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Mathias Siebenlist

1

Mathias Siebenlist war das einzige Kind einer Wäscherin. Außer einem Buckel und dem Mädchennamen seiner Mutter hatte er nichts auf die Welt mitbekommen, das ihn anfangs sonderlich von andern Kindern unterschieden hätte. Späterhin fand er solcher Unterschiede mehr. Aber an diesen beiden unerbetenen Merkwürdigkeiten trug er immerhin genug für ein Leben, das kurz und ins Dunkel verlaufen sollte.

Eines Tages, als Mathias ungefähr sein sechstes Jahr erreicht haben mochte, begleitete er die Mutter, wie er dies zu tun pflegte, auf ihren Austraggängen in der Kundschaft. Damals war es, daß das dritte Besondere sich zu erfüllen schien, das nebst seinem Buckel und seinem kuriosen Namen bestimmt war, ihn unter den anderen auszuzeichnen: er gewann einen Freund. Daß es noch nicht der richtige wäre, konnte er ebenso wenig ahnen wie dieser richtige selbst. Und das ist ja das Lebendigste am Leben, daß es ein Märchen ist, dessen Zusammenhang zwar im Nachhinein immer sichtbar wird, für einen idealen Zuschauer, heißt das, dessen Begründung wir ihm, dem Leben, aber wohl ganz allein überlassen müssen. Hier setzt die Philosophie ein, und sie hat, in einem nicht mißzuverstehenden Sinn hinwiederum, eigentlich nichts mit dem Leben zu tun ... Mit der Freundschaft also, die sich später als Irrtum herausstellen sollte, ging es so zu: In dem Hause, das die Wäscherin an jenem Tage zum erstenmal besuchte, seit sie durch die beflissene Köchin die Nachricht empfangen hatte, man bedürfe ihrer, wohnte, und zwar im zweiten Stockwerk, eine Familie, die aus einem kleinen Knaben namens Ralf und den Eltern dieses Knaben bestand. Die Eltern waren offenbar in guten Verhältnissen, was nicht nur aus der Lage ihrer erst kürzlich bezogenen Wohnung, deren Umfang und Ausgestaltung, sondern auch – und das machte auf Mathias jedenfalls den größten Eindruck – aus der Tatsache hervorging, daß Ralf, der Mathias mit dem freudigen Ausruf: »Mama, da ist ein Bub!« in seine Stube hereinzog, eine Unmenge von Spielsachen auf Schränken und Gestellen um sich versammelt hatte.

Nach Überwindung einiger unter Kindern ähnlich, wenn auch nicht auf dieselbe klägliche Weise wie zwischen Erwachsenen sich ergebenden Förmlichkeiten, richtiger wohl Unförmlichkeiten der gegenseitigen Annäherung, begann ein Spiel aus dem Stegreif, wie es eben nur Kinder, diese wahrhaftigen Stegreif= und Gnadenmenschen, zu erschaffen imstande sind – später sind sie selbst nur Spielzeug –, ein Spiel, das mit hochgeröteten Wangen bei Ralf und sonderbarer Wehmut bei Mathias für diesmal seinen Abschluß fand.

Als sich Mathias, dem die nebelige Herbstluft kalt um die Ohren schlug, an der Seite der schwer an dem Wäschekorb der neuen Herrschaft schleppenden Mutter wieder auf der Straße wußte, war das schweigsame Kind mit Gedanken beschäftigt, die ihn mit einer nicht minder harten Last bedrückten als ihre Trage die vornübergebeugt tiefatmende Mutter.

Diese Gedanken begannen alle mit Warum und endeten irgendwo in dumpfer Traurigkeit, wo sie sich häuften. Mancherlei hatte sich Mathias an dem denkwürdigen Abend mit der nachwirkenden Kraft des Ereignisses in die Seele gesenkt, war vielmehr auf sie gefallen, wie ein Ziegel hoch von einer Feuermauer herab auf ein verlassenes Dach fällt, schwer und dröhnend, und dann Jahre und Jahre dort liegenbleibt in Regen, Schnee und Frühlingssonne – eines jedoch war dem Kleinen sonderlich nahegegangen: der Vater Ralfs hatte seinen Buben herzlich geküßt, ihn selbst, Mathias, aber nur mit einem Blick gestreift, der alles eher denn Freundlichkeit ausdrückte.

Und daß es Ekel vor dem Buckel gewesen war, Abscheu vor der armseligen Kleidung, Mißtrauen gegen den Gesundheitszustand dieses ungebetenen Spielkameraden seines sorgfältig behüteten Einzigen, alles das zusammen hatte Mathias einen nicht etwa in seine Bestandteile zerlegten, aber in seiner Rätselhaftigkeit nur um so schmerzlicheren Eindruck hinterlassen, den er jetzt, neben der schwertragenden Mutter, empfand, als sei sein Buckel, von dem er längst durch die Hohnrufe der Straßenjungen tiefbeschämende Kenntnis erlangt hatte, noch einmal so groß, noch einmal so häßlich geworden. Es fror ihn entsetzlich, wobei nicht mehr festgestellt werden kann, ob dies nur durch den Wind und seine dünne, auch sonst unzulängliche Bekleidung verursacht oder auch durch ein heftiges innerliches Frösteln bedingt war.

Auf dem langen Wege nach Hause war dem Krüppel trotz seinen Gedanken zweierlei aufgefallen: zunächst ein Kind, das im Dunkel bettelte und dazu in jammernden Tönen die Worte sagte: »Geben Sie mir etwas, ich bin ein armes Kind«, dann der Klang einer Geige, durch ein erleuchtetes Fenster hervordringend. Der kleine Bettler und sein weinerlicher Singsang schienen Mathias eine tiefe Demütigung des Menschengeschlechtes und der unvermöglichen Leute insbesondere zu bedeuten. Da er unter heftigem Herzklopfen mit den Erinnerungen an das verlassene warme reiche Zimmer beschäftigt gewesen war, hatte ihn die klägliche Bitte im Innersten getroffen. Er schwor sich, niemals, und sollte es sein Leben gelten, sich also vor anderen zu erniedrigen. Die Mutter atmete schwer unter ihrer Traglast ... Die Geigentöne hinwiederum griffen an ein unbekanntes in ihm, das alsogleich, aufgelöst in schmerzliche Lust und Sehnsucht, sich hervordrängte. Dort, in der Musik, rief ihn die Heimat seiner zum Wandern verdammten einsamen Seele. Und er beschloß, ein Musiker zu werden, ein Geiger ...

Derweilen war der Vater seines neuen Freundes in das Zimmer seines Söhnchens getreten und hatte den Hochgeröteten ermahnt, die Ordnung unter den herumgestreuten Spielsachen wiederherzustellen. Da sich Ralf nur unwillig dazu anschickte, hielt ihm Herr Mertens eine kleine Standpredigt über die Pflichten des Besitzes, vergaß auch nicht den armen Knaben zu erwähnen, dessen Mutter nicht in der Lage wäre, so schöne und kostbare Spielsachen anzuschaffen; also – der Schluß war von praktischer Tendenz durchsäuert – also solle er gern und eilig alles auf den schicklichen Platz bringen. Hierauf sah der Vater nach der Uhr und äußerte seine Ungeduld, da die Stunde des Abendessens sich als längst überschritten erwies.

In der Küche lehnte der Bediente und rauchte, die Linke bereits in dem weißwollenen Servierhandschuh, noch eines der zahlreichen in seinem Besitz befindlichen Zigarrenenden, während die Köchin die Suppenterrine füllte. Vor ihm stand der große Bernhardinerhund, ein Aristokrat in seiner Welt, und sah treu und klug zu ihm hinauf. Gnädig streichelte ihm der Diener den weichbehaarten Kopf. Dabei überlegte er, ob er die Köchin wohl mit Erfolg um einiges Geld werde anzugehen imstande sein, das er für den Abend benötigte. Er war gesonnen, einen Maskenball aufzusuchen, zu dem ihm eine Freundin einen Eintrittsschein verschafft hatte. In der Tasche hatte er eine Ansichtspostkarte, aus einem schlesischen Gebirgsdorf datiert, darin ihn das frühere Kindermädchen des Haussohnes in unbeholfenen Worten um ein Zeichen unveränderter Gesinnung bat. Das Mädchen war vor einigen Monaten entfernt worden, weil es in einer schwachen Stunde dem Begehren des Dieners sich nicht verweigert und die Folgen dieser Unbesonnenheit sich in störender Weise bemerkbar gemacht hatten. Seither hatte ihr der Liebhaber keine Nachricht gegeben. Da die Glocke aus dem Speisezimmer heftig ertönte, strich der Bediente die Handschuhe fester und ergriff das Tragbrett ...

Ralf lag längst in seinem Bett, als sich sein Vater bei einer Flasche Wein und einer kräftigen Zigarre, an seine Gattin gewendet, heftig darüber ausließ, daß Wäscherinnen und derlei zur Besorgung von Angelegenheiten des Haushalts von auswärts herangezogene Personen ihre Kinder mitbrächten. Die Gefahr, die durch solche Berührungen für den Kleinen entstand, konnte nicht peinlich genug im Auge behalten werden. Kinder dieser Klasse seien unreinlich, schlecht gehalten im allgemeinen und bei ihrer Unterernährung Krankheiten nur allzuleicht ausgesetzt. Auch besuchten sie die öffentlichen Schulen, säßen oft, ohne daß ein Maßgeblicher etwas verhütend unternähme, neben anderen, längst mit irgendwelchen Gebrechen behafteten Kindern ..., wie leicht konnte auf diese Weise, ehe man sich's versähe, diese und jene Krankheit hereingeschleppt werden. Was nun den heute von ihm, dem Vater, hier betroffenen Knaben selbst angehe, so sei er schon ob seines körperlichen Mangels und der unausbleiblich abstoßenden Wirkung auf den Schönheitssinn Ralfs ein durchaus nicht zuzulassender Umgang, abgesehen davon, daß Bucklige von mißtrauischer, heimtückischer Gemütsart, ja von nachweislich böswilliger Gesinnung und also auch in moralischer Hinsicht kein erwünschter Verkehr für einen wohlgehaltenen Knaben wären.

Mathias Siebenlist lag wie Ralf unterweilen in seinem Bett, wenn man anders das dürftige Lager, bestehend aus einer mageren Streu auf dem Fußboden und einem darüber hingeworfenen zerschlissenen Tuch, mit diesem behaglichen Namen bezeichnen mag.

Ralf träumte von Mathias, Mathias aber träumte von einem Bettelkind, das ein Geiger war.

Der Diener des fürsorglichen Hauses befand sich indessen mit Erlaubnis seines Herrn, der die Maxime befolgte, jungen Leuten Dinge lieber nicht zu verwehren, die sie ihrer Neigung gemäß ja doch nicht würden lassen können, auf dem Maskenball im ›Grünen Anker‹, betrank sich an jungem Wein fast bis zur Betäubung und verführte, wie dies unter jungen Leuten ihrer Neigung gemäß üblich ist, ein Mädchen namens Klara, Tochter eines Mietkutschers, das in Gesellschaft einer Freundin dem Tanzvergnügen angewohnt und sich, vom ungewohnten Weingenuß gleichfalls benommen, der Zudringlichkeit des stärkeren Burschen nicht zu erwehren vermocht hatte.

Als der Familienvater am anderen Morgen sich zum gewohnten Gang ins Büro mit der Sorgfalt ankleidete, die seinem Stand in der Beamtenhierarchie, seinem Barvermögen und seiner Erziehung entsprach, unterstützte ihn der Diener, einigermaßen schlaftrunken, aber mit der Sicherheit eines Mechanismus durch die üblichen Handgriffe. Ralf schlief noch, und Mathias war mit seiner Mutter bereits auf den Wegen ihres harten Berufes.

 

2

Es hatte sich ergeben, daß trotz den Bedenken des Vaters Mathias Siebenlist und sein neuer Freund einander öfters sahen, als der Moral, der Ästhetik und der Hygiene förderlich sein konnte. Die Wäscherin brachte ihren Knaben jedesmal mit – wohin auch hätte sie den Kleinen während ihrer Gänge tun sollen? –, der Vater schalt erst regelmäßig, dann unregelmäßig, endlich vereinzelterweise. Die Mutter beschwichtigte mit Gelassenheit, wußte sie doch, daß ihres Eheherrn Prinzipien durch die Bequemlichkeit bedingt waren und den Tatsachen gegenüber meist in weichlicher Nachgiebigkeit versagten. Und als Ralf, der zu Hause bei einem schüchternen Kandidaten keinerlei Fortschritte in den Wissenschaften machte, endlich doch in die öffentliche Schule gegeben ward, fand er sich zu seiner Freude mit Mathias Siebenlist zusammen, der bisher ebenso wie sein behüteter Freund den Fährlichkeiten der Kinderkrankheiten noch entgangen war. Natürlich bekamen sie und noch eine ganze Reihe von Klassengenossen nacheinander sowohl die Schafblattern wie die Masern und den Keuchhusten. Aber sie überstanden beide alle diese Übel, mit dem Unterschied, daß Ralf bleich und fett, Mathias braun und mager heranwuchs. Die fetten Polster auf den Gliedern Ralfs verschwanden mit der Zeit, die Magerkeit von Mathias erhielt sich. Jener gehörte zu den Kindern, denen die armen Mitschüler nur allzu beflissen in den Winterüberrock helfen, dieser zu den Kindern, die so lange von den armen und wohlhabenden Mitschülern verspottet werden, bis sie sich einmal Respekt verschaffen, was nicht ohne arge Tätlichkeit abzugehen pflegt. Ralf lernte ohne sonderliche Aufmerksamkeit, kam aber recht und schlecht durch, Mathias, der in die schönen Lehrbücher seines Freundes mit hineinsehen durfte, lernte eigentlich gar nicht, wußte aber immer, worum er gefragt wurde. Ralf begann bald Zigaretten zu rauchen und einen Stock zu tragen, ahmte die Hosenmoden der jüngeren Beamten nach, die er im elterlichen Hause zu sehen Gelegenheit hatte; Mathias, der im Laufe der Zeit aus einem Spielkameraden ein Lerngenosse, ja ein nachhelfender Lehrer bei Ralf geworden war, erhielt die abgetragenen Kleider seines Freundes, verschmähte Zigaretten, las aber die Bücher, die Ralf zu Weihnachten und an Geburts- und Namenstagen erhielt, immer schon vor dem Besitzer, ja, er wußte den einigermaßen teilnahmslosen Ralf dazu zu bewegen, daß dieser seinen Vater um die unumschränkte Benutzung der Bibliothek ersuchte, sie zugestanden erhielt und – Mathias überließ.

Eines Tages war Mathias von der gewohnten Nachmittagsstunde ausgeblieben. Als ihn Ralf am folgenden Morgen in der Schule antraf und nach der Ursache fragte, erhielt er die halblaute Auskunft: »Meine Mutter ist gestorben.« Am nächsten Tage, dem des Begräbnisses, fehlte Mathias auch in der Schule. Aber am übernächsten saß er bereits wie sonst an seinem Platz. Es war Ralf nicht eingefallen, daß er etwa an diesem Begräbnis sich zu beteiligen gehabt hätte. Auch seinem Vater war es nicht eingefallen. Zu Hause hieß es: »Die Siebenlist ist gestorben.« Die Köchin hatte es noch vor Ralf mitgebracht. Sie wußte auch schon eine neue Wäscherin.

Die Mutter hatte stillschweigend einen Kranz geschickt, der Köchin erlaubt, sich an dem Zuge zu beteiligen, und sich darüber berichten lassen. An dem Tage, da Mathias wieder bei Ralf erschien, gab ihm dessen Vater fünf Gulden. Er errötete und wollte das Geld nicht annehmen. Da meinte, gleichfalls errötend, der Hausherr, es sei nur billig, daß Mathias für seine Studienförderung an Ralf ein Salair erhalte. Und von nun an erhielt Mathias sein regelmäßiges Salair, zunächst monatlich fünf Gulden, später zehn, in der achten Klasse des Gymnasiums aber 15, und als die Maturitätsprüfung glücklich mit seiner Beihilfe überstanden war, eine Extragratifikation von 25 Gulden. Während der letzten drei Schuljahre hatte Mathias übrigens, ohne zu erröten, auch in anderen Häusern bei Schulkollegen Hauslehrerstelle versehen und Honorar in Empfang genommen. Er wohnte seit der Mutter Tode bei einem Schuster aus der Freundschaft. Er gab diese Wohnung nicht auf, als er, 18 Jahre alt, klein und häßlich, mit starkem dunklem Haar und großen grauen Augen, gleich Ralf die Universität bezog. Ralf hatte, dem Beispiel seiner Umgebung folgend, sich für die juridischen Studien und die Beamtenlaufbahn entschieden, Mathias, der keine eigentliche Vorliebe für diese oder jene besaß – bei Ralf war freilich auch nichts weniger als Neigung zu seinem künftigen Beruf vorhanden –, die philosophischen Studien erwählt.

 

3

Es war an einem Spätherbsttage, als Ralf zum ersten Male die Wohnung seines Gespielen, Lehrers und Freundes betrat. Er war durch Zufall in jene Gegend geraten, sah sich unversehens vor einer kleinen Schusterwerkstatt, erinnerte sich, aus der Gassenbezeichnung kombinierend, daß hier Mathias wohnte, und erhielt auf seine Nachfrage bejahende Auskunft. Siebenlist empfing ihn betreten. Sein Stübchen unterm Dache war nur durch die Gesellenschlafkammer erreichbar. An einem Sparren hing eine glänzend geputzte Petroleumlampe. Auf dem gestrichenen Tisch lagen Bücher. Ein Eisenbett verkroch sich in einen dunkeln Winkel.

»Du spielst Geige?« Ralf hatte den Geigenkasten bemerkt. Mathias errötete. Was er jahrelang gehütet hatte, war dem Teilnahmslosen durch ein Ungefähr verraten worden. »Ein wenig«, gab er zur Antwort. »Geh, spiel mir was vor«, sagte Ralf und ließ sich, in den Büchern blätternd, vor dem Tisch nieder. Er trug einen hellgelben Überrock und weiße Gamaschen über den Lackknöpfelschuhen. Mathias weigerte sich entschieden und schlug einen Spaziergang vor. Sie kamen zu einem Kirchhof, der Gräberstätte dieser Armeleutevorstadt. Mathias drängte vorüber. Hier lag seine Mutter. Mehr noch als seine Geige wahrte er dieses Geheimnis vor dem Freunde.

An jenem Tag, da seine Mutter, die schon einige Zeit krank gelegen hatte, ihm ihre fiebernden, roten, harten Hände aufs Haupt gelegt und mit brechendem Blick ihn dem Himmel empfohlen hatte, war der Bucklige ein Mann geworden. Stumm saß er neben der Leiche, deren Augen er sich nicht zu schließen getraute. Es waren Stunden vergangen, ehe eine Nachbarin das Ereignis erfuhr und der Wäscherin den letzten Dienst erwies. Jahrelang war der Knabe neben der Mutter hergewandert, nie hatten sie mehr miteinander gesprochen, als was die tägliche Notdurft betraf, das Essen, die Aufträge, die Gänge. Die Schule war der völlig Unbelehrten ein scheues Rätselding geblieben. Treulich hatte er ihr von seinem Gelde später alles abgeliefert, was er nicht unmittelbar zu seinen Lernzwecken bedurfte. Nur die Geige hatte sie miterleben dürfen, denn die unermüdlichen Übungen des von einem alten pensionierten Orchestermitglied um ein Geringes in den Anfangsgründen unterwiesenen Knaben erstreckten sich weit in den Abend hinein. Da saß sie, die Hände, diese harten Hände, die wie Tiere ausruhten, zwischen den hochgestellten Knien, auf einem Schemel – sie kannte kein bequemeres Sitzmöbel – und lauschte stumm. Niemals hatte sie Mathias geküßt. Die leise sanfte Zärtlichkeit der ersterbenden Hand war das erste und einzige Liebeszeichen gewesen, dessen sich der Jüngling erinnerte ... Da er in seinem dumpfen Schmerz völlig einsam blieb – die lärmende Trauergesellschaft der Nachbarweiber hatte er nach der Zeremonie gemieden –, war die Tote sein großes Erlebnis geworden. Die teilnehmenden Worte der Mutter Ralfs hatte er nicht erwidert, nur die notwendigen Antworten auf bestimmte Fragen gegeben. Die fünf Gulden, die ihm der Tod der Mutter von Ralfs Vater eingetragen hatte, brannten ihn, so oft er sich ihrer entsann, auf der Seele. Er mochte sich hundertmal sagen, daß die karge Gabe nicht mehr als ein verdientes Entgelt für seine Mühewaltung, daß der Anlaß vielleicht übel gewählt, aber nichts Verletzendes damit gemeint gewesen wäre. Er empfand das Alleinsein, das Ausgeschlossen, Ausgestoßensein im Bilde dieser fünf Gulden, die man ihm aus einer Anwandlung von Mitleid hingeworfen hatte. Nichts jedoch wäre ihm verhaßter gewesen, als wenn sich Ralf irgendwie des Verwaisten angenommen hätte. Der Freund hatte versäumt, was nie mehr nachzutragen war. Mathias hatte, ein geduldiges Kind, niemals die Forderung auftauchen lassen, daß jener seine Mutter anders hätte behandeln sollen. Er war es von seinen täglichen Begleitgängen gewohnt, daß die Wäscherin ihre Arbeit ablud, neue in Empfang nahm und die Leistung verrechnete, in der Küche ihren Kaffee, ihre Suppe erhielt; wie oft hatte er mitgegessen. Der unbeachtete Tod der Mutter, der keinerlei nähere Beziehungen zwischen Familien vernichtete, war ihm daher keine allzu bittere Erfahrung gewesen. Aber das hatte er längst gefühlt, daß seinem Verhältnis zu Ralf der Grundton mangelte, der eine Seelenverbindung schafft: Wärme. Und er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als daß er einem Gleichgültigen die Erlebnisse seiner Kinderseele an den Ohren vorbei würde erzählt haben. An jenem Abend, da er vor der toten Mutter saß, die in mühsamer Frohn ihr Leben verbracht hatte, ohne auch nur Stunden des Sichfühlens zu besitzen, war ihm dieses ihr Leben und sein eigenes an ihrer Seite mit der Deutlichkeit einer Vision aufgegangen, schrecklich klar geworden, daß das Leben leer ist und bleibt, wenn man es nicht selbst mit Beziehungen erfüllt. Wenn er, Mathias Siebenlist, etwas in diesem Leben erreichen wollte, lag es an ihm, in ihm. Aus sich selbst mußte er heraufholen, was er sich schenken mochte. Die andern boten Frohn, Frohn in mehr oder weniger menschenwürdiger Verkleidung: Hauslehrertum, ein Lehramt, Beamtenschaft. Die andern boten Kritik ... Als er sich auf seinem Stuhl einen Augenblick zurücklehnte, kam ihm sein Höcker zum Bewußtsein, den er geraume Zeit hindurch völlig vertraut getragen hatte. Der Höcker, das war es, woran sie zuerst Kritik geübt hatten. Die Armut war ein Schicksal, das er in sich selbst überwinden konnte. Der Höcker aber forderte heraus. Sein Vater hatte ihm den Buckel hinterlassen. Von der Mutter stammte er nicht ... Er beschwor die Tote, ihm zu eröffnen, ob er den Auswuchs wirklich dem Vater verdankte ... Warum auf seinen unbekannten Vater den herben Vorwurf laden, die unerforschliche Gestalt dieses fremden Nächsten auf so grausame Weise zu sich in ein Verhältnis bringen? ... Der Höcker war sein Zeichen, sein Zeichen. Was ging ihn sein Ursprung an! Er, Mathias Siebenlist, war aus dem Dunkel gekommen, er hatte sich selbst zu schaffen. Den Höcker nahm er mit. Mit einem Male bemächtigte sich seiner die gräßliche Vorstellung, sein Höcker sei schwerer geworden, seine Mutter habe sich mit der ganzen Last ihres harten trübsinnigen Daseins darauf gelagert, begleite ihn also ins Leben, das vor ihm lag. Er schüttelte die wirre Vorstellung von sich, aber die Schatten, die über das allmählich verfallende Antlitz seiner Mutter huschten, erzählten ihm immer wieder von diesem armseligen Leben, aus dessen kummervollem Frühling er selbst stammte, er, Mathias Siebenlist mit dem mahnenden Höcker.

 

4

Gegen 12 Uhr mittags versammelte sich im Mittelstock des der juridischen Fakultät gewidmeten Gebäudetraktes der Universität eine kleine Gesellschaft junger Leute, die sich ersichtlich bemühten, als mit ausgesuchter Eleganz gekleidet zu gelten. Unter ihnen nahm den unbestrittenen ersten Platz Herr von Sonntag ein, der Sohn eines ehemaligen Ministers. Seine Großmutter war eine Gräfin Traunberg gewesen, seine Schwester hatte den Kämmerer und Militärattaché Baron Freinstein geheiratet. Er selbst, der erst im dritten Semester hielt und sein Einjährigenjahr im kommenden Herbst bei den Dragonern abzuleisten gedachte, erschien seinem Kreise als der Typus des Verführers. Tatsache waren einige vorübergehende, harmlose Liebschaften mit Choristinnen und Probiermamsellen, das ›Ereignis‹ eine Amourpassion zu einer Dame der Gesellschaft, die bisher nur lächelndes Gewährenlassen gezeitigt hatte. Franz von Sonntag war hochgewachsen, schwarzhaarig, schwarzäugig, von dunkler Gesichtsfarbe und bekämpfte durch Sportübungen und Nachtschwärmen eine leichte Neigung zum Dickwerden, deren weichliche Anzeichen ihm nicht übel anstanden. Sein treuester Gefolgsmann und hingebendster Bewunderer war Ralf Mertens.

Eben als die Gesellschaft wie gewöhnlich am Büfett sich mit dem Trinken spanischer Weine und dem Verspeisen von belegten Brötchen auf ihre demonstrative Art zerstreute – man sprach vom Fechten, vom Juristenball, dessen Komitee die Mehrzahl angehörte –, ging Mathias Siebenlist, einen Radmantel um die hochgezogenen Schultern, der den Buckel nur noch unförmlicher hervortreten ließ, und einen weichen, schwarzen, breitrandigen Filzhut auf dem dichten Haar, vorüber. Er kam zufällig die Treppe herab, die er, einen Bekannten begleitend, vor einer Viertelstunde emporgestiegen war; sie hatten sich oben vor dem Hörsaal, den jener besuchen wollte, etwas verweilt. Mit einem Blick übersah Mathias die Versammlung, erkannte sowohl Ralf als Sonntag, dessen Namen er oft und oft von seinem Bewunderer gehört hatte, erkannte noch einen und den andern in dieser ihm durchaus unsympathischen Gruppe. Ein Stocken kam in seinen Gang, dunkle Röte überzog sein mageres Gesicht, seine Augen wanderten hin und her. Ralf, der ihn gleichfalls bemerkt hatte, wandte sich ab.

Noch als er Mathias längst vorüber glauben durfte, forschte er vorsichtig ihm nach. »Ist das nicht ein Freund von dir, der Bucklige?« fragte plötzlich Herr von Sonntag. Ralf stieg das Blut in die vollen Wangen. »Wen meinst du?« »Den im härenen Gewand dort«, und der schöne Franz wies kauend mit dem Kinn in die Richtung. »Ich habe nicht achtgegeben«, sagte Ralf und errötete von neuem.

Mathias aber schritt mittlerweile schon die Rampe der Universität hinab. In ihm war ein Gemisch von Verachtung, Haß und Scham. Es war ganz klar, daß Ralf ihn vor diesen Laffen nicht hatte kennen mögen. Anderseits war es doch ganz unmöglich, das wahrzuhaben – unmöglich auch für Mathias, die Sache zur Sprache zu bringen, also keine Genugtuung für die Schmach erhältlich.

Ein Hündchen, schellenklingelnd und bedeckt mit einer braunrot geränderten Decke, trippelte ängstlich vor ihm her, einer Dame nach. Es sah sich mehrmals scheu nach ihm um und drängte sich hilfesuchend an die Füße der Herrin. Der Blick dieses Hündchens verfolgte Mathias.

In Gedanken war er vor einem Buchladen stehengeblieben. Im Schaufenster fiel ihm eine Reihe von breit aufgeschlagenen Werken in die Augen, die in flotten graziösen Zeichnungen dem Weibe gewidmet waren: französische und österreichische elegante Griffelkunst. Da waren Damen, die unter dem hochgehobenen Rock ein feines schlankes Bein zeigten, Grisettenköpfchen in Federhüten, Sportladys in enganliegenden englischen Kleidern, tief dekolletierte Ballerscheinungen, Szenen aus fashionablen Seebädern, voll geheimer und wiederum kaum verhüllter Pikanterie.

»Pardon«, sagte jemand, der, vor einer Dame zurücktretend, derb an seinen Höcker gestoßen hatte. Mathias erwiderte nichts. Der Herr, ein noch jugendlicher Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart und einem Zwicker, blickte ihn einen Moment prüfend an. Er mochte wohl der fremdartigen Berührung mit dem harten Buckel nachsinnen. Übrigens war die Dame nunmehr gleichfalls vor dem Schaufenster stehengeblieben. Mathias sah ihr zufällig von der Seite ins Antlitz. Es war frisch und fein geschnitten: sie hatte den Blick bemerkt und erwiderte ihn leise. Unwillkürlich glitt sein Auge an ihrer biegsamen Gestalt entlang. An den Schuhen blieb es haften. Sie waren bis zum Knöchel sichtbar – ein Stück des schwarzen Strumpfes sah er auch noch –: sehr hoch hinaufreichende Lackknöpfelschuhe mit zierlichen Absatzstöckeln. Er wandte sich und ging.

Ein kleines Mädchen lief ihm mit Blumen bettelnd nach. Er schüttelte unwillig den Kopf. Er hätte sich gern nach der Dame umgewendet. Doch verbat er es sich. Er schlenderte nach Hause. Da fiel ihm ein, daß er noch gar nicht sein Mittagsmahl zu sich genommen hätte. War er nicht heute irgendwo? Er hatte ein und den andern Kosttisch bei Schülern. Nein.

In der Vorstadt kam er an einem alten Haus vorbei, das Arbeiter abzubrechen im Zuge waren. Staub erfüllte die Straße. Man sah hinein in die schamlos entblößten Gemächer. Die Tapeten, alte, melancholisch gestreifte Muster, hingen zum Teil bereits in Fetzen von den Wänden herab. Mathias blieb stehen. Um das Haus war eine Planke gezogen. Eine Tafel: ›Beim Bau nicht Beschäftigten ist der Eintritt verboten‹ prangte über der Fachtür. Er las die Inschrift. Das beliebte ›Fremden ist der Eintritt verboten‹ fiel ihm ein. ›Fremden!‹ Wer war hier, auf diesem Grund fremd? Er, Mathias Siebenlist, zum Beispiel, sicherlich. Aber das hatte nur den Anschein. Die Arbeiter, die das Haus einrissen, waren nicht ›Fremde‹. Ihnen war der Eintritt gestattet. Und mehr war ihnen gestattet: sie brachen ja das alte Haus ab, zerstörten es, zerrten ihm die Eingeweide heraus ...

Das alte Haus. Man sah noch sein ganzes Wesen, obwohl es so schändlich verstümmelt war. Es hatte eine breite Vorderwand und ein tief hinabreichendes Dach, darauf sechs wunderschöne gieblige Lukenfenster saßen. Natürlich war es einstöckig, und ebenso natürlich hatte es einen Vorbau, der auf zwei Säulen ruhte. Drinnen aber hingen die zerrissenen Tapeten von den entweihten Wänden. Und die da gehaust hatten, still und warm und behaglich, die lagen wohl längst schon unter der Erde. Denn, sagte sich Mathias, es ist doch menschenunmöglich, daß ein erbeigentümlicher Besitzer so ein braves altes Haus niederreißen läßt. Es ist doch ganz undenkbar! –

Er sah sich verstohlen, mit der ihm eigenen Scheu, um. Neben ihm stand ein Mann und blickte gleich ihm hinauf. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen, die Weste stand ihm vom Leibe ab, den Hut hatte er tief in den Nacken geschoben. Das Gesicht war rot und feist. Der Baumeister. Schuft! dachte Mathias. Aber dann lächelte er über das ungerechte grobe Wort. Warum wäre dieser Mensch ein Schuft? Er weiß es nicht besser. Er wird ein neues Haus aufrichten, gemein wie er, gemein wie alle andern Häuser der Nachbarschaft. Man will es ja so haben. Armer Teufel! Und damit ging Mathias. Aber ihm war nicht ernst mit dem Bedauern. Er hatte einen Groll in sich gegen Baumeister und Arbeiter, gegen sämtliche Hausbesitzer die Gasse entlang, gegen die Welt ... Und plötzlich fielen ihm die wunderschönen Lackschuhe der jungen Dame ein vor dem Buchhändlerladen. Ihm schoß das Blut ins Gesicht ... Was hatte er denn? ...

Er ging in sein Gasthaus. Dort pflegte er, wenn ihm nicht ein Kosttisch bereitstand, sein bescheidenes Mittagsbrot einzunehmen: Rindfleisch um 22 Kreuzer, ein Gemüse um 6, eine Mehlspeise um 12, ein Brot; dazu kamen noch 3 Kreuzer Trinkgeld. Das Gasthaus war um diese Stunde recht besucht. In der Vorderstube, dem blechbeschlagenen Schanktisch gegenüber, saßen Fuhrleute. Ihnen war auf rotblauen Baumwolltüchern gedeckt. Es gab ein ordentliches Stimmengedröhn in dem kleinen rauchgeschwärzten Raum. Durch die scheppernde Glastür betrat man die Hinterstube. Sie war grob getäfelt. Die Tischtücher waren hier weiß. Bieruntertassen standen umher. Kellner in schlechten schwarzen Kleidern schlenderten ab und zu.

In einer Ecke saß ein Offizier stumpfsinnig vor einem Viertelglase Wein. Mathias kannte ihn. Man nannte ihn hier bei Namen. Es war ein Graf, ein abgetakelter Graf, ein schon pensionierter oder bald zu pensionierender Rittmeister. Er hatte eine rote Nase und ein schwermütig träumendes Antlitz. Man behandelte ihn mit Hochachtung. Dann gab es Studenten hier, einige kleine Schauspieler, einen Vorstadtstammtisch. Das Zimmer war ungelüftet und dunkel. Mathias ließ sich eine Zeitung reichen. Sie war an einem strohgeflochtenen Halter aufgesteckt, von verschiedenen Flüssigkeiten beschmutzt. Er legte sie auf die Bank unter dem Fenster. Das Fenster hatte ein breites, staubbedecktes Bord. Fliegen hingen schläfrig an den Scheiben.

 

5

Daß er noch einmal mit dem Grafen dort in der Ecke auf einen guten, ja vertrauten Fuß gelangen würde, wäre ihm recht unglaubwürdig erschienen. Und doch war dem so. Und leitete sich auf die einfachste Weise von der Welt ein. Es war einmal kein anderer freier Platz im Lokal als an dem Tische des Rittmeisters. Und Mathias hatte, in Gedanken nach der einzigen auffälligen Lücke steuernd, nicht gemerkt, daß es eben der Tisch des Rittmeisters war. Erst als er die Stuhllehne in der Hand hielt, sah er, wo er zu landen gedachte, und wollte sich schon zurückziehen, als Trotz ihn, gegen seine Scheu, zwang, auszuharren. Er stand also, den Sessel an der Lehne haltend, und hörte sich mit gelassener Stimme fragen: »Ist's erlaubt?« Der Rittmeister sah auf. »Bitte«, sagte er gleichmütig. Nun errötete Mathias und verwünschte den trotzigen Schritt. Aber da jener nicht weiter Notiz von ihm nahm, beruhigte er sich allmählich, bestellte sein tägliches Mahl, wobei er wiederum einige Schamhaftigkeit zu überwinden hatte, und, mit halben Blicken sein Gegenüber streifend, begann er hastig zu essen, halb hinter einer Zeitung verborgen. Plötzlich fiel ihm ein, es wäre eigentlich unschicklich, sich so hinter dem Blatt zu verschanzen und überhaupt hier am Tisch zu lesen. Er legte die Zeitung weg.

In diesem Moment sah ihn der Rittmeister voll an. Der Blick, aus verschwollenen Augen heraus, war trüb und leer, aber seltsam bannend. Mathias fühlte sich äußerst unbehaglich. Er zahlte bald und ging, nachdem er sich stumm empfohlen hatte, wozu der Graf nickte. Am nächsten Tag wollte es der Zufall, daß wiederum nur jener Platz frei war. Nun kannten sie einander bereits. Der Rittmeister nickte mit dem Kopf, wie wenn es sich von selbst verstände. Und mit eins begann er sogar ein Gespräch. Über die Fliegen, über das Tischtuch, über den Wein. Gleichgültige Sachen, vorgebracht in einem halblauten, gleichgültigen Ton. Mathias beschränkte sich darauf, zu antworten.

Dann vergingen viele Tage: immer war ein Tisch frei, der Tisch, an dem er sonst zu sitzen pflegte. Gegenüber saßen die beiden Brüder. Man nannte sie so im Lokal, obwohl es niemand verbürgt wußte. Aber es war offenbar, daß die beiden alten Herren Brüder waren. Sie schienen aus vergilbten Büchern geschnitten. Beide trugen das Haar schlicht in die Schläfen gekämmt, beide hatten die viel zu lange Oberlippe rasiert. Die gleiche goldene Kette mit Petschaft, der gleiche dunkelblaue Bratenrock. Niemals sprachen sie miteinander ein Wort. Einer – er schien der ältere – zahlte regelmäßig für beide. Ebenso regelmäßig geschah dies, indem er sich suchend über seine Geldbörse hinabbeugte. Sie setzten darauf ihre hohen steifen Hüte auf und gingen fort, der ältere voraus, der jüngere, ein Sechziger, hinterdrein. Man grüßte sie da und dort. Sie legten den Finger an die Hutkrempe. Und einmal hieß es, der eine von ihnen wäre gestorben. Dann kam der andere allein ...

Aber wie im Leben die Ereignisse fast immer auf der krummen und so selten auf der geraden Bahn rollen, daß man versucht ist, dies als den Ausnahmefall zu bezeichnen, also geschah es auch hier. Der Rittmeister und Mathias wurden Freunde; nicht in der Wirtsstube, sondern vor dem Löwenkäfig.

Mathias liebte die Menagerie in Schönbrunn. Hier war ihm die Einsamkeit, der er sich allmählich durchaus überlassen sah, ein melancholischer Genuß. Nicht wie im Theater, das er manchmal besuchte, da ihn nunmehr seine Korrepetitorstunden einiges zu erübrigen in den Stand setzen, störte ihn hier die Bewegung einer gleich ihm an den Vorgängen auf der Bühne interessierten Menge von Fremden, die, zusammengepfercht in unnatürlicher Lage, den unnatürlichen Darstellungen folgten, sondern zunächst war hier Passantenfreiheit, sodann war hier Natur, wenn auch gefangene Natur, endlich war grenzenloses Alleinsein da. Wenn er vor dem oder jenem Käfig stand und den majestätischen, graziösen Bewegungen der Bestie folgte, so war da auch nichts, was ihn und die Insassen ihrer Behälter miteinander, nichts, was ihn mit der nicht allzu reichlichen Schar der anderen Zuseher verband. Seine Gefühle, das wußte er, waren ganz eigentümlich. Der Rentier, der Soldat, das Kindermädchen, denen er sie mitgeteilt hätte, würden ihn sicherlich nicht begriffen haben. Er fühlte vor den wilden Tieren die Zwecklosigkeit des Daseins.

Das System dieser Menageriephilosophie war ihm allmählich aufgegangen bei seinen stummen Betrachtungen. Und daß der Rittmeister da hineinpaßte, war eigentlich im Weltablauf nur selbstverständlich. Der Rittmeister fand sich hier eines Tages vorhanden, und Mathias, der ihn grüßte, ward von ihm angerufen. Die Philosophie der Menagerie erhielt nun eine Bereicherung: die Philosophie der Rasse kam hinzu als ein besonderes Kapitel.

Graf Ludwig von Decerti, der Rittmeister, war ein wortkarger Mann. Aber man steht nicht umsonst mit einem buckligen Studenten der Philosophie, der eigentlich ein Musiker ist, immer wieder vor dem Löwenkäfig. Löwen, Buckel und Philosophie führten den unehelichen Sohn der armen Wäscherin und den nunmehr endlich pensionierten Rittmeister zusammen. Es gab da viel Gemeinsames. Die einzelnen Schicksale sind, nach des Rittmeisters Ansicht, gänzlich wesenlos. Das Typische ist der große Blödsinn. Und der große Blödsinn ist das Unterhaltende. Sonst müßte man sich ja immer wieder aufknüpfen, wenn es nicht mit einem ausgiebigen Mal genug wäre, wie Exempel beweisen.

 

6

Eines Abends lud der Rittmeister seinen buckligen jungen Freund in seine Stube. Er wohnte im dritten Stock eines Armenleutehauses der Vorstadt. Im Erdgeschoß Laden an Laden. Gegenüber der Bahndamm. Die Straße, schien's, wurde das ganze Jahr nicht gereinigt. Der Regen rann und durchweichte den Straßenkörper. Es bildeten sich Aufstauungen und hinwiederum tiefe Furchen. Lachen standen unbeweglich und glänzten metallen. Schnee fiel und zerging. Manchmal wurden auch wahl- und regellos Steine aufgeschüttet. Die harten Kämme froren und barsten. Zuweilen aber und durch Wochen dann war die ganze Straße eine große quatschige Masse, dick, üppig, gleißend. In dieser Gegend der Hebammen, Flickschuster und Hemdenbüglerinnen wohnte der Rittmeister Graf Ludwig von Decerti, seit er den aktiven Dienst verlassen hatte, und schon geraume Zeit, ehe seine Verabschiedung förmlich erfolgt war. Das Zimmer, in das er Mathias führte – höflich ließ er ihn voranschreiten; Mathias wenigstens empfand als Höflichkeit, was jenem selbstverständliche Sitte war, auch einem Buckligen, auch einem Studenten, auch dem unehelichen Sohn einer Wäscherin gegenüber –, das Zimmer des Rittmeisters war geräumig. Es befanden sich daselbst ein Schreibtisch, mehrere Kasten, eine Bücherstelle, eine Dantebüste, ein Schlafdiwan, einige aus Stroh geflochtene Lehnstühle. Warm und behaglich aber gestalteten das Gemach die zahlreichen orientalischen Teppiche und die unzähligen Fotografien. Bei Junggesellen sieht es ja meist so aus. Aber Mathias war es neu. Auf dem Schlafdiwan lag der Rittmeister und rauchte einen Tschibuk, im mächtigsten der Lehnstühle saß Mathias und rauchte eine Zigarre; der Rittmeister hatte es nicht gerne, wenn man ihm im Rauchen nicht Gesellschaft leistete.

Und hier entwickelte sich die vor dem Löwenkäfig und an den Gitterstangen der anderen Tierbehälter angebrochene Philosophie vom großen Blödsinn an mancherlei Musterbeispielen. Das Lehrreichste jedoch, zugleich ganz entschieden das Amüsanteste war die Lebensgeschichte des Rittmeisters selbst.

Sie hat sich natürlich nach und nach und fragmentarisch, auch andeutungsweise nur vor Mathias entwickelt, aber die zahlreichen Bäche und Gerinnsel ergaben doch einen Fluß von der und der Uferbreite und Wassermasse. Und der Fluß, der in Mathias Siebenlists aufmerksame Seele rann und rauschte, beschrieb folgenden gewundenen Lauf: Der Rittmeister war aus einer ganz großartigen Familie. Es wimmelte nur von Kämmerern und Malteserrittern, Sternkreuzordens= und Palastdamen in dieser Familie. Und da war bald der Fürst X. ein Vetter, bald der Prinz Y. ein Oheim, die Fürstin Z. aber eine Ältermutter. Man konnte eine hübsche Genealogie der höchsten adeligen Häuser erfahren, vorausgesetzt, daß es einen interessierte. Für Mathias Siebenlist blieb das Allgemeine daran die Hauptsache. Die Namen bis auf ihren sonoren historischen Klang vergaß er mit Erlaubnis des Rittmeisters, der ›auch nicht viel darauf hielt‹, und dies ehrlich. Aber ›es gehörte einmal dazu‹.

Ein Schloß erstand vor des Buckligen Seele, ein Schloß mit einer Fassade von 29 Fenstern, einem Park, einer Wildbahn, einem melancholischen Weiher, Schwänen und Teichrosen. Und ein wunderbares Wesen beherrschte dieses Schloß und diesen Park, eine Dame in weißen Spitzen und weißen Schleiern, zart und fein und lieblich, in grauen Haaren noch das Entzücken aller, die sie kannten. Mathias Siebenlist aber kannte sie besser, als sie selbst sich kannte. Denn sie war die Mutter Ludwig Decertis, die schöne Gräfin Motocka, die Liebe eines hohen, hohen Herrn von damals. Ludwig Decerti war das dritte Kind. Das erste war eine Tochter gewesen, die Fürstin Bagatieff. Sie lebt in Rußland, weit, weit dahinten. Man weiß nichts mehr von ihr seit langer, langer Zeit ... Das zweite Kind war Thadaeus Decerti, der heute das Haupt der Familie ist und den Park und das Schloß mit der 29-Fenster-Fassade besitzt, aber gründlich hat renovieren lassen. Man weiß eine Menge von ihm, doch es ist besser, man spricht nicht davon. Es hat weiter keinen Zweck! Das dritte Kind aber sitzt vor Mathias Siebenlist oder liegt vor ihm auf dem Schlafdiwan und saugt am Tschibuk und hat eine rote Nase und verschwollene Augen und rasiert sich durchaus nicht täglich wie der Kammerdiener des Hauptes der Familie.

Der blaue Dampf erfüllt den Raum. Und Gestalten entwickeln sich ... Ein Jesuitenpater tritt auf. Er ist sehr elegant und geistreich, spielt l'hombre und Whist, er schießt vom fahrenden Wagen das Wild in der Flucht, er ist ein Fürst Merzinsky, und er liebt die schöne Gräfin Decerti=Motocka. Und es tritt auf ein großer Künstler, der außerdem ein großer Gauner ist, ein begnadeter Künstler und ein unqualifizierbarer Gauner. Aber nichtsdestoweniger liebt er die schöne Gräfin Decerti=Motocka. Und es treten auf: ein junger Förster, ein Kadett von den Ulanen, der auf die jämmerlichste Weise von der Welt den Hals gebrochen hat: beim Heimreiten der Eskadron ist er mit seinem Pferd gestolpert und gestürzt und nicht mehr aufgestanden. Es tritt ferner auf ein Exminister, der aus kleinen Verhältnissen zum Liebling des Hochadels sich hinaufgedient hatte und als Krönung seiner Karriere die Liebe der schönen Gräfin Decerti=Motocka zu erringen trachtete und errungen hat. Und es treten auf ... Mathias Siebenlist aber hört und hört ... Der Rauch des Tschibuks und der Zigarre zieht in feinen, langen, blauen Streifen durch das Gemach. Die Abendröte fällt herein, alle Gläser der Fotografierahmen beginnen rätselhaft zu brennen. Ludwig Graf Decerti erzählt dem Buckligen die romantische Geschichte von der schönen Gräfin Decerti=Motocka und ihren hundert Liebhabern. Und das alte Schloß mit der 29=Fenster=Fassade wird lebendig. Herren im roten Reitfrack versammeln sich vor dem Portal, Schnauben von vielen Pferden erhebt sich. Wimmern und Kläffen der braungefleckten weißen Hunde belebt das Grün der geschorenen Rasenflächen und die herbstliche stille Klarheit der reinen Morgenluft. Das Kind Ludwig an der Hand der Engländerin erscheint im Schloßhof. Man hebt es auf dieses, jenes Roß. Schöne Damen sind in der Gesellschaft, die es küssen ... Eines Abends nach dem großen Diner, als das Kind Ludwig im Rauchsalon allen Damen und Herren artig gute Nacht gesagt hat, sieht es an einem Fenster des langen Korridors, der zu den Schlafräumen führt, den Vater stehen, Albrecht Grafen Decerti, Seiner Majestät Geheimen Rat und Großkordon des ...ordens. Und der Vater hält das Gesicht an die Scheiben gepreßt und sieht hinaus in die finstere Nacht im schwarzen Park ...

Später ist dem Kind Ludwig manches im Leben klar geworden, auch die Stellung seines schweigenden Vaters am Fenster des langen Korridors, der zu den Schlafräumen führte. Und die Philosophie vom großen Blödsinn hat frühzeitig Wurzel gefaßt in einem schmalen blassen Kinderhaupt ...

Alles, was folgt, kann diese wunderbare Romantik nicht mehr aufwiegen, das Leben des Knaben im Konvikt, in der Kadettenschule, das Leben des Jünglings im Regiment und bei der Schwadron, das Leben des ins Reitlehrerinstitut kommandierten Leutnants in der Gesellschaft, in den Boudoirs der Ballettkoryphäen, im Klub, auf dem Rennplatz. Auch die Geschichte der unermeßlichen Schulden nicht, auch die Geschichte der einzigen großen Passion nicht, der Liebe zu der kleinen, schwindsüchtigen Schauspielerin im Karltheater, die in der Garderobe den Blutsturz erlitt, den letzten, an dem sie gestorben ist. Nichts, nichts kann die romantische Geschichte ersetzen von der schönen Gräfin Decerti=Motocka und ihren hundert Liebhabern.

Warum der Rittmeister Graf Decerti dem buckligen Mathias Siebenlist sein Leben erzählte, das sagte er ihm selbst mehr als einmal. Weil sie beide so einsam waren wie die Steine auf der Straße. »Und merke wohl, mein lieber Mathias«, sagte der Rittmeister, »merke wohl, es ist ganz gleichgültig, ob einer im Schloß der hundert Liebhaber aufgewachsen ist oder bei dem Schuster im XIX. Bezirk. Es ist ganz gleichgültig. Der Blödsinn bleibt derselbe. Die Wahrheit liegt ganz woanders.« Und als Mathias dem Alten wieder einmal auf der Geige bis tief in den Abend hinein vorgespielt hatte, Fantasie über Fantasie, süß und schluchzend vor Heimweh, Heimweh aus der Welt hinaus, da tat der Rittmeister nach einer langen Pause endlich den Mund auf und legte den Schlußstein seines philosophischen Gebäudes in die Seele des Buckligen: »Die Wahrheit ist in der Kunst und all diesen sogenannten Zwecklosigkeiten. Sie haben Zweck, die Religion und die Kunst, die Liebe und die Sehnsucht: sie leben sich aus, ganz aus, in ihrer eigenen Welt. Die Ereignisse aber, die uns Menschen passieren, leben sich nie aus, das heißt, wir finden immer, daß sie irgendwo münden, wo wir nicht hinkönnen, wir sind zu dick, der Kanal ist zu eng. Nimm mich einmal und nimm dich einmal, Mathias, und sag mir, wo die Ereignisse hinauslaufen, die wir beide hinter uns herschleppen wie einen imaginären Schweif, denn, wer sie nicht von uns hört, erfährt sie ja niemals. Ich bin im Schloß der hundert Liebhaber geboren, und du hast nicht einmal deinen armen Vater gekannt, der vielleicht ein Hausknecht war oder ein Briefträger und – so dumm ist die Welt – vielleicht noch irgendwo lebt und Stiefel putzt oder Briefe austrägt wie vor 20 oder mehr Jahren. Aber sage mir einmal: Was ist das deutlich Unterscheidende an uns beiden? Ich liege hier auf einem Schlafdiwan, der schäbig genug ist, wenn er dir auch kostbar vorkommt, und du rauchst eine Zigarre, die du dir nicht täglich leisten kannst, obwohl sie nur zwölf Kreuzer kostet. Aber einen tiefer hinabreichenden Unterschied finde ich nicht. Denn daß ich Decerti heiße und, wie meine ehemaligen Kameraden sagen, mich versoffen habe, und daß du griechische Nachstunden gibst und einen Freund hast, der Ralf heißt und ein Aff ist, kann doch in Gottes Ratschluß nicht das Bezeichnende an uns beiden sein. Aber siehst du, daß ich dir ungeschriebene romantische Geschichten erzähle, die ich erlebt zu haben glaube, und daß du mir dann als deinem einzigen Publikum ungeschriebene Fantasien auf der Geige vorspielst, die du erlebt zu haben in Tönen versicherst, das ist die Wahrheit. Und sag selbst, ob diese Wahrheit, so schmerzlich sie an unseren Nerven reißen mag, nicht schön und zweckdienlich ist. Denn sonst müßten wir beide uns doch eigentlich wieder einmal aufknüpfen.«

 

7

Eines Nachmittags auf dem Rückweg von der Menagerie – sie gingen meist zu Fuß, der Rittmeister im runden steifen Hut und blauen Paletot, der andere im Radmantel und Künstlerhut – sagte Decerti plötzlich: »Sag einmal, Mathias, warst du denn noch niemals verliebt?« Und als der Angeredete nicht antwortete, nochmals: »Mach keine Flausen, sag's heraus. Es ist doch auch ein Kapitel Blödsinn. Aber ein schönes.« Da lachte Mathias und antwortete: »Ja. Einmal. In einen Lackschuh.« »Alle Achtung!« Der Rittmeister blieb stehen. »Du fängst gut an, Geiger! Das ist ja ein Musterfall von Venus perversa.« Mathias war weitergegangen. Der Rittmeister setzte sich wieder in Trab, wie er's nannte, wenn er etwas rascher ging, als sein gewöhnlicher Schlenderschritt war. »Erzähle, erzähle«, rief er aufgeräumt. Und Mathias erzählte eine Begebenheit von einem Buchhändlerladen und einer jungen Dame. Es war eine nicht ungewöhnliche Begebenheit. Sie hing unlöslich zusammen mit einer beschämenden Begegnung innerhalb der Universität und ebenso unlöslich mit der Betrachtung eines im Abbruch befindlichen alten Gebäudes. Aber diesen notwendigen Zusammenhang ließ er fallen. Er erzählte einfach die Begebenheit. Daß er dem Fräulein auf den Fuß gesehen und daß ihn ihr Schuh erzittern gemacht habe. Dann fiel ihm das kleine Mädchen mit den Blumen ein, das ebenso unbedingt dazu gehörte. Aber auch dieses Moment ließ er als unwesentlich aus. Der Rittmeister jedoch schüttelte den Kopf und sagte: »Das sind nur Anklänge, und nicht einmal das, das ist ein Staccato als leidlich hübsches Vorspiel, und abgebrochen, weil die Hand nicht mitwollte. Mein lieber Mathias, das hat andere Ursachen. Ich kenne sie nicht« (Mathias kannte sie), »aber das eine weiß ich, daß das weder Venus perversa noch Venus überhaupt ist. Die Sache wird sich also erst geben.« Nun hätte Mathias freilich noch mancherlei nachzutragen gehabt zu diesem Thema aus der geheimen Geschichte seines jungen Herzens. Er hätte sowohl Träume als greifbare Vorstellungen mitteilen können, Wünsche sowohl als Erfahrungen. Er hätte von einem Mädchen sprechen können, dem er fast täglich begegnete, das einfach, aber mit viel Geschmack gekleidet war und nie an ihm vorüberging, ohne daß ein Hauch wie von einem Lächeln sich über ihrem süßen kleinen Antlitz verbreitete. Aber er ließ nichts derlei verlauten, sondern dem Rittmeister das Wort, der also fortfuhr: »Mein lieber Mathias, die Liebe ist eine Sache, die du entschieden lieblicher kennenlernen wirst, als ich die Ehre hatte. Ein Leutnant, der in einer Kavalleriekadettenschule gewesen ist, der hat das Beste gewöhnlich schon verpaßt. Und es kommt nicht wieder, das Beste ... Die Flegeljahre der Liebe: ein tieftrauriges Kapitel! Hinter den steifen Kulissen der Pädagogik ... Gesegnet sei das Schloß der hundert Liebhaber und seine unmoralische Romantik für ein nachdenkliches Kindergemüt! Denn Kadettenschulen haben keine Romantik, und die Leutnantsromantik, das ist auch so eine fade Sache. Diese Romantik haben die Töchter aus gewissen wohlsituierten Bürgerhäusern, und habeant in infinitum ... Du wunderst dich, daß ich Latein kann?« (Mathias wunderte sich gar nicht.) »Du würdest dich noch mehr wundern, wenn du erführest, daß ich sogar Gymnasium und Universität nachgeholt habe in – wart' einmal – ja, in sechs Jahren. Und spät genug. Es war auch nur so ein Rappel und nichts weiter dahinter. Ich war nämlich schon einmal ausgetreten aus dem Militär, gerade als ich nach absolviertem Institut Oberleutnant geworden war, ganz in die Reserve gegangen, um zu studieren. Tatsächlich. Wie Heinrich von Kleist oder so ähnlich. Liebe zu den Wissenschaften. Nimm's, wie du's willst. Tatsache bleibt, daß ich nur eine einzige Prüfung im Jus hinter mich gebracht habe und dann wieder, auf besonderen Wunsch meines Vaters, der damals noch lebte, zum Militär zurückging. Eine Episode. Aber ich habe damals allerlei gelernt außer dem Jus. Lebenskreise, Lebensinteressen, Anschauungsweisen und sonst allerhand Krimskrams. Keine Zeit ist verloren für einen Kopf, wenn sie auch scheinbar ihr Ziel nicht findet. Was die Menschen immer mit ihren Zielen haben! Als ob das ein Ziel wäre, daß jemand sein Jus absolviert, um dann zum Beispiel bei Gericht einzutreten oder Advokat zu werden! Heilige Einfalt! Natürlich, so ganz unpraktisch bin ich nicht, natürlich gibt es sogenannte Ziel, gibt es Berufe. Und recht hat das Maulwurfsvolk, wenn es sie ernst nimmt. Ganz abgesehen vom Gelde. Denn das Geld bringen die Berufe, zumal die sogenannten geistigen, ja doch nicht in dem angemessenen Grad herein. Das Geld muß einer erben, dann hat es einen Sinn. Den Sinn nämlich, daß er's mit Grazie ausgibt. Erworbenes Geld erzeugt Parvenüs oder Geizhälse. Erworbenes Geld, sobald es die Grenzen des Notwendigen überschreitet, ist gegen das musikalische Gesetz des Geldes, als welches lautet: ausgeben, schön ausgeben! Nicht so dumm freilich, wie es viele meiner Herren Kameraden beliebten oder dein Herr Ralf und Konsorten ... Ich habe einen Kollegen gehabt im Jus, er fällt mir jetzt ein. Ein kurioser Kauz. Alle Samstage ›unterhielt‹ er sich. Ich habe ein-, zweimal mitgehalten, dann ein für allemal ausgespannt. Es war gar zu kläglich. Der Mann hatte für seine Begriffe und auch für die Begriffe einer gewissen wohlsituierten Mittelklasse viel Geld, und jeden Samstag gab er riesig viel Geld aus. Man hätte dem Mann sein Geld einfach wegnehmen sollen. So urdumm stellte er's an. Es war eine Vergnüglichkeit ohne jedes Vergnügen. Das kennst du nicht, Mathias. Ich kenne das nur zu genau. Mußte derlei zu oft ex officio mitmachen. Der Mann also, von dem ich rede, ging in irgendein obskures Vergnügungslokal und ließ sich dort in der schnödesten Weise aussackeln. Zum Schlusse trank regelmäßig das ganze Personal mit. Aber die mehr oder minder hübschen Mädchen darunter lachten ihn immer aus. Sie tranken und aßen, was das Zeug hielt, dann aber hängten sie sich an den Arm irgendeines anderen gerade akzeptablen ›Kavaliers‹ und ließen meinen Freund mit dem Zahlkellner im traulichen Tête-à-Tête. Und so trieb's der Kerl jahrelang. Auch als er sich verheiratet hatte, blieb er der alte. Jeden Samstag unterhielt er sich, kam um 4 Uhr morgens nach Hause und hatte seine 200 bis 300 Gulden ausgegeben. Für nichts. Für gar nichts. Der Mann hatte, wie gesagt, geheiratet – ich sah ihn oft in seinem Stadtpelz, er war Advokat und sah aus wie ein Hofopernsänger –, besaß zwei oder drei Kinder. Aber alle Samstage unterhielt er sich – mit dem Zahlkellner ... Geld auszugeben, Mathias, ist eine große Kunst, mehr: eine Gnade. Ich besaß diese Gnade. Sie war übermäßig ausgegossen worden über mich, scheffelweise sozusagen. Meiner Ansicht nach gehört zum Geldausgeben Rasse. Verzeih, lieber Mathias, wenn ich das so geradeheraus sage. Aber zunächst dürftest du nicht in die Lage kommen. Sodann kann man ja nicht wissen, vielleicht hast du Rasse, vielleicht war dein Vater kein Fuhrwerker oder Bäckerlehrling, sondern ... Aber verzeih nochmals. Das war wirklich sehr taktlos von mir ... Obwohl es wiederum eigentlich mehr als dumm ist, daß ich das, was ich gesagt habe, für taktlos halte, während ich dir ruhig vom Schloß der hundert Liebhaber ... Doch da halten wir eben wieder einmal mitten im Kapitel Rasse.«

Auf diese Weise erfuhr Mathias oft und oft fragmentarisch das Wissenswerteste aus diesem voluminösen Anhang der Philosophie des Blödsinns.

 

8

Mit Ralf kam Mathias sehr selten zusammen. Er suchte ihn nicht auf, Ralf ihn noch weniger. Was hätten sie einander zu sagen gehabt. Eines Tages sah Mathias die Mutter Ralfs. Sie ging ganz knapp an ihm vorüber. Ob sie ihn erkannt hatte? Er hatte sie nicht grüßen wollen, aus Trotz ... Der dumme Trotz, dachte Mathias. Warum trotze ich dieser sichtlich gealterten Dame, indem ich ihr den ihr gebührenden Gruß lümmelhaft versage? Was ist ihr mein Gruß? Dieses flüchtige Zeichen einer vergangenen Beziehung? Was ist ihr, wenn sie es bemerkt hat, das absichtliche Verweigern des Grußes? Schmerzliche Erfahrung. Schmerzlich? Sagen wir: eine peinliche Erfahrung. Denn, man nehme die Sache, so wie sie sich verhält: ich habe ja doch in ihrem Hause einiges genossen. Zunächst die Spielsachen Ralfs, dann seine Bücher, auch zahllose Suppen und Kaffees, in Gesellschaft meiner Mutter zuerst in der Küche, dann im Zimmer drinnen bei Ralf, und so weiter und so weiter. Sie hätte immerhin ein Anrecht auf meinen Gruß ... Es fiel ihm ein, der alten Dame nachzugehen und sie um Entschuldigung zu bitten. Aber das war nur ein Augenblick. Er verwarf die Idee als lächerlich ...

 

9

Der Rittmeister hatte ihn bereits wiederholt aufgefordert, mit ihm ein Vergnügungsetablissement zu besuchen. So saßen sie denn eines Abends bei Ronacher im Parterre an einem Tisch, an dem noch ein einzelner Mensch Platz genommen hatte. Er war später gekommen, hatte grüßend gefragt, ob es erlaubt sei. Brummend hatte der Rittmeister die Erlaubnis erteilt. Es erfolgten nun auf einer grell beleuchteten Bühne allerhand Produktionen von Akrobaten, Chansonetten, Clowns und ›sonstigen Tieren‹, wie der Rittmeister sich ausdrückte, denn auch eine Anzahl Pudel wurde vorgeführt. Mathias trank den Wein, zu dem ihn der Rittmeister eingeladen hatte. Aber der Rittmeister trank viel mehr Wein als Mathias. Er trank so viel Wein, daß Mathias ihn endlich in äußerst aufgeräumtem Zustand mittels eines Einspänners in seine Wohnung zu befördern die teils peinliche, teils rührende Aufgabe hatte. Und als er ihn glücklich zu Bett gebracht hatte, da verlangte der Rittmeister, daß er ihm noch etwas auf der Geige vorspiele. Es war nämlich längst eine Geige angeschafft worden, die der Rittmeister selbst verwahrte und seinem buckligen Freunde ausfolgte, sobald er oder dieser Lust verspürten, sie zu vernehmen, beziehungsweise zu bearbeiten. Mathias spielte ... »Mein lieber Mathias«, sagte endlich der Rittmeister, »du tust sehr unrecht daran, dich niemals zu betrinken. Es ist die einzige Rettung für den höheren Menschen. Das Leben ist so ekelhaft schwer. Es hat so viel Gewicht und – es ist doch so furchtbar unwichtig.« Er lachte. »Dies nennt man ein Paradoxon, aber die Paradoxa, das sind die Wahrheiten. Das, was die Menschen Wahrheit nennen, sind Flachheiten. Die Wahrheiten der Menschen sind entsetzlich bescheiden und aufregend einfältig. So eine menschliche Wahrheit zum Beispiel ist, daß, wer zuviel trinkt, betrunken ist. Gibt es eine einfältigere, flachere Wahrheit? Darüber regt sich doch der Weise nicht auf! Der Weise betrinkt sich. Denn so kommt er am einfachsten über das dumme Leben hinaus und hinauf. Sieh mich jetzt an, Mathias, der ich hier liege, schwer betrunken. Du hast mich ins Bett gebracht, denn ich bin nicht imstande, mich meiner Kleider zu entledigen. Das heißt, ich hätte mich, wenn du mir nicht den Samariterdienst erwiesen hättest, einen recht überflüssigen Samariterdienst, nebenbei gesagt, denn es wäre auch ohne das gegangen, ich hätte mich einfach mit den Kleidern ins Bett oder auf den Diwan gelegt und ebenso herrlich geschlafen, wie ich schlafen werde, wenn ich diese sehr zwecklose philosophische Betrachtung werde beschlossen haben. Also, um darauf zurückzukommen, wie gesagt, du hast mich auskleiden müssen. Und du bist, indem du mich so hier liegen siehst und da du mich vorher einigermaßen schwankend und menschenunwürdig, wie sie es nennen, gesehen hast – – – sicherlich, wie die anderen, überzeugt, daß es dem Menschen nicht anstehe, sich also zu betrinken, daß es mit einem großartigen, bereits erwähnten Wort menschenunwürdig sei.« Der Rittmeister sprach einigermaßen schwer, wußte es und lachte dazu. »Du wirst«, fuhr er fort, »dich morgen nach meinem Befinden erkundigen. Und nimm an, es hätte mich mittlerweile der Schlagfluß getroffen. Du erschrickst. Du nennst das sicherlieh in deiner Jünglingsseele Zynismus oder so ähnlich. Aber, vergib, es ist Dummheit, Jünglingsdummheit, also verzeihliche Dummheit. Und überdies die sympathische Dummheit eines unerfahrenen Jünglings ... Unsympathisch ist die Dummheit der sogenannten Erfahrenen. Unsympathisch ist überhaupt das Urteil ... Du urteilst nicht, du fühlst, du empfindest, und jeder hat das Recht zu seinen Empfindungen und Gefühlen. Ich bin der letzte, solche Rechte anzutasten. Der letzte ... Also bemitleide oder verachte mich immerhin. Du hast das Recht dazu, wenn auch durchaus nicht recht ... Wieder so ein Wortspiel, das mich erquickt ... Spiele erquicken überhaupt. Spiele sind das Höchste. Sein Leben zum Spiel zu gestalten, wäre die Krönung einer harmonischen Bildung. Aber heute bilden sich die Menschen zu Gebildeten und ahnen nicht, wie unsäglich weit sie sich damit vom Affen entfernen, der spielen kann ...«

Die Lampe mit dem Papierschirm drüben auf dem Schreibtisch gluckste leise. Im heftigen Wind schütterten die Türen. Der Rittmeister war eingeschlafen. Mathias aber saß und übersann den Abend. In einer Loge hatte er Ralf gesehen, Ralf im Frack, mit schön frisiertem Haupthaar und weißen Glacéhandschuhen, Ralf lächelnd, Zigaretten rauchend und sich mit blanken Zähnen zu einer Dame neigend, einer Dame ... Mathias ließ ihr Bild immer wieder und immer farbiger aus dem Zigarrenrauchnebel des mächtigen, von einer Kuppel gekrönten Raumes tauchen. Die Dame hatte einen riesigen schwarzen Federhut auf dem grellblonden Haar und über dem weißen Spitzenkleid eine mächtige Pelzboa getragen. In den Ohren staken ihr große funkelnde Brillanten, und daran hingen Perlentropfen nieder ... An ihrer Hand hatte es von kostbaren Ringen geblitzt, und selbst der Stiel ihrer langen Lorgnonkette war mit Edelsteinen besetzt gewesen. Ihr Gesicht war dunkelfarbig, ihre Augen dagegen von einer brennenden tiefen Bläue. Und als sie sich erhob, um im Hintergrunde der Loge mit Ralf das Souper einzunehmen, da hatte Mathias mit heißem Blick ihre hohe üppige, geschmeidige Gestalt verfolgt in jeder ihrer schlanken, weichen, schmiegsamen Bewegungen. – Den Rittmeister hatte Mathias auf Ralf und seine schöne Partnerin nicht aufmerksam zu machen Lust gehabt. Aber noch weniger hätte er Ralf niederblicken machen mögen. Einmal, nur für eine Minute freilich, war ihm der Gedanke gekommen, daß Ralf, wüßte er, daß sein Gefährte ein Rittmeister und ein Graf wäre, sicherlich eine andere und bessere Meinung von ihm, Mathias, gefaßt haben würde. Aber er hatte sich gesagt, daß dies ein schäbiger und unwürdiger Gedanke sei, dann – und dies ohne den Verrat zu spüren, der darin grinsend kauerte – daß dieser Graf Decerti doch eigentlich nicht der richtige Prunk= und Paradegraf wäre, Decerti, der Deklassierte, der Freund des Buckligen, Decerti aus der Armeleutevorstadt, dem Hebammenviertel ... Als der Rittmeister Glas um Glas des weißen, leicht moussierenden Tischweines in sich hineingegossen, als der dritte Gast am Tische, die Hand mit der Zigarre weit von sich gestreckt, Bein über Bein geschlagen, öfter und öfter mit argwöhnischen Augen verstohlen den alten Trinker gemustert hatte, war es Mathias heiß über das Herz geflutet. Und als er seinen äußerst redseligen Freund endlich mit einiger Mühe nach Schluß der bis Mitternacht währenden Vorstellung vermocht hatte, sich zu erheben, war es seine einzige Sorge gewesen, einen Ausgang zu wählen, wo er Ralf und seine Begleiterin nicht anzutreffen hoffen durfte ...

 

10

Eines Tages hatte sich der Rittmeister aus Mangel an anderweitiger Beschäftigung mit dem Rasiermesser die Pulsadern an beiden Armen aufgeschnitten. Mathias, der ihn wie gewöhnlich aufsuchte, fand den Freund bereits verblutet. Auf dem Schreibtisch lag ein Brief an Herrn Siebenlist. Sich von dem kläglichen Anblick losreißend, las der Bucklige:

»Mein lieber Mathias! Sei mir nicht böse, daß ich Dich auf dieser Welt noch für eine Weile allein lasse. Trotz Deiner angenehmen Gesellschaft ist mir die Sache im allgemeinen endlich doch zu lästig geworden. Ich habe mich gestern mit fürchterlichem Ernst gefragt, ob es irgendwelchen Sinn hätte, die triste Affäre noch eine Zeitspanne mitzumachen, und mir mit großer Sicherheit die Antwort erteilt, daß es gar keinen Sinn hätte. Es tut mir leid, daß ich Dich nicht zu meiner diskreten, sozusagen schmerzlosen Selbsterledigung habe einladen dürfen. Du hättest mich, in völliger Verkennung der Umstände, höchstwahrscheinlich daran zu hindern unternommen, und die Exekution wäre nicht so glatt vonstatten gegangen, wie sie mir jetzt bevorsteht. Ich gedenke, mich diese Nacht noch einmal tüchtig auszuschlafen. Man kann ja doch nicht wissen, was in dem anderen Schlaf, wie Hamlet sagt, für Träume kommen werden, und so weiter ... Ich danke Dir herzlich für Deine Teilnahme, die Du mir in so uneigennütziger Weise entgegengebracht hast, ich kann Dir ehrlich versichern, daß ich keinem Menschen auf Gottes einigermaßen diskutablem Erdboden zur Zeit näherstehe als Dir – wenn Dir das einigen Spaß zu bereiten imstande ist. Ich getraue mich gar nicht, hinzuzufügen, was mir selbstverständlich und wirklich belanglos erscheint, daß alles, was ich hinterlasse, Dir gehört. Ich habe von meiner Pension gelebt. An Geld lasse ich Dir also nichts, als was sich in meiner Brieftasche bar befindet. Es ist wenig genug, da ich mir gerade diesen 28. März zum Abschiedsmorgen ausersehen habe. Du wirst mir, wie ich Dich kenne, nicht zürnen, daß ich den Entschluß (ein großes Wort für eine kleine Sache!) nicht auf den Tag nach dem nächsten Monatsanfangstermin verschoben habe. Die Bargeldausbeute würde ja auch dann lächerlich geringfügig gewesen sein. Aber mein Freund Mathias, vernimm: nicht nur Teppiche und ein fragwürdiges Mobiliar sind Dir geblieben, nicht nur einige Bücher und sonstiger Krimskrams, sondern auch eine Brief= und Manuskriptsammlung, die ich Deiner Diskretion empfehle. Ich habe den papiernen Wust nicht vernichtet, weil ich ihn für Dich noch als von einigem Nutzen erachte. Lies das Zeug gelegentlich, nach und nach, heißt das natürlich, durch. Du wirst manches erfahren, was Du, menschlicher Voraussicht nach, auf einem anderen Wege nicht zu erfahren in der Lage sein dürftest. Dann aber, mein Freund, wenn Du halbwegs Nutzen gezogen hast für Herz und Gemüt und Geist aus dieser nach den verschiedensten Richtungen anziehenden Lektüre, dann, Mathias, dann wirst Du die für die Allgemeinheit zwecklosen Aufzeichnungen selbstverständlich vernichten und auf diese Weise mein Vertrauen ehren. Lebe wohl, mein lieber Mathias, die Materialien zu einem System der Philosophie des Blödsinns sind mein Vermächtnis an Dein besseres Ich.

Ludwig Graf Decerti,
bis dato noch Weltbürger.«

 

11

Mathias Siebenlist bezog das Zimmer mit den vielen Teppichen. Der Abschied von dem greisen Schuster gestaltete sich äußerst einfach. Ein Streifwagen hatte das geringfügige Gepäck des Studenten aufgenommen. Die Sonne stand schon am Rande der niedrigen Hügel. Der Abend war warm. Der Schuster, unter der Haustür, hielt die Hand vor die Augen. Natürlich waren auch einige Weiber aus der Nachbarschaft in mäßiger Entfernung versammelt. Und barfüßige Kinder sperrten Mund und Augen auf. – Mathias hatte noch dem Friedhof einen Besuch abgestattet. Er lag verlassen und verwahrlost. An der Mutter Grab las der Bucklige zum soundsovielten Male die Aufschrift auf dem ungefügen Steinkreuz: »Barbara Siebenlist, gestorben am ...« Den Geburtstag hätte kein Mensch anzugeben gewußt, Mathias hatte sich auch bei niemand darum erkundigt. Keine Träne trat in seine Augen, als er sich auf ein Knie niederließ, nicht ohne sich scheu umgesehen zu haben. Mutter, wo bist du? Mutter, woher kamst du? Und war es dein Zweck auf dieser Erde, mich Buckligen zu gebären, auf daß ich einen entgleisten Grafen beerbte? Die Züge seiner Mutter waren ihm augenblicklich gar nicht gegenwärtig. Er sammelte mit Anstrengung seine Aufmerksamkeit. Seine Bemühung blieb vergeblich. Endlich gab er's auf und ging.

Die Ereignisse, die das Leben eines Menschen vorstellen, wie es die anderen sehen, beurteilen und verurteilen, jedenfalls mehr als billig kritisieren, sind zum guten Teil von Elementen also verborgener Art abhängig, wie sie die Lektüre der Aufzeichnungen des Rittmeisters Decerti für Mathias Siebenlist bedeuteten. Das erste, was ihm aus der umfangreichen Mappe des Verstorbenen in die Hand fiel, war ein Brief der schönen Gräfin Decerti-Motocka an den Sohn. Das Datum fehlte. Es hieß nur: Kopronye, lundi. Der Brief, auf bereits verschossenem violettem Papier geschrieben, das noch leise duftete, lautete: »Mon cher, je suis désespereé d'entendre que vous avez été souffrant et gravement encore. J'espère que votre constitution assez robuste passera bienôt là-dessus.

Votre père aussi, mon cher, me fait de la peine. En cas que son état s'empirerait je vous le ferai savoir. Cela m'embête, je l'avoue ...

Je vous embrasse mille fois, mon chéri ...«

Mit Bleistift stand darunter: »Erhalten am 23.4.187.., acht Tage nach dem Tode Papas, eingelangt am Tage nach dem Tode.« Offenbar war er damals auf ein Telegramm hin abgereist ... Warum ihn, Mathias Siebenlist, den Fremden, gerade dieser Brief so beschäftigte. Dieser dumme, nichtssagende Brief einer mit ihrer Schönheit und den Anbetern ihrer Schönheit beschäftigten Frau. »Es ist sinnlos«, sagte er sich selbst. »Warum regt mich das auf? Was habe ich damit zu schaffen. Ihm, meinem seligen Freund, mag es damals einen Stich gegeben haben, daß seine Mutter so mit Parlandoworten über seine eigene und die Todeskrankheit des Vaters hinwegglitt ... Im übrigen: ob es ihm einen Stich gegeben hatte? ... Einen Stich! Blödes Wort!« Mathias empfand dabei den Stich selbst, den Stich, als ihm Herr Mertens am Tage des Begräbnisses der Wäscherin Siebenlist die fünf Gulden überreicht hatte. »Roheit, menschliche Gefühlsroheit«, philosophierte er, »du bist etwas Teuflisches!« ... Ob aber dessenungeachtet Rittmeister Ludwig Decerti damals ...? Gleichviel. Es war ein hartes Dasein, auch wenn man Leutnant im ... Ulanenregiment, frischgebackener Kämmerer und der Geliebte der Primaballerina Flora Solimena war ... Flora Solimena. Auch von ihr waren Briefe da. Darunter einer: »Schatzi, ich danke Dir tausendmal für das reizende Zeugel.« – Also, Wagen hatte Ludwig Decerti verschenkt! Unfaßbar für Mathias Siebenlist. Und doch. Er lächelte. Er hatte damals so viele Schulden gehabt, Decerti nämlich, daß er leichtlich auch Königsschlösser hätte verschenken können. Aber unerhört blieb es. Es schenkt einer einen Wagen an eine Tänzerin und bezahlt seinen Schneider nicht, seinen Handschuhlieferanten nicht und so weiter, alles ›nicht‹. Im Klub aß er damals. Das ›kostete nichts‹ ... Mathias lächelte wiederum. »Wenn ich heute plötzlich einer Dame einen Wagen schenkte ...! Ja, zum Geldausgeben gehört Rasse. Ganz sicherlich ... Armer Decerti!« Und er sah ihn daliegen, mit durchschnittenen Pulsadern ... Allerlei Briefe auf rosa, blauem, gelbem, rotem, Fliederblüten- und Heliotropepapier waren da, lauter Frauenbriefe: Sängerinnen, Schauspielerinnen, auch Damen der Gesellschaft. Da war eine Baronin Sidonie. »Die Malemanche mit dem Mal unter der linken Brust«, hatte Decerti dazugeschrieben. Mit Bleistift, flüchtig. Sich selbst zu erinnern. Oder für ihn, Mathias? Kindisch, das anzunehmen! Als ob Decerti den Wust jemals wieder anders denn blätternd, mit herabgezogenen Mundwinkeln blätternd, zur Hand genommen haben sollte! Es kamen tagebuchartige Aufzeichnungen. In Schlagworten: ›Begräbnis Lulus ... Oberleutnant ... 10 000 Gulden an Mironville.‹ Und: ›Nicht zu vergessen‹ stand dabei! Dann eine Balleinladung, eine einzige: ›Le comte et la comtesse de Soubiroff se donnent l'honneur ...‹ Das Datum? Vor 20 Jahren ... Warum diese eine Einladungskarte? Mathias hielt die Vergilbte lange in der Hand. Plötzlich fiel ihm ein, sie umzuwenden. Da stand es: Mascha. Sonst nichts. Mascha. Und Mathias träumte. Mascha Comtesse de Soubiroff. Und da war ja auch ihr Bild. Natürlich, das war sie. Sehr groß, sehr schlank, in einem schwarzen Spitzenkleid. Tief dekolletiert. Mit verschleierten Augen. Rechts am Rande nichts als ›Mascha‹. Mit großen fliegenden Zügen, aber in dicken Strichen hingesetzt ... Mascha ... Wozu ihm der Rittmeister das Zeug da hinterlassen hatte? Es ärgerte ihn, ja, es ärgerte ihn. Nun würde er da, er wußte es, Abend für Abend sitzen und diese Bilder, diese Billetdoux betrachten und träumen von Unmöglichkeiten ... Die Philosophie des Blödsinns ... Sie war selbst ein Blödsinn, diese Philosophie! Haben mußte man die Welt, haben mußte man sie, dann konnte man über ihren Blödsinn philosophieren. Und sich versaufen auch noch. Meinetwegen, sich noch versaufen dazu! Was lag daran? Aber wenn einer dasaß wie er, Mathias Siebenlist mit dem Buckel, vor dem Bilde Maschas, Comtesse de Soubiroff, dann hatte man nichts als Bitterkeit im Herzen. Und Mathias sah seine Mutter, ganz deutlich diesmal, die Hände, die roten, stillen, unheimlichen Hände im Schoß, zwischen den hochgestellten Knien ... Er strich sich über die Stirn. Dann ging er zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Ein Eisenbahnzug fauchte vorbei. Funken sprühten. Drüben dämmerte und zitterte die wogende Nacht über der Großstadt. Es war keine richtige Nacht. Das Schloß der hundert Liebhaber fiel ihm ein. Weiß stieg es aus grünem Blätterwald, leuchtend weiß, und der Mond darüber, still, unsäglich friedlich. Die Terrasse liegt schweigend, im vollen Mondlicht. Die Flügeltüren stehen weit geöffnet. Vom Blumenparterre steigt berauschender Duft auf. Die schöne Gräfin Decerti-Motocka tritt heraus auf den Balkon. Sie hat ein weißes Nachtgewand aus Spitzen an. Sie legt die feinen blassen Hände auf die kühle steinerne Brüstung. Sie beugt sich lauschend vor ... Votre père aussi me fait de la peine ...

 

12

Jeden Abend saß Mathias am Schreibtisch des Rittmeisters und las in den Schriften aus der großen Mappe. Bei Tage besuchte er die Vorlesungen, erledigte seine Korrepetitorstunden. Aber was ist das Leben des Menschen am Tage? Das Leben des Menschen am Tage ist entweder eine Kläglichkeit oder eine Traurigkeit, hätte der Rittmeister gesagt. Abends jedoch, da war die Geige und da war die Mappe da. Und ob er auf der Geige spielte oder in der Mappe las, Satz um Satz las, über jeden sann: immer träumte Mathias. Es gab, wie gesagt, eine Unmenge Bilder, lauter Fotografien, in der Wohnung des Rittmeisters, die nun dem Buckligen gehörte. Sie waren alle auf ihren Regalen geblieben, als der Alte sich hinübergeblutet hatte. Und in den Fächern des Schreibtisches fand Mathias noch Stöße und Stöße von Fotografien. Einmal stellte er eine ganze Reihe von Frauen vor sich hin. Er lehnte sie aneinander, umgab sich bis an beide Arme mit den Bildern dieser fremden Frauen. Sie waren fast alle schön, manche außerordentlich schön. Es gab große Damen darunter und große Hetären. Und all diese Bilder waren mit Schriftzügen versehen, die einander oft geradezu lächerlich ähnelten. Viele von diesen vielen zeigten halb entblößte Körper, es waren auch solche darunter, die den Frauenleib unverhüllt boten, oder die schlanken ruhenden oder sitzenden oder lächelnd lehnenden Gestalten hatten als Toilette nur schwarze Strümpfe an den Beinen und Federhüte auf dem künstlichen Haarbau. Eine stand ganz nackt da, und ein schmaler, lang herabwallender Pelzkragen taumelte wie eine Schlange von ihren Schultern. Eine war dargestellt als Danae. Sie hatte das süße Antlitz dem Beschauer zugewendet und lächelte mit halbgeschlossenen Augen, ließ die weißen Zähne durch die Lippen schimmern. Das rechte Knie war aufgestellt, der linke Arm lag unsäglich leicht und lose über einem Polster des Ruhebettes ... Mathias umgab sich mit allen diesen fremden Frauen und setzte sich vor sie hin, den Kopf in die Hand gestützt, und sah sie alle an, immer wieder an, der Reihe nach ...

Eros, Feind, böser, teuflischer Feind, alles vernichtest du: Andacht, Sehnsucht, Ehrfurcht, Demut, Ruhe, Hoffnung, Treue, Liebe! – Eros, Feind, süßer, teuflischer Feind, alles ersetzest du: Andacht, Sehnsucht, Ehrfurcht, Hoffnung, Liebe ... Stand das nicht irgendwo, vom Rittmeister irgendeinmal niedergeschrieben ...?

Mathias starrte die fremden schönen Frauen an, den Kopf in die Hand gestützt, bis ihm die Augen übergingen. Und alle hatten im Leben des Grafen Decerti eine Rolle gespielt, irgendeine Rolle, sei es auch nur die gleichgültigste einer Stunde, eines Tages, einer Woche, eines Jahres. Viele, viele von diesen Frauen hatte er geküßt, viele so genossen, wie man ein Weib genießen kann ... Mathias dachte plötzlich voll Grauen an das einzige Mal, da er versucht hatte, sich diesen Genuß zu verschaffen.

Eine Erinnerung, die ihm die Schamröte in die Wangen trieb. Als sich das willfährige Frauenzimmer, das er aufgesucht hatte, zu entkleiden begann, hatte ihn ein Ekel gepackt, ein grenzenloser Ekel vor diesem käuflichen Genuß, vor diesem armseligen Geschöpf, vor dieser öden Behausung, die Mann um Mann empfing, einen Tag um den anderen, eine Stunde um die andere. Selbst ihm, dem häßlichen Buckligen, konnte sie sich nicht weigern, die dieses Los erwählt hatte, die von diesem Lose war erwählt worden! Er war davongeeilt wie ein Geschändeter ... Und so war er keusch geblieben. Keusch! Ihn schauderte. Heißt das keusch sein, daß er hier saß vor diesen alten Fotografien und seine begehrenden Blicke weidete an Augen und Lippen, Schultern und Hüften, Brüsten und Beinen? Hieß das keusch sein, daß sie ihn verfolgten am Tag und im Traum, die fremden schönen Frauen des Toten? Hieß das keusch sein, daß das Schloß der hundert Liebhaber vor ihm auftauchte wie ein orientalischer Feenpalast, angefüllt mit Gemächern der verschwiegenen Lust und umrauscht von schleiernden Springbrunnen? O, einer der hundert gewesen zu sein, einer! Der hundertunderste, der letzte!

Es gab kein Bild der schönen Gräfin Decerti-Motocka im Schatze des Rittmeisters. Er hatte alles längst um und um gewühlt nach ihrem Bilde, in einer Sucht, die ihm blutschänderisch dünkte – lächerlicherweise, wie er sich sofort eingestehen mußte. Der Rittmeister hatte wohl das Bild seiner schönen sündhaften Mutter vernichtet. Gleichviel. Wozu bedurfte er eines Bildes von ihr, die in ihm lebte mit dem glühenderen quälenden Leben des Traumes. Seine Geige sang ihre Liebe, ihre wundervolle, nie ermüdende Liebe. Da erstand das Schloß der hundert Liebhaber. Mit einem Geigenstrich war es erbaut. Und nun stand es da und verschwieg sie. Oft mußte er sie lange locken mit seinen Tönen, flehentlich rufen. Aber immer konnte er sie bannen. Und wenn sie ihm näher und näher kam, langsam aus dem Dunkel heranschreitend, heranduftend, dann schlug ihm das Herz, und er fiedelte so lange, bis sie ihn küßte. Das waren blutaustrinkende Küsse, bei denen man die Augen schloß und das Haupt zurücklehnte vor seligem Schmerz. Das Herrlichste, Schrecklichste aber war ihre Umarmung. Da schluchzte die Geige, da bebten die Finger, die den Bogen hielten, da war ein Aufruhr in dem Instrument, der sich im Räume verbreitete, der das ganze Zimmer versinken ließ und die Totenstille beschwor, die außerhalb der Welt steht ...

Bei Tage besuchte er die Universität und erledigte seine Korrepetitorstunden, aß in seinem kleinen Gasthaus. Niemals sprach er mit jemand. Ralf wich er aus.

 

13

Eines Tages, als ihn die Nachmittagskühle, er wußte selbst nicht wie, bis in den Prater verlockt hatte, wohin er stets zu gehen vermied, da ihn der Anblick der geputzten Welt mehr, als er ertrug, beunruhigte, sah er in der Hauptallee unter den vielen Wagen, die von den Rennen kehrten, einen mit einem Doppelwappen, der seine Aufmerksamkeit in herzbeklemmender Weise fesselte. Es war eine Equipage, von einem majestätischen Kutscher gelenkt. Der Bediente saß kerzengerade, die Arme verschränkt, neben dem Kutscher auf dem Bock. Die Räder waren gelb und schwarz, der Wagen selbst schwarz lackiert mit schmaler gelber Einfassung. Im Fond saß eine Dame. Sie hielt den leichten Spitzenschirm gegen die Abendsonne. Ihr Haar unter dem kleinen Toquehut mit den angeschmiegten grünen Federn war schneeweiß, wie gepudert, ihre Augen blickten blau und träumerisch ... Mathias, dem der Wagen entgegenkam, war stehengeblieben. Sein Herz war ihm erstarrt. Das war sie, dort fuhr sie, die Gräfin Decerti-Motocka! – Um Gottes willen, wie ihr sagen, daß er's wäre, er, Mathias Siebenlist, der hundertunderste?! Langsam rollte der Wagen dahin. Nun stiegen die Rücken des Kutschers, des Bedienten schwarz im Selbstschatten gegen die sinkende Sonne. Mathias begann plötzlich zu laufen. Aber ein Wachmann hielt ihn auf. Wohin er laufe. »Lassen Sie mich!« Nein, das gehe nicht an, hier dürfe niemand laufen. – Der Wagen rollte langsam weiter, immer weiter. Mathias sah ihn entschwinden. Passanten blieben stehen. Er schämte sich. Ein hartes Lächeln auf den Lippen, ging er. Nun war es ja doch schon zu spät. Den Wagen konnte er nicht mehr einholen ...

 

14

Täglich stand der Bucklige von diesem Tag an im Prater. Jeden Wagen verfolgte er mit hungrigen Blicken. Sie kam nicht wieder.

Er vernachlässigte seine Stunden. Man sagte ihm eine nach der anderen auf. Er nahm es gleichmütig hin. Sein Bargeld schmolz. Er versetzte seine Winterkleider, um essen zu können. Er versetzte dann die Teppiche des Rittmeisters, einen um den anderen. Zusammengerollt, durch Nebengassen, trug er sie zum Leihhaus. Auf der Universität erschien er nicht mehr.

Nachts saß er vor der Mappe. Alle Bilder hatte er vernichtet, zuerst die Männer, dann die Frauen, langsam eine nach der anderen. Er hatte im Ofen ein Feuer angemacht, und da es ihm an Holz gebrach, heizte er mit Büchern nach, daß es lohte. So verbrannte der Bucklige die fremden schönen Frauen, weidete sich an den zuckenden Bewegungen ihrer weichen Arme, ihrer nackten Beine. Und allmählich begann er auch den Inhalt der Mappe zu verbrennen ... An Kleidern besaß er nur noch, was er am Leibe trug. Mit der bronzenen Dantebüste zunächst, dann mit Geräten bezahlte er die Miete. Endlich trug er alle Zigarettendosen des Rittmeisters ins Versatzamt.

Er wollte noch leben, sie wiederzusehen.

 

Täglich stand er im Prater. Längst hatte der üppige Frühling Wiens die Bäume mit dichtem Grün beladen. Schon drückte sommerliche Schwüle.

Da, eines Tages sah er wieder das Gespann. Diesmal wußte er, was er zu tun hatte. Er trat auf die Fahrstraße, mitten unter die Wagen. Es war ihm gelungen, zwischen den vielen Rädern vorbeizukommen.

Nur noch ein einziger Wagen trennte ihn von dem schwarz-gelben Coupé. Und nun stand er ihr gegenüber ...

Sie wandte ihm erstaunt ihr Antlitz zu: Ein welkes, faltiges, müdes Gesicht, erloschene Augen, greisenhaft dünne Haare um die eingesunkenen Schläfen ... Und Mathias lachte laut auf und fiel hintenüber hart auf seinen Höcker ...

Aber seinem Wunsche ist doch Erfüllung geworden: Er lebt im Schloß der hundert Liebhaber. Daß die anderen es als eine Irrenanstalt betrachteten, kann der Wahrheit keinen Abbruch tun.


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