einem Affen. Aber Grauen gehört zu Festlichkeiten, wenigstens im Anfang.

Manche konnten sich mit der Lori sehr gut verständigen. Zum Beispiel Großmutter. Die schrie sie wie ein Feldherr an. Da merkte sie sozusagen von ferne hin. Es berührte sie ein leises Lüftchen, ein Tonwellchen. Und plötzlich sah sie fletschend auf. Große Augengläser funkelten empor, und die unbeschreibliche Nase, eine Nase, im Wittern erstarrt, stand steil. Nun ging das Gespräch an. Mit starken Gebärden und viel Mißverständnis, aber noch mehr gutem Willen. Und unzähligen »Ah so!« Diese »So« waren lang, flötend, Erleichterung kündend und, wenigstens bis zum nächsten Mißverständnis, erleichternd.

Die Lori hatte einen Sohn. Von dem erzählte sie immer. Kreischend, in einer einzigen Tonlage. Scheinbar ohne Atem. Der Sohn hieß Pepi, Josef, und war Sänger. Er muß es wohl geworden sein, aber sein Schicksal hatte für uns seine Vergangenheit ganz erfüllt. Er war schon Sänger, eh er es – und mühsam, langwierig – wurde. Er lernte singen. Und die Lori ahmte nach, wie er sang. Wie er übte, sich zum Sänger erzog. Sie hat ihn denn doch manchmal hören müssen. Er ist später wirklich und wahrhaftig Opernsänger gewesen. Es hieß immer, es wäre schade, daß er so klein sei. Ihm fehlte zu seiner Stimme die Gestalt. Man sprach öfters davon, daß er eine große Stimme hätte. Man sprach davon mit einem kleinen Klang von Unwahrscheinlichkeit. Für uns aber war die Lori dadurch noch geheimnisvoller geworden. Der Pepi hatte eine große Stimme. Derselbe Pepi, den man manchmal sehen durfte, wenn er die Mutter – sie war ja stets außer Haus, wir konnten sie uns in einem ordentlichen »zu Hause« gar nicht vorstellen – bei jemand von uns besuchte. Er stand dann auf, sobald wir, wir Kinder nämlich, hereintraten. Man war auf beiden Seiten verlegen. Man sagte »Grüß Gott« oder auch nichts. Und er gab einem die Hand und sagte nicht viel mehr. Er war untersetzt und hatte, wie die Lori erzählte, einen ungeheuren Appetit.

Daß die Lori zu etwas anderem auf der Welt wäre, als um bei uns in der großen Familie herum zu nähen, tagaus, jahrein, das kam uns nie in den Sinn. Kinder haben viel Gefühl für Sklaventum. Es ist ein Urinstinkt im Menschen. Denn der Mensch ist grausam von Natur. – Und doch hat die Lori einen Sohn gehabt, einen vergötterten Sohn, noch dazu einen begnadeten, nur wir kleines, hartes Sklavenhaltergeschlecht hatten davon nichts bemerkt. Denn der Pepi war ja wohl »der Lori ihr Sohn«, aber sie war doch nicht wie Mama eine Mutter, sie, diese selige, starke, aufopfernde Mutter ... Die Lori eine Mutter – das hätte ich damals nicht begriffen. Und sie auch nicht von uns verlangt. Gut für sie, daß sie es so unbefangen gewesen ist.

 

Onkel Louis

Nicht dem Mimen, aber dem Menschen möcht ich ein paar Blumen auf den kalten Grabstein legen, nicht Ludwig Stahl, Hofschauspieler und Oberregisseur in Dresden, sondern Onkel Louis, weiland Onkel Beers ältestem Sohne, in Mamas Namen wie im eigenen. Ich weiß es ja und werde es nie vergessen, daß sie dem Liebenswürdigen über alle die den andern höchlich befremdlichen Schicksale hinweg treugeblieben war, daß sie ihn von Herzen gern gehabt hat, nicht nur, weil an ihm ein Hauch ihrer Jugend hing, sondern weil sie in ihm, was ihr später seliger und bekümmernder zugleich der eigene Sohn bot, das erblickte, dem sie in aller Stille mit dem Tiefsten ihrer starken Seele, der Sehnsucht, gehuldigt hat, die Romantik.

Onkel Louis hatte einen schönen freien Kopf. Aber er saß auf einem gedrungenen Leibe. Der Leib war Soldat geworden, der Kopf aber strebte über den Leutnantskragen hinweg nach etwas Höherem als dem Dienst, und eines Tages war er davongegangen und hatte den schwerfälligem Leib entführt. Die braven Eltern erfuhren es erst hinterher. Es ist mir nicht genau bekannt, wie sie es hingenommen haben. Aber mir schwant etwas von einem bürgerlich gesinnten Vatersfluch und einer herzlichen Mutter – nach ihr als ihrer Patin hieß die meine Minna – schwerer, stummer Trauer. Später hat sich alles, wie man zu sagen pflegt, gegeben. Aber da war der Vater schon tot, und die Mutter trug den Tod in sich und ließ ihn bloß ausreifen.

Ich lernte Onkel Louis erst wieder kennen, als er – an sich ein Ereignis, das für feinste Lauscher der Erwähnung wert ist – ein paar Sonntage als Gast das Turmzimmer der »Villa« bewohnte. Ich war ein Bub, und die Kühnheit seines bis ans allzufrühe Ende Kinder und Frauen erobernden Wesens bezwang mich. Er war mir in diesen Tagen der Held, den der Knabe braucht. Es ist kein Unterschied zwischen Alexander dem Großen und Onkel Louis: Heldenverehrung ist der Sinn erlebter Geschichte. Ich hatte meinen Helden.

Seine Stimme war laut und übermütig. Sein Geist war sozusagen ins Genick zurückgeworfen wie sein Haar, durch das rasch die hübsche Hand fuhr. Sein Schritt war raumgreifend wie sein Wille. Er ist nur ein Schauspieler geworden: was hat das zu bedeuten? Er war ein Mensch, der strahlte. Ich sehe noch den Lichtschein, der um ihn ergossen war.

So ging er eines Vormittags mit mir in den Wald aufs Jägerhaus. Was soll ich sagen? Ich schritt neben Alexander dem Großen. In der Lichtung auf der Höhe, am Waldrand, wo es von Holz und Sonne duftete, war eine Schaukel angebracht. Ich habe Schaukeln nie geliebt. Sie rochen mir nach Übligkeit. Mir schwindelte leicht. Aber Onkel Louis fragte mich: »Willst du schaukeln?«, und ich sagte unbedingt: »Ja«. Ein Spießbürger lag im Grase, neben sich sein Kind. Dem war irgend etwas nicht recht, da wir uns, Alexander mit Erobererschritten voran, der Schaukel zuwandten. Er wollte Ruhe haben, wies auf das, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, schlafende Kind hin. »Was schert mich Ihr Wurm!« sagte Alexander der Große, und »Komm!« sagte der Gebieter meiner Welt. Da saß ich in der Schaukel, hielt mich an den Seilen und roch Übligkeit. Aber ich schloß die Augen und flog in die Wipfel. Mein Held war Sieger, Sieger über den Wurm, den Spießer, mich, den Wald, die Welt.

 

Kunzfeld

Alter Kunzfeld, Turnwart und Photograph, auch dir sei ein Kränzlein gewunden in Dankbarkeit und Treue.

Sowie für die durchaus bürgerlichen Kreise der Hauptstadt – der Adel, der wirkliche alte, landständische, lebte längst nicht mehr in der Stadt, sondern auf seinen Schlössern, und den neugebacknen aufgeblasenen, lächerlichen Adel, der später so üppig ins Kraut geschossen ist, gab's damals noch nicht – nur ein Zuckerbäcker, eine Spielwarenhandlung, ein Eisenladen, ein Bierhaus, ein Leseverein, eine Putzmacherin, eine Vordruckerei in Betracht kamen – man sprach von ihnen, wie man vom Wetter, von den Kindern, von der Küche sprach, als von etwas Selbstverständlichem, Ewigem –, so besaß nur ein Photograph das Vertrauen, die gemessene Kundschaft seiner Mitbürger: Herr Kunzfeld, der runde, kleine, kinnbärtige, freundlich-würdevolle Künstler.

Wenn es hieß: »Morgen gehen wir zum Kunzfeld«, war das wie eine Hofansage. Man wußte, was es bedeutete: das beste Gewand, die gefälligste Miene und ein Familienereignis, dem die Bildaufnahme galt. Vormittag ward aufgebrochen (es kam vor, daß man zu der Staatshandlung, um gewisser Kleider willen, sogar fuhr). Schon vor dem Hause zu stehen, war angenehm-gruselig. Denn man wußte, daß das Abenteuer erst weit hinten anhub, im Garten. Das Haus war bloß ein täuschender Vordergrund, für Anfänger eine Falle. Durch den Garten gings, einen großen, sorgfältig gepflegten, aber nicht um seine wachsende Natur gebrachten Garten, auf schön gewundenen Wegen, die das grausame Vergnügen des Herzklopfens verlängerten, zu dem »gläsernen« Gebäude des Photographen, das mit feierlich kühlem, fliesenklapperndem Vorraum den immer mehr bedrückten Gast in Empfang nahm. Da standen auf verhängten Tischen die wunderbaren Kasten, die sich um eine Achse drehen ließen, worauf die zwei Reihen von Bildern mit dumpfem Aufklappen verschwanden und andern Platz machten, ein Spiel zu scheuer Wonne, bei dem man, obwohl's gestattet, ja gewünscht war, sich ungern vom Meister der Wunderwelt ertappen lassen mochte.

Endlich kam der höfliche Beherrscher des Zauberpalastes selbst, die Spuren geheimnisvoller Tätigkeit im alltagsfernen Wesen, in kurzer Samtjacke und grauen Turnhosen, das schüttere Haar einigermaßen wallend, aber nicht allzusehr gegen bürgerliche Grenzen verstoßend, auch im Beruf ein gewichtiger Teil des hohen Rates der Stadt und vielfältiges Ehrenmitglied von unsäglichen Vereinen, ein Geliebter, ein Geschätzter, ein Unbedingter. Man folgte seinem Wunsch – wie hätte man zögern dürfen! –, sich weiterzubegeben. Man betrat durch ein nur mehr halbklar erblicktes Verbindungsgemach das Allerheiligste, nein, den Tempel, denn das Allerheiligste war die Dunkelkammer mit jenem magischen roten Licht, das ich in meiner Kindheit glimmen sehe gleich dem Kronrubin eines Raimundschen Geisterfürsten.

Da stand die grausilberne Hintergrundlandschaft, die man auf Sockelfüßen verschieben konnte. Da standen zu senkende weiße, lichtdurchlassende Stellschirme, da standen die veritabeln Versatzstücke dieser heimlichen Bühne: der geschnitzte, hochlehnige, dunkle Stuhl, das zierliche Sofa, das den Kindern vertraute »Hockerl«.

Nun schritt der Bedächtige ans Werk. Er trat hinter das aus bohrendem Glasauge glotzende Gestell, er hob ein tiefschwarzes Tuch auf, er duckte sich darunter, er trat wieder hervor, er hob messingene Klappen ab, schraubte und richtete am Harmonikakasten. Er bat um Ruhe, er versammelte die ungebärdigen Gliedmaßen, er glättete Falten, hauchte Stimmung ins Antlitz, gab dem Lächeln Haltung, schob dem Genick eine kalte Klammer zwängend an, zupfte am Kleide, hob Hände, ließ sie sinken, ordnete durcheinander wimmelnde Beine; endlich schritt er zur süßen Hinrichtung. Wollust durchschauerte das Mark, eine bange Ewigkeit stand still vor einem drohenden Zeigefinger, der bärtige Mund murmelte zählende Zeichen, das Auge heftete sich starr, verglasend auf ein an einer Stange mit einem Reißnagel befestigtes verblaßtes Bildnis einer merkwürdigerweise zu dieser Schaustellung auserlesenen Dame aus der ferneren Bekanntschaft ... Es war geschehen. Nun hatte man Zeit, sich zu sammeln. Freilich, er konnte, wiederkehrend aus der geheimnisvollen Kammer – manchmal, selten, hab ich ihn dahin begleiten dürfen, im Silberdufte gruselnd an seiner Seite an das flache Becken tretend, darin er leise plätschernd die Platte spülte –, noch einmal, was mißlungen war, beginnen ... Endlich schritt man wieder wie im Traum durch den in der Mittagssonne brütenden Garten, erblickte geistesabwesend etwa einen messingnen Stangenkäfig mit einem bunten Vogel, roch den Duft von Erdbeeren oder ging durch den modernden Schatten eines schlummernden Gewächshauses. Dann stand man auf der Straße. Das Haus lag in vollem weißen Lichte. Jenseits war das »Glacis«, die grüne Welt des lieben Alltags, durch die man nach Hause wandelte, nachdenklich, gereift, seltsam beschwert mit unbestimmter Sehnsucht, ein wenig traurig, aber unendlich angeregt. Plötzlich fiel es einem ein, daß nachmittag Großmutter und Tante Laura zur Jause kämen, und man war froh, beruhigt, wieder bei sich. Nur ein leises Dröhnen wirbelte im Blute nach.

 

Die Bühne meiner Toten

Der Bücherschrank meiner Mutter stand im Salon, dem sogenannten letzten der drei Gassenzimmer. Es war ein verdüsterter Raum, der uns Kindern groß schien und immer einigermaßen unheimlich blieb, weil man darin nicht lebte, bloß, wenn fremde Besucher empfangen wurden, hineingerufen ward, sich zu zeigen und nach Namen und Alter befragt zu werden, und weil dort die Weihnachtsbescherung stattfand. Geheimnisvollen Reiz verlieh dem mit dunkelgrünen Samtmöbeln bestellten, durch einen hohen Standspiegel vertieften Gemach eine stets verschlossene Türe. Ein langer Schlüssel stak still in ihrem aus Messingblech breit und kantig verfertigten, in ruhiger Glätte glänzenden Schloß. Sie führte, wie man zwar wußte, weil man aber nie hindurchging, sich doch nicht recht vorstellen konnte, in den schmalen gemauerten Gang, von dem man auf einer steilen Holzstiege in das zweite Stockwerk hinaufstieg. Der Raum zwischen dieser, der Innen-, und einer nicht ganz erblickten zweiten, der Außentüre, war durch einen flachen Kasten und hoch hinaufreichende Fächer zu einer behaglichen Vorratskammer gestaltet, die stets köstliche Dinge beherbergte, frisches Obst, eingemachte Früchte und Backwerk, zuweilen aber auch, vor dem Christfest, Geschenke barg.

In den Salon trat man über eine der Dicke der alten Mauern gemäß breite Schwelle und erfreute sich jedesmal an den blanken Messingknäufen, die würdig aus dem Mittelfeld der ins Speisezimmer aufgelehnten Flügeltüren ragten. Links vom Eingang, in der Nähe des schräg über die Ecke dieser Schmalseite gestellten weißen Kachelofens, stand bescheiden der Bücherschrank. Er hatte eine mit einer Milchglasscheibe versehene Tür und darüber eine Lade. Auf ihm erhob sich zwischen zwei grün angelaufenen Doppelleuchtern – ich höre noch das Klirren der Kerzengläschen; die Diele schwang – eine mit einer italienischen Landschaft bemalte Vase.

Ich weiß es nicht mehr, wann ich zum erstenmal in sein Inneres Einsicht nehmen durfte. Aber unvergeßlich bleibt mir der stets in gleicher Feierlichkeit erneute Eindruck seines Anblicks. Der braune Kasten, den, wie seinen Inhalt, Mama in die junge Ehe mitgebracht hatte, war vier Fächer hoch und zwei Reihen tief. Es standen in den zwei obern Fächern, lückenlos gefügt: Goethe, Schiller, Shakespeare, Heine, Grillparzer, Raimund, Lenau, Chamisso, zwei marmorierte Bände mit weißem Lederrücken und weißen Lederecken, meinem Knabenstaunen das köstlichste Buch, das es geben konnte, Uhland, ein stämmiger roter Leinenband, Schlossers »Weltgeschichte«, ein schwarzes Bändchen: »Lessings Meisterdramen«, Kistemakers niedliches Neues Testament, ein noch niedlicheres braunes Büchlein: Mirza Schaffy. Zu unterst hatten sich vor den mächtigen, mit einem goldnen Atlas prunkenden Rücken des Spamerschen Konversationslexikons, einer Erwerbung des nicht eben poetisch gestimmten Vaters, und den sie noch überragenden vornehmen vier Folianten »Deutschlands Kunstschätze« unscheinbare Bände verschiedener Art zusammengefunden, allerlei Albums, einige Zeitschriften und ein paar broschierte Bände; es gab da, außer einem, zumal um der rührenden Charlotte Corday willen merkwürdigen »Frauenleben der Erde« und der dicken »Nordpolarexpedition« Julius von Payers, einem in den siebziger Jahren weitverbreiteten, aber darum nicht eben vielgelesenen Prachtwerk, einzelnes aus Otto Janckes gelber Romanbibliothek, Schorers Familienblatt, kurz, wie mir dünkte, Gedrucktes, aber keine richtigen Bücher. Und das war auch nicht der Bücherschatz Mamas, der, den sie noch als Mädchen einzeln sich gewünscht, allmählich in gediegenen Ausgaben zum Geschenk bekommen, gesammelt und liebevoll beisammengehalten hatte, ihr Stolz. Den trugen die oberen Reihen.

Die Lade war Papas Gebiet, ein von mir kaum jemals ganz durchstöberter Haufen rotgelber »Romanbibliothek« und Lieferungen von »Xavier de Montepin«, darunter freilich zwei Hefte, die mich bald, jedes auf seine Weise, magisch lockten: »Der heilige Antonius« von Wilhelm Busch und »Die Geheimnisse des Spielbergs«, darin vor allem des Panduren Trenck Geschichte schauerlich anziehend.

Alle Abende nach dem Nachtmahl blieb der Vater, im grauen, rotgesäumten Schlafrock, die ihm von mir aus der schwarzen Kiste vom Schrank im Schlafzimmer geholte Virginier im Munde, schweigend am Speisetisch sitzen, zunächst die Zeitungen, dann ein Buch lesend, während die Mutter uns, meine jüngere Schwester und mich, besorgte. Ich erinnere mich, daß er gelesen hat: das besagte Konversationslexikon, die »Mitteilungen des Deutsch-Österreichischen Alpenvereines«, Berichte der Handels- und Gewerbekammer, seine geliebte »Romanbibliothek«, die »Gartenlaube«, »Schorers Familienblatt«, Schlossers Weltgeschichte, ein chemisches Fachblatt, später unsre Jugendschriften, zumal »Hellas und Rom« von Wägner. Ich war stolz, wenn er mich fragte: »Hast du etwas zu lesen?«; später, als gereifter Knabe, sah ich es nicht immer gerne, daß er sich selbst aus meinen Büchern eines wählte; er trug freilich – beschämt bedenk ich's – meiner ängstlichen Sorgfalt Rechnung, indem er, von der Mutter dazu angelernt, dem Band einen Bogen Papier unterbreitete. Ich seh ihn unter der bronzierten Hängelampe sitzen, die linke Hand fest an das Haupt geschoben, daß sich die gerötete Haut zu den ergrauten Schläfen hinauf zu Falten formte ... Ich gab ihm den Gutenachtkuß über die Hand auf den Kopf, wobei ich seinen wohlgebildeten Schädel, der, einst mit dichten blonden Locken bedeckt, früh kahl geworden war, im Lichte glänzen sah. Er hat, daheim wortkarg, in sich verschlossen, den Kuß niemals erwidert; sein »Gute Nacht« brummte er gutmütig vor sich hin. Ich glaube, wir waren beide dabei verlegen. Es kam die Zeit, da ich diesen Kuß, wie das Nachtgebet, aufgab. Damals rauchte ich schon seine Zigarren ...

Mama war anders; sie gehörte uns, und ihre Bücher wurden meine verehrten Freunde. Zuerst hat sie mir davon Schiller (es war die schöne »kritische Ausgabe« von Kurz) zu lesen gestattet. »Fiesko« und »Maria Stuart« waren ihre Lieblingsdramen. Die »eilenden Wolken« hör ich sie deklamieren. Mehr als Schiller lockte mich, früh schon, Shakespeare, den sie in der illustrierten Groteschen Ausgabe besaß. Was hab ich über den Holzschnitten von Brendamour, zumal zum »Sturm«, geträumt! Ich verehrte Ferdinand und Miranda als erlauchte Wesen einer höheren Welt. Raimund war der dritte in diesem nicht ungemäßen Bunde. Vom »Barometermacher auf der Zauberinsel« gefangen, liebte ich ihn (und liebe ihn noch). Goethe ließ mich, trotz meiner Mutter Schwärmerei für »Egmont«, kalt. Er war (gleichfalls in der Hildburgschen Ausgabe) ablehnend, eher langweilig; der braune Leinenband und der ziemlich enge Druck, die Seiten füllend, ohne Lesarten, hielten ihn mir, symbolisch, fern. Das kleine »Neue Testament«, im Format dem Lessing verwandt, las ich, wohl um der gefälligen Typen willen, gern. Aus Heine – »Die Grenadiere« und »Ritter Olaf« waren ihre Lieblingsgedichte – und Bodenstedt zitierte Mama.

Meine Mutter hat sehr viel und unglaublich schnell gelesen. Ihre überhaupt lebhafte Art kannte, wenigstens was sie selbst betraf, kein Verweilen. Ihren raschen energischen Schritt, den ein jahrelanges Leiden nicht zu hemmen vermocht hat, brachte sie zum Lesen mit. Und ich erlebte, wie dereinst die Märchen und die an den großen Persönlichkeiten orientierte Weltgeschichte, wie die liebenswürdigen Kinderbücher meiner Kinderzeit, als Knabe und heranwachsender Jüngling, zunächst gleichsam ihr unscharfer Schatten, dann der beflissene Nachtreter, endlich ein freigelassener Überprüfer, mit ihr, was sie las. Später hat sich die Unbefangene willig meiner Führung anvertraut, ihren Lieblingen aber, von denen ich ihr insbesondre Andersen, Chamisso, Uhland danke, ist sie, trotz meinen bei manchen sich bis zur Abneigung verdichtenden Widerständen, treu geblieben, so namentlich Grillparzer (»Ahnfrau«, »Sappho«, »Der Traum ein Leben«, »Weh dem der lügt!«), Lenau, Tennyson und Heine, und hat mit andern, trotz meiner enthusiastischen Verkündigung, sich niemals herzlich zu befreunden vermocht, so mit Shakespeare, Hoffmann, Busch. Sie war hellster Heiterkeit fähig, in schwerstem Kummer widerstandskräftig, warmblütig, energisch, unglaublich mutig, bei aller Bescheidenheit stolz, wahr wie grundklares Wasser, ohne Sinn für Ironie. Einer, der sie in den letzten Wochen vor einer jäh zum Ende stürzenden Krankheit noch erquickt hat, ist Thackeray gewesen.

Ein kleines stämmiges Buch liegt vor mir, in seiner Unscheinbarkeit ein wahres Zauberbuch; es hat mir die Welt erschlossen: Welters »Lehrbuch der Weltgeschichte«, Mamas geliebter Welter ... Und die ganze Melancholie ihrer schönen dunkeln Augen ist für mich in ihrem »Enoch Arden« verewigt. Tennyson hat ihn gedichtet, aber Mama hat ihn wie eigenes Schicksal erlebt und ich mit ihr ...

In meiner Familie hat es, solang ich zurückdenke, immer tüchtige Leser gegeben. Von den vier Schwestern meiner Großmutter – ihr altes Bürgergeschlecht Lackstampfer ist im Mannesstamm mit dem jungen Bruder ausgestorben – war »die Beerin« die sammelnde Bücherfreundin. Alljährlich verehrte ihr der Schwager, »Onkel Struck« – daß er aus Wolgast oder gar von der Insel Usedom stammte, klang mir wie das Märchen von Vineta –, irgendein kostbares Werk; auch andern hat er gern schöne Bücher gespendet, ich selbst besitze davon aus Großmutters Nachlaß »Reineke Fuchs von Wolfgang von Goethe. Zeichnungen von Wilhelm von Kaulbach, gestochen von R. Rahn und A. Schleich. Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, 1867«. (Was hat der Gute uns Kindern im Laufe der Jahre zu Weihnachten alles geschenkt! Dem Gebensfrohen waren stets die »großen Stücke« vorbehalten. Der Globus, eine hölzerne Schweizer Spieluhr, »der Kapuziner« – ein Einsiedler zieht von drei zu drei Stunden bei aufgehendem Türchen in seiner Klause das Turmglöckchen –, ein mechanischer Brummbär, das mit echtem Sattel- und Zaumzeug ausgestattete Schaukelpferd »Attila«, dem schon die zweite Generation entwachsen ist, erinnern außer mancherlei gediegenen Andenken – Stock, Becher, Schrank – an den liebenswürdigen Alten.) Aber nicht nur als Geber ist er den Büchern hold gewesen. Sein gewaltiger hellgelber Bücherkasten mit riesiger Glastüre – er stand in der »Kanzlei« der Leder- und Kratzenfabrik – enthielt außer »Herrn Petermanns Jagdabenteuern« und einigen Jagdkompendien des bis ins Greisenalter jagd- und weinfrohen Rüstigen das »Brockhaussche Konversationslexikon« (der vielbändige reichhaltige Bilderatlas ist mit seinen unzähligen saubern Stahlstichen jetzt das Entzücken meiner Kinder) bloß Zeitschriften, aber mit zürnendem Jammer nur kann ich daran denken, denn wie so manches Unwiederbringliche, was Unverstand und gedankenlose Teilsucht verschleudert haben, sind auch diese vielen Bände, einst eine unerschöpfliche Fundgrube für den lesehungrigen Knaben, an Verwandte und Dienstleute verstreut worden, lückenlose Reihen der politischen Witzblätter »Kikeriki«, »Figaro«, »Dorfbarbier«, »Kladderadatsch« und die ganze alte »Gartenlaube«! Das Gegenstück zu dieser, da ich Kind war, in der großen Familie rundum gelesenen Sammlung bildete eine – ach wie heiß geliebte – Folge der »Münchner Fliegenden Blätter«, auch sie nach dem Tod ihres Besitzers in Verstoß geraten. Dieser Oheim, Karl Luz, aus württembergischem Geschlecht, zeitlebens neben seiner um dreißig Jahre jüngeren, von ihm vergötterten Gattin, meiner Mutter Schwester, einigermaßen der Griesgram, teilte mit Onkel Struck, der noch dem Fünfundzwanzigjährigen vom Vater auf die erste Londoner Reise als jovialer Mentor aufgehalst worden war, bloß die Jagdlust, sonst war er, wortkarg, mäßig, hager, fleißig, der Gegensatz des kleinen rundlichen Lebenskünstlers und Allerweltsfreundes. Aber gerade in seiner, des vornehmen Junggesellen Bibliothek, die die späten Ehemannsjahre kaum mehr bereicherten, fanden sich zu des lüstern spürenden Knaben atemverschlagendem Ergötzen die wenigen »pikanten« Bücher, die mir für sündige Sinnenlust Symbol geblieben sind, eine schlechte deutsche Ausgabe des »Dekamerone« mit matten Nachbildungen der zierlichen erotischen Illustrationen von Boucher und Gravelot und ein trübseliges »Bilderbuch für Hagestolze«, das mir der Gipfel lebemännischer angenehmer Verworfenheit schien.

Alljährlich übersiedelte der kinderlose Hausstand in die »Villa« im »Schreibwalde« (die nach der beiden Tode kurze Jahre meiner Mutter Erbeigentum gewesen ist und wo noch meine Kinder ihr erstes und letztes Weihnachtsfest bei der Großmama haben feiern dürfen; nun hat den von Erinnerungen erfüllten großen Garten, der von der heimlichen Seligkeit meiner Indianerschleichwanderungen geneigtem Ohre Wunderbares zu erzählen hätte, dessen mir unendliche Obst- und Gemüseabteilung, sanft hinauf zum »gelben Berg« ansteigend, an warmen Sommerabenden geliebte Schatten geistern sehen muß, ein fremder Mensch ...) Da gingen regelmäßig auch einige Bücher mit: ein paar »Fliegende« und andre alte Zeitschriften; schon aber wurden die schlichten, fein gedruckten allmählich verdrängt von neuen grellen Monatsschriften. Jedoch im weit über Felder und Wälder hinwegblickenden Turmzimmer, in einer vorhangverhüllten Fensternische – das schmale Fenster führte, mit eisernem Laden verschlossen, gerade aufs steile Dach hinaus – fand ich einmal die drei Bände Boccaccio und das Hagestolzen-Bilderbuch ...

Jeden Sonntagnachmittag, wenn sich nach dem Essen sämtliche »Großen« zurückgezogen hatten, saß ich im Speisezimmer, dessen uralte Pendelstanduhr, mit ihren Riesenzeigern ein Meisterwerk der klaren Genauigkeit, das ehrfürchtige Staunen meines Uhrmachers, jetzt unsere »Galerie« beherrscht, neben »Bibi«, dem ewig von Sprosse zu Sprosse hin und her springenden Schwarzblättchen, und Jocko, dem grünen Papagei, der sich nur von Onkel Luz streicheln ließ und mich nicht mochte, im ungewohnten Schaukelstuhl – auch er hat bei mir Unterstand gefunden – und las in den alten »Fliegenden«. »Boy«, der große grauschwarze Freund meiner Kindheit, lag vor mir, den treuen Kopf zwischen den Pfoten, vom Schreibwald herüber klang die Militärmusik, und mein Herz schwoll von der Sehnsucht der Kindersonntage, wie es heute schwillt von der Sehnsucht der Erinnerung; dazwischen liegt das Leben ...

Großmutters Bibliothek, bei mir geborgen, füllte ein Wandgefach; die Allioli-Bibel – ich schlage das teure Erbstück auf: Handausgabe, 1851 –, Zschokkes »Stunden der Andacht«, Zschokkes Novellen – davon »Tantchen Rosmarin« mir einzig zu lesen verboten, was mich nicht hinderte, kostend, nicht »lesend«, darin zu suchen, was dem Harmlosen sich nicht entdecken wollte –, ein Wiener Nachdruck von Klopstocks sämtlichen Werken, Lessings Fabeln, Dumas' »Drei Musketiere«, Uhlands Balladen und ein Goldschnittband »Lyrische Blätter. Von Julius von Zerboni di Sposetti. Wien 1841. Gedruckt bei A. Strauß' sel. Witwe«, mit der Inschrift »der Wohlgeborenen Frau Laura v. Seidl zur freundlichen Erinnerung an den Verfasser«, der ein Gedicht als Widmung voransteht ...

Vierundsiebzig Jahre. Damals ist Großmutter eine blonde junge Frau gewesen, sie, deren schlichter glatter Witwenscheitel sich so bald über drei kleine verwaiste Kinder beugen sollte in niemals endender Wehmut ...

Noch einer Bibliothek muß ich Erwähnung tun, zumal da der schlanke hundertjährige Schrank, der sie enthielt, nun schon seit Jahren, verjüngt durch die Bücher meiner Frau, in Ehren bei mir haust: der Onkel Christian Müllners, Doktor Müllners, des schönen großen Mannes, dem die goldeingefaßte Brille unter der mächtigen Stirne so selbstverständlich auf der kühnen Hakennase saß, Onkel Müllners, des ersten Weltmanns, den ich bewunderte: ich seh ihn vor mir auf seinem, des Theaterarztes Stammecksitz, wie er uns behaglich genießend zur Parterreloge heraufwinkt ...

Aus diesen Büchern durfte ich, selten genug, einen Band Cooper oder Marryat entlehnen. Er liebte die Engländer, und ich danke ihm vornehmlich Dickens, diesen prächtigen Freund meiner Knabenjahre, Dickens, von dem ich auf Fielding kam und den ewigen Swift. Und nun darf ich noch einmal zu Onkel Struck zurückkehren, denn bei ihm hab ich Jonathan den Einzigen gefunden, die Kottenkampsche Ausgabe von »Gullivers Reisen« nämlich, mit den unvergleichlichen Bildern von Grandville; neben Herrn Petermanns Jagdabenteuern stand er und hatte auf mich gewartet ...

 

Das Stadttheater

Die alten Opern und Operetten sind eine der liebenswürdigsten Erinnerungen meiner Kinderzeit. Ich habe sie und die prächtigen Zauberpossen, die biedern Volksstücke und die altväterischen Lustspiele in einiger Vollzähligkeit und durch Wiederholung genau kennenlernen dürfen und gebe diese bunte Erfahrung einer aufnahmsfähigen und dankbaren Phantasie nicht für einen Zentner aufgeschwemmter Bildung.

»Der Postillon von Lonjumeau«, »Die Glocken von Corneville«, »Martha oder Der Markt von Richmond«, »Zar und Zimmermann», »Boccaccio«, »Die Fledermaus«, »Apajune der Wassermann«, »Die Großherzogin von Gerolstein«, »Die Braut von Lammermoor«, »Girofle-Girofla«, »Die Zaubergeige«, »Die Teufelsmühle am Wienerberg«, »Die Vorlesung bei der Hausmeisterin«, »Hans Heiling«, »Einen Jux will er sich machen«, »Lumpaci-Vagabundus«, »Das Mädchen aus der Feenwelt«, »Der Alpenkönig und der Menschenfeind«, »Der Verschwender«, »Orpheus in der Unterwelt«, »Der Wildschütz«, »Fatinitza«, »Der Bettelstudent«, »Eine Nacht in Venedig«, »Prinz Methusalem«, »Das Nachtlager von Granada«, »Die Zauberflöte«, »Die lustigen Weiber von Windsor«, wie sie mir in ordnungswidrigem Gedränge, klassisch, altmodisch, anzüglich und ehrbar, lieblich und derb, einfallen: welche Fülle von Zauber, Melodie, Einfalt, Witz, Licht, Laune, Flitter, Duft, Glanz, Melancholie, Träumerei, Sehnsucht, Bangigkeit, Rührung, Schauer, Dunkel, Liebe, Rausch wogt in mir als ein unentwirrbares quellendes, drängendes Ganzes! Großstadtkinder, zumal von heute, haben keine Ahnung von solcher lebendigen körperlich-seelischen Beziehung zum Theater als dem regenbogenfarbigen Saum einer behaglich-gediegenen Wirklichkeitsleinwand. Das Theater war mir von früh auf – von den allerersten aufwühlenden Eindrücken abgesehen – nichts Neues, aber doch immer etwas Ungewöhnliches, Festliches. Seine stets frisch wirkenden Genüsse unterbrachen mit mäßigen Erhöhungen die sanft hingebreitete Landschaft der Alltäglichkeit. Und die sachverständigen Bemerkungen der an ihren eigenen Erinnerungen das Dargebotene bemessenden Alten waren, mit Aufmerksamkeit aufgenommen und selbständig ausgebaut, eine nicht zu unterschätzende ästhetische Erziehung.

Ausgezeichnet war, verwöhnten Richtern unterbreitet, die Darbietung: ein fester Stock von vortrefflichen Darstellern, vielfach in das bürgerliche Wesen ihrer Umgebung eingebaut, eingewohnt und eingelebt, setzte Stolz und letztes Können an die schlichterhabene Aufgabe, Kenner zu befriedigen. Unzweifelhaft war Stil darin, wie sich, der Überlieferung fügsam, der redlich beflissene Zuwachs dem mit Reife Gewünschten zu bequemen strebte. Es gab Schauspieler und Sänger, die, nicht selten beiden Aufgaben gewachsen, jahrzehntelang ein fast unmerklich sich verschiebendes Bühnengewimmel als Stützen rahmten, Künstler, die sich den Ehrgeiz, über den Bereich ihrer steten Wirksamkeit hinaus zu glänzen, versagten, daher auch ohne Ruf, aber um so beliebter daheim, sicher eines stets mit ihrem Äußersten erworbenen Beifalls, angesehen und unschätzbar. Erst später kam in diese fest ineinandergefügte, aber keineswegs erstarrende, schön gegliederte Masse Zusammengehöriger, Aufeinandergestimmter, von unruhigen Zuzüglern hineingestoßen, ein anderes, das neue Tempo. Damit zerfiel auch, alsbald wie von Säuren zerfressen, die geruhige Oberfläche der Darbietung. Aus einem vom Ganzen der Zuschauer und Darsteller gehaltenen, allgemach zu Natur gesteigerten Ineinanderwirken, aus einer Bühne, die mit bescheidener Sicherheit eine Stadt geistig aufrecht hielt, ward eine moderne Theaterbude mit ungezogenen Insassen und verwöhnten Possenreißern. Die alte Bürgerlichkeit hatte noch ihr gutes, gewachsenes, ehrliches, ihr vornehmes Theater. Es war zumal für den unbewußt erbildeten Geist des begabten Erben dieser sicheren Gepflogenheiten ein unverlierbarer Schatz, eine weitere Häuslichkeit gleichsam, ein etwas förmlicher Besuch bei entfernten Verwandten, Form zugleich und Freiheit, ein langhin ausgelassenes, gediegen besticktes, festes Gängelband. Das heutige Theater ist eine zufällige Gelegenheit zur Befriedigung leerer Genußsucht.

 

Erwerbung des Französischen

Als nach vielen Erwägungen und langen Beratungen, Hin- und Herschreiben und »so Sachen«, wie Onkel Toni zu sagen pflegte, endlich unsre aus der Schweiz beschaffte Bonne eintraf, wäre sie an einem Zeichen zu erkennen gewesen, das die Dunkelheit der Nacht auf dem überhaupt spärlich erleuchteten Bahnhofe festzustellen nicht gestattete. Wie sie also Papa damals gefunden hat, bleibt, da er tot und ihr Aufenthaltsort – wenn sie noch lebt – mir nicht bekannt ist, auf ewig ein Geheimnis. Genug, sie war da, hieß Fanny, war rundlich und, wie sich bald herausstellte, keine kluge Jungfrau, dafür sprechfaul, bequem, bald schläfrig und, wenn sie einmal eingeschlafen war, nicht zu erwecken: sie mußte eben ausschlafen. Nachdem sie eine Zeitlang bei uns, wohin sie überflüssigerweise ihr junges törichtes Leben hatte verpflanzen müssen – sie war durch Vermittlung von Bekannten wie eine »prima« Wassermelone verschrieben worden –, ganz behaglich, aber scheinbar teilnahmslos dahingelebt hatte – sie trug bei Tag ein stumpfrotes Trikotkleid und weiße Strümpfe, und ihre Nachtbekleidung oder -entkleidung war mir immer anziehend –, gab es einmal einen großen Auftritt. Ich sehe noch die Unruhe, die zwischen den sonst so stillen Zimmern im Gange war: Papa war zu ungewöhnlicher Stunde da, Lampen brannten lange an Orten, wo sie sonst überhaupt nicht zu brennen pflegten, denn Mama schrieb niemals so spät abends an ihrem Schreibtisch. Später erfuhr ich, was damals entdeckt worden war: ein Ladenjüngling von »unten«, der es in keiner Weise nötig gehabt hätte, hatte sich mit der Unbeweglichen näher eingelassen, als für alle Beteiligten erwünscht gewesen wäre. Dabei war man neben anderm Peinlichen daraufgekommen, daß die Gute unter der dicken Glasdecke ihrer langweiligen Gleichmäßigkeit eine überaus rege Phantasie wahre Wunderblumen hatte treiben lassen: sie log nämlich in regelmäßigen Berichten an ihre Tante grund- und zwecklos seit geraumer Zeit fabelhafte Verhältnisse, Glanz und Ehre, Glück und Auszeichnung; ein großer Ball habe jüngst bei uns stattgefunden, auf dem sie die Königin des Abends gewesen wäre, in auffallender Weise bevorzugt von Madames Bruder (oder Vetter), und dergleichen tolles Zeug mehr. Ein Fall für Psychologen und Psychiater. Damals aber hieß es bloß Scheiden. Wir Kinder begriffen nicht, was geschehen war. Man blieb uns die Erklärung schuldig, und wir gingen ihr auf unsre Weise auf die Spur. Sie hat später einen Fabriksbeamten auf dem Lande geheiratet. Die Ehe bleibt eine ebenso zweckmäßige wie abenteuerliche Einrichtung.

War der für uns verunglückten Bonne Fräulein Henriette von W., eine ältliche Freundin des Hauses, als unerquickliche Lehrerin des Französischen vorangegangen – »trottoir = der Bürgersteig«, wobei ich zum erstenmale das Wort Bürgersteig erfuhr, an sich auch schon ein Ereignis, wie ich an der festhaltenden Erinnerung bemerke –, so folgte ihr, die nach solcher Erfahrung nicht ersetzt ward, in Wochenstunden Mademoiselle Emilie B., eine richtige Französin. Klein, mager, schwarzhaarig, von der Hautfarbe einer Mulattin, mit großen schwarzen Augen, die, unbeweglich, wahrlich wie Kohlen glühten und den Eindruck erweckten, als könnten sie sich nie schließen, die kleine Welt, ohne sie je auch nur zu spiegeln, geschweige denn in sich aufzunehmen, voll nervösen Eifers anstarrend, war sie die ausdruckslose Gesprächigkeit selbst, nicht die Göttin, sondern die – ungefährlichste – Hexe dieser romanischen Wortmacherkunst, die es niemals auch nur zu Ansätzen von selbsterlebten Gedanken kommen läßt. Aber sie hatte einen vortrefflichen Tonfall und besaß, wie man täglich merken konnte, einen dem, der die Sprache nicht beherrschte, Achtung und Scheu einflößenden Wortschatz, der sich in angenehm klingenden Kaskaden von Phrasen unerschöpflich scheinbar ergoß. Wo war die Idylle »trottoir = der Bürgersteig«! Schon wenn sie in der harmlosen Selbstgefälligkeit ihrer ausgezeichneten Lebensart, die Arme eng am Oberkörper, unter uns ihren Kaffee trank und den dann unausbleiblichen Streuselkuchen dazu bröckelte, war die Fülle des Lebens zu erfahren ... Ihr Schicksal aber war nicht so bürgerlich-befriedigt wie das der trägen Schweizerin. Die Kinder, die sie einem häßlichen Menschen gebar und mit Aufopferung ihres letzten Blutstropfens heraufbrachte, hat sie niemals die ihren nennen dürfen: sie hätte ja sonst die vielen Stunden in allen den guten Häusern verloren ...

 

Einer

Ich sehe sein Zimmer, das heißt, ich sehe nur die Wände dieses Zimmers, die mit allerlei Studentengerät, Waffen, Kappen, Pfeifen, Gruppenbildern bedeckt waren. Ihn selbst sehe ich nicht. Aber er erfüllt durch seine bewunderte Gegenwart den Raum. Das war sein Heroenzeitalter.

Er hat dann später zwar eine Weile sogar ein Reitpferd besessen und manchmal den geheimnisvollen Eindruck des dunkel geahnten Lebemanntums gemacht (sicherlich war es ein sehr bescheidenes, ein winziges Lebemanntum gewesen), aber wenn das auch Staunen, Scheu, Achtung einflößte: es war nicht wie jenes Heldentum des Studenten, des vor den Toren des Lebens in hohen Röhrenstiefeln Polternden, ein Stück eigensten Erlebnisses. Das war erst wieder die ziemlich lange Zeitspanne, da er mir das Wunderreich der Musik erschloß. Auf seine Weise, und ich trug sicherlich zu meinem Eindruck ebenso bei, wie sich der Liebende die Geliebte erschafft, aber sie war da, die Geliebte, strahlend in zauberhafter Schönheit, und sie beglückte mich. Die Zeit dank ich ihm ewig. Daß er damals seinem unseligen Geschick schon verfallen war, daß er, ein Schwächling, dem Einfluß eines Frauenzimmers widerstandslos unterlag, das ahnte ich dunkel, verstand's nicht recht, rührte jedenfalls nicht an dieser verbotenen Tür. Aber ich merkte es, wie er uns allen gleichsam in einer immer dichteren Wolke von Dunst verschwand. Er ward bedauert und schon ein klein wenig, von manchen auch stärker verachtet. Für mich war er noch immer ein Apostel seiner edleren Herrin. Bis ich ihn, auf eigenen Wegen, verließ. Ich hab ihn erst wieder vernommen, als er abgestürzt war in die Tiefen seines Schicksals. Von dort herauf kam, unangenehm verändert, seine Stimme. Ich mag ihn lieber nicht mehr sehen. Das, was er geworden ist, was er wohl immer gewesen war, nun, da meine verklärende Macht sich längst von ihm abgewandt hat, will ich es nicht erkennen. Ich weiß es ja. Ich träume lieber von ihm.

 

Von Stixel und den hohen Stiefeln

Stixel war ein stämmiger, schwarz- und glatthaariger Köter, der mich haßte. Zum Unterschied vom Menschenköter, den ich später kennengelernt habe, fuhr er mir bloß bellend an die Beine, und da die Knaben damals Stiefel trugen, war es weiter nicht gefährlich. Schon wenn er mich die Treppe heraufkommen hörte, erhob Stixel ein wütendes Gekläff, sein Herr aber und dessen Freund, Onkel Toni, die beide in der Kanzlei von Onkel Struck an ihren Schreibtischen die Zeit totschlugen, waren froh, daß nun der tägliche Auftritt erfolgte. Sie ließen den Hund durch die bloß spaltenbreit geöffnete Tür erst hinausfahren, wenn ich mich an der Schwelle befand. Und er, er hatte es einzig auf meine Stiefel abgesehen und tat mir im übrigen nichts zuleide. Die Spießgesellen aber lachten jedesmal unbändig als über einen köstlichen Scherz. Stixel war ein trefflicher Katzenjäger, seinem Herrn unbedingt treu und jedenfalls eine ehrliche Haut. Sein Andenken lebt in mir, und das Andenken ist der wahrhaftige Friedhof.

Von den Stiefeln – man nannte sie überflüssigerweise immer die »hohen« – ist noch mehr zu sagen. Die »hohen Stiefel« waren Jahre hindurch meine und noch mehr Mamas Qual. Sie »gingen« nämlich gar so schwer »hinauf«, ihr Anziehen war eine schweißtreibende und herzempörende Mühsal. Doch diese täglich wiederholte Pein hatte auch ihr Gutes: sie war eine Leistung, und wenn sie getan war, hatte man wahrlich etwas schier Unmögliches vollbracht und durfte aufatmen. Aufatmen aber ist ein Zeichen der Befriedigung und Befreiung zugleich. Aufatmen ist gesund und verlängert das Leben, wenigstens für den Augenblick. Betrachtet man's genauer, so ist Aufatmen im Grunde der Ertrag des Lebens überhaupt, sowohl als Summe von Einheiten wie als zusammenfassender Ausdruck. Daß wir so selten in die Lage kommen, aufzuatmen, macht das Leben so schwer. Denn es läßt sich nicht erwerben und erlernen, es muß jeweils aus dem Innersten herauf erlebt sein. Zu solchem Zwecke sind offenbar die »hohen Stiefel« erfunden worden. Könnt ich sie wieder anziehen!

 

Mein Sommer

Der Sommer, wie ihn meine Kindheit erlebt hat, war anders als alle spätern Sommer. Sein Grün war voller, leuchtender und schattender zugleich. Er war erfüllt von Sommerlichkeit, vom Frühling und vom Herbst klar und rein geschieden. Ich denke an ihn als an eine scharf umrissene, nur sich selbst gleiche Einheit zurück. Ein Buch ist mir mit diesem Sommerempfinden innig verknüpft geblieben, ein Knabenbuch aus dem gelobten Verlag Otto Spamer, dessen Titel ich nach dreißig Jahren festgestellt habe: »Zwei Naseweise auf der Ferienreise (von C. A. Becker)«. Sommer war Ferienzeit, beginnend am 15. Juli, endigend am 15. September. In den letzten Tagen meldete sich, angenehm auch er, der Herbst. Die Schule nahte wieder, mit Wohlwollen begrüßt. Die neuen Schulbücher, sauber duftend, die jungfräulichen Hefte, frisch angeschaffte Federhalter und Bleistifte leiteten den Übergang mit wohlig gesteigerter Unruhe ein. Und der grüne Geruch des glänzenden Ölanstrichs der Bänke, die Kühle der gelüfteten Schulräume wurden als etwas freundlich Bewillkommnendes genossen.

Die Zäsur zwischen dem Frühling, dem zum Sommer erwachsenen Jüngling, und dem wirklichen Sommer bildete die Zeugnisverteilung am Schlusse des Schuljahres. Die Hitzferien in den letzten Wochen führten mit wollüstiger, von Sehnsucht ungetrübter Sicherheit zum Ende, das erst melancholisch sich gebärdete, als es wirklich vorüber war, einen Augenblick innehaltend auf der Grenzscheide: man weiß nicht recht, darf man sich freuen oder soll man eigentlich ein wenig weinen.

Der Sommer war breit. Er war bestrebt, alles gehäuft herzugeben, was man von ihm erwartete. Man war sehr genußfähig, unendlich dankbar und lebte alles, was geboten ward, mit vollen Atemzügen aus. Man ließ sich nichts entgehen. Und vor allem war immer das Gefühl da, gleich jenem unendlich seligen in den Weihnachtstagen, daß einem die Geschenke wirklich gehörten, daß sie einem blieben, das Gefühl des Besitzes. Wie ein Gebieter trat man vor den Sommer hin, der einem nun gehörte, der nicht wegdurfte, der stillstand, bis man ihn eingeholt hatte – denn man wußte, man hatte ihn schon einigermaßen versäumt, aber das war eben einzuholen –, und schaffte an: morgen werde ich das tun und übermorgen jenes. Und alles ward bis auf die Krümchen aufgezehrt, nichts blieb liegen.

Heute, längst, ist der Sommer eine Jahreszeit, die man neben sich hergehen läßt, manchmal übersieht; ja man muß manchmal sogar daran erinnert werden, durch einen Spaziergang, einen Blick aus dem Fenster. Das war damals anders: das war mein Sommer, der mir zugemessene, mein Pflichtteil Sommer; er stand mir zur Verfügung, hatte nichts anders zu tun, als mir sich zu entwickeln. Und wenn man ihn erlebt hatte, dann war er auch aufgezehrt: so, jetzt kanns wieder angehen. Auch gut, auch schön. Die Schule kam gerade recht.

 

Bewegte Zeiten

Meine Kinderjahre fielen noch in die selige Zeit, da der Lärm den seither so entsetzlich verrohten Menschen ungewohnt und lästig war. Zudem bin ich in einer Provinzstadt aufgewachsen. Wenn ich zur Schule eilte, begegnete mir auf dem ganzen, mitten durch die Stadt und über ihren Hauptplatz führenden Wege kaum ein Wagen, und das war höchstens ein gemütlicher Einspänner. Die Straßen- und Gassenpest der Automobile gab's noch nicht, keine elektrische Bahn sauste, keine Dampfbahn donnerte schmutzend an den Häusern hin; ein friedlich humpelnder Omnibus, später die traulich klingelnde Pferdebahn brachte den Ausflügler vor die »Linie«.

Im Hause selbst gab's keinerlei Getöse. Die Mauern waren dick, die Fenster schlossen dicht, die Menschen aber waren nicht so laut wie heute. Einer der im Sommer häufigen Wallfahrtszüge oder ein von Musik begleiteter Truppendurchmarsch waren sowohl malerische wie unaufdringliche, übrigens frühmorgens nur sich abspielende Ereignisse.

Das Haus, darin wir seit meinem ersten Lebensjahr gewohnt haben, lag in einer engen, gewundenen Gasse (sie ist heute längst eine nach ihrer Bedeutung verbreiterte »Hauptader des Verkehrs« und demgemäß unsagbar scheußlich). Ich erinnere mich an den feierlichen Tag – ich war damals vier Jahre alt –, als das Hausregiment, mit Eichenlaub geschmückt und aus allen Fenstern mit Blumen beworfen, aus Bosnien heimkehrend unter unsern Fenstern vorübermarschierte; an einen andern, da ein prunkender Sängerfestzug sich vorbeischob: zu allerlei bunten Gruppen vereinigte Bekannte wurden, auf Lastwagen stehend, von mächtigen Schwerfuhrwerksgäulen langsam dahingeschleppt. Die deutschen Turner schritten des öftern, stets bejubelt, zu ihren Schaudarbietungen in Reih und Glied durch die Gasse, an ihrer Spitze stramm alte Herren, die mich mit Ehrerbietung und Rührung zugleich bewegten. Sie dankten würdevoll den Grüßen; die jüngeren, mit ungeteilter Bewunderung betrachtet, fingen geschickt die kleinen Sträußchen auf, die man ihnen zuwarf.

Einmal war der Kaiser zu Besuch der Landeshauptstadt gekommen, ein Ereignis, dessen Wogen sich lange nicht beruhigten. Sonst nur zum Fronleichnamsfeste ausrückend, hatte die Jugend diesmal natürlich eine nicht zu unterschätzende Ehrenpflicht im Spalier zu erfüllen. Ich, damals zum erstenmal im schwarzen langen Rock und Zylinder, trug die bis dahin bloß im Festsaal des Gymnasiums an Feiertagen der Anstalt erblickte blaue Schulfahne. Es war im Mai. Die Stadt duftete nach Rosen. Und ich zumal hatte allen Grund, der Rosenzeit inbrünstig mich zu vermählen: ich liebte und ward geliebt. Seltsam war der Kaiser, den ich nur von fern erblickte, mit diesem persönlichsten Erlebnis verbunden.

Es ist bezeichnend für die schlichte, stille Natur jenes Zeitraums – er umspannt achtzehn Jahre –, daß seine wenigen Feste mir so leuchtend aus ihm aufragen.

 

Romantik

Mimi hieß meine erste Liebe. Ich war sechs Jahre alt und sie vielleicht acht. Sie saß auf einer Schaukel, die im Türstock des großen Kinderzimmers angebracht war, und ich verfolgte bewundernd den Aufschwung ihrer schlanken Beine, die in weißen Strümpfen staken. In dieser Nacht seufzte ich nach Mimi, schlief aber dann doch ein, denn morgen war Schule.

Meine zweite Liebe hieß Klara. Ich war zehn Jahre alt und sie nicht viel älter. Ich saß an ihrem Bette und schnitt ihr Papierfiguren aus, denn sie war krank. Mimi war eine Winterliebe bei Lampenlicht, Klara ist vom Sommer umgeben, der Rahmen ist grün. Ein Fenster steht offen, und vor ihm bewegen sich Bäume in einem leichten Winde. Jene Liebe war süß-schmerzlich, wie alle Sehnsucht nach Lust, diese war zärtliche, wunschlose Gegenwart, die immer etwas Traumhaftes an sich hat, wenn man sie plötzlich erfaßt, und dazu war ich kleiner Kerl schon imstande. Mimi war wie eine Prinzessin, Klara wie eine Braut; jene fern, unerreichbar, fremd; ich glaube nicht, daß ich auch nur wenige Worte an sie zu richten gewagt hätte; diese war innig, still, vertraulich. Es ist daraus auch die erste wirkliche Liebe hervorgegangen, acht Jahre später, und sie hat uns beide wunderbar durchströmt, nicht heiß, aber sicher. Es war keinerlei Arg darin und keinerlei Sünde.

Meine dritte Liebe hieß Elsa. Ich hatte sie erlebt, da ich, vierzehnjährig, einem Liebhabertheater als Gast beiwohnte. Diese Liebe hat einen berauschenden Augenblick von Ewigkeitswert. Er ist das Seligste, was ich überhaupt in den Traumtiefen der Sinne habe genießen dürfen. Erzählt freilich klingt er einfach wie eine Kuhglocke. Aber das Erzählbare ist nur die Haut solcher Augenblicke.

Das Stück, darin sie spielte, war irgendeine Nichtigkeit, wie man sie in diesen Jahren ernsthaft auswendig lernt. Ich saß und sah und hörte zu, immerhin ein wenig gespannt, erregt durch die Befangenheit, die ich, kein Gesellschaftsmensch, an mir bekämpfte. Da trat sie auf, Elsa. Ich hatte sie vorher niemals gesehen, und so wie sie damals mir erschien, lebt sie heute, fast dreißig Jahre später, noch in mir: sie hat in ihrem ganzen Leben gewiß nicht mehr die Zaubermacht besessen wie damals über mich. Sie trat auf in einem weißen Atlasgewand als Page oder Bote, ich weiß es nicht mehr. Sie trug einen hohen Stab – ich seh ihn noch; lange nachher sind mir solche schlanken Stäbe, die einen schmalen Silberbeschlag tragen, wunderbar gewesen; – ihre überschlanken Beine waren mit leicht pludernden Höschen und feinen weißen Seidenstrümpfen bekleidet, die in weiße, hochgestöckelte Halbschuhe übergingen. Auf ihrer zarten Brust flaumte eine Spitzenschleife; auf ihrem schmalen Kopfe saß, eng an die Schläfen geschmiegt, eine gepuderte Perücke mit Zopf. Sie war entzückend. Ihre Blondheit, obwohl am verborgenen Haar nicht zu bemerken, beherrschte den Rhythmus ihres etwas steifen Wesens.

Später, nach der Aufführung, sind Pfänderspiele gespielt worden. Und einmal standen wir zusammen im Dunkeln vor der Türe, bis man uns zu rufen hatte. Das war der Augenblick. Ich fühlte sie in der Dunkelheit, ich empfand das vollkommene Weiß dieses herben Mädchentums. Ich liebte sie mit der ganzen Kraft meines Daseins, verschwiegen, übermächtig ... Wir wurden hineingerufen. Drin war Lärm. Ich schied damals, bereichert um mich selbst, der sich schweigend dahingegeben hatte an das Wunder der Liebe. Wir waren zusammen nach Hause gefahren; ich hatte für sie die Hausglocke gezogen, hatte schweigend neben ihr gestanden, die unter dem zu kurzen Mantel die Elfentracht meines Traumes trug ...

Mehr aufzuzählen hat keinen Sinn. So rein und so gewaltig, sinnlich-unsinnlich, körperhaft-traumselig hat nie mehr das Weib auf mich gewirkt.

 

Kinderewigkeiten

Wenn Könige einander besuchen, wird lange vorher so viel darüber mitgeteilt und so Umfängliches vorbereitet, die Zeit der Zusammenkunft ist so angefüllt mit zu erledigenden Höflichkeiten und Festlichkeiten, so durch gedrängte Mitteilungen und genaue Übersichten erbreitert, daß sie maßlos gedehnt scheint: und dann sind es, wie man sich's an den gezählten Stunden staunend bestätigt, höchstens ein bis zwei Tage gewesen, die, hochaufschwellend von genau angeordneten Ereignissen, vorübergerauscht sind. Solche in Wirklichkeit wie die gewöhnlichen kurze, durch die gehäufte Fülle von Begebenheiten aber unendliche Monarchentage sind nur noch Kindern beschieden.

Welcher köstlich lange Samstagabend des ersten Ferientages, den wir in der »Villa« verbrachten! Und welche herrlich endlose Zeit hatte da vor uns gelegen! Man sah wie in einem Tunnel fern und winzig den unerreichbaren Ausgang dieser in ungewohnter Umgebung zu verbringenden Frist. Behaglich wie Monarchen, denen für die eine Nacht ganze »blaue« und »gelbe« Appartements bereitet, eigene Post- und sonstige Dienste eingerichtet werden, und viel behaglicher natürlich als diese Sklaven des Zeremoniells ging man daran, sich mit allen Sinnen ins Neue einzuleben. Man empfand es wohlig, sich in freundlicher Fremde »zu Hause« zu fühlen, sich einzutauchen in die Fülle der Zeit, die nun, randvoll zugemessen, anhub. Da wandelte man geruhsam in die Küche und machte sich auf dem mit schwarzen und grauen Platten wechselnden blanken Estrich, leutselig und erwidernde Leutseligkeit gewärtigend, an die Köchin: »Was haben wir denn heute abend?« Und stand auf der Terrasse an der Brüstung noch warme Ewigkeiten von Minutendauer, ehe man sich an den hinter einem bereits mit betulichem Geräusch gedeckten Tisch begab.

Oder man strich noch, während es schon an den vom Abendwasserstrahl des spritzenden Gärtners besprudelten grünen Wänden der den gewundenen Weg säumenden Gesträuche langsam zu dämmern begann, im unergehbaren Garten umher; jeder Ligusterschwärmer, jeder dunkel vorüberschnarrende Käfer war dem Gast, als den man sich denn doch mit einer eigenen Wollust der Bedeutsamkeit empfand, ein Stück der ganzen großen breiten Masse dargebotener Genußmöglichkeit. Und als sich der frühe Mond bleich im beruhigten Spiegel des Bassins mitten in dem schwärzeren Rasen vorm Hause fing, kam die selige Gelassenheit der Sorglosen über einen wie eine Wolke von angenehm betäubendem Wohlgeruch ...

 

Vergnügen

Damals war, zumal in der Kleinstadt, Vergnügen nicht, wie heute selbst bei geringern Ständen, etwas Gewöhnliches, sondern selten, festlich und bescheiden. Und alles, was über das Alltägliche hinausging, ein Kleid, ein Hut, eine Speise, war vielen daran ernsthaft und gutmütig Beteiligten ein Ereignis. Es ist bezeichnend für die Tiefe solchen Empfindens, daß ich mich heute noch an die »neuen« Kleider meiner Mutter erinnere, daß ich sie in dem sattsam angestaunten blauen Batistkleid mit weißen Blumensträußchen, in dem schwarzen Jettkleid, selbst in jenem dunkelroten Tuchkleid mit stählernen Schließen sehe, das sie etwa mit fünfundzwanzig Jahren getragen haben mag (ich sehe auch das kostbare violette Gewand, das am Vorabend meiner Hochzeit – die Erschrockene getraute sich nicht, die prosaischer Erwägung entstammte Abwehr zu üben – meine heißen Tränen zum untilgbaren Schaden empfangen hat).

Einzig das Theater war eine selbst den Kindern häufig gebotene Lustbarkeit. Als kleines Kind sah ich die Mutter nur mit Trennungsqualen ins Theater gehen. Sie hat sich meinetwegen das geringe Vergnügen bald versagt. Und später saß ich selbst ohne allzugroße Gewissensbisse, gar als angehender »Weltmann«, auf ihrem Platz in der Familienloge.

Einmal durfte ich die Eltern in einen Gasthausgarten begleiten, der in der Höhe der alten Bastei von einem unternehmenden Bierwirt eingerichtet worden war und bald, durch Militärmusik anziehend, zumal das sogenannte bessere Publikum regelmäßig versammelte. Man kannte einander fast durchweg, und es gab eine Reihe älterer Junggesellen, die an den Tischen die Runde machten. Alles, was in der kleinen bürgerlichen Gesellschaft sich zur Oberschicht zählte (unsre Familie immer mit dem zurückhaltenden Stolz, der sinkenden Geschlechtern eignet: man hatte bei uns im stadtsässigen Mutterstamm in frühern Menschenaltern entschieden bessere Tage gesehen, mein Vater war, als Eingewanderter, homo novus), brachte ab und zu dem sicher rechnenden Unternehmer, einem überaus feisten, gutmütig-selbstgefälligen Hausherrn und Gartengotte, seinen Zoll. Es war, wie die meisten öffentlichen, eine künstliche Lust, mir aber, der sich im Dabeiseindürfen vergrößert spiegelte, war der Abend ein Abenteuer; er fand, wie vieles, das ich, raschlebig, schnell überwand, kaum eine Fortsetzung.

Romantischer freilich, vor allem durch die Unmittelbarkeit, war ein anderer, diesem recht unähnlicher Abend gewesen, den ich, angeschlossen an einen der melancholischen Spaziergänge, wie sie, als ich noch ein Kind war, die Eltern, später nicht mehr so gesellt, manchmal unternahmen, in Gesellschaft eines entfernten Verwandten auf der Hohen Warte habe genießen dürfen, damals zum ersten Male, glaub ich, außer Hause essend, noch dazu unter freiem Himmel, die abendlich verdunkelte Stadt unter mir, Windlichter in Glasglocken auf dem Tische. Seltsames Empfinden heute noch, jene Stunde in dem spärlich besetzten altmodischen Wirtschaftsgärtchen, hoch auf dem Spielberg: das Geplauder der drei Erwachsenen, die leise Höflichkeit des schauerlich als Fremden genossenen Dritten gegen meine junge Mutter, dann der Aufbruch, von den Bücklingen eines alten Kellners begleitet, und das abenteuerliche Nachhausekommen von draußen, in der Nacht, unter Laternen, über schweigende Plätze. Nie mehr hab ich später – selten genug geschah's – an dem immer mehr verödenden eingezäunten Plätzchen vorübergehen können, ohne es in mir zu vertiefen. Und zum letztenmal, wohl auf immer, bin ich, mehr als dreißig Jahre nachher, an der gespenstischen Stätte vorbeigekommen, als ich, im Spätherbst, wenige Tage vor ihrem Tode, vom Krankenbette meiner Mutter, meinen jungen Neffen geleitend, mit wundem Herzen und scheuen Blicken unter den düstern Kastanien des Spielberges wie ein Verurteilter dahinging.

 

Kirchenzauber

»Am Karfreitag fliegen die Glocken nach Rom.« Das ist das liebliche Geheimnis meiner Osterstimmung in der Kinderzeit. Ich stand am Fenster und sah sie dahinfliegen. Mich durchschauerte Ehrfurcht vor dem Wunder der Allmacht.

Glockenläuten, so feierlich es sich vernehmen lassen mochte, mir war's doch stets melancholisch gewesen. Und wir hatten viele Glocken über der Stadt. Ich kannte alle Kirchen: die alte grell getünchte uns gegenüber, »zur büßenden Magdalena«, mit den zwei riesigen Heiligen, Martin mit der Gans der eine, in den Nischen neben dem Eingang (ich forschte vergeblich, hinter die Gestalten zu dringen, die Tatsache, daß sie eine niemals erblickte Rückseite besaßen, quälte mich); die mächtige Dominikanerkirche auf hochansteigendem holprigen Marktplatz, fremd, düster, abweisend, aber eines eigentümlichen Zaubers nicht entratend: sanft wiegende Wipfel hinter Klostermauern, die mir zumal den Stadtfrühling süß-schmerzlich versinnlichten; die Minoritenkirche, unheimlich, unergründlich, mit dem Schauer von dunkeln Gemälden und gewaltigen Säulen das Herz beklemmend; die St.-Thomas-Kirche, wo manche Hochzeit still bestaunter jungfräulicher Verwandten, ein duftiges Wunder, frühlinghaft aufrauschte und verklang, mancher Sarg bei weitgeöffneten Türen stand, den man verloren anstarrte, da sein festgeschraubter Deckel eine Gestalt barg, die einem noch vor kurzem gütig die weiche Wange gestreichelt hatte; die Stadtpfarrkirche zu St. Jakob, unsere Schulkirche, in die sich jahraus jahrein der im Plaudern verstummende Zug allmählich zu Jünglingen erwachsender Knaben schlängelte, von Pater Körbers kameenscharfem Cäsarenhaupte beherrschend angeführt, eine schöne, aber kalte Kirche, deren prächtige Glasmalereien der zwischen den weißen, schlanken Säulen zur Wolke der Orgelklänge hinaufhorchende Blick immer wieder weihrauchverträumt zergliederte; die an hundert runden Gelenken golden aufschimmernde Jesuitenkirche, deren feuchte Grüfte mit den halboffnen Holzsärgen die schwankende Fackel des in Antlitz und Gewand gleicherweise verblichenen Führers zu Wollustbangen beschwor; der helle Dom auf dem Petersberge, aus der Stadt aufragend, wo man mit seltsam gemischten Gefühlen neben langen Kerzen den Bischof umständlich den Ornat empfangen sah; die wie ein riesiges Schiff, sehr traurig, hingestreckte Augustinerkirche in der Altstadt, jenseits des noch traurigeren Flüßchens, vor der an manchem dunkeln Sommersonntagabend die »Volksarena« ihre trübselig-anheimelnde Lustbarkeit entfaltete.

Ihr schweren, Weltferne duftenden Weihwasserbecken alle, ihr starren, in mächtigen Klammern zwischen den Bänken gefangenen roten Kirchenfahnen, ihr unzähligen blumengeschmückten Silberleuchter, ihr steifen Altarbehänge, ihr wuchtigen Kanzeln, ihr schmerzhaften Heiligen und du, magisch glühendes ewiges Licht vor breiten stillen Stufen: was für ein unendliches Gedicht habt ihr in meiner tief in sich gekauerten Kinderseele geschaffen, Strophe auf Strophe türmend, von Litaneien bei flackernden Lichtern aus grausigem Dunkel fröstelnd umspült, getränkt vom Balsam uralter Ahnenfrömmigkeit sonderbar oft beschienen vom staubdurchflimmerten Sonnenschein! In den ausgetretenen Bänken, zaghaft vorm Widerhall und dankbar für die Sicherheit gütiger Nähe, hab ich immer wieder die großartige Gleichförmigkeit des Gottesdienstes erlebt, den namenlosen Priester im weltentrückten Meßgewand, den demütigen Ministranten mit der bedeutsamen Glocke, der alles ausgelöscht gehorcht, und ihn nicht zu vergessen, der, als gespenstige Groteske der unaufhörlich flutenden Andacht, allüberall schattend, kniebeugend, klingelbeuteltauchend, hager schlurfend, durch diese wunderbare Kirchenwelt wandelt, den unsterblichen Kirchendiener ...

 

Onkel Luz

Der später mir selbstverständlicherweise Onkel Luz geheißen hat, war schon ein alter Mann gewesen, als er meiner Mutter einzige Schwester heimführte, Tante Laura, die mich einst auf dem Schoße gehalten und mit List zur Suppe bewogen hatte. Es heißt, daß Großmutter bestürzt gewesen sei, als sie nach der Trauung aus dem Kirchenbuche das Alter des Bräutigams erfuhr: er sah um zehn Jahre jünger aus. Und er ist sich darin wie sonst auch treu geblieben. Jung dürfte er wohl niemals gewesen sein, aber offenbar alt geworden ist er erst, als es schon wahrhaftig an der Zeit war, und dann kam auch, nicht allzu gröblich, der Tod. Jedenfalls haben er und seine »junge Frau« – sie hätte seine Tochter sein können, doch das glich sich später aus – ausgezeichnet miteinander gelebt. Mehr als fünfundzwanzig Jahre, gute, reichliche Jahre, ohne Arg und voll herzlicher Gelassenheit. Gott segne ihr Andenken.

Als ich zum erstenmale des künftigen Oheims Haus betrat – buchstäblich, denn er besaß wahrhaftig ein ganzes großes Haus mit Hof und Stall und allem Zubehör –, war ich ein Knabe von kaum sechs Jahren. Von dem Eindruck ist mir das schattenhafte Gefühl der Weitläufigkeit verblieben. Wir wanderten bei dieser Besichtigung – die Worte sind an ihrem geräumigen Platze – von Zimmer zu Zimmer; sie schienen mir Säle. Es waren auch ansehnliche Gemächer, zumal eines, das der »Salon« meiner Tante geblieben und, ehe ich das ererbte Haus verkaufte, durch eine Riegelwand geteilt, meiner Schwester Schlaf- und Wohnraum gewesen ist. Ein paar Nächte hab ich in diesem Raum, wo strahlend einst der riesige Weihnachtsbaum der seligen Kinder gestanden hatte – vor ihm, vom silbern gesäumten blauen Mantel umwallt, die silberne Ritterrüstung aus Pappe –, schlafend verbracht; zuletzt noch die Nacht vor meiner Mutter Sterbetag, in meiner Schwester Bett, während sie, von wochenlanger Pflege der Kranken erschöpft, in wirren Träumen jenseits der dünnen Wand auf einem knappen, kurzen Diwan lag, drüben aber, in Tante Lauras ehemaligem gemütlichen Sitzzimmer, vor ihrem körperlichen Scheiden aus dem alten Hause, sie, Mama, im Sarge, zwischen hohen Kandelabern, einsam, feierlich und fern.

Schicksale, Wandel und Geschichte eines Hauses, dessen Treppenstufen wir trippelnd einst und ich in jenem unseligen Jahre 1913 so oft noch, von quälender Angst getrieben, zur Sterbenden erklommen haben!

Damals, als das goldene Zeitalter auf unsrer kleinen Erde herrschte, tönten heimlich-dumpf die Hufe der Pferde durch den Torgang: der Wagen war vorgefahren, der uns nachts heimbringen sollte, Franz auf dem Bock, der alte rotnasige, breit- und langbärtige Kutscher, die Laternen, darin dicke Kerzen staken, wie alles in diesem scheinbar so dauerhaften Zusammenhange, unaufdringliche, feste Wohlhabenheit kündend. Seit ich selbständig zu denken angefangen habe, sind es die rundgenährten Grauschimmel gewesen, die Onkel Luzens schwere Wagen kräftig zogen. Ich sehe sie, mit ihren kurzen Schwänzen nach den Fliegen schlagend, im Mittagsschatten unter unserer Wohnung harren: es war ein bestimmter Aufstellungsplatz, den dort bei uns Gefährt und Lenker täglich durch Jahre einzunehmen gewohnt waren: wie heimlich war das Gruseln der »dazu gehörigen« Kinder! Der Onkel kam um diese Stunde, pünktlich, von irgendwoher in Geschäften zu Mama und schwieg sich im hochwandigen Diwan eine Weile bei uns aus, eh er – im Sommer – heim, das hieß in die Villa fuhr.

Später sind's Rotschimmel gewesen, auch jahrelang, und ein anderer Kutscher, gleichfalls Franz geheißen, jung und viel herrenmäßiger als der alte grämliche Griesbart, den ich mir, als ich's vernahm, auf dem Krautmarkt Erdäpfel verkaufend niemals habe vorstellen können ...

Und du, Rosa, wie trittst du plötzlich, Wildtötern gleich, auf unhörbaren Mokassins – es dürften wohl knarrende Zugstiefletten gewesen sein – bei mir ein in die gute, die beste Stube meiner dankbarkeiterfüllten Kindererinnerungen, du, Rosa, alter Jäger, nicht, wie einer wohl vermuten könnte, ein Frauenzimmer, sondern ein richtiges Mannsbild, freilich ein seltenes.

Wirklich kam die ganze smaragdne Lederstrumpfzauberwelt mit dem alten sehnigen Jäger zu mir. Wildnis war es, amerikanische Wildnis des achtzehnten Jahrhunderts, wenn der Überlange nach seiner Weidtasche, die er immer an den Stufen der »Säulenhalle« abgelegt hatte, nach den daran befestigten Rebhühnern sich bückte, sie dem Jagdherrn auszufolgen; Wildnis, schaurig -süße, wenn er seinem magern, klugen Hunde – er war auf mattem Weiß gelb gesprenkelt und hatte viele breite braune Flecken – unterm Tisch, wo der Brave ohnehin still und müde lag, einen Stoß oder einen Schlag versetzte, da er sich etwa rühren mochte; Wildnis sogar, Sonntag in der Ansiedlung oder so ähnlich, wenn Herr Rosa, der nicht einmal Berufsjäger, sondern ein kleiner Beamter und Liebhaber war, nicht im Pürschgewande, sondern in einem um die dürren Knochen flatternden dunkelgrauen Sommeranzug erschien. Eh der Onkel ihn, wortkarg trotz ersichtlicher Zuneigung, gleichsam zum Vortrag empfing, bewirtete den Alten, der sich stets wie ein höchlich Überraschter und beschämt Abwehrender, und zwar dabei wirklich wie ein gutmütiger Indianer gebärdete, die Tante mit der üblichen Flasche Bier und Wurst zum Brot, der Onkel fügte dann etwas schnarrend die Zigarre hinzu. Ich saß oder stand schweigend dabei, so ungern ich, dem Ankommenden im Garten begegnend, vor scheuer Ehrfurcht, dem Jäger allein gegenüberstehen mochte.

Überhaupt waren manche solcher nicht zu den eigentlichen Gästen zählenden Besucher des Onkels mir um so merkwürdiger, als es bei uns zu Hause derlei Gefolge der gemächlichen Wohlhabenheit nicht gab. Da war Herr Steniczka, der Leichdornschneider, ein rundlich selbstbewußter Würdenträger, Stadtrat zumindest, übrigens ein großer Tiersammler, Kenner zumal von Lurchen und Stubenvögeln. Herr Heinz, der Barbier, lebemännisch flackernd und gesprächig dienernd, im Gegensatz zu jenem durch Brillengläser unnahbar funkelnden Knebelbärtigen mit der Messermappe, gleich dem glattrasierten, faltigen Jäger, dem Knaben wohlgesinnt. Gleiche Ehrfurcht bannte sie alle vor dem Hausherrn, dem auch die Verwandten, wenn sie sich, häufiger von unsrer Seite, zahlreicher von seiner, in regelmäßigen Abschnitten, viele gemeinsam an bestimmten Jausenachmittagen, im gastlichen Hause der mit mehr Aufwand als Innigkeit gefeierten Tante einfanden, in einer gewissermaßen ertappten Haltung eine hastige Beflissenheit zeigten, gemischt aus Befangenheit, Hochachtung vor dem kühlen Alten und vor dem nicht eben entgegenkommenden Gönner.

Die »Villa«: ich schulde ihr den herzlichen Ausdruck ehrlichster Dankbarkeit. Das Haus hatte der Onkel, als ich noch ein Knabe war, erbauen lassen, mitten in einem der geräumigen Gärten, die sich in langer Reihe von der Vorstadt Alt-Brünn (dort im Augustinerkloster hat Gregor Mendel still Weltbewegendes gesonnen) bis an den Fluß und die bewaldeten Hügel hinzogen. Er hing an dieser Sommerresidenz, die er mit einer von der Kindheit her gepflegten Liebe zur eingehegten Natur allmählich und bedächtig zu einem anmutigen und gediegenen Besitztum gestaltete, mit der Zähigkeit des gebornen Hagestolzes. Die Villa ist mir Jahre hindurch leidig gewesen durch den Zwang, den sie auf uns ausübte. Meine Mutter, die noch mehr ihrer Mutter wegen als um der Schwester willen trotz der verhältnismäßig nicht geringen Entfernung des Anwesens auch in den Sommermonaten dem innigen Zusammenhang der drei Frauen durch täglichen Besuch Ausdruck zu geben das Bedürfnis empfand, nahm uns immer dahin mit; mir aber, der ich mich seit jeher nur zu Hause wirklich daheimgefühlt habe, war diese Regel bei zunehmender Reife und erstarkendem Urteil eine Last geworden, die ich nur zu oft sogar recht bitter am Gegensatze spürte, da mir meine zufriedene häusliche Enge durch jene immerhin großzügige Weite wahrhaftig Schaden zu leiden schien: ich verglich, nicht neidisch zwar, aber ein wenig mißgünstig, die anders gearteten Verhältnisse und zürnte dem Schicksal, das mir stets wieder als einem Zugelassenen zeigte, was ich nicht besitzen konnte. Als dann nach nahezu dreißig Jahren, und als fast alles weggestorben war, was so freundlich meine Jugend umgeben hatte, Mama selbst, nur allzu kurz, die »Villa« zu eigen besaß, hab ich mir mit einsamem Kopfschütteln eine wärmelnde Genugtuung bestätigt, die ich darüber empfand, daß sie, die ich durch allerlei, nicht zuletzt uns Kinder betreffende Vorfälle mit Unmut manchmal hatte gedemütigt sehen müssen, als Herrin – ach, als was für eine lieblich-selbstlose Herrin! – nun dort schaltete, wohin ich hadernden Unmut und woher ich brütenden Groll so oft an ihrer Seite getragen hatte.

Ich bitte alle diese Gefühle, die kleinen bösen von früher und die kleinen guten von später, der alten Villa ehrlich ab. Sie hat mir Unverlierbares gespendet, die Sonne und den Schatten ihrer gepflegten Wege und der selbstgebahnten Pfade des die Gebüsche durchschleichenden Knaben, den Reichtum ihrer mannigfaltigen Früchte, das Plätschern ihres Springbrunnens und das anheimelnde Knarren ihres unter schattenden Kastanienbäumen vor den unzähligen guten Mahlzeiten sich bewegenden Brunnenschwengels, die steile Stiege zum Stallboden, wo ich das Abenteuer des von der Sonne durchglühten Dachraums im Heu erleben durfte, mancherlei Vergnügungen des von Gutmütigkeit zur Kinderlust genutzten Gartens, als da waren Wurfkegelspiel, Krocket, Scheibenschießen, vor allem aber die gottselige Ungebundenheit einer jahrelang währenden selbstgeschaffenen Trapperromantik, die freilich in dem Grade auszugestalten nur die stillglühende Phantasie des schon früh in mir wachträumenden Dichters fähig gewesen sein mag.

Liebe alte Villa, du bist zwar nicht von der Erde verschwunden, aber der Teil der Erde, wo du noch immer, einem Fremden gehörig, von meinen alten Zeiten träumst, liegt auf der dunkeln, der Todesseite meiner Welt. Ich will dich nicht mehr sehen, wie du bist, ich will den Schmerz, den ich in Gedanken schon bohrend vorausempfinde, nicht in mir aufkommen lassen; ich will dich nicht mehr sehen, wenn du noch bestehst, geliebtestes »Zauberschlössel« im »Weingarten«, dein von wildem Wein dicht bewachsnes freundlich-trauriges Antlitz, alte, schon damals baufällige, schlanke Holzbaude mit der rundumlaufenden Veranda, die mir die ersten Ewigkeitsgefühle gegeben hat, wenn ich über die stillen Wipfel hinweg zu Wald und Himmel hinüberblickte, wo ich mein erstes und letztes Vogelnest, ein törichter Junge, zerstörte, was mir von Mama eine der seltenen Züchtigungen eingetragen hat – Heil ihr dafür, ewiges Heil für jeden der wenigen wohlverdienten Schläge! –; ich will dich nicht mehr sehen, Zaubergarten meiner Kindheit, dessen Blätterrauschen, dessen Blumendüfte, dessen Sehnsucht in mir fortleben, solange diese ewig bange Seele ihr Gehäuse bewohnt – und, so Gott will, darüber hinaus ...

 

Der Wald und die Wiese

Wir wohnten jahraus jahrein in einem alten Stadthause, mußten das Grüne in Gärten aufsuchen, und ins Freie kamen wir fast niemals. Einmal – ich war fünf Jahre alt – haben wir einen Sommer auf dem Lande verbracht. Im vorhergehenden Jahre war ich mit meiner schon als junge Frau leidenden Mutter ein paar Wochen in einem kleinen böhmischen Badeorte gewesen, Warttenberg, zwischen Felsen gelegen. Meine Erinnerung geht aber noch weiter zurück, in mein drittes oder zweites Lebensjahr: ich sehe von einem offenen hölzernen Vorbau hinaus auf Bäume und in den Himmel. Das war, wie ich weiß, ein kurzer Besuch im Walde von Wranau gewesen, wo ein Schwager meiner Großmutter ein einfaches Landhaus bewohnte.

Jener Sommer meines fünften Lebensjahres hat mir Unendliches geschenkt, Unverlierbares: den Wald. Der kleine mährische Ort hieß Adamsthal, lag, aus ein paar Bauerngehöften und einigen ansehnlichen Sommerhäusern vermögender Städter bestehend, an einem kieselklaren raschen Flüßchen und hatte jenseits des dort nicht allzuschmalen Wassers den Wald, der einen langgestreckten Höhenrücken erklimmend, in die gewaltigen Wranauer Wälder übergeht. Eines Tages ging man über die saubere leichte Brücke und stieg den sanften Abhang hinan. Plötzlich lag das Waldinnere vor den staunenden Kinderblicken. Sonnenflimmern durch tief herabhängendes Astwerk, Sonnenglanz auf einem leise murmelnden Bächlein, Sonnenkringel auf dem Moosboden. Am Quell, wo's kühl und duftig roch, stand hohes Farrenkraut. Damals hatte ich für mein Leben den Wald gefunden. Viele Jahre waren seither vergangen, ich hatte oft diesen und andre Wälder durchwandert, aber es waren eben kleine oder größere Wanderungen gewesen, meist an der Seite des Vaters und eines rüstigen Oheims, manchmal, selten, mit Altersgenossen: niemals wieder war mir wie damals dem Kinde das Geheimnis des Waldes aufgegangen. Erst der Mann hat es, spät, wieder erfahren, als Jäger. Denn man muß dem Wald allein gegenüberstehen, auf du und du trotz aller Ehrfurcht, wenn er sich hergeben soll. Das Wunder war dem Kinde geschehen, der Mann hat ihm erst nachgehen müssen, bis er's endlich wieder, anders, aber ebenso groß und feierlich, gefunden hat.

Und so hat auch das Kind eines Tages die Wiese entdeckt. Hinter dem »Schreibwalde«, der sonst den ein wenig eintönigen Rahmen für die oft, zu Zeiten täglich wiederholten Spaziergänge der kleinen Familiengruppe an Sommerabenden bildete – wir zwei Geschwister gingen nicht immer gerne mit – lag eine unerforschte Welt, zweier Oheime Jagdgebiet. Dorthin nahm mich einmal – ich mag etwa sieben Jahre alt gewesen sein – Onkel Luz mit, ausdrücklich zum Schmetterlingsfang. Wir gingen recht früh durch den bekannten Wald, der bald, auf ungewohnten Wegen, neue Seiten wies. Wir stiegen eine Höhe hinan, und da lag sie vor mir, jungfräulich, frühlingshaft, frischgrün, in reiner Vormittagssonne, die erste Wiese meiner Seele, von Schmetterlingen überflogen, ein Eiland seliger Einsamkeit. Ich weiß nicht, ob ich damals Schmetterlinge gefangen habe – das Sammeln von Tieren, die man töten muß, ist niemals meine Leidenschaft gewesen; ich machte eine Weile etwas mit, was der Altersstufe angemessen war, und ließ es wieder –, ich weiß nur, daß ich eine stille Seligkeit davontrug, deren Urheber, der alte Onkel, sich niemals wieder ähnlich innigen Dank von mir verdient hat. Ich hab es ihm aber gewiß nicht gesagt. Solche Herzensgeheimnisse sagt man nicht. Sie sind tief in der Brust ihres Eigentümers verborgen und wachsen dort still in einsamer, stummer Pracht.

 

Gespenster

Zu Tante Laura kamen von Zeit zu Zeit verblichene Frauenzimmer, die sie wie eine gute Königin verehrten. Sie wurden bewirtet und beschenkt und gingen erhobenen Herzens, in ihrer verstaubten Einsamkeit bis zum nächsten Mal unterzutauchen. Da war vor allem Frau H., die Malerin, einst der immerhin nicht Unbegabten verehrte Lehrerin, nunmehr längst ein Wrack, auf den Sandbänken der Armseligkeit aufsitzend und von den einförmigen Wogen des Weltmeers Leben zernagt. Eigentlich war ihr verewigter Gatte der größere Künstler gewesen: auch dieses Künstlertum freilich hatte etwas Mythisches an sich, zumal da von den Zeichen und Zeugen seiner Bedeutung so gut wie nichts mehr vorhanden war. Aber um so tiefer, geheimnisvoller dunkelte sein Ruhm nach, von der Witwe manchmal wie ein von Motten zerfressener Theatermantel um die dürftigen Schultern gelegt und mit der grenzenlosen Hoheit getragen, die der Einbildung entstammt. Dann die verrunzelt in den trüben Ruhestand versetzte Choristin des Stadttheaters, eine zur Ehrsamkeit herangewelkte ehemalige Schönheit, eine malerische Ruine mit einigem erkalteten Pathos und der Grünspanromantik der Rumpelkammer, angefüllt mit dem Moder von nichtigen Erinnerungen, der ihr duftete, rührend durch den Gegensatz dieser auf das Hungern abgerichteten inständigen Dankbarkeit für einen Teller mit Backwerk zu der geheimnisvollen Fülle eines vierzigjährigen Bretterdaseins. Und die in ihrem formlosen Fett einherschwankende Dritte, die den melodischen Namen ihrer früheren Scheinwelt wie ein dürftiges Transparent vor ihrer kläglichen Bürgerlichkeit, eine rauschende Wittib, hertrug und an der Schwelle schon der Gönnerin die Leiche des mühsam herangeschleppten Selbstbewußtseins in dem zusammengeschnürten Herzen schlottern fühlte.

Diese und andere Kunden einer gern ein wenig thronenden Wohltätigkeit fanden sich in den hohen, mit guten und schlechten Kostbarkeiten angefüllten Zimmern der Tante ein, angeschauert dort von der Luft des Unerreichbaren, begnadet durch die immer etwas kühle Gutmütigkeit der methodisch Spendenden, auf Wochen bereichert durch diese regelmäßig verstattete Stunde einer kleinen Komödie, darin sie, die sonst in Höhlen außerhalb der Gesellschaft kauerten, eine Anstandsrolle mimen durften, sich, die Gespenster, ein wenig fühlen konnten in unwahrscheinlichen Staatskleidern, vor einer Frau, die sie wie ihresgleichen zum Sitzen nötigte und am festlich gerüsteten Kaffeetisch als Gäste behandelte.

Ob wie jenem Kaiser von China in Andersens ewigem Märchen von der Nachtigall aus den Falten des Vorhangs alle die vielen kleinen guten Taten Tante Laura flüsternd angeblickt haben, da der Tod schwer und stumm auf ihrem Bette saß?

 

Märchen

Habt ihr »Ali Baba und die vierzig Räuber« erlebt: wie Mardschana in der Nacht siedendes Öl in die hockenden Schläuche gießt; den »Menschenfresser und den kleinen Däumling«: wenn alles im Hause still geworden ist und der Böse lüstern sich aufmacht und ins Gemach tappt, wo im Dunkel der Däumling neben den schlafenden Geschwistern aufsitzt und den Atem anhält; Falada unterm düstern Torbogen, wenn die Königstochter vor dem treuen Pferdekopf stehenbleibt und der angenagelte auf ihre Klagen antwortet; den bleichen jungen König der schwarzen Inseln, wenn er den Mantel zurückschlägt und dem Sultan zeigt, daß er von der Hüfte abwärts schwarzer, kalter Marmor ist; den großen Klaus, wie er die tote Großmutter auf dem Wagen festbindet; Brüderlein, da Schwesterlein es als verwundet von der Jagd heimkehrendes Reh pflegt; Zwerg Nase, da den armen Kleinen der Vater Schuster mit Scheltworten und Schlägen von der Tür treibt; Graddör, wenn er im Pfannkuchenberg augenschließend versinkt; den Prinzen auf dem hölzernen Zauberpferd, da er hoch in der Luft, hinter sich tastend, den Zapfen nicht findet; Melusine im Herbstwind am Erkerfenster der schlafenden Kinder; Schlemihl, da der kühle Mond aufgeht vorm Försterhaus?

Heute seh ich die Wunder einer schleiernden Nebelnacht über Wiesen, folge dem Flug einer Krähe über den schmelzenden Februarackerboden, träume ins Kaminfeuer die Traurigkeit eines Weihnachtsabends, aber meine geliebten Märchen, meine Märchen, alle einzig für mich erdacht, von mir in der Ewigkeit ihrer sieben Himmel zeitlos durchmessen, sind nicht mehr das, was sie mir gewesen sind, nicht mehr so durchsichtig edelsteinern, so von innen glühend, so herzerstarrend stillstehend, so seligvertraut, so gruselig-rieselnd, so zauberflammenleicht!

Wenn die Fee der Jugend je einem Sterblichen gesellt war, bin ich der Traurig-Glückliche gewesen: nichts geht an Schmerzlichkeit, an Qual über ihr Scheiden. An ihrem Scheiden hab ich's gefühlt, daß sie dagewesen ist, daß sie aus ihrem warmen Kauern an mir gerissen ward durch ein Erlöschen von letzten Scheiten, durch ein klagendes Pochen vorm Fenster, durch das Abreißen einer Glockenstunde, die nicht ausschwang ...

Nicht mit einem Donnerschlag ist der über und über blühende, smaragden durchsummte Garten versunken, aber mein Herz hat einen Sprung erlebt mitten durch sein atmendes Glas wie die Schwestern in Leanders Träumer-Märchen: in meiner Hand hab ich die erkaltende meiner Fee gehalten, und mein Leben gehört seither und fortan wie das jenes Königs in der alten Sage ihrer Leiche.

 

Nächte

Die Juninacht schläft unter den alten Kastanien. Die Bäume lassen ihre Zweige tief herabhängen. Die Blätter sind so still wie ihre Schatten. Der ganze Garten wird immer mehr zum Schatten. Draußen, drüben, jenseits der spärlichen Lichter lärmt das Leben der Menschen. Aber selbst das sonst so rohe Geräusch, das Fiedeln und das Singen, die einzelnen Worte, das Lachen, hat heute etwas Gespensterhaftes. Es kann nicht über die unmerkliche Grenze dieses tiefen Schweigens der schlafenden Schatten im Garten, es wogt draußen in einem fahlen Scheindasein. Ist doch Lust überhaupt Schein, trotzige Täuschung. Manchmal gelingt sie. Heute hat sie keine Macht. Lärmt nur! Die Ruhe der Nacht könnt ihr nicht aufscheuchen. Sie ist stärker als euer Ansturm.

Ich sitze einsam im Garten. Andre Gartennächte dämmern in mir, gehen ohne Umrisse, mit der Fülle ihrer Inhalte in mir auf, sich verdichtende Schatten, Erinnerungen, schmerzlich wie alle Erinnerungen. Macht das die Musik, die nun gedämpft anschwellend, doch ihres unbewußten Zaubers voll wird?

Kindernächte im Garten, da Mondsilber über Pappelwipfel flutete, da die Wiese ihr Licht ausatmete, als ginge der Tag, den sie eingesogen, verklärt aus ihr hervor, als höbe sich die Brust der Erde. Jünglingsnächte bei Geigen und Windlichtern, angefüllt mit Schwermut und Liebe zu einer dunkeln Nähe, die Weib hieß und grauenhafte Ferne war. Schwüle Nächte der drohenden Erfüllung, schwarze, gratscharfe Grenzen, hinter denen schon die Enttäuschung lauerte. Mannesnächte der dumpfen, in sich hineinstarrenden Besinnung, der kein Sinn sich erschloß, bis man mit sich selbst aufbrach, abbrach. Tolle Nächte der Betäubung, die in den heisern Morgen übergehen, der plötzlich überall da ist, schattenlos, nackt, grausam, ohne Traurigkeit, bloß leer. Und wieder Kindernächte voll von Sternen, die alle herabzufallen zitterten ins ängstliche Herz, bis eine liebe Hand sanft über die Stirne strich und warme Dunkelheit, derer man so sicher war, daß man die Augen schloß, sich über einen beugte in einem Kuß, der, unendlich beruhigend, den Schlaf mit sich brachte.

Oh, ihr tausendundeine Nächte dieses Märchens Leben, arabischer, geheimnisvoller als alle Magie von Säulen und Kuppeln, welches Netz hält eure gewichtlose Schwere, durchgleitende, sinkende Schatten, erlebte, unwahrscheinliche Vergangenheiten eines unendlichen Traums?

 

Knabenbücher

Zu jedem Feste, am Namens-, am Geburtstag, zum Schulschluß, zu Weihnachten, erhielt ich Bücher. In den meisten steht vorn neben den Namen von Spender und Empfänger der Jahrestag, da ich sie zum Geschenk bekam. Ich besitze sie alle noch. An jedem hängt ein Hauch besonderer Stimmung. Manchmal dämmert sie mir herauf. In einem – es heißt »Gute Kinder – brave Menschen« – geht auf der Seite, wo die Erzählung »Ein Mann, ein Wort« steht, ein (seither fein verklebter) Riß durch. Dieses Buch entfiel meiner Hand, da mich Mama auf dem umlaufenden offenen Holzgang des »Zauberschlössels« in der Villa dabei betrat, als ich mit einer Latte an dem Dachbalken über mir nach einem Sperlingsneste stocherte. Ich sehe noch den gelben Fleck, den ein Ei, das herabgefallen und geborsten war, auf dem Bretterboden hinterlassen hatte: übrigens dürfte nicht ich daran die Schuld gehabt haben. Mama war sehr ernst, furchtbar ernst, als sie mich fragte, ob ich wirklich böse genug gewesen sei, ein Vogelnest zerstören zu wollen. Sie züchtigte mich. Dabei entfiel mir das Buch (ich glaube, ich hatte es, um ein unbefangen Lesender zu scheinen, rasch zur Hand genommen) und zerriß an jener Stelle. Als ich es, beschämt, vernichtet, aufhob, nahm es Mama an sich. Sie las den Titel der Geschichte und sagte: »Du hast versprochen, nie mehr ein Vogelnest zu zerstören (ich hatte das in der Qual des rettungslos Ertappten übliche ›Ich werd' es nie mehr tun‹ gejammert). Ein Mann – ein Wort! Du wirst dir's merken!« Ich hab es mir gemerkt.

Nicht nur der Inhalt dieser Geschenkbücher, der mir heute noch deutlicher ist als der der meisten Bücher, die ich seither gelesen habe, hat sie mir lieb und vertraut gemacht: jedem gab ich irgendeine unvergleichliche Weihe, die aus dem Anlaß sowohl wie aus seinen Zügen ihr besonderes Wesen holte. Manche hatten viele Holzschnitte, manche bloß wenige Tonbilder. Keines war mir jeweils unvollkommen. Sie traten mir entgegen wie selbständige ausgeprägte Erscheinungen, gewannen jedes sein besonderes Verhältnis zu mir, hatten jedes seine nur mir bewußten Eigentümlichkeiten, wollten so und nicht anders, gleichsam in einer persönlichen Tonart gelesen und erfaßt sein. Ich merkte nicht etwa den Stil oder die Kunst, die Schwerfälligkeit oder die Schlichtheit, ich beachtete kaum je (wie Kinder niemals) den mehr oder minder gleichgültigen Verfasser, aber ich kann heute noch den unsäglichen Eindruck jedes einzelnen mir vergegenwärtigen, diesen Zauber einer geradezu mystischen Verbindung mit einem beglückenden Besitztum, das man mit allen Fasern geistig erwirbt, um es nie mehr zu verlieren.

 

Das Geheimnis des Lesens

Wißt ihr, wie das ist, wenn man noch nicht lesen kann, die Buchstaben eine undurchdringliche Masse sind und einem vorgelesen wird? Ich weiß es nicht mehr, aber es muß sehr sonderbar sein. Man möchte überhaupt seine Kinder um so vieles befragen: Sagt mir, wie ist das bei euch jetzt; ich weiß von diesem Abschnitt, aber ich kann mich nicht erinnern, wie es gewesen ist. Ihr seid jetzt daran, erklärt es mir. Es ist traurig, daß es bei dem Wunsche sein Bewenden haben muß. Ach, wir reden uns ja selbst viel zu sehr in die Kinder hinein und sollten sie doch ganz und gar sich überlassen, diese Glücklichen, deren Glück wir dumpf nennen, weil wir es undurchdringlich vor uns sehen, wie die Buchstaben in einem Buch, solang man glücklicherweise noch nicht lesen kann und alles, was einem daraus vorgelesen wird, gleichsam durch Zauber gehoben wird. Kinder hören so gut zu mit ihren hellen Augen, mit diesen wahrhaftigen, arglosen Kinderaugen, in denen plötzlich Fragen aufglänzen. Und wenn sie dann später neugierig mit ins Buch blicken und noch irgendwo beim selbst nachenträtselten Wort halten, lispelnd die helfenden Lippen bewegen, während man, schnöde Lesemaschine, bereits so weit vorausgeeilt ist, welche stumme Bewunderung vor unserer Oberflächlichkeit, der Technik!

Wenn deutsche Sagen gelesen wurden, war's warmdunkel im Gemüt, wenn aus der Weltgeschichte gelesen ward, war's himmelhoch, aber ohne Sonne, und wenn bekannte Märchen gelesen wurden, war's dicht wie in einem Wald und doch immer wieder Sonne kringelnd dazwischen und unhörbares Rauschen unzähliger Blätter. Zu manchen Geschichten mußte man Brot mit Salz essen, bei manchen schob man sich näher heran, manche durften nicht gelesen werden, wenn hinterm Rücken ein finsteres Zimmer offen stand. Und das liebe, plätschernde Vorlesen Mamas zu den verschiedenen gemütlichen Handarbeiten, bei denen die Zeit stille stand und sich wie Ole Luck Oje einem vertraulich atmend über die Schulter hereinlehnte in den Lampenlichtkreis ... Dann das Aufblicken ins Dochtsurren oder hinüber mit dem gefühlten, sich langsam verglasenden Traumblick zu den glänzenden messingenen Türklinken, die freundlich dabei waren, oder das Rollen eines Wagens mitten durch eine Nachdenklichkeit, daß das ganze Zimmer wie in einem süßen Erdbeben mitschwang. Und die Beziehungen zu den ersten Büchern, die man liebend unterm Kopfpolster in den Schlaf mit hinüber nahm, wenn er sich über einen deckte: noch hat wollüstig das Lid mit ihm gekämpft, nun ist das Wandmuster plötzlich weg ...

 

Die Wochentage

Der Samstag war immer mein Lieblingstag gewesen. War der Mittwoch grün, der Donnerstag orange, der Freitag blau, so war der Samstag sattbraun bis zum Kastaniengold: er brachte das purpurstrahlende Sonntagsmorgenrot herbei, das sich so bald freilich in das melancholische Violett des Sonntagnachmittags verdüsterte. Der Montag lag immer gelb und hart wie ein abgestandener Käse da, und der Dienstag war charakterlos, aber nicht unangenehm. Am Freitag konnte, im Gegensatz zum verdächtigen, hinterhältigen, bosheitgeladenen Montag, nichts Unangenehmes geschehen: er war nicht so freundschaftlich-innig-warm wie der gütige Samstag, aber unbedingt verläßlich, ehrlich, wacker, man mußte ihn gern haben (was man vom Donnerstag durchaus nicht sagen konnte, der mit wechselndem Sonnenschein und Regen dem Aprilwetter glich).

Und nun ist mir gerade an einem Samstag das Liebste, was ich außer meinen mir so viel später erst geschenkten Kindern auf der Welt besaß, meine Mama, gestorben. Ich bin ihm aber deshalb nicht etwa feind geworden. Ich weiß: er kann nichts dafür. Es hat ihm selbst leid getan, daß er gerade dazu ausersehen gewesen ist. Vielleicht liegt darin, daß er es war, der mir meinen größten Schatz hat rauben müssen, etwas Gutes; man hat es niemand anders anvertrauen dürfen als diesem meinem besten Freunde. Dadurch, daß es seine milde Hand gewesen ist, hat man dem Schrecklichen die Schärfe genommen. Dem Montag hätt ich es nie verziehen. Der Samstag war so unendlich reich, daß er das Opfer hatte auf sich nehmen müssen. Leise hab ich ihm die Hand gedrückt: sein treues braunes Rehauge stand voll Tränen. An einem Montag haben wir Mama begraben.

 

Der Kreis

Im Leben jedes Menschen gibt es eine kurze Weile, da er ringsum gleichsam erfüllt ist, da alles lebt, was zu ihm gehört, seine Welt dicht um ihn her blüht. Es ist eine Gnade, wenn er sich dieser Fülle bewußt wird. Meist lebt er ahnungslos darüber hinweg, und plötzlich ist die Luft kälter geworden, die Farben erblassen, es herbstelt. Allmählich und immer schneller einander folgend ergibt sich ihm nun Verlust auf Verlust. Mit einem Male sieht er sich versehrt, beraubt, verarmt. An der Stelle der breitausladenden Fülle stehen Schatten. Der Mensch geht gleichsam nunmehr immer nur im Schatten, alle seine Bemühungen, auf den Sonnenfleck zu gelangen – manchmal versucht er's im Sprung –, mißglücken. Endlich gibt er's auf. Da merkt er eines Tages, daß er eine andere Rolle erhalten hat: er ist ein Stück Umkreis geworden, und für den neuen Mittelpunkt ist alles das nicht mehr da, was den sozusagen Abgesetzten wenigstens noch als Schatten, ihm zugehörig, umgibt. Er spricht manchmal mit seinen Schatten. Das wirkt befremdend auf den Erben, der ihn nicht versteht. Eines Tages bleibt er aus dem Kreis um ein Stück zurück: man hat's nicht gemerkt. Da versinkt er langsam hinter sich, wird selbst zum Schatten.

 

Lotte

Ein Gedenkblatt als Ausklang

Niemals ist sie schöner gewesen, ja kaum hab ich je ein schöneres Antlitz gesehen, als da sie im Sarge lag. Es war am Abend ihres Sterbetages. Ich war nachzusehen gekommen, wie weit die Aufbahrung gediehen wäre, die um der Leichenbeschau willen allzulange hatte aufgeschoben werden müssen. Die Leute waren daran, die flache Bretterbühne zu vollenden; den Sarg hatten sie beiseite gestellt, dorthin, wo ich am Mittag die Stille noch in ihrem Bette verlassen hatte, im Bette, darin sie sich zum erstenmale seit geraumer Zeit ohne Qualen hatte ausstrecken dürfen: hinüber, in den Tod. Nun lag sie da, dem Boden nahe, und das Licht der Hängelampe fiel voll auf die wunderbar klaren, edelstrengen Züge. Es war nicht Frieden und nicht Schmerz, den sie ausdrückten, bloß Schönheit, die Erhabenheit der in sich ruhenden Schönheit. Wie weh mir war, da ich ihr, mich niederbeugend, leise von der reinen Stirn übers weiche Haar strich, dennoch war die Ehrfurcht einflößende Macht dieser vollendeten Bildung einen Augenblick lang Herrscherin über meinen wühlenden Schmerz. Alsbald aber mußte ich mir mit innigstem Mitleiden sagen: Arme liebe Lotte, warum hat dich, die Peinlichste, deren anmutige Eitelkeit zumal unter meinem unbarmherzigen Blick der Prüfung wie im Kampfe begegnete, warum hat dich, sich nicht begnügend mit den furchtbaren Schmerzen, die sie der Mutigen, Standhaften in hartnäckiger Wut versetzte, die tückische Krankheit auch noch entstellen müssen, wie sie der Beweglichsten Regungslosigkeit, der Lebendigsten immer wieder Qual des Sterbens aufzwang? Und ein bitterer Gedanke, der ein Vorwurf war, sprach in mir: Wie stolz wärst du darauf gewesen, Lotte, daß du mir so gut gefallen hast – im Tod!

Aber wie so vieles, was sonst zwischen uns, den besten Kameraden von einst, als eine Dornenhecke von Mißverständnis hämisch wucherte, jetzt verschwunden ist, hat eben erst der Tod auch hier die Lösung bringen dürfen, den tiefen Einklang vollaustönen lassen, der trotz allem, was ihn gehindert hat, vernehmlich anzuschwellen, auf unsrer Seelen lebenüberwogtem Grunde sich nach der Geltung sehnte. Geschwister sind Äste auf gemeinsamem Stamm: sie streben mehr oder weniger auseinander, im Wachsen entfernen sie sich voneinander. Und es mögen wohl die Säfte, die aus den vielen unbekannten Wurzeln strömen, in uns zweien nicht gleich gemischt gewesen sein. Auch hab ich, obwohl nichts weniger als einer, der sich selbst schont, an ihr manches um so weniger gemocht, um so widerwilliger ertragen, als ich es, bewußter denn die unmittelbar dem Augenblick sich Überlassende, in mir mit Anstrengung bekämpfte, manches schonungslos bei seinem schlechtesten Namen angerufen, dem ich, weil ich es überwunden hatte, drüben nicht die leiseste Regung zugestand. Sie war nicht schuldlos, ich aber war hart. Und wenn je jemand für seine Fehler hat büßen müssen, dann ist es dieser auf so mancherlei Art sonst Begnadeten herbstes Los gewesen. Wie ihre Schönheit als Siegerin endlich strahlend über der Leiche aufging, so hat alle ihre läßlichen Mängel die mit Wasser und Feuer Geläuterte schon im Leben durch das in ihr jahrelang lauernde Sterben überreichlich beglichen: für mich, der traurig der auf der Mitte ihres Weges ins Unerforschliche Hinweggerafften nachblickt, ist die durch ein seltsames Schicksal um den Ertrag köstlicher Gaben Betrogene wieder zur treuesten Schwester verklärt, die Gnadenseligkeit der liebenswürdigsten Genossin einer Märchenkindheit ist ihr zurückgegeben. Der unendliche Zauber, den sie fast auf jeden ihr Begegnenden ausgeübt hat, den Einen, Nächsten ausgenommen, vor dem dieser Feenschleier immer wieder hat zerrinnen müssen: in ihrem Anblick, da sie mir genommen war, hab auch ich ihn als meine Strafe zugleich erfahren, und dankbar für diese Begegnung jenseits der Zeit darf ich ihn als Wahrheit bekennen. Ich segne in trauernder Liebe ihr holdes Andenken.


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