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Frida Schanz

Zieschangs Hund · Die Uhr

Aus: Humoristische Meister-Novellen, Hesse & Becker Verlag, o.J.

 

Zieschangs Hund

Ein Jahr lang war der große schwarze Hund nun bei Zieschangs. Aber erst seit dreiviertel Jahren war er Zieschangs Hund. Bis dahin nannten ihn die Leute in der Gasse nur das Eckertsberger Untier, und auch Zieschangs Kinder, so keck sie waren, hätten nicht den Mut gefunden, von »ihrem« Hund zu reden, wenn auf den ungemütlichen Kerl, den Herr Zieschang zur Bewachung des Hauses und des Wäscheplatzes angeschafft hatte, die Rede kam. Eine Zurückhaltung, die die Kinder sonst nicht kannten, war in ihrem Verhalten dem Hund gegenüber, sie bogen auf dem Lauf vom Haus nach dem Garten, diesem Paradies, wo die Stachelbeeren und Himbeeren wie wild wuchsen, lieber in der Umgebung der Hundehütte ein bißchen auswärts aus, als daß sie sich ihr genähert hätten. Auch in ihrer Rede hielten sie in ähnlicher Weise Abstand von dem Hunde. Vom siebenjährigen Moritz bis zum zweijährigen Delchen empfanden sie es als peinlich, einen Hund zu haben, der sein Zähnefletschen, Bellen und Kettenrasseln den Kindern des Hauses so gut wie dem fremdesten Fremden gegenüber ausspielt. Je mehr nach oben im Alter und in der Unerschrockenheit, je peinlicher empfand es das betreffende Kind. Für den wilden Moritz, für den fünf Gegner in einer Bubenkeilerei nichts Fürchterliches waren, bedeutete der Hund einen heimlichen Schrecken, der ihn bis in seine Träume beunruhigte. Denn der Hund schien eingeweiht in Moritzens sämtliche Schliche. Nie bellte er so wahnsinnig, als wenn Moritz einmal Ursache hatte, recht heimlich über den Hof in eine gerade für seine Vespermahlzeit auserlesene, von Mutter noch nicht zum Plündern – oder vielmehr Nachplündern – denn die beste Beerenernte wurde immer verkauft – freigegebene Ecke zu schleichen. Überhaupt bellte der Hund, wenn er Moritz nur von weitem sah. Genau so, nur etwas weniger wütend, sprach er in dieser Hundesprache auch Hilde, Gustav, Dorchen und selbst Delchen an. Und die Kinder fühlten sich dann immer vom Hunde erkannt und ertappt. Irgend etwas hatten sie immer auf dem Gewissen. In der Borngasse, in der Zieschangs ihre altbewährte Waschanstalt nebst Trockenplatz und Obstgarten hatten, ging von Mund zu Mund die Rede, nie in erschaffener Zeit hätten Leute, so fleißig, so ehrlich und so brav, wie Zieschangs es waren, so ungezogene Kinder gehabt. Es könnte einem leidtun, die Leute sich so plagen zu sehen, die Frau mit dem Waschen und Plätten, den Mann mit dem schweren Ziehwagen nach und von der Stadt, ganz abgesehen von seinem Hauptgewerbe, von dem der Witz meinte, es ginge um so besser vorwärts, je mehr der Mann rückwärts ginge. Denn Zieschang war Seiler, der Verfertiger aller Wäscheleinen für seine Frau und alle Frauen des Ortes, sogar noch für eine ausgedehnte Stadtkundschaft.

Zur leichteren Beförderung der vielen Wäscheleinen, Wäschesäcke und Wäschekörbe – es wurden kraft des Fleißes und der Tüchtigkeit der beiden Leute von Jahr zu Jahr mehr – sowie auch zur Bewachung ihres immer mehr wachsenden Besitzes hatten Zieschangs sich nach mancher Überlegung den schwarzen Hund aus Eckertsberg beschafft.

Eckertsberg war ein meist von Bergarbeitern bewohntes Dorf jenseits des Hügelrückens mit dem finsteren hohen Wald. Seine Bewohner machten sich über die Dietrichswalder, zu denen Zieschangs zählten, lustig. Die Dietrichswalder aber schätzten die Eckertsberger unaussprechlich gering; es war eine bis ins graue Altertum, zum mindesten eine bis ins Alter eisgrauer Urgroßeltern zurückgehende Dorffehde herüber und hinüber. Zu einem Hund aus Eckertsberg hätte sich Zieschang wohl schwerlich entschlossen, wenn die Verkaufsanzeige im Kreisblättchen nicht mehr einer Warnung zur Vorsicht ähnlich gesehen hätte als einer Lockung: »Scharfer Hund, guter Wächter, für Bewachung größerer Betriebe geeignet, zu verkaufen von Grubenmeister Wildhannes, Eckertsberg.«

Von Selbstgefühl und herausfordernder Unternehmungslust getrieben, spazierte Herr Zieschang im besten Sommeranzug mit Strohhut und blauem Schlips eines Sonntags über den Hügel und erstand den Hund. Er mußte es erleben, daß der schwarze Riese, vor dessen dunkler Ungestalt er im ersten Augenblick selbst erschrak, durchaus nicht mit ihm ziehen wollte. Ein übermächtig gebietendes Zureden seines Herrn brach seinen Widerstand in einer Weise, die dem im heimlichen Herzen oft allzu gefühlvollen Zieschang geradezu rührend war. Wie ein edler Mensch schien das Tier seine Verzweiflung, von dem alten Herrn scheiden und einem neuen folgen zu müssen, mit äußerster Gewalt zu überwinden. Die Rolle dessen zu spielen, zu dem einem Tier von einem Eckertsberger derartig gewaltsam zugeredet werden muß, war beschämend genug für den fleißigen Seiler und Waschfrauengatten. Der beschämende Kauf kostete dazu auch noch eine das höchste Vorhaben ums Doppelte überschreitende Summe.

Indessen – ohne weitere Schwierigkeiten kam der Hund wenigstens mit seinem neuen Herrn, der streng und liebevoll befehlenden Handbewegung seines alten folgend, über den Berg. Er ging mit wildtraurigen Augen und gesenktem Kopf, nur unter ganz leise grollendem Knurren auch mit ins neue Haus. Er ließ sich der neuen Frau vorstellen. Essen rührte er freilich an diesem Abend nicht an. Und als sich plötzlich durch die ungestüm aufgerissene Tür aus dem noch hellen Sommerabend mit fünfstimmigem Hallogeschrei die volle Zahl der dicken Kinder mit einemmal in die dämmerige, kleine, mit wildem Wein umrankte Stube ergoß, da zeigte er, wer er eigentlich war.

»Der furchtbare Hund – Gott bewahre uns, daß wir uns den aufgebunden haben,« so dachten mit seltener Einigkeit im stillen unter heißem Erschrecken wohl alle fünf Geschwister, so dachte auch das verdutzte Elternpaar. Der schwarze Hund lehnte, wenn auch infolge großer Beherrschung, nicht Herrn und Frau Zieschang, so doch entschieden ihre fünf Sprößlinge ab, so entschieden, daß der verschüchterte Hausherr den großen schwarzen Hausgenossen nicht schnell genug in die neugezimmerte Hundehütte im sommerlich-stillen, nur vom Brunnen durchrauschten Hof an die große blanke Kette zu legen vermochte.

*

Ein gefesselter Riese – ein mit stillem Widerwillen, aber äußerster Pflichttreue seinen aufgezwungenen Herren dienender, gegen die Kinder aus seiner Abneigung kein Hehl machender Hausgenosse, das war und blieb der schwarze Hund ein volles Vierteljahr hindurch. Er bequemte sich schließlich in hochmütig gleichgültiger Art zu seinem Futter. Er versah seinen Beruf als Wächter des Trockenplatzes, auf dem in den letzten Jahren mehreremal Stücke durch nächtliche Besucher abhanden gekommen waren, in einer die ganze Nachbarschaft um ihre süßen Träume bringenden Weise. Beim leisesten Geräusch schüttete er Ströme von grellem, gellendem Gelärm in die laubduftende, tiefstille Nacht. Und wie in Nächten überlaut, so diente er stumm, seltsam trauervoll anzusehen, an den Tagen der Stadtfuhren seinem Herrn als Zugtier vor dem kleinen, von höchstdiesem bisher höchstselbst gezogenen Bretterwägelchen. Es war nichts gegen den Hund zu sagen, nur daß er so furchtbar war, wenn er bellte und knurrte, und daß er dies bei jeder Gelegenheit, wo er es im Sinne und Dienste seiner Herren im Kreise seiner Pflicht ausführen zu dürfen meinte, überreichlich tat – daß er in diesen Kreis seiner Pflicht sogar die Kinder des Hauses zog, die ja nun freilich, was er mit unheimlicher Geistesschärfe zu begreifen schien, keine Engel waren und der fleißigen Mutter manche vielleicht gar zu wortreiche Strafrede entlockten. – Zu den Kindern fand er auch im Laufe von Tagen, Wochen und wieder Wochen kein anderes Verhältnis als das eines mürrischen, öfters noch wütenden, wilden, maßlos ungemütlichen Wächters und Feindes.

Und als drittes: Zieschangs waren doch Menschen und wollten nicht, daß sich ein Wesen maßlos verzehre in ihrer Umgebung an Unbehagen. Sie sahen, daß der große schwarze Hund litt! Daß das große Tier oft so fein und jämmerlich wimmerte. Daß das grobe Tier Heimweh hatte. Deutlich merkte man das ja. Heimweh nach Eckertsberg! Es war ebenso klar ersichtlich wie peinvoll und beschämend für Zieschangs in Dietrichswalde. Was hätten sie darum gegeben, den Hund die von ihnen verachtete, wie es deutlich zutage lag, von ihm immer noch heißgeliebte Heimat vergessen zu machen. Sie verstanden es mit dem Feingefühl stiller Eifersucht sehr genau, was es hieß, daß der grobe Hund gerade nach der Richtung des dunkelbewaldeten Hügelrückens hin so dumpf und jämmerlich wimmerte und knurrte. Es schnitt Zieschangs ins Herz. So gut sie den Hund brauchten und so sehr die Zahl der Taler, die sie nach ihrer Meinung zuviel für ihn bezahlt hatten, noch immer an ihnen riß – sie hätten das Tier umsonst zurückzugeben beschlossen in Nächten der Schlaflosigkeit, durchbellt von der Überwachsamkeit, durchwinselt vom unwiderstehlichen Fortbegehren des unbehaglichen Hausgenossen, wäre dessen Heimat nur nicht Eckertsberg gewesen! Der alte Herr nicht der Grubenmeister von Eckertsberg! Das ging einem Dietrichswalder denn doch zu stark an die Nieren.

*

Es fand sich indessen ein Ausweg.

Zieschangs hatten es bisher noch nicht gewußt.

Aber der Stadtkunde, der es Herrn Zieschang mitteilte, meinte, es wäre ein ganz bekanntes und ganz sicheres Mittel: wenn ein Hund sich nicht an die neue Heimat und den neuen Herrn gewöhne, so müsse man ihn einfach einmal zurückführen zum alten Herrn. Bei der zweitmaligen Trennung vom alten Heim folge das Tier der schon begangenen eigenen alten Spur willig. Die neue Heimat ziehe nun schon als die nunmehrige wahre Heimat an. Und damit sei bei der Heimkehr zu dieser Stätte der erste Schritt zur endgültigen Abfindung und Anpassung vollzogen.

Dieser Ratschlag ging Herrn Zieschang in den nächsten Tagen schwer durch den Kopf.

Seine ganze Natur sträubte sich gegen den demütigenden Gang, gegen das Zugeständnis, daß irgendeine Kreatur, und sei es ein Hund, von einem Ort wie Dietrichswalde aus nach einem Ort wie Eckertsberg Heimweh fühlen könne.

Indes war der Gedanke, sich die wertvolle Geschäftshilfe, die der Hund bot, zu erhalten, doch so stark in dem praktischen Manne, daß er alle zarten Widerstände schließlich überwand und sich eines Sonntags, wieder mit Sommerhut und blauem Schlips angetan, als scheinbar harmloser Wanderer, den ein schöner Hund begleitet, die Ehre gab, dem Herrn Grubenmeister jenseits des Berges einen kleinen Besuch abzustatten. Er hatte sich den ganzen Weg überlegt, wie er nur so recht leichthin, ohne sich etwas zu vergeben, diesen Besuch erklären solle. Zu einer Erklärung kam es aber gar nicht.

Der Hund bot zwischen den zwei Herren ein Schauspiel, so eigenartig, herzzerreißend und aufregend, daß jeder kleinliche Gedanke, den der eine oder der andere hätte denken können, von selbst zerfloß.

Beim Eintritt ins alte Haus und ins alte trauliche Wohngemach unter dem schiefergedeckten Dach hatte er sich offenbar, wie ein Verdurstender auf einen Wasserstrahl, auf den alten Herrn stürzen wollen. Eine innere Gewalt, nämlich das Gebot, dem neuen Herrn anzugehören, das der alte Herr ihm als letztes mit auf den Weg gegeben hatte, aber hielt ihn zurück. Aus Folgsamkeit gegen den alten Herrn wandte er sich wie in Qual von diesem ab zu dem neuen. Mit den treuen Blicken am alten hängend, schmiegte er sich zum erstenmal seit dem Besitzerwechsel leise an den neuen. Ein paar seltsame Laute taten die ungewöhnliche Bewegung seiner Hundeseele kund – Laute, die wie ein winselndes Bitten klangen: fort! fort! fort!

Vielleicht hat der gefühlsweiche Herr Zieschang die Sache nur so mit dem Herzen gedeutet und aufgefaßt. Da indessen auch dem Grubenmeister, der in keiner Weise von Wachs war, ein feuchter Schimmer im Auge stand, so hatten es die Männer leicht, sich durch ein paar Worte darüber zu verständigen, daß dem klugen Tier die Gegenwart beider Meister augenscheinlich peinvoll sei, und daß es besser sei, die Qual abzukürzen.

»Sie sind doch zufrieden mit dem Hund und wollen ihn behalten?«

Der Seiler hatte sich auf dem Wege vorgenommen, es ohne ein paar Einwände und Nörgeleien über die Untugenden des Tieres keinesfalls abgehen zu lassen. Jetzt hatten ihn derartige Gedanken sowie die dazugehörigen Worte völlig verlassen.

Er nickte nur, versicherte ein Mal über das andere höflich: »Äußerst zufrieden. Außerordentlich zufrieden, alle Achtung vor dem Hund!« –

Wenn dem so sei, meinte der Grubenmeister, wolle er sich auch die Lust verkneifen, den Hund durch irgendeine kleine Erquickung wieder neu ans Haus zu fesseln. Hungernd und dürstend, aber ohne jeden Widerstand, rührend willig und nur mit einem letzten unbeschreiblichen Blick auf seinen alten Herrn folgte der schwarzlockige Riese Herrn Zieschang zurück in das Haus mit der eifrigen Frau und den fünf wilden Kindern drüben über dem waldfinsteren Hügelrücken.

Und dieses Haus sah der Hund von nun an einwandfrei als Heimat an.

Es war nicht mehr nötig, ihn wegen Ungebärdigkeit Tag und Nacht mit Ausnahme der Zugstunden an die gräßlich klirrende Kette zu legen. Er verhielt sich ruhig und manierlich, wo er auch war. Mit den Kindern konnte er in einem Raume zusammen sein, ohne jedes einzelne zerreißen zu wollen.

»Unser Hund« nannte ihn die kleine Bande von diesem Tage an. Noch mit einem gewissen Respekt sagten sie's, was viel bei diesen Unerschrockenen hieß. Denn irgendeiner Zutraulichkeit, einer Annäherung und Freundschaft des Hundes konnte sich trotz des geschmolzenen Eises keines rühmen.

Und das erachtete die Mutter dieser Kinder als besonders gut. Sie ersah sich, nachdem sie einige Tage den Verkehr des Tieres mit ihren Sprößlingen beobachtet hatte, eines seltsamen neuen Vorteils durch den Hund. Das große Tier half ihr die Gesellschaft erziehn. Und das war eine nicht absehbare Erleichterung für die Frau.

Sie arbeitete hart und schwer mit ihren guten roten Händen und glaubte, dadurch zu einer Art Faustrecht ihren wilden Fünf gegenüber berechtigt zu sein. Die Ohrfeigen und Dachteln saßen ihr lose im Handgelenk. Wie Herr Zieschang mit Zärtlichkeit, so erzog sie die Kinder mit Schelten und Strenge.

»Mutter, du lobst uns nie, andere Kinder werden immer gelobt,« hatte die sechsjährige Hilde einmal maulend aufbegehrt. –

»Ach was, wenn ich dich einmal nicht auszanke und haue, das ist gelobt,« war die umgehende Antwort. Und dennoch hatte die geschäftige Frau die stete quälende Sorge, sie tue nicht genug.

Unaufhörlich beschäftigte sie beim Rumpeln und Stumpeln in der dampfwolkenerfüllten Waschküche die Vorstellung, was die Kinder wohl wieder Dummes machten. Es war ihr drückend den Nachbarn gegenüber, Kinder zu haben, die die reizende, mit stillen Linden bepflanzte und von einem feinen Bächlein – ihrem Spülbächlein – durchflossene Dorfstraße mit ihrem grellen, gellenden Spielgeschrei entweihten.

Sie träumte beim Wäscherollen von zerstampften Erdbeerbeeten, gebrochenen Genicken, scheltenden Nachbarinnen, geplünderten Sträuchern. In ihrer Angst war sie schon auf den Gedanken verfallen, die Kinder durch die Dienstmagd mit dem großen Korb voll Vesperschnitten öfters recht tief hinein in den Wald zu locken, wo ihre Versteck- und Haschespiele mit dem unvermeidlichen Gezänk niemand störten. Nur kamen sie immer, nachdem das Brot im Walde aufgegessen war, allzufrüh wieder. Und die Frau brauchte die Magd auch meist nötiger beim Auswinden, Aufhängen und Bleichen der Wäsche.

Da kam nun der von seinem wütenden Wesen befreite Hund als Retter.

Es war ihr gelungen, ihm irgendwie zu bedeuten, daß er auf die Kinder achthaben solle, und was dieses einsichtsvolle Hundegehirn einmal begriffen hatte, das ließ es nicht mehr so leicht los.

Obgleich der schwarze Gesell keins der Kinder an sich herankommen ließ, war er doch immer um die Kinder. Er trieb sie, als habe er es von seiner Herrin abgelernt, mit lautem Zanken von der Dorfstraße weg in den Wald oder in den hintersten, strauchlosen Teil des Gartens, wo nicht viel Unfug anzurichten war. Bei gefährlichen Unternehmungen, tollen Klettereien und dergleichen hob er ein gewisses murrendes, drohendes Grunzen und Grollen an, das furchtbar klang, weil man nie wußte, ob es sich nicht im nächsten Augenblick zu einem Höllengeheul erheben würde, das unbedingt die Mutter herbeirufen mußte, und bei dem der Hund durch den weitgeöffneten Schlund so über die Maßen furchterregend aussah, daß die kecke Schar vom dicken Moritz bis zur dicken Dele tödlich erblaßte.

Auf diese Weise hielt er fast alle ihre Unarten im Zaum, die unter andern waren: einander drängeln, einander von der Bank schubsen, sich hinter Bäumen verstecken und unerwartet vorbrechen, daß der andere zu einem gar nicht im Verhältnis zum gehabten Schreck stehenden Gebrüll Gelegenheit gewann.

Sie konnten, weil sie sich derartig anregend unterhielten, gar nicht ohne einander sein, die lieben Fünf.

Aber noch weniger konnten sie einander auch nur eine Minute in Frieden lassen.

Da brauchte sich jetzt der Hund, wenn er aufpassend in ihrer Nähe lag, nur eben mit einer gewichtigen, drohenden Ruhe zu erheben, den gescheiten Kopf nach dem Hause gewandt. Und eine gewisse Ruhe trat ein.

Der Hund sammelte Zopfbänder ein, wegen deren Verlorengehens es früher manchen Klatsch auf Dorchens mohnrote dicke Backen geregnet hatte.

Bubentaschentücher, schwarz und zusammengeknüllt wie Backpflaumen, las er aus Winkeln auf, so daß die Zahl, wenn Mutter ans Waschen dieser Kostbarkeiten gehen wollte, wenigstens immer einigermaßen stimmte.

Vor reifen Obststräuchern stand er mit merkwürdigem Erfassen der elterlichen Verbote aufs strengste Wache. Vor jedem Unrecht, jeder wirklich häßlichen Unart stand der Hund. Gefürchtet, geachtet und ganz scheu – wenigstens von den Kleinsten der fünf Kleinen – auch geliebt.

*

Da kam ins glückliche, durch kleine Unstimmigkeiten nicht weiter getrübte Familienleben Zieschangs wie ins glückliche Familienleben der Völker dieses Erdballs der Sommer 1914 und der furchtbare Krieg.

Er griff im Spätherbst des Jahres mit harter Hand hinein ins kleine, von purpurrot welkenden letzten Weinblättern umzitterte Haus.

Was niemand im Dorfe gedacht hatte, der zarte, dünne Herr Zieschang mußte mit seinen zweiundvierzig Jahren noch einmal unter die Waffen.

Zwar nicht in die Schlachten. Als garnisondienstfähig aber war er erachtet worden, und das bedeutete eine Trennung zwischen Menschen, die zusammengehörten, nicht weniger weh und scharf als jede andere Trennung einberufener Soldaten von ihren herzliebsten Nächsten.

Man könnte geradezu sagen, eine noch tiefere Wirkung könnte eine plötzlich bevorstehende Trennung von Familiengliedern überhaupt nicht haben.

Frau Zieschang konnte ein paar Tage nicht waschen, ihre starken Arme waren schlaff. Und Frau Zieschang war stumm. Es war, als sähe sie jetzt mit eiskaltem Schrecken ein, welchen Mann sie besaß. Vor heimlicher Rührung wollte ihr das Herz zergehen, wenn sie der zweimal 52 jährlichen Stadtfuhren gedachte, die dieser gute, herrliche Mann seit acht Jahren für sie und für die sich stetig mehrende Familie getan hatte. Und der Hunderte, ja Tausende von Wäscheleinen, die er mit sanfter Geduld so prachtvoll fest zusammengedreht hatte.

Seine sanfte Güte, die sie manchmal ein bißchen gereizt hatte, weil sie sie zu weich gefunden, erschien ihr in zartem Licht.

Sie sah jetzt schon wie auf einem verklärten Bild, wie er allabendlich auf dem langen, tiefeingesessenen Sofa, umkuschelt von allen Kindern, immer gesessen hatte.

»Blagt doch 'n Babba nich so!« hatte sie da immer sehr ärgerlich gezetert. Aber der dünne Mann und die fünf dicken Kinder waren wie zusammengewachsen. Vater besaß eine Anzahl Rätsel und Witze in seinem geistigen Schatzkasten und hatte Kenntnis von mindestens einem Dutzend spannender Kartenkunststücke und Streichholzspielen, die den Kindern als die Krone aller irdischen Wunder galten.

Unermüdlich führte er sie Abend für Abend seinem erstaunten Publikum vor. Mit schneidendem Weh im Herzen dachte die Frau jetzt daran. Wenn der »Babba« fort war, vielleicht tief in Rußland oder im blutigen »Belchien«, – was sollte aus ihr und den Würmern werden? Ihre Rauheit und Grobheit fielen ihr aufs Herz. Der »Babba« war der Gute – der Babba war's, der die Kindheit der fünf dicken Kinder so froh gemacht hatte, nicht sie.

*

Aber auch noch ein anderer schien sich das alles in seinem gescheiten Kopf überlegt zu haben.

Wenn Vater Zieschang mit den Kindern abends auf dem Sofa scherzte und lachte, hatte immer wohlmeinend bei strengster Zurückhaltung der Hund in der Stube gelegen. Und der Hund hatte die Fahrten in die Stadt geteilt. Der Hund kannte Herrn Zieschang!

Und hätte er's nicht begriffen, was dieser Abschied des Mannes mit dem großen leeren Karton in der Hand von seinen Lieben für ein langes schicksalschweres Getrenntsein bedeutete, hätte er's am Geschluchze und Geschrei der sechs Zurückbleibenden noch nicht begriffen – es mußte ihm trotzdem aufgehn. –

Stumm, ganz stumm, so wie er sie nie gesehn, standen die Kinder vor der Haustür und sahen, als schon seit einer halben Stunde kein Zipfel mehr von ihm zu sehen war, dem Babba nach.

Sie gingen dann ins Haus. Artig! Ganz artig alle fünf! Die Großen deckten stumm den Tisch, während die Mutter schluchzend in der Küche hantierte. Ohne zu kreischen und laut zu begehren, aßen sie – erschreckend bescheiden. Sie saßen dann nebeneinander angereiht auf dem Sofa. Keins sprach ein Wort.

In diesem Augenblick tat das Einsehens- und Entschlußvermögen des seltenen Tieres wohl den größten Sprung, setzte ihn auch gleich um in körperliche Betätigung.

Nämlich der an seinem Ofenplatz wie allabendlich träumende Riese flog »schwupp« durch die Luft, über den abgedeckten Tisch aufs Sofa mitten unter die Kinder hinein. Und o Wunder! noch dazu derartig, daß sich keins der sich eben noch so verlassen dünkenden fünf Würmer entsetzte. Nein, wie ein Freudenruck schien's durch die Kinderherzen zu gehn, wie eine Wärme, wie ein Begreifen: der Hund hat seinen Stolz abgetan und trägt uns seine Freundschaft an! Mit einem fünfstimmigen Ausruf behaglichen Entzückens wurde das Geschenk angenommen. Durch Zurücken wurde dem Hunde Platz gemacht, und nun saß er ragend und doch mollig und brüderlich – auf Babbas Platz! Die kleine Adele umarmte ihn, der kecke Gustav zog ihn schelmisch-unverschämt an der schwarzen Zottellocke zwischen dem schwarzbraunen Augenpaar. Und er ließ es sich gefallen!

Er wollte die Bande doch trösten!

So gescheit waren Zieschangs Kinder auch, daß sie das merkten.

Und nun benahm sich das kecke, dicke, lebenslustige Völkchen, dem Traurigsein trotz aller herzlichen Sehnsucht nach dem fernen Babba so gar nicht lag, danach!

*

Ein Glück, ein Witz, eine Lustigkeit war es ja, gar nicht zu fassen!

Marko war ihr Spielkamerad.

Er hieß Marko.

Er hieß jetzt nicht nur einfach »der«, – der Hund – unser Hund! –

Die Vertraulichkeit war da, die dicke gemütliche Freundschaft, die das Nennen beim Eigennamen verlangte.

Marko hier! Marko dort! so ging es den ganzen Tag. Marko war ganz verwandelt.

Marko mußte über den Stock und durch Gustavs großen bunten Reifen springen und tat es, ohne zu mucksen und zu murren.

Er führte die Kinder nicht mehr an, sondern folgte den Kindern, wohin sie wollten und ihn riefen, gutmütig und schweifwedelnd, nach dem Bach und dem Dorfteich, wo's unter großem, wildem, silbernem Gespritze unzählige kalte Hundebäder gab. Denn Marko badete, sooft seine nun fünffache neue Herrschaft es befahl; Marko holte schwimmend jeden Zweig, jedes Holzstück aus dem Wasser, das unter gebietendem »Marko faß!« hineingeworfen wurde. Er befahl nicht mehr, er gehorchte. Er ließ die kecke Dore gefällig auf seinem Rücken reiten, er zog die kleine bequeme Person im Leiterwägelchen, er raste im tobenden Wettlauf mit den Kindern den langen geraden Mittelgang des Gartens unzählig oft entlang.

Und wie die Mutter früher fünf Wesen auszuzanken hatte, so zankte sie jetzt auf sechs.

Nur daß ihr Schelten leiser geworden war, sehr viel leiser, und daß sie nicht viel Ernstes sagen konnte gegen den Marko. Kam das Tier doch, sooft sie sich sehen ließ, mit der Gebärde eines sanften, sorgenvollen Trösters schweifwedelnd auf sie zu, schmiegte sich an sie, blickte sie mit den braunen feuchten Augen, aus denen es immer wie ein Paar goldene Perlen funkelte und leuchtete, unverwandt an, als wollte er sagen: Geht's? Erträgst du sie einigermaßen gut, die Trennung vom Mann? Kann ich dir helfen? Morgen zieh ich dir den Wäschewagen wieder in die Stadt mit der kleinen Magd. Du weißt doch, du kannst dich auf mich verlassen! Sieh, dir helfe ich so. Und du verstehst mich doch, nicht wahr, daß ich den Kindern auf andere Weise helfe und sie tröste? Sie sprechen immer vom Vater und sehnen sich so sehr nach seiner lachenden Liebe und seiner zärtlichen Hand. Man muß sie ein bißchen fröhlich machen, weißt du! – –

*

So schien er zu sprechen. Nein, so sprach er, wenn auch nur mit seinem Schweifwedeln und seinem eindringlichen stummen Blick. Denn die Frau verstand ihn. Und daher und aus wachsender Müdigkeit in ihr und aus einem großen stillen Sehnen und Alleinfühlen kam es wohl, daß sie es versäumte, die Kinder zur rechten Zeit anzuhalten, es nicht zu übertreiben, das tolle Kameradenspiel mit dem besten Freund.

Der zweite Winter kam ins Land, der zweite aufregende, opferglühende Kriegswinter. Herr Zieschang hatte Schreibdienst in einer großen, von vielen feldgrauen Soldatenmärschen durchfluteten Garnison in Ostpreußen bekommen, ganz nahe an der äußersten Schwelle des Vaterlands. Er schrieb viele Briefe, voll treuer Sorge, die immer jubelnd begrüßt wurden, wenn es dem Schreiber auch nicht gegeben war, nur eine Spur seiner Zärtlichkeit und gemütlich-spaßigen Laune schriftlich auszudrücken.

Nach dieser gemächlichen, lachenden Laune aber sehnten sich bewußt und unbewußt alle. Die Frau am bittersten. Aus ihrer Sehnsucht floß ihre immer mehr wachsende Nachsicht gegen ihre Kinder. Sie hatte alle Lust verloren an ihrer früheren Art des Erziehens. Keine rechte schöne Ohrfeige wollte ihr mehr glücken, kein kräftiges, erquickendes Herunterhunzen eines wilden Sprößlings, einer allzu kecken kleinen Tochter. Sie bat, sie mahnte sanft. Das hatte sie früher nie getan. Die Kinder hörten es kaum.

Sie saßen wohl manchmal halbe Stunden lang in banger Stille, die eins oder das andere mit dem leisen, sehnsüchtigen Worte unterbrach: »Vater soll kommen! Wenn doch der Babba endlich wiederkäme!« – –

Aber über solch trauriges Stimmchen weg stürzte dann bald wieder der alte ausgelassene übermütige Spieltumult. Marko fuhr aus seiner Ecke mit einem lustigen Schwupp hinein ins ernste Schweigen, und los ging's mit Schubkarrenfahren, Exerzieren, Apportieren.

Die Kinder wollten ja der Mutter folgen. Sie ahnten und sahen, daß die Mutter anders war. Aber zwischen sinnigen tugendreichen Anfällen brach die niedergehaltene Lebenslust doppelt heraus.

Weil die Mutter nicht viel sagen mochte und konnte und auch wegen immer angestrengteren Waschfleißes nicht viel in der Stube war – sie wusch, jetzt sogar für ein Lazarett in der Stadt –, schoß das Unwesen immer wilder ins Kraut.

Der Hund wurde sichtlich elend, und nicht nur von seinem braven, fleißigen Wagenziehen.

Es war manchmal etwas wie ein leises Drohen in seinen goldhaltigen Augen: »Nicht zu weit treiben! Nicht zu unverschämt, Kinder! Wie lange werd' ich's noch aushalten? Wie lange denkt ihr, daß ich mir's noch gefallen lasse?«

*

Jedenfalls hat er's noch bis mitten in den schneereichen zweiten Dezember still ertragen. –

Da – ein huschelig heimlicher Wintertag. Flockentreiben. Eine Stube mit fünf tollenden Zieschangkindern und noch drei Nachbarsprossen. Eisenbahnspielen. – Gefangenentransport. – Sie kommen vom Schlachtfeld nach wilder Schlacht und haben drei Gefangene gemacht, die drei Nachbarjungen. Ein Tumult ist's, als wären es tausend auf der einen Seite, auf der andern hundert. Und mitten in dem Tumult liegt einer, ein großer, zottiger, schwarzer Hüne, der Hund, alle viere von sich gestreckt. Tot. – Nein, nicht tot. Mitten im wilden, grausen Lärm nach dem Verwundetenbergen, dem Gefangennehmen, bei dem allem er mittun mußte, ist er vor Ermattung eingeschlafen. Es war schon ein paarmal so. Die Kinder sind schon daran gewöhnt und wundern sich nicht weiter.

Aber plötzlich stutzen sie, alle fünf und auch die Nachbarkinder, denen zwei von den Zieschangschen fünfen mit kräftiger Handbewegung die schreienden Münder zuhalten.

Der erschöpfte, eingeschlafene Hund hat einen Ton fast grausigen Brummens und Murrens von sich gegeben. Er hebt den Kopf! Er springt auf seine vier Beine. Er heult auf. –

Ein paar schüchterne Kameradschaftlichkeiten der verdutzten Kinder: »Marko, altes Kamel! Marko, dummer tapsiger Marko, was fällt dir 'n ein?«

Aber in Markos stolz funkelnden Augen steht erstaunlich anzusehen ein drohendes Gebot:

»Weh dem, der mich anrührt!«

Fährt er jetzt nicht wirklich mit wütendem Gebell auf die freche Hilde los, die, ihre Tapferkeit erprobend, ihn an der Stirnlocke zu ziehen droht? Hilde zuckt zusammen, käsebleich, und kriecht, zum erstenmal in ihrem Leben sich ängstigend, hinter den großen Bruder. Marko aber rast nach der Tür, kratzt, bellt wie besessen, bellt sein großartiges Mordsgebell mit blutrotem, offenem Schlund aus den ersten Tagen seines Hierseins. Nein, ein noch großartigeres. Er will die Tür aufgemacht haben. Ein Vierteldutzend Kinder rücksichtslos umrennend, fegt der eben noch vor Geduld wörtlich erstorbene Spielkumpan zur Tür hinaus.

Er setzt draußen über den Gartenzaun, laut heulend. Er rast die Dorfstraße entlang, ins Freie, auf die Landstraße.

Die Kinder sehen ihm mit pochenden Herzen, mit elend schlechten Gewissen nach. Wie erwacht, blicken sie einander an, verschüchtert, sich fürchtend vor – sie wissen selbst nicht was. Ja, sie haben's zu toll getrieben, zu unverschämt mit dem feinen Kerl! Nun ist er fort. Ist er toll geworden? Wird er wiederkommen?

Und wenn – – was wird er ihnen dann tun? – –

*

Da hören sie in weiter Ferne wieder deutlich sein Geheul. Ein seltsames Jauchzen und Juchzen scheint es jetzt. Und die Raserei kommt näher. Fünf Minuten, zehn Minuten vergehen. Immer wieder hört man den Hund. –

Dann auf einmal eine bekannte Stimme:

»Margo, nee aber, alter, lieber Margo! Du treues Vieh!«

»Babba! – Der Babba! – Der Babba kommt!« – So schreien alle fünf Kinder wie aus einem Mund.

Sie stürmen ins Waschhaus hinüber, sie rufen und schreien, zappelnd vor Glück:

»Muttel, Muttel! Komm nur fix! Der Babba!«

Und dann gibt's auf dem Hof zwischen Vortreppe und vereistem Brünnchen ein Knäuel, ein großes, zappelndes, verwickeltes Durcheinander, ein Umfassen und Umarmen von zwei großen und fünf kleinen Menschen, von denen sechs jubelnd immer dasselbe schreien: »Der Babba!«

Nun ziehen sie einander ins Haus hinein. –

Herr Zieschang hat rasch Urlaub bekommen, zum erstenmal seit sechzehn Kriegsmonaten vierzehn Tage Urlaub. Ein Brief wäre auch nicht eher gekommen als er selbst, drum hat er nicht erst geschrieben.

Nein, diese Lust! Der Babba! Und vierzehn Tage bleiben!

Nun sitzen sie wieder zusammen nach fröhlichem Abendbrot auf dem Sofa. Der feldgraue, stramme Herr Zieschang hat aber die Mutter neben sich gezogen. Die Kinder müssen sich ganz schmal drängeln. Ach, ist das schön! Der Babba ist noch geradeso gut und gemütlich wie früher! Zu des Vaters Füßen liegt, aufs neue fest eingeschlafen, der Hund. Er muß noch von vorhin fertig sein.

Denn er hat jedes Spiel mit den Kindern, als ob er sie überhaupt nicht kenne, als ob ihm so etwas wie spielen nie eingefallen sei, abgelehnt.

Nicht mit einem Finger hat er sich anfassen lassen.

»Nanu, was ist denn das?« fragt Herr Zieschang, als seine Hand den zottigen Burschen, zu dem er sich herabgeneigt, tastend übers Fell streichelt. »Was ist denn los mit dem Hunde? Der ist ja furchtbar abgekommen! Gott nee, das fiel mir doch vorhin schon auf! Ja, und der schläft ja wie tot, sogar bei unserem lauten Gelabber – –«

Es hilft nichts: der Vater sieht sich so erschrocken, so wahrheitheischend im Kreise um, daß die Mutter Rede stehen muß. Sie spricht vom Gutsein des Hundes zu den Kindern, von seiner Verwandlung zum Freunde der Bande, seiner Bereitschaft zu jedem Hallodrio, und läßt durchschimmern, wie die Gesellschaft das alles gemißbraucht hat.

Genaueres will Herr Zieschang wissen.

Das Sofa wird den Kindern jetzt doch sehr eng.

Herr Zieschang hat einen Ton in der Stimme, den er früher nie gehabt – einen preußischen Ton. Man merkt allerdings, daß er Soldat ist. Vor seinen gebietenden Blicken müssen die Kinder alle Spiele aufzählen, alle Quälereien gestehn, die sie an dem Hunde verübt haben.

Da hält der Soldat Zieschang seinen Fünfen eine ganz kurze, aber hammerharte Strafrede.

Und zum erstenmal in ihrem Leben werden alle fünf Stöpsel von ihrem Vater gründlich verhauen.

Marko, der aufgewacht war, sah es traurig, aber stolz und ruhig an.

In seinem erleuchteten Schädel schien der Gedanke Gestalt zu gewinnen, daß es so gut sei.

Und in der Tat ist in der Gesittung und Gesinnung der Kinder dieser Eingriff feldgrauer Energie in ihr Kindheitsleben bis heute von günstigster Wirkung gewesen.

Die Uhr

Eine Kindheitserinnerung.

Sie hatte mich an sich gebunden, indem sie mir angedeutet hatte, ich sollte ihre goldene Taschenuhr erben.

Ich habe die Uhr, die mit einem zarten, wackligen Uhrschlüsselchen aufzuziehen war – den ich wahrscheinlich doch niemals zur rechten Zeit bei der Hand gehabt hätte –, nie geerbt. Immerhin bin ich eine lachende Erbin gewesen. Denn manchen Monat hat die magnetische Anziehung, die das Erbversprechen ausübte, gedauert. Es faßte in sich, daß ich von der Tante mit dem scharfen Mund und dem gesäuerten Herzen gern gesehen und vor meinen Geschwistern bevorzugt war. Es verpflichtete mich in geheimnisvoll bindender Weise, jede nur einigermaßen freie Stunde zum Dienst der Erblasserin blindlings durch meiner Heimatstadt liebe verworrene Gäßchenwelt dahinzustürmen.

Die Uhr schien mir unendlich kostbar. Das kam wohl daher, daß sie sich aus einer unsagbaren Armut als einziger Besitz heraushob. Für mich war sie – eine goldene Uhr.

Ich war ja auch nur ein Ding von zehn Jahren, als die nunmehrige Beherrscherin meiner Gedanken von Meißen nach Dresden zog, in eine Dachstube, so klein, wie ihr Ausblick über das Dächerkreuzundquer des uralten inneren Stadtteils, den dies hohe Eckhaus-Dachfenster beherrschte, weit und groß war.

Über einen Holzkasten mit Kressen sah man aus der Mansarde in den dämmerzarten, feuchten Lufthauch, der die mit soviel Sandsteinverwendung erbaute Stadt am großen Strom meist umschwebt. Von den ärmlichen Möbeln im Raum war nur der nette Nähtisch nicht mit gemietet. Über zahllose Strähnen leuchtendbunter Wolle und Seide, deren Fäden ich zurechtschneiden und in lange, blanke Sticknadeln einfädeln durfte, über altmodisches, silbernes und elfenbeinernes, mit Siegellack vielgeflicktes Nähtischgerät hinweg, in dessen Anblick ich schwelgte, sah ich die fieberhaft fleißige Stickerin mit von Tag zu Tag zunehmender geheimnisvoller Erregung verstohlen unter gesenkten Wimpern auf ihre Baufälligkeit hin an. Ja, sichtlich älter und hagerer wurde sie von Tag zu Tag.

Sie war in Wirklichkeit damals achtundzwanzig Jahr.

Aber es mochte wohl in der Tat wenig Unterschied zwischen wirklichem Altern und dieser in leidenschaftlicher Selbstkasteiung freiwillig zertretenen Jugend bestehen.

Aus zu Hause erschnappten Gesprächshappen und stolz hingeworfenen Vertrauensbrocken der Tante wußte ich, daß ein dauernd-donnerndes Schmerzgewitter in der Seele meiner Gönnerin tobte. Sie war zu tief gekränkt worden, als daß sie verzeihen konnte. Sie war davongegangen, vom Haus, vom Heim, noch dazu von ihrem Heim – in Meißen, das dem Dresdner Kinde von einem Ausflug her wie die Hochburg aus einem Märchenbuch, wie in Licht gebadet und mit Kirschkuchen gepflastert erschien –, vom Mann, noch dazu von ihrem Mann, von diesem Mann, von Riedeln! Mehrmals hatte ich das Ehepaar früher noch beisammen gesehen bei einem ihrer anspruchsvollen Besuche, bei denen die Wirte nicht die Anmaßung haben durften, die Zeit in Anrechnung zu bringen und bei denen sich erstklassige Kaffee- und Kuchenbewirtung von selbst verstand. Sie, die Riedeln, mittelgroß, schon damals äußerst mager, in lilaseidnem Falbelkleid und taftener Hutschleife unter dem Kinn, die vollbewußte Gattin des feueraugigen, dunkelhaarigen, hochgewachsenen Herrn im grauen Zylinder, schwarzen Gehrock, der weißen Weste und der langen Gliederuhrkette mit dem dicken Korallenschieber und dem großen Büschel verschiedener Berlocken, Gattin des ausgesprochen schönen Mannes.

Riedel hatte die kleine trockene Gefährtin mit dem lodernden Selbstgefühl nicht ganz ohne Hinblick auf ihr bescheidenes Vermögen gefreit. Auch das hatte ich gelegentlich einmal zu Hause erschnappt.

Sie war irgendwie in höherer dienender Stellung gewesen. Ihr rückhaltlos ausgesprochener Wunsch, sich zu verheiraten, schien über den lieben Meinen wie eine Art Geißel geschwebt zu haben. Nun hatte sie ihnen eines Tages – wer weiß nach welchen Bemühungen und durch welche Verschlingungen – mit Riedeln aufwarten können. Riedel war Unterbeamter in Meißen, Katasterbeamter, vernahm ich zu meiner Bewunderung. »Du bist mein Geschmack!« war seine Liebeserklärung an die Erwählte gewesen.

Demgemäß behandelte er seine Frau bei all seinen körperlichen Vorzügen, die eine gewisse Überhebung entschuldigt hätten, außerordentlich höflich und fein.

Ihre Hauptanziehung schien er darin zu erblicken, daß sie Agnes hieß. Er handhabte das Wort in jedem von ihr und zu ihr gesprochenen Satz. Ag–nes, zog er es auseinander. Sie nannte ihn mit viel selbstverständlicherer Gattensicherheit: »Riedel«.

Sie machten sicher aus ihrer Ehe, was möglich war.

Sie sollten ein nettes kleines Haus in Meißen bewohnen, vernahm ich. Drei Stuben, noch von Riedels Junggesellenzeit her mit seinen hübschen Sachen möbliert und im Blumengärtchen nach der Straße zu außerdem eine reell gezimmerte bohnenumwachsene Kaffeelaube; Kaninchenstall; – Taubenboden. – Diese Laube, diese drei Stuben, ihren Frauenstand, Riedeln – das alles hatte Ag–nes in beleidigtem Stolze von sich geworfen.

*

Aus mündlichen Familienüberlieferungen habe ich es später lückenlos herausgeklaubt, wie das Unglaubliche gekommen war.

Riedels lebten in Frieden, bis Herrn Riedels Stiefmutter starb und Riedel der Alte als etwas gar zu vergnügter zweitmaliger Witwer nach Meißen zog, um ein neues Geschäft anzufangen. Nach Meißen, und zu Riedels, den Jungen. Erst zu vorübergehendem Besuch – für die Genauigkeit der Hausfrau schon ziemlich anstrengend – dann zu ganz selbstverständlicher, von Tag zu Tag gedehnter »Bleibe«.

Empörend wohl für einen so frischen Witwer im Wiederholungsfall, fand Agnes, fühlte sich der Alte im Nest des Sohnes. Und der Junge für einen fünfmonatigen Ehemann kränkend gemütlich in Gesellschaft seines so rasch getrösteten Alten.

Eine von früher bestehende, nur durch ein halbes Jahrzehnt unterbrochene Kameradschaft zwischen Vater und Sohn machte sich für die Frau höchst störend und aufreizend geltend.

Sie rauchten, sie tranken, sie erzählten sich Witze, sie gingen aus, wenn die Frau zu Haus ihnen das einfache Bier zu sehr mit schiefen Blicken säuerte. Vergeblich suchte Riedel Ag–nes hineinzuziehen. »I! Mach doch mit!« bettelte er unzählige Male. Das hätte ihr gefehlt!

Zwei Verächtlichkeitsworte hatte sie von je zum Abschluß bereit auf ihres Lippenpaares Bogenstrang: ordinär – und »obskur«. – – Damit überschüttete sie jetzt bei ihren Besuchen in meinem holden Kindheitsheim den gemütlichen alten Sachsen in ihren Vertrauensausbrüchen gegen die Meinen. Mit der Wichtigkeit, die sie all ihren Sachen gab, zwang sie unserer ganzen Familie Teilnahme für ihre Seelenstürme auf.

Ich sehe sie sitzen auf unserem schönen, alten, geschnitzten Familiensofa. In erschütterndem, bebendem Zorn hab' ich sie schluchzen gehört: »Ich weiß es. Die alte Canaille macht mich schlecht und verleidet mich Riedeln. Ich hab's vom ersten Tag an gewußt, der entwendet mir Riedels Herz. Sie spotten über mich und lassen mich links liegen. Um die beiden meckern zu hören, hab' ich nicht geheiratet. Ich wollte Riedeln für mich haben. Wenn ihr jetzt nur sähet, wie der gegen mich ist!«

»Solltest du das nicht selbst verschulden? Ihn nicht schwer kränken, indem du seinen Vater so wenig nett behandelst?« höre ich eine klare, liebe Stimme vorsichtig einwenden.

Und: »O Agnes, Agnes!« sagte diese zuredende Stimme dann noch im weiteren Gespräch: »Wenn du weiter nichts zu verzeihen hast, danke Gott, und gib doch nach! Dein Mann ist so anständig und nett! Reize ihn doch nicht bis aufs äußerste. Sei kein Spielverderber. Was muß eine Frau oft verzeihen! Gib nach, Agnes, lenke ein, zerstör nicht dein Glück. – Denk, wie gut alles noch werden kann! – Wenn ihr Kinder kriegtet – – Er ist doch brav – –«

Meine praktische Großmutter stellte ihr außerdem vor: »Der alte Mann hilft dir doch auch, Riedeln, gießt dir den Garten, hackt dir Holz, füttert die Tauben –«

Von Tante Riedels schroffen Einwendungen habe ich mir nur das eine immer wiederkehrende Wort gemerkt: »Nein! Ich bin zu tief empört!«

*

Nach Wochen kam sie dann und war aus Rand und Band. Taschentuch um Taschentuch, mit gehäkelten Spitzchen breit besetzt, sah ich triefend naß geweint. Tag für Tag wären Vater und Sohn ausgegangen. – Sie hatten Geschäfte vorgeschützt. – Das Geld, die paar Papiere von Riedeln und die ihren, sollten besser angelegt werden, irgendwo in Brauereiaktien. – Eine Frau hörte ich dabei nennen, von der ich später noch viel zu hören bekam. – Bei der sei Riedel öfter gewesen, allein, manchmal auch mit dem Alten.

Ein wundervolles Stück Altmeißner Kraft und Volkstum muß das gewesen sein, eine Frau schwer und voll, weiß und rosig, »zum Anbeißen«, Witwe mit braven Kindern, die Pechtgrunder Schneidemühlenbesitzerin – Tietze'n mit Namen.

An der ließ Agnes nun kein gutes Stück.

Meine süße kluge Mutter lenkte ab: »Ich glaub' kein Wort, Agnes! – Riedel ist brav. Und die Frau! Natürlich, wenn du dich so benimmst, spricht er sich doch mal gegen eine andere aus. Frau Tietze kennt er zehn Jahre länger als dich, das ist Freundschaft und Gevatterschaft von früher her. Gib ihm ein gutes Wort, fall ihm mal um den Hals, sprecht euch aus, und alles ist in Ordnung – –«

Noch droben in der Mansarde, in den ersten Tagen, nachdem Agnes ihren Trumpf ausgespielt, das Band ihrer Ehe zerschnitten, hat die gute Stimme zugeredet.

»Gib nach! Daß die Brauereigesellschaft kaputt ist und ihr euer Geld verloren habt, ist ein Unglück; aber dein Mann hat da gar keine Schuld und tut mir furchtbar leid. Die Schuldigen sitzen ganz woanders. Laß ihn nun nicht im Stich, erst recht nicht, arbeitet euch heraus, miteinander, du bist ja so geschickt und fleißig. Eine Scheidung, Agnes, ist das Furchtbarste in der Welt, da bricht einem das Herz drüber. Aus Eigensinn tut man das nicht. Das mit der Frau glaubst du selber nicht – –«

Eine verstockte Stimme wies jede Beruhigung schroff zurück. »Was der mir angetan hat, ist nicht zu verzeihen – Ich bin auf den Tod gekränkt –« Sie ließ meine Mutter gehen, wie einen Lichtstrahl aus ihrer Mansarde entschwinden. Seltener kam sie nun zu uns, selten kam meine Mutter zu ihr. – In jener Zeit griff ihre Hand nach mir. Sie versprach mir die Uhr.

*

Man muß furchtbar viel Straminkissen, Teppiche und Hausschuhe damals gekauft haben. Sie stickte für ein großes Geschäft am Altmarkt Kreuzstiche von früh bis spät. Alle drei Tage trug sie ihre Arbeit fort, in Mantille und Kapotthut, in stolzester Haltung. Von einem Mal zum andern aber sah sie trotz feiner Haltung und gepflegtem Anzug älter, müder, fadenscheiniger aus.

»Aufgezehrt, rein aufgezehrt. Sie richtet sich hin mit Trotzen und Warten,« sagten die Meinen und schüttelten die Köpfe.

Ein gespanntes, fieberndes Warten, ein glutheißes Schwelen glühender Kohlen war ihr Leben. Sie hatte Riedeln »eingeschrieben« mitgeteilt, sie wolle sich scheiden lassen, er solle sie auf böswillige Verlassung verklagen. Seit zehn Wochen wartete sie nun auf Antwort. Das war in den Tagen, wo ich oft gedacht habe, ich wolle doch die Uhr lieber nicht. Aufregend nahe schien mir, nach diesem wächsernen Frauengesichtchen zu schließen, ihre endliche Auflösung.

Sie konnte aber noch viel wächserner aussehen und doch leben. Das war, als sie an jenem Tage von ihrem Ausgang wiederkam. Wie lebte sie da! Nie hab' ich so leidenschaftlich leben gesehen bei ganz steinernen Zügen, bei ganz stummem Mund. Ich ging. Sie winkte mir, ich solle gehen. Sie hatte unterwegs in der Schloßstraße Riedeln getroffen. Stumm, in fester Haltung sei sie an ihm vorbeigegangen, brachte meine Großmutter heim, die am Abend sich noch einmal resolut aufmachte, um nach ihr zu sehen.

Am andern Tag. Sie stickte eine riesige feuergelbe Rose. Ich schnitt feuergelbe Wolle in wohl zwanzig Schattierungen zu. Da klingelte es bescheiden, wenn auch dann noch durch die Stille gellend. Ich lief hinaus. Ich flog herein. Hinter mir schritt, ohne daß ich noch ein Wort der Anmeldung hätte hervorbringen können – Riedel.

Stattlich, ruhig, traurig und gemütlich stand er in der sehr niedrigen Stube und sah auf die Frau herab, die nicht Kraft gefunden hatte, aufzuspringen. Wortlos holte er sich einen Stuhl, rückte dicht an ihren Nähtisch heran, sah sie an, schüttelte langsam mehrmals den Kopf, streckte die feste Hand aus und sagte mit einem Ausdruck, den ich nie habe vergessen können, nur: »Ag–nes!« –

Nach einer Weile noch einmal, noch bettelnder, da sie seine Hand nicht nahm: »Ag–nes!«

»Ag–nes, warum hast du mir das tun müssen?« begann er zum drittenmal und faßte nun selber mit mannhaftem Griff nach ihrer Hand. »Was hab' ich dir denn getan! Sei doch gut und komm wieder zu mir, Agnes! Du richtest dich ja zugrunde! Wie quälst du dich denn ab! Als ich dich gestern in der Schloßstraße sah, ist mir der Schreck in alle Glieder gefahren. Je, je, Agnes, ißt du denn ordentlich? Du siehst ja erbärmlich aus.« – Sie warf gereizt, konfus ein paar Worte hin. Das wäre ihre Sache! Sichtbar schlug dann ihre Stimmung um. Sichtbar pochte ihr Herz. Sie schlug die Augen nieder, stocherte mit der Sticknadel in einem durchlöcherten Fingerhut und ließ das Zureden Riedels über sich hinströmen, fein horchend, als höre sie seine Stimme zum erstenmal. Ich kannte sie doch und jede ihrer Mienen. Ich dachte: Jetzt, jetzt erweicht er sie! Jetzt wird sie's tun! Jetzt springt sie auf und fällt Riedeln um den Hals –

Da tat Riedel aber etwas Unkluges.

»Ich bin dir's doch auch schuldig,« sagte er pedantisch. »Mir ist es so entsetzlich, daß dein Geld weg ist. Da will ich dich lieber versorgen, als daß du dich hier so quälst –«

Ich weiß nicht, ob es Takt und Rücksicht war von mir: ich lief in diesem Augenblick auf den kleinen Treppenflur hinaus, schlug den Ball an die Wand und sang laut meinen Ballspielreim: Sommerradiesel, Winterradiesel, alter Student, wasch dir die Händ' – Lauter aber noch gingen drinnen die Stimmen. Zierig, pikiert die der Tante. Seine bittender, immer bittender. Da wurde ihre trotzig. Ein Aufdieprobestellen, ein Machtgenießen war darin. Mir wurde heiß und angst. Ich fühlte doch: sie wollte. Was fiel ihr nur ein?

Jetzt stand Riedel großmächtig in der niederen Tür und rief noch einmal hinein: »Also, Ag–nes, noch einmal frag' ich jetzt: Willst du?«

Krachend schlug ein Hammer nieder: »Nein!«

Wütend – ich möchte aus meinem Erinnerungsbild heraus behaupten funkensprühend – ist da der große dunkle Mann an meiner kleinen knicksenden Gestalt vorbei die geweißte rundgewundene Treppe heruntergestoben.

Als ich hinein ins Dachstübchen kam, lag drin eine tot. O Entsetzen! Entsetzen! Wilder, gräßlicher Aufschrei meines Herzens: »Ich will sie nicht! Ich will sie nicht! Ich will nicht die Uhr!« Glückseliges Aufatmen und Jubeln dann, als die herbeigeschriene Nachbarin phlegmatisch kundtat: »I, die is ja nur oh'mächt'g!«

*

In den nächsten Wochen ist vor meinen beobachtenden Blicken etwas Eigenartiges mit der dünnen, kleinen Tante am großen Stickrahmen vorgegangen. Sie wurde womöglich noch dünner, aber das Dünnsein schien nicht mehr eitel knochige Todesnähe. Ich sah sie verwundert an.

Etwas Erschrockenes, Erschüttertes, Erwachtes lag über ihr.

Ein junges Weib, nein, ein Mädchen schien vor mir zu sitzen, durchsichtig, mit fieberrosigen Wangen, schmal, sehr zart.

Es hatte einen Schleier über dem harten Blick der graugrünen Augen, beinahe wie in den sonnendurchblitzten Morgenstunden der über unserer alten, lieben, die Feuchtigkeit der Nacht aus den Sandsteinmauern herausatmenden Stadt.

Über das ziegelbraune, first- und giebelreiche Stadtbild sah sie manchmal ein paar feierliche Sekunden lang hin, immer nach einer bestimmten Richtung zu.

Ich habe, wenn ich sie so starren sah, immer das dunkle Gefühl gehabt, Riedeln herbeizaubern zu wollen. Es ließe sich jetzt mit ihr reden, hätte ich ihm flüsternd zustecken mögen.

Dort, in der Richtung ihres Blicks, über den dicken, glockenrunden Turm und die beiden schlankaufgereckten Nachbartürme weg lag im flimmernden Sonnenglast irgendwo Meißen. – –

*

Die Großmutter zu Haus hielt ihre gescheiten, prächtigen Reden, von denen mancher Brocken in die neugierig gespitzten Kinderohren fiel.

»Da hat sie's nun! Ihr dummer Stolz hat nein gesagt, gerade in dem Augenblick, wo ihr Herz überhaupt zum erstenmal richtig von innen ja gesagt hat. Diese Agnes! Diese Gans! Da hat sie ruhig und selbstverständlich über einen höflichen, stattlichen, wenn auch einfachen Mann herrschen wollen kraft ihres bissel Eingebrachten! Ja, Kirschen! Nun sieht sie, daß sie sich verrechnet hat! Hat nur Ehe, Versorgung und Frauenstand in Betracht gezogen, nicht, daß der Mensch ein Herz hat und daß man um einen Mann leiden, ihn über Nacht so liebhaben kann –. Wenn er's auch ein bißchen plump angefangen hat, sie wiederzugewinnen. Nun sitzt sie und sehnt sich und wartet, daß er wiederkommt.

Der wird sich hüten! Da kann sie warten! Der kommt nicht wieder!« –

Trotz dieser Überzeugung muß es die gute, rührige Großmutter einmal irgendwie versucht haben, seiner und seiner Meinung habhaft zu werden. Ich sehe sie noch den Kopf schütteln und die heißen, hübschroten Backen kühlen nach vergeblichem Bemühen.

»Natürlich! Nu tückscht der! Er hat die Scheidungsklage richtig eingereicht. Er könne ihr im Leben nicht verzeihen, daß sie ihn mit seiner guten Absicht so hätte abfahren lassen.«

In den Wochen und Monaten, die dann gefolgt sind, erlebte Agnes, glaub' ich, ihre Jugend und Liebe – in harter Reue und zarter Sehnsuchtsnot.

Mit geneigtem Kopf habe ich sie auf Spaziergängen, zu denen sie sich jetzt eher einmal zureden ließ, neben meiner schönen, schlanken Mutter hergehen sehen.

Da kam es wie ein heißes, flüsterndes Raunen von ihrem Mund: »Ich weiß ja, ich bin an allem schuld! Ich hab' ihm bitter Unrecht getan. Ich war verrückt durch meine leidenschaftliche, böse Natur – – Wie muß ich mich nun schämen!«

Dabei hatte sie bereits eine Beschämung im Sinn, die namentlich meiner Großmutter gesunde, lebensfrohe Natur mit kolossaler Genugtuung labte, ja Agnes gegenüber mit rechter Schadenfreude erfüllte.

Der von Agnes so verachtete alte Riedel – er war übrigens erst fünfundfünfzig – und der ganze würdige, gewaltige, schwarzäugige »Junge« gerade dreißig – hatte noch einen strahlenden Lebensgewinn gemacht.

Die schmucke, weit und breit beliebte Müllerin im Pechtgrunde hatte dem gemütlichen, fleißigen Herrn den Platz des Ehegatten neben sich eingeräumt. Er hatte es der Großmutter, die er bei einem Markteinkauf auf dem Altmarkt getroffen, schmunzelnd erzählt. Es müsse wieder ein rühriger, behender Mann in der Mühle sein, und er möge der Frau wohl passen als zweiter, wie sie ihm als zweite passe. Mit einem schaudernden Abwinken soll er diejenige gestrichen haben, die zwischen seiner ersten und dieser eigentlich dritten inmitten lag.

Da wurde die arme Agnes nicht geschont!

»Siehst du, nun wärst du den auch los! Wie schön wär's nun! Da siehst du, was deine blinde Eifersucht zusammenphantasiert hat.«

Agnes sagte still: »Ich muß es nun tragen. Den alten Vater im Haus zu haben, darum war mir's übrigens schon lange nicht mehr bang! Darauf wär' mir's nicht mehr angekommen. Wie gern hätt' ich's getan! Nun ist alles aus!«

*

Und doch muß bei Riedeln die alte Liebe – angemessener gesagt: der Geschmack an Agnes noch einmal entscheidend durchgebrochen sein.

In dem schrecklichen alten düstern Gerichtsgebäude in der Landhausstraße, wo die beiderseitige Vorladung betreffs der eingereichten Scheidungsklage stattfand, hat der Ehemann die Ehefrau zuerst wiedergesehn. Da muß ihn wohl etwas ganz verzwickt ins Herz gegriffen haben.

Das richtige, gründliche Auskosten eines Böseseins »liegt« dem Sachsen; aber nach Befriedigung seines grollenden Seelenzustandes doch auch ebenso stark eine Neigung zu gerechtem Ausgleich und friedlicher Lösung. In solchen Zeiten der Schwebe ist er, einer Augenblickserleuchtung folgend, oft eines raschen und glücklichen Aufschwungs großzügig fähig.

Am Nachmittag des Vorladungstages hat Riedel durch einen Chaisenträger im kanariengelben, mit blauen Aufschlägen versehenen Frack, wie man sie damals zu »besseren Botengängen« verwandte, bei seiner bereits halb verflossenen Ehefrau anfragen lassen, ob es ihr wohl beliebe, zwecks einer freundschaftlichen Aussprache selbigen Nachmittag halb fünf noch einmal eine Tasse Kaffee bei Hellwigs im italienischen Dörfchen an der Elbe in seiner Gesellschaft zu trinken.

Was mir von diesem Augenblick unzerstörbar im Gedächtnis geblieben ist, ist der Griff der schmalen, bebenden Frauenhand zwischen die Knöpfe des vornherunter geknöpften, pflaumenblauen Wollripskleides nach der dort ruhenden kleinen tickenden Uhr. Ich habe nie im Leben einen Menschen mit so fiebernder, glücklicher Wichtigkeit eine Uhr nach der Zeit befragen sehn.

Vom nächsten Tag ist mir dann noch ein Erinnerungsbild geblieben. Meine Erbtante packte eine mit Rosen bestickte Reisetasche. Riedel stand hoch und schlank dabei und sagte: »Komm! Ag–nes! Komm!«

Eine am nächsten Droschkenstand aus ihrem gemütlichen Traum aufgeschreckte Droschke stand vor der Tür. Sommernachmittagssonne lag auf den braunen Dächern. Goldene Kirchenkreuze tauchten ferne traumzart aus flimmerndem Glanz.

»Auf den Neustädter Bahnhof!« gebot unten in stattlichem Ton Riedel. Seine junge hübsche Frau und er stiegen ein.

Ein etwas zerstreutes Winken von der Ecke des Gäßchens her zu mir. – Ich wußte in diesem Augenblick, daß mir die Uhr verloren war; und ich habe denn auch wirklich bis heute noch nicht Gelegenheit gehabt, mein Erbe anzutreten.

Und wenn sie auch wirklich noch existieren sollte: Mein würde sie kaum! –

Wohl zu einer Hundertzahl von Kindern, Enkeln und Urenkeln hat sich das steinalte Ehepaar ausgewachsen.

Vermessen wäre es, da noch Erbhoffnungen zu hegen.