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Kindheit

Der Garten, in dem die Gudula oder, wie sie genannt wurde, die Gudel aufwuchs, liegt in der Nähe der Stadt Trassenberg, in dem früheren Herzogtum Trassenberg, das heutzutag mit dem benachbarten Beuglenburg zum Großherzogtum Beuglenburg-Trassenberg verbunden ist. Man bemühe sich aber nicht, es auf einer Karte zu finden! Dort stehen ganz andere Länder verzeichnet. Wen aber eine gewisse Magie befähigt, die genannten zu betreten, der kann auch, wenn er will, den Garten zu sehen bekommen, und den Weg dahin will ich wohl beschreiben.

Wenn man nämlich die Lindenalleen im Nordwesten der Stadt zu den Schlössern hinuntergeht, dann schräg über die Landstraße nach Stöcken, so ist man an eine Mauer gelangt und vor das erste Portal des Berggartens, wo die fremdländischen Gewächse sind. Schlägt man darin den ersten Weg linker Hand ein und geht unter dem riesigen gläsernen Palmenhause vorüber, so wird man auf eine, quer den Weg schneidende vierfache Pappelallee kommen, die von dem großen Gittertor zur Linken – dem letzten des Berggartens – rechts hinunter zum Mausoleum führt, mit seinen, das griechische Giebeldreieck tragenden sechs dorischen Säulen. Hinter dem Mausoleum herum zieht sich ein Weg im Halbkreis; von dem zweigt gleich vorne rechts ein anderer Weg ins Gebüsch ab, der mit einer Kette verhängt ist und einer Tafel daran mit der Inschrift: Verbotener Weg! Wenn man den geht, so gelangt man an eine, nicht viel über mannshohe Gartenmauer und ein eisernes Pförtchen, das verschlossen ist. Und wenn man auf diese Mauer steigt, kann man in den Garten sehn.

Ich kann versichern, daß es von nirgendher einen besseren Aus- und Überblick über den Garten giebt und das kleine Schloß, und deshalb seien sie auch von dort aus beschrieben, wenn man sich also nun vorstellen will, man säße auf der Mauer. Es ist alles frei zu übersehn, Wiesen mit Wegen dazwischen, und nur rechter Hand liegt ein Kiefernwäldchen. Auf den Wiesenflächen sieht man das hohe Sommergras wehen vor dem Schnitt; wehen die roten Sauerampferstauden, die Federnelken und die uferlos weißen Sümpfe der Margeriten. Es schillert bei jedem Luftzug im Laubwerk der schönen Baumgruppen, die überall verteilt sind und in anmutig wechselnden Farben: eine dunkle Blutbuche ist ferne zu sehn neben einer Pappel, die von einem wagrechten Arm grüne Laubtücher herabhängen läßt wie einen halben Sankt Martinsmantel; schwarze Tannentrupps; die bläuliche Weihmutsfichte; die Nordlandstanne, sehr hoch und ernst; lichtgrüne Birkenbestände andernorts; einsam weitgebreitete Platanen, lockere Kuppeln um den fleckigen, grauen Stamm; Nußbäume mit dem hellsten, gelblichen Laub, und die aufgetürmten Trauerweiden, die grünen Wasserfällen gleichen mit vielen Kaskaden.

Die Wiesen sind allenthalb an den Wegen mit Rosenstöcken gesäumt, kleinen Trupps in Abständen von je zehn oder zwanzig Schritten, die im Juli in allen Farben blühn, weiß und rosig und allen Schattierungen vom feurigen Rot bis zum schwarzen.

In der Ferne, etwas erhöht, sieht man das kleine Sommerschloß liegen: die beiden, weit in den Garten vorspringenden Flügel, die nur ein Erdgeschoß haben, sind flachgedeckt und tragen steinerne Figuren im Wechsel mit Urnen am Dachrand; der Mittelbau ist um ein Stockwerk erhöht, trägt in seiner Mitte ein flaches Giebeldreieck, und das braune Dach hat Ochsenaugen. Der Hofraum zwischen den Flügeln ist mit einer einzigen geschorenen und immer grünen Rasendecke ganz ausgelegt, die sich samtig hinuntersenkt in den Garten, links und rechts geleitet von Treppengefällen, oder von Wegen mit Treppeneinsätzen, die aus den Enden der Hausflügel herabfließen.

In allen Fenstern des Hauses ist der dunklere Widerschein und Weißes vom Sommerhimmel zu sehn, der über dem Dach aufsteigt ins Ungemessene des blauen Lichtraums, strahlend allerseits und durchzogen von langen Geschwadern schneeweißer Wolken, die ruhig in Kiellinie fahren. – So wenigstens, glaubt die Gudel in der Erinnerung, ist es damals immer gewesen.

Damals aber müssen die Fenster noch anders geblitzt haben, denn die quadratischen Scheiben waren gewölbt. Das kleine Sommerschloß und der Park wurden in den Jahren 1794 und 95 gebaut und angelegt, um einem paar Neuvermählter, dem Erbprinzen Johann Ewald und seiner Gattin, einer Flamin, Titularprinzessin von Brabant, als Sommersitz zu dienen. Sie sollten sich nicht lange dessen freun. Die Prinzessin starb an der Geburt eines Sohnes im Jahr 99, nachdem sie schon Ende 95 einer Tochter, der Gudel, das Leben gegeben hatte, und der Erbprinz, ein von Natur tiefsinniger Mensch, folgte ihr nach anderthalben Jahren immer tieferer Schwermütigkeit nach. Von ihren Kindern überlebte die Beiden nur Gudula; der Knabe hatte sich nicht lebensfähig gezeigt und schon wenige Monate, nachdem er sie geöffnet hatte, die Augen dem Licht wieder verschlossen.

 

Die kleine Prinzessin wurde von ihrer Großmutter väterlicherseits, der verwitweten Fürstin Rosenstein, Schwester des damals noch regierenden, kinderlosen alten Herzogs Georg, des Astrologen, wie er genannt wurde – bei den napoleonischen Mediatisierungen verzichtete er und ließ das Land zu Beuglenburg schlagen –, in Obhut genommen. Die alte Dame war auf einer Hüfte gelähmt, sehr schwerhörig und überdies die steifste Person von der Welt. Die Prinzessin wuchs in den Händen von Kammerfrauen und Hofmeistern auf bis zum Jahre 1801, wo ihr Großonkel ihre Erziehung und Bildung in die Hand nahm. Er bezog damals schon das sogenannte kleine Palais im nachmals sogenannten Georgengarten, und die Kleine hatte winters und sommers, aus dem Stadthaus der Großmutter oder dem Sommersitz, zu Fuß, einen Lakai hinter sich, allmorgendlich und auch nachmittäglich mehrere Male in der Woche dorthin zu wandern, wo sie von dem alten Herzog oder einem zugezogenen Lehrer, Professor am Gymnasium, unterrichtet wurde; später kamen noch ein Turn- und ein Tanzmeister hinzu. Da sie gut begriff, ging ihr Erzieher Schritt für Schritt zu schwierigeren Gebieten über. Sie lernte Algebra und Geometrie, auch Sternkunde, die französische, englische und lateinische Sprache und erhielt einen besonders gründlichen und vorteilhaften Unterricht in Geschichte. Im Erlernen der griechischen und italienischen Sprache kam sie bei ihrem Lehrer nicht über die Anfänge hinaus, da er im Jahre 1809 starb, worauf seine Schwester, die den ganzen Unterricht stets für Allotria, für » étranges niaiseries« angesehn hatte, von nun an tat, als hätte es nie dergleichen gegeben. Immerhin gelang es der Gudel, eine italienische Grammatik unter ihr Kopfkissen zu schmuggeln und mit Hülfe einiger, in der Hausbibliothek vorhandener italienischer Dichter ihre Kenntnisse in dieser Sprache auf eine ansehnliche Höhe zu bringen.

Dem alten Mann trauerte sie mit Leidenschaft nach. Er hatte ihre ganzen Kräfte in Anspruch genommen und war im Unterricht von einer nicht harten, aber durch Zähigkeit Tränen treibenden Strenge gewesen; aber das Kind hatte die Liebe wohl aus der liebevollen Beschäftigung mit ihr empfunden, und seine seltene Belohnung – die einzige Liebkosung damals, da der spitzige Morgenkuß der Großmutter kaum als solche gelten konnte –, ein Gleiten mit der Hand über ihren Kopf und leises Ziehen am Hinterhaar, war doch immer ein kleines Glück gewesen. Er starb in den ersten Junitagen des Jahrs; und daß nun vor dem offenen Fenster im Saal der große runde Tisch nicht mehr sein sollte mit dem Tintenfaß und den alten Büchern; und nicht mehr zur Seite des Fensters im hochlehnigen Stuhl der kleine, schwarzgekleidete alte Mann, rosig magern Gesichts mit sehr großen, blaßblauen und sanftsinnenden Augen, die weißen, unterwärts angegilbten dünnen Locken im Haarbeutel: das erregte ihr, als der heftige Anfangsschmerz sich gelegt, das Gefühl des nie mehr Frohwerdenkönnens, das sie von nun an unbeirrbar behielt am Grund ihres Wesens. Und vor die alte Kammerfrau – die einzige Person, die zuweilen das Wort des Kindes, das sich nicht unterdrücken ließ, in Empfang nahm – hintretend, sagte sie allen Ernstes: »So stirbt einem alles weg; aber auch alles!« Denn kurz zuvor war ihr Dompfaff gestorben. Die alte Frau hatte das längst vergessen und machte große Augen.

Eine Miniatüre aus dem Jahre 1809, kurz vor dem Tode des Herzogs für ihn angefertigt, ist ein Brustbild der Vierzehnjährigen mit braunem, in die niedrige Stirne gekämmtem Haar, blütenweißem, länglichem Gesicht von weicher Rechteckform, denn die grade Linie des Haars und die ähnlich gerade des Unterkiefers mit kleinem, zartgedrehtem Knauf des Kinns, schließen es oben und unten ab. Die Augen von hellem und klarem Blau haben etwas leicht Durchdringendes, was vielleicht vom langen Stillhalten bei den Sitzungen herrührt. Das ganze Gesicht erhält seinen eigentümlichen Ausdruck durch die Brauen, indem die sehr fein gezogenen die ungefähre Form des Büffelhorns haben, wagrecht und grade liegend, an den Enden leise nach unten und wieder hinaufgeschwungen. Der Mund nahm – was auf jener Miniatüre noch nicht sichtbar ist – ihre Form später an. Sie scheinen, im Verein mit der Niedrigkeit der Stirn, das ganze Gesicht von oben leise zu drücken.

Das Kind führte ein sehr ernsthaftes Leben in der immerwährenden Umgebung von Alter und Gelehrsamkeit drüben, von Alter und unmäßiger Hoffart hüben. Aber so sehr einem jeden, der sie kannte, eine natürliche Ernsthaftigkeit ihres Wesens einem derartigen Leben zu entsprechen schien, bestand darin nicht ihr ganzer Charakter. Das zeigte sich nicht; sie behielt das für sich allein, und bis zu ihrem siebzehnten Jahr hat kaum jemand gewußt, daß ›die Waise‹, wie sie in der Stadt wegen ihres Schicksals und mehr wegen ihres einsam waisenhaften Wandels durch die Straßen genannt wurde, sich für die langen Stunden des Stillsitzens, des gleichmäßigen Aufsagens, Gefragtwerdens und Antwortens in unwandelbarem Ernst, schadlos hielt an einer zwar einsamen, aber feurigen Ausgelassenheit. Den Winter über war sie freilich schläfrig; doch kam es vor, daß sie mitten aus dem Schlaf aufstand und in ihrem kleinen, aus Erziehungsgründen stets ungeheizten Schlafzimmer zu tanzen begann, so lange bis sie glühte über und über. Sonst machte das innere Feuer sich nur in sehr kleinen, meist unbemerkt bleibenden Streichen Luft, indem sie plötzlich über dem Haupt der Fürstin, hinter ihr stehend, ungeheure Lufthiebe vollführte; oder indem sie ihr Antworten in lateinischer Sprache oder algebraischen Gleichungen erteilte, sehr ernsthaften Gesichts, woraus die Schwerhörige Worte ihrer Sprache herauszifferte, die nicht paßten. Oder indem sie, unhörbar hinter sie tretend, ihr einige Knöpfe und Haken am Kleide löste, auch wohl eine Nadel zog aus dem Turmbau des Haarputzes, was die alte Dame, wenn sie es nach einiger Zeit merkte, sehr ärgerlich machte über die Lottrigkeit der Kammerfrau; aber die Gudel, mit dem Schließen der Nestel beauftragt, tat zwar eifrige Minuten lang so, öffnete dabei jedoch andre, und Minuten später wiederholte sich der gleiche Vorgang. » Gudule! Gudule, mes crochets! Ah fléau cette personne!« Das zu hören, freute die Gudel jedesmal. Oder auch sie nahm, hinter der Alten bei ihrem abendlichen Rundgang durch die Zimmer gehend, ihre Schleppe auf, daß man die Waden bis obenhin sah, und trug sie gravitätisch zum Entsetzen des Kammerdieners. Da sie aber im übrigen ein wahres Muster von Stille, Artigkeit und unerschütterlichem Indieaugensehn war, fiel auf sie nie ein Verdacht.

Ein freieres Leben führte sie in der wärmeren Jahreszeit. Wenn, je nach der Witterung zu Anfang oder erst gegen Ende des April, im kleinen Sommerschloß die Fensterläden nach außen geschlagen wurden, in den geputzten Wölbscheiben das Blau des Himmels erschien mit dem Wolkenweiß und aus den geöffneten Fenstern im Luftzug die frisch aufgehängten Mullgardinen zu flattern begannen wie Falter, die sich drinnen entpuppt hatten und nun, mit weichen Füßen verklammert, noch nicht dem Winde die bebenden, frisch entrollten Flügel anzuvertrauen wagten, so dauerte es nur ein paar Tage, bis einer der weißen die Freiheit zu gewinnen schien: die kleine Gestalt der Gudel, die im leichten Schwung ihres weißen Kleidchens, ein schilfgrünes Band unter der Brust, aus der Glastür am Ende des Flügels herabgeweht kam, stets in der gleichen Weise und Haltung: ein wenig steif, an den Seiten die hangenden Arme, die Treppen schnell fallend, die Wegstücke langsamer schwebend dazwischen. Dann ging es in gehaltenem Tanz, hier und da um sich selber kreisend, die Wege hinab, bis in der Tiefe des Parkes ihr Tanz, unsichtbar hinter Gebüschen, mänadischer wirbelte und in der Umklammerung irgendeines alten guten Baumes endete. Und hinsinkend atemberaubt in einer anbetenden Art Stellung, sah sie mit schwindelnden Augen oben im kahlen Gewipfel nah und gewaltig die große Bewegung der Wolken im Blau, welches stets ein besondrer Genuß und starkes Empfinden des Frühlings war. Sie wußte genug aus der Mythologie, daß dergleichen Tänze und Stellungen nicht nur ein Phantasieren der Glieder, sondern auch der Seele für sie bedeuteten.

Und dann kamen die Nächte, wo sie auf dem Rasen vor dem Schloß mit ein paar herausgeschleppten Bettstücken mutterseelallein Komödie spielte, Trauerspiele zumeist des Racine und Corneille, und die Frühmorgenstunden, wo sie Spitz und Katze des Kastellans aufeinander und sich mit ihnen im abgelegenen Obstgarten um die Stämme hetzte bis zur Erschöpfung. An Sommersonntagen durften ein paar Spielgefährtinnen, die gesittetsten Töchter höherer Stände aus der Stadt, kommen, und wenn sie am Abend, glühend rot und heiß, mit verwirrten Frisuren in ihren Häusern wieder eintrafen, so begriff keiner diesen Zustand und am wenigsten die Verführung durch die Gudel als seine Ursache; denn die Mädchen waren durch glühende Schwüre von ihr zum Schweigen verpflichtet, und lieber als daß sie die Gudel verrieten, hätten sie auf der Folter der Ausfragung sich selbst zum Opfer gebracht, indem ihnen mit Entziehung der Erlaubnis zum Hingehen gedroht wurde, wobei es jedoch verblieb, denn dem Wunsch der Fürstin war kaum zu widerstehn. Mit zunehmendem Alter wurden die Spiele freilich, von vereinzelten Ausbrüchen abgesehen, stiller, seelenvoller und schwärmerischer. Die Kinder trugen die ersten Leidenschaften zu Lehrern oder Lehrerinnen der Gudel hinaus, die mit ihnen weinte und große Messer besorgte, um die verherrlichten Namen in Bäume zu schnitzen – man kann die gewaltigen Lettern noch heute dort finden, aber in unwahrscheinlicher Höhe, dieweil der Zwang des Geheimnisses sie bewog, erst über den unteren Ästen anzufangen, – und die Gudel hinwieder führte sie in die Wunderwelten der, in der Stadt für die Mädchen unerreichbaren Dichter ein: des Werthers und Ossians und des schamlosen Boccaz mit jenen qualvollen Stellen, die sie beim besten Willen nicht übersetzen konnte, (doch lieh sie ein Lexikon her, aus dem aber nichts zu verstehen war) und anderen mehr, die sie aus der Bibliothek des alten Herzogs nach seinem Tode geschwind und sachkundig entwandt hatte. Und sie lasen und sangen mit unterdrückten Stimmen im Dämmer unter den Holundergebüschen, Pflaumen essend mit tränenschmerzlichen Kiefern, Klopstocks Oden, Matthissons und der Stolberge und Goethes Lieder und Balladen und von Gottfried Seumes ›übertünchter Höflichkeit‹, die sie zu schweren Verwünschungen hinriß; und sie zerflossen in alle Himmel und Tränenströme voller Himmel ihres einzigen Seraphs Jean Paul, als dessen eingebildete Klothilden und Lianen und Winen sie die Küsse imaginärer Heldenjünglinge im Mondschein auf ihren Händen empfanden und in ihrem Kampanertal einer entlegenen kleinen Zeitlosenwiese schluchzend an den Rosen der gebrochenen Liebe rochen.

Dies Vergnügen der Gemeinsamkeit überdauerte jedoch nicht den zweiten Sommer; das Zusammentreffen von zwei Schreckensereignissen – im Sinne der Fürstin – bereitete ihm ein hartes Ende. Das eine war, daß ein frisch in Dienst genommener Tölpel von Lakai eine blöde Leidenschaft zu der fünfzehnjährigen Gudel faßte und aus vermeintlichen Anzeichen – darunter die Auffindung seines Vornamens im Geäst eines Apfelbaumes – auf Gegenliebe schloß, darauf völlig den Kopf verlor, eines Nachmittages in den Kreis der Mädchen einbrach und vor der Prinzessin heulend in die Knie sank. Sein Dank war aber nur eine donnernde Ohrfeige, die ihm eines der Mädchen, nicht Gudula selber, versetzte, flammend vor Zorn über diese Beleidigung der Prinzessin. Die Gudel war, so sehr auch sie den Vorfall als Verunglimpfung empfand, eher ein wenig gerührt durch das Gefühl des Menschen, so lange bis sich herausstellte, daß er aus Rache einige Klatschereien in der Stadt über das Treiben der Mädchen und seine Beziehung zur Gudel in Umlauf brachte, die, rasch und ohne sein Zutun vergrößert, über die Fürstin als Lawine hereinbrachen. Da obendrein mitten in diesen Eclat ein höchst unschuldiger, väterlicher Brief von Jean Paul als Bombe hereinplatzte – die Mädchen hatten ihm geschrieben, in ihrer Demut ohne zu ahnen, daß der Gott antworten würde –, so wars genug. Die Besuche wurden verboten, und nach einigen Versuchen der treuen Mädchen, einen Verkehr über die Gartenmauer hinweg mit der Geliebten zu unterhalten, mußte die Gudel selbst bitten, sie aufzugeben. Ein feurig unternommener Briefwechsel erlosch bald.

Denn die Gudel war von einem, zwar mehr innerlichen und weniger zur Schau getragenen, aber natürlich gewachsenen und mindestens so großen Standesgefühl wie ihre Großmutter erfüllt, das vielleicht um so tiefer war, als sie kaum darum wußte. Und was sie in den, von Verehrung und Verklärung der oberen Stände, der Vornehmen, süßqualmenden Schriften Richters als Selbstverständlichkeit empfunden hatte, das brach nach jenem Eclat und verrauchtem Mitleid mit dem Anrichter des Unheils als heißes und zorniges Gefühl in ihr los: das Bewußtsein, daß, was sie auch phantastisch gespielt und dargestellt haben mochte, in ihrer Welt vor sich gegangen und nicht wirklich gewesen war. Jene Mädchen waren in ihren Kreis eingetreten, weil sie es erlaubte; waren drinn ihresgleichen geworden, aber warens nur dort. Wie sie, die Gudel, niemals ihre Wohnungen betreten hätte, so war sie auch keine Verbindung eingegangen mit den Geschöpfen, die sie daselbst sein mochten, Töchter von Beamten oder Kommissionsräten, was nicht viel mehr oder nur graduell mehr war als von Kammerdienern. Der Sommergarten war eine Art Feengarten gewesen, den, wer ihn betrat, schon als Verwandelter betrat. In ihm war vieles erlaubt, was in keiner andern Gegend der Erde möglich gewesen wäre, denn, was und wie es auch sein mochte: dort war alles anders. Sie gab ihm Formen und Namen, sie gab ihm das Leben, das nicht über den Zaubergürtel hinaus Wesen hatte, und sie war des festen Glaubens, daß eine Rose, die sie über die Mauer warf, außerhalb niemals ankommen würde.

Trotzdem aber, und obwohl jene Spiele der Schwärmerei und phantastischen Leidenschaften nur Spiele und Phantasien waren, so ist ihr Stoff jene andre Welt doch gewesen, die vielleicht nicht immer sich als imaginär behandeln ließ, nicht immer unwahrscheinlich bleiben würde, – und wirklich hat es sich dann gezeigt, daß die Schicht, in der jene Phantastereien Wurzel hatten, tiefer lag, fruchtbarer und kräftiger war als die jenes Hochmuts; daß also jene zwei Sommer mehr Vorbereitendes enthielten für das Schicksal der Gudel, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Freilich wohl: immer ist das ihm Eigentümliche und Besondre stärker im Menschen, als was er mit seinesgleichen gemein hat: Artung und Vorurteile; nur kommt es darauf an, ob er selber es stärker sein läßt.

Herbst und Winter dieses Jahres vergingen der Gudel gedämpfter. Sie nahm die früher unterbrochenen Studien nun selbsttätig wieder auf, trat mit ihrem alten Lehrer in Verbindung, entlieh sich von ihm Bücher, besonders geschichtliche, aber auch philosophische und naturwissenschaftliche Werke, las viel, versuchte sich von neuem an den Kunststücken der griechischen Syntax, vervollkommnete sich in den gelernten Sprachen und erreichte es von der Fürstin, daß ihr Unterricht am Spinett erteilt wurde, den sie allerdings mit Frühlingsanfang wieder fallen ließ: die Gegenwart der alten Dame und die vollkommene Dürre des alten Hofhoboisten, der zweimal in der Woche zu einer Stunde erschien, machten das Tönevergnügen gar zu sauertöpfisch. Sie verschaffte sich aber Ersatz in einer Gitarre, die ihr ein Ausflug auf den Hängeboden des Stadthauses eingebracht hatte, und deren Besaitung, Einstimmung und notdürftigste Handhabung ihr beizubringen sie den alten Kammermusikus zwischen Tür und Angel zwang, indem sie ihn ein- und zweimal nach Beendigung der Stunden in ein Kabinett schob, das zum Ablegen der Überkleider diente. Daß etwas hörbar wurde, verhinderte die Taubheit der Fürstin, und von nun an verbrachte sie manchen Abend in ihrem Bett mit summendem Geträum ihrer Lieblingslieder, denen sie Melodieen erfand oder bekannte mit kleinen Änderungen unterlegte, und die sie mit leisen Akkorden begleitete. So wenig bei all diesen Unternehmungen herauskommen mochte – die dem Instinkt der Erhaltung entsprangen wie beim Nagetier das Wetzen der Zähne an harten Dingen –, bewahrten sie ihr doch Geist und Seele vorm Rosten und dienten für später. Denn wo eine jugendliche Kraft ernsthafte Dinge von selber betreibt, da geschiehts nicht umsonst, und sie weiß wohl wozu.

Dann kamen der Schwermutsfrühling und -sommer des Jahres 1811, in dessen Verlauf die Gudel ihren sechzehnten Geburtstag beging. Der letzte war ein kleines Fest gewesen; nun war sie einsam mit Gitarre und Katze und die erfinderische Zeit des Alleinspielens vorbei. Es kam vor, daß sie mit plötzlichem Anlauf einen schwierigen Baumast erstieg; dann aber saß sie trübsinnig oben und wünschte wieder unten zu sein. Die Kräfte waren gewachsen und wollten schon mehr als müßig entfaltet, wollten an etwas gesetzt und gewetzt sein, in Spannung und Erschlaffung ausgenutzt und gesteigert werden. Nun hingen sie schlaff in gelockerten Wirbeln wie die Saiten der ungespielten Violine und gaben gezupft einen dumpfen und mürrischen Ton. In Gudulas Adern gor das Blut, ihre Brust wuchs sich aus; was ihre bewußte Vernunft unterschlug, die Anstalten des ganzen Leibes, zu seiner natürlichen Aufgabe gerüstet zu sein, glühte sich um so schwerer aus im Unbewußten, und die Gudel fühlte sich geschlagen und unselig. Sie hockte stundenlang am Spinett und quälte es und sich und die Katze durch Erzeugung öder Tonfolgen und Mißklänge. Sie las und wußte nicht, was sie las; ging viel in die Kirche und hatte vor und nach ihrer Einsegnung zu Ostern allsonntäglich lange Gespräche mit dem Konsistorialrat oder einem Pfarrer, deren in jener Zeit einer oder mehrere zu Mittag Sonntagsgäste im Schloß waren, und die sie mit rationalistischen Ketzereien entsetzte. Im Laufe des Sommers überaß sie sich der Reihe nach an jeder Art Obst und wurde dick. Dann machte sie eine Entfettungskur durch, hungerte, daß es knackte, wurde mager wie ein Nagel und immer tiefsinniger. Mit Wintersanfang begann sie Hebräisch zu lernen.

Aus diesem Lebensjahre der Gudel giebt es ein Bildnis, das nicht schön ist. Der Grund, daß es das nicht wurde, läßt sich leicht aufdecken aus dem, der Gudel nicht geheim bleibenden Zweck, zu dem ihre Großmutter es anfertigen ließ. Sie sollte heiraten. – Die ersten Anzeichen waren Briefe, die die alte Dame bekam und in auffälliger Weise geheimhielt; danach beziehungsreiche Gespräche über verwandte Familien und Genealogieen fremder Höfe, wo es nie an erwachsenen Söhnen fehlte; Gespräche, die stets am selben Tage oder höchstens einen Tag nach dem Eintreffen eines Briefes ersichtlich an den Haaren herbeigezogen wurden und in Gegenden des Reiches führten, die mit den Freimarken oder Poststempeln jener Briefe übereinstimmten, welches alles der etwas schläfrigen Schlauheit der Gudula nicht verborgen blieb. Als sie dann gemalt wurde, wußte sie Bescheid, und bei dieser Gelegenheit begann ihre natürliche Hoffart sich persönlich zu äußern, indem sie dies unfreiwillige Verfügtwerden ihrer Person als eine Erniedrigung, einen Unglimpf, schlechtweg demokratisch empfand. Dem entsprach das Gesicht, das sie dem Maler aufsetzte. Das Porträt wurde in der magern Zeit gemacht, und wie es scheint, hat sie zum Überfluß Puder aufgelegt und wurde so weiß wie Käse. Der Falte zwischen den Brauen ist die Absichtlichkeit auf weiteste Entfernung anzusehn; der Mund, kaum sichtbar vor Eingekniffenheit, zeigt bereits Ähnlichkeit mit den Brauen: ein grader Strich mit gesenkten und wieder aufgebogenen Winkeln. Das Haar trug die Gudula damals im Hause nach ihrem Gusto in drei großen Zipfellocken – große braune Dreiecke mit zur Locke gewundenen Enden –, eine links, eine rechts, eine hinten, und da die linke von ihnen vorn am Halse herunter auf die, im tiefen Ausschnitt von weißem Batist sehr sichtbar gemalte Brust fällt – als ob der Maler an ihr sich erholt hätte –, muß die Gudel es durchgesetzt haben, daß sie so und nicht anders abgebildet wurde. Der Maler war wohl nicht übermäßig geschickt und erstarrte das durchdringend Blickende der sehr hellblauen Augen obenein. – Mit dieser offenbaren Reizlosigkeit konnte die Fürstin ihren Zweck schwerlich erreichen, es sei denn, der Busen wirkte besonders. Auf jeden Fall tropften die geheimnisvollen Briefe und Gespräche im Laufe des Winters langsam ab. Daß sie im nächsten Jahr nicht wieder aufgenommen wurden, wird zeitliche Gründe gehabt haben. Es war das schon beunruhigte Jahr 12, dessen Ausgang die Vernichtung der französischen Armee brachte, und wie an warmen Tagen im Frühmärz dampfte schon seine Erde.


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