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»Jener gute Stern, der bis heute unser Unternehmen begleitet hat« – Wolfgang machte nach seiner Gewohnheit eine Pause, die den Freund veranlassen sollte, den begonnenen Satz im gewünschten Sinne fortzuführen – »ist offenbar willens, ein ganz großes Übriges zu tun, daß Brüderlein und Schwesterlein im Wagen bis Maisdorf fahren können.«

»Maisdorf« – unter anderen Umständen hätte Wolfgang diese eigenwillige Schöpfung Jörgs nicht unwidersprochen gelassen, dem seit Florenz das aufgehellte Grün der Maisfelder typisch für das ganze Königreich erschien und der nun in schmerzlich willkürlicher Veränderung aller geographischen Gegebenheiten auch Sizilien mit einem Netz dieser bekömmlichen Frucht überzog. So aber war es zu angenehm, noch einmal den prächtigen Zufall sich vorzuhalten, der es fügte, daß die Glaskiste motorisch, in einem Staatsauto obendrein, verfrachtet wurde; der faschistische Kommandant würde seine jungen deutschen Gäste, so hatte er mehrfach geäußert, am liebsten bis nach Segesta selbst fahren, wie aber die Pflicht ihn daran hindere, beeile er sich, sie in einiger Nähe an der Bahnstation abzusetzen, die als Treffpunkt beider Expeditionen ausersehen war. Denn so lebhaft auch Yai und Gabriele beteuerten, um vier Uhr aufstehen zu können und überhaupt hätten sie Palermo jetzt satt – die Großen verfügten, daß das Zwergobst auszuschlafen habe, und der liebenswürdigen Einladung Major Turati's Folge zu leisten sei.

»Wir könnten fast«, meinte Jörg, »den Wagen an uns vorbeifahren sehen, der uns bald überholt haben dürfte«. Wolfgang sah auf die Uhr: »Wir fahren fünfzig Minuten, kurz nach sechs startet Turati, wenn Gabriele nicht zwei Stunden lang ihre Handschuhe sucht. Daß er uns normalerweise überholt, wäre nun zwar richtig, wenn er nicht einen viel kürzeren Weg nehmen könnte.« Und Wolf entfaltet die Landkarte, um die verwirrende Fülle von Fahrmöglichkeiten genießerisch sich zu bedeuten – ein Spiel, ebenso dem Verstand wie dem Gemüte frommend, zu dem nur leider Jörg sich als heillos untauglich erwies. Der hält das Fenster geöffnet und läßt es am braunen Riemen bald emporschnellen, bald jäh herabfallen: ein Zeitvertreib, der nicht nur eine geregelte Luftzufuhr von Grund aus zu vereiteln, sondern auch die mannigfachsten Reflexe auf den Gesichtern der Mitreisenden hervorzuzaubern wußte. Und forderte der Umstand, daß man gleich zu Beginn dieses Tages zwei Fahrkarten einsparen konnte, nicht geradezu eine drastische Manifestation heraus; wie denn unleugbar ein besonnenes, ja oft verzweifelt entschlossenes Schalten der Freunde mit den Geldmitteln dem ganzen, unwirklich schönen Reiseabenteuer einen freilich etwas bänglichen Reiz mehr verlieh. Unter diesen nachhaltigen Feststellungen grüßte, bisher verhüllt vom Zickzack schläfriger Felsen, die Freunde das Meer: noch lichtlos schien es in tiefer Gelassenheit zu verharren und doch umsorgten seine mütterlichen Wellen nicht anders das Ufer jetzt vor Tagesanbruch, wie sie es im schimmernden Mittag, im Dämmern dieses und aller Tage tun bis an's Ende der Dinge.

Jörg summt ein Lied, das ihm noch in Palermo in's Ohr geweht war: von der Milde der Gottesmutter wie von dem süßen Antlitz eines gar schnöde verlassenen Mägdleins kam darin ein Zärtliches vor, was sich Jörg umso sicherer zur Gewißheit erhärtete, als füglich ein authentischer Wortlaut durch nichts dem Pfeifenwerk des putzigen Leierkastens entlockt werden konnte. Wolf spickt unterdessen den Boden des Abteils mit einer Unzahl jener Wachsstreichhölzer, die – eine alleritalienischste Erfindung – den verwerflichen Kahlschlag der einheimischen Wälder dadurch, daß man zur Entzündung nur einer Zigarette ihrer ein gutes Dutzend benötigte, um einiges wieder gutmachten. Jörg wiederum verfolgt nicht ohne Interesse den Flurschaden, den sie anrichten: geknickt endeten sie unter Zurücklassung eines trügerischen, geisterhaft bläulichen Dunstwölkchens ihr verfehltes Dasein, geknickt nicht anders wie jenes schwarze Rauchzeug, das Wolfgang mißbilligend seiner Brusttasche entnommen und ernsthaft als tabakhaltig bezeichnet hatte. »Du wirst«, ereifert sich Wolfgang, »den Sinn des Lebens nie restlos begreifen, solange Du Dich des edlen Rauchgenusses enthältst«. »Ich kannte einmal« verteidigt sich Jörg, »einen Mann, dem die Lungen (oder war's der Magen) ausgepumpt werden mußten, weil er nikotinvergiftet war. Drei Liter (oder Hektoliter) kohlschwarzes Wasser quoll heraus, es war ein Greuel« – »und« – Wolf fällt ihm in's Wort, »sein Backenbart blieb schwarz bis an sein Lebensende«. Mochte dies düstere Gespräch die italienische Eisenbahnregie nun veranlassen, ihm die entsprechende Folie zu geben: kurz, den Zug schluckte ein Tunnel von erstaunlicher Finsternis, der es zugleich an einem herzhaften Qualm mit entsprechend hoher Geruchsquote nicht fehlen ließ. Wolf findet eben nur Zeit, seine Zustimmung zu jener souveränen Haltung der Eisenbahnbehörde, auf das plumpe Mittel des Einschalten irgendeiner Beleuchtung zu verzichten, auszusprechen, als schon eben diese Haltung dank der schlichten Tatsache des Tunnelausgangs ihre volle Rechtfertigung erfährt. Das Land jenseits des Berges ist verändert: nur geahnt ist in kräftigen Winden das Meer; Äcker, tiefer gefurcht als in Toscana, und lockerer als in Apulien, sind über steinigen Urgrund gestürzt, den sie, wie er zum Grat sich verjüngt, über Risse und Falten bis in achtbare Höhen begleiten.

Als ob diese Veränderung den Mitreisenden sich mitteilte, werden sie mit einmal lebhaft; Bündel und Decken schmiegen sich in bebendem Herabgleiten vom ungewohnten Gepäcknetz wieder in die vertrauten Hände ihrer Besitzer – eine Station ist in Sicht, und, – »Wolfgang, sei versichert, es ist schon unsere«.

Wolfgang öffnet die Türe des langsam haltenden Zuges – »keine Einfahrt, ach was, wir gehen die kurze Strecke«. Jörg ist es zufrieden: den Schienen entlang läuft ein Pfad, der ohne ein Gitter in den kaum breiteren Bahnsteig mündet. »Eisenbahnknotenpunkt ist dieses Olio Sasso gerade nicht«, bemerkt Jörg im Hinblick auf die wenigen Menschen, die vom aufgeräumten Hellrot des Stationsgebäudes sich abzeichnen. »Oh«, unterweist ihn Wolfgang, »macht es nun einmal nicht die Menge, sondern die Auserwähltheit des Materials, das es zu sichten gilt. Sieh' nur das Mädchen dort links: sie auf achtzehn Jahre zu schätzen, hieße vermutlich zu hoch schätzen, ich kann sie mir beinahe fünfzehnjährig denken. In ihrer Kleidung schon verrät sich Dir jener schlichte, doch unbeirrbar instinktsichere Geschmack, der nur der Süditalienerin zu eigen ist; sie trägt Weiß, Farbe der Taube, ich wette, man ruft sie Columba, Colombina. Und ihr zur Seite jener Knabe; ganz Kind seines Volkes, (zwölf Jahre mag er haben), beide umsprüht von der ererbten Anmut ganzer Generationen, die diese königliche Insel zeitigte«. »Wir entgehen übrigens – als ob Deine Worte sie herzubannen vermöchten – nicht ganz ihrer Aufmerksamkeit« wirft Jörg ein, und, »Onkel Wolf, – Giorgio!« umringen, erhitzt und lärmend glücklich Yai und Gabriele die Ankömmlinge.

Die Fahrt sei ganz furchtbar schön gewesen, expliziert Yai, von Gabriele sanft bestimmt, sich doch für Furcht oder Schönheit zu entscheiden. »Wißt ihr«, läßt Wolfgang nun mit Nachdruck sich vernehmen, »daß wir sieben Kilometer zu schaffen haben?« »Und wenn schon!« meint Yai, »wobei unter Weglassung des »und« und »wenn« nur das »schon« übrigbleiben wird«, höhnt Jörg, »nämlich schon nach einem Kilometer wirst du schlapp machen.« Nicht genug solcher unvorsichtigen Rede, ruft ein hämisch geknirschtes »Glaskiste« nun auch noch Gabriele auf den Plan: sie seien keine Glaskiste, und wenn, dann aus unzerbrechlichem Glas, wogegen Jörgs Trägheit jeder Beschreibung spotte und nachgerade zum Himmel röche. Ob dieses milde abgetönten Sprachbilds belustigt, verspricht Jörg jede Buße; doch noch lange begleitet das erste, frische Ausschreiten der vier Yais erregter Protest, bis er, abflauend und schließlich ganz entkräftet wie die Zahl der Kilometer, die sein Träger in Tag- und Nachtmärschen abgeleistet haben will, sich ins Unendliche verflüchtigt.

Gemessen an der Kühle, die noch herrschte, würde es – das hatten die Freunde schon in Palermo erfahren – ein heißer Tag werden; was sie betroffen macht, ist aber ein anderes: unmerklich nahm das Frühlicht von Tal und Hügeln Besitz, nun hält es Reben und Schilfgras, Pinien und Oliven eingetaucht in seine schmerzend weiße Helligkeit, und wenig hilft es, daß sie vorläufig ist, sie muß ertragen werden in ihrer zähen, lauernden Gegenwart.

»Man hat sich«, spricht Wolfgang mehr zu sich selbst, als daß er irgendeinen Widerhall wünschte, »nun einmal durch den Reisbrei hindurchzufressen, bis man zum Wunderbaren kommt.« Das Wunderbare – alle befeuert diese Losung; Yai bricht sich von nachtgrüner Staude eine Blüte von der Farbe des nun plötzlich aufglutenden Morgenhimmels und tauft sie mit dem Wort, das über diesem Tag steht: Segesta.

An den Wänden der entfernteren Berge bricht sich der Schrei eines Raubvogels – »ein gutes Zeichen nach dem Glauben der Alten«, scherzt Wolfgang. Die Alten, denkt Jörg, welche Benennung, uns so geläufig als verhaßt; die Jungen, die Zeitlosen, alles sagt es nicht, nur dies – im tiefsten unsere Brüder.

Ein quer gestellter Maultierkarren versperrt jetzt den Weg; sehr sicher beginnen die Großen ein Gespräch mit seinem frühstückenden Besitzer: »Molto, molto – ach was – va bene – was heißt denn: schmeckt es Ihnen? Lachen kann jeder, na ja, du selber, na also!« »Ich duitsch – Kriegsge-fangen«; Gabrieles leicht hochgezogene Stirne verrät, daß sie weniger die Länge der Gefangenschaft als die der Vokale beunruhigt, während Yais mühsam unterdrückte Heiterkeit nicht mehr zu halten ist, als Wolfgang die Lauser, die nach der Meinung des trefflichen Einheimischen das ehrbare Kaiserslautern, worin er in Haft saß, als kaiserliches Gefolge in seinem Namen führte, in Lautere wieder umzuläutern sich bestrebt zeigt. Man scheidet ebenso unverstanden als herzlich: »Ihr habt, was euer Italienisch anbelangt, perfekt nur mit euren Zähnen geblitzt«, bemerkt Gabriele und hat mit großen erstaunten Augen doch nichts gesagt?!

Ein schmales, von Ahorn behütetes Tal nimmt jetzt die Freunde auf; Steine und Felsblöcke, rundgespült vom Bergwasser, das freilich der Spätsommer in traumferne, märchentiefe Schründe verscheuchte, liegen am Weg umher – »Glatzköpfe Gottes« meint Yai, und Gabriele zuckt zusammen, als Jörg ernsthaft behauptet, sie lebten und vermöchten schaurig mit meterlangen Wirtschaftstabellen zu rascheln. »Geister am Morgen sind ja nun ein Unding«, sagt Wolf, und sein schütteres Lachen durchknattert gewaltig das Tal. »Natürlich vertreibt sie ein derart konzentrischer Angriff wie dein eben herausgehauchtes Lächeln«, sucht Jörg sein Ansehen zu wahren, doch setzt ihn so sichtlich die heiter durchwärmte, in ihrer Klarheit jedem Spuk abholde Morgenluft in's Unrecht, daß er sich geschlagen gibt. Zur Linken grüßt nach einer Wegbiegung erstmals ein Haus; wehrhaft wie ein Kastell hält es der Straße nur ein einziges Fenster zugewandt, auf seinem Sims verblutet, von Jörg deutsch und hier fremd empfunden, ein Strauß vergessener Geranien.

Hinter dem erschreckend breiten Geäst einer wurzelfrohen Plantane wird bald ein Brückenbogen sichtbar, der mit der Unbekümmertheit römischen Architekturwillens ein ausgedörrtes Flußbett überwölbt. »Welche Zähigkeit der Insel«, scherzt Wolfgang, »so lange durch alle Zeiten hindurch die zeitlosen Gewässer auf römische Manier zu überbrücken, bis das Untertanenverhältnis zu Rom, durch einige Jahrhunderte unterbrochen, erneut wohltuende Wirklichkeit wurde.« Gabriele wieder beugt, als die kleine Kolonne nun hochgestimmt das kunstvolle Bauwerk betritt, leicht das Knie: »Stand im Scheitel solcher Brücken nicht einst das Standbild Friedrichs II.?« meint sie errötend, und die Freunde schweigen.

Inzwischen war – von den Wandernden freilich kaum empfunden – der Morgen der strengeren Wärme des Vormittags gewichen; der Himmel, eben noch von den wechselnd geschmeidigen Tönen des Tagesanbruchs überspielt, blaut nun in ernsthafter Stetigkeit und heischt das Geschaffene, Geduld im Ertragen des sengenden Lichts zu üben. »Wir haben allmählich,« sagt Wolfgang, »Anspruch auf Rast, die wir tunlich dem ersten Übergang zur Dauerhitze des Vormittags noch ablisten wollen.« »Ganz vernünftig, Onkel Wolf«, piepst Yai, »du machst dich, muß ich feststellen.«

Und er springt voraus auf eine nahe Halde, die, wie sie kürzlich erst zur Feuerstätte gedient haben mochte, einen munter schwarzen Kreis dem hellen Kalk des Bodens einschrieb. »Holzsuchen alle Mann!« begrüßt er mit angemaßtem Kommando die zögernd anrückenden Freunde und faßt mit Schwung einen Wurzelkloben, der, selbst wenn ihn ein Erdbeben von der Stelle zu rücken vermöchte, dank der ihm nun einmal zugeborenen Natur sieben Feuer gelassen zu überdauern imstande war. Jörg pfeift den Eifrigen zurück und greift die geeigneten Äste mit jenem sicheren Blick für das schlicht Notwendige, den wieder einer ganzen deutschen Jugend ein strenges und darum doppelt gütiges Geschick verliehen hatte.

Wie die Freunde sich lagern, erfüllt sie das schöne Ungefähr der Stunde: immer mehr entrückt das gleißend aufperlende Licht des Vormittags die morgenfrischen Berge, nur eben entzündete Jörg den Holzstoß, und schon stiebt eine Jakobsleiter zierlich geflockten Rauchs empor, die bald indessen als stäte, beruhigte Säule den Himmel trifft. »Hätte man nicht sein eigenes Haus zu bestellen, das unseres beherzten Zufassens so dringlich bedarf – man wünschte sich nichts Größeres, als diese Insel neu zu begrünen, noch einmal über Felsen den Schmuck arabischer Ornamentik rieseln zu lassen, alle zerbrochenen Wertetafeln des anderen Friedrich wieder aufzurichten.« »Kein Wünschen«, entgegnet Jörg nur ungern den Worten Wolfgangs, »vermöchte ja nun der wuchtenden Last jenes ungeheueren Geschichtsablaufs sich entgegenzustellen, der hier sich vollzog; mutlos muß jede, auch die verwegenste Gegenwart vor solcher Vergangenheit das Spiel verloren geben, und Wünschen und Wollen gelten beide gleich gering.« »Und doch wissen wir ganz zuinnerst, daß uns besondere Botschaft aus dieser Erde kommt;« Wolfgang sagt es voll Ungestüm und übersieht schon sehr zuversichtlich einen Blick Gabrieles, der ein mahnend Nachdenkliches besagt. »Wir wollen uns bescheiden, und weniger fordern, als dankbar empfangen«, meint sie, und hält in den Worten inne, als habe sie bereits zuviel gesagt. »Auch ein Standpunkt« lacht Jörg, »nur fürchte ich, daß von ihm aus schwerlich die Welt bewegt wird.« »Wobei es die Frage schon lohnt, ob nicht wir es sind, die bewegt werden sollen, wenn ich Wolf richtig verstand«, antwortet Gabriele und Jörg gibt erst einmal zu, daß dies möglicherweise stimme, um mit dem Gewinn an Zeit zugleich die Aussicht auf eine sachte Zähmung der Widerspenstigen zu erhöhen. »Wenn es dir so sehr um Selbstbescheidung zu tun ist, carissima, so vergiß nicht, den einen Schritt zurückzugehen, der den zweiten nach vorwärts illusorisch macht. Sprungprozession nach Segesta – o über deine Griechensehnsucht, meine Treffliche.« »Noch bin ich nicht ausgeglitten auf dem Weg und weiß von keinem Abseits.« »Das muß sich erst noch zeigen, wir sind noch nicht am Ziel«, will Jörg dagegen wissen. »Darf ich« – mischt Wolfgang jetzt sich ein – »immerhin darauf aufmerksam machen, daß Jörg zuletzt bedenklich in ein bedachtsames Warnen geriet, was anfangs doch wohl Gabrieles Sache war.« »Wir haben«, kappt nun aber Yai entschieden das Gespräch, »alle Mann einen Zungenschlag lang neue Kräfte geschnauft, wir müssen jetzt weiter.« »Und brauchen auch künftig nichts zu entbehren, ist doch euer beider Zungenschlag unerschöpflich«, wendet sich Gabriele an die Großen und flicht sich gelassen eine Ähre ins Haar. »Gehen wir wirklich«, sagen die Großen.

»Deiner Landkarte nach, deren Verläßlichkeit ja doch wohl außer jedem Zweifel steht, müssen wir uns strikt rechts halten« meint Jörg, wobei das Bewußtsein, auf fremdem Boden zu wildern, seine Stimme am Ende unnötig laut werden läßt. Wolf antwortet nachsichtig, daß die Unterscheidung jener mageren Wörtlein, die als rechts und links im übertragenen Sinne wie in ihrer praktischen Anwendung indessen zu riesigen Grundbegriffen geworden seien, nun einmal nicht jedermanns Sache sei und man also links abzubiegen habe.

Ein Pfad, der ziemlich rücksichtslos einer in ungebärdigem Gestrüpp verborgenen Talsohle zustrebt, dient Wolfgang, seine Behauptung zu bekräftigen: was so unbekümmert abfiele in ein gewiß schnell überwundenes Tal kürze ab und rücke das Ziel bei sparsamstem Kräfteeinsatz vergnüglich näher.

Seine helle Beredsamkeit überzeugt schließlich die Widerstrebenden: so steigen die Freunde denn herab.

»Um's Springenmüssen sind wir ja nun nicht verlegen« stößt Jörg in knapp geraffter Erinnerung an seine angekündigte Sprungprozession heraus, als allen spürbar klar wird, daß an die Stelle der heiteren Nötigung zum Abstieg durch Wolf die unerbittliche der Natur getreten ist.

»Wer abstürzt, bietet in diesem entgotteten Tal kein erhebendes Schaustück« versichert Jörg und fängt sich noch einmal an einem Ast, der krachend birst. Unfroh erreichen die Freunde schließlich den Talgrund, als ein Anblick unerwarteten Grauens ihnen zuteil wird. Weiß gebleichte, in ihrer kläglichen Veränderung noch geduldig scheinende Schädel von Mauleseln liegen verstreut umher; ein frisch verendetes Tier zuckt in jener verdächtigen Lebendigkeit, die ein Heer wimmelnder Totengräber bald als Urheber entlarvt.

Der landschaftliche Aspekt, der den immer hastiger Voranschreitenden sich darbietet, löst nicht ihr Schweigen. Mehr und mehr rücken Felsen und Steilhänge zusammen – unwillkürlich bleibt Gabriele vor einer dicht geschlossenen, stachelbesetzten Blüte stehen, und wirklich, es war die letzte.

Immer wieder läßt eine Schwade körnigen, heißen Staubes sie halt machen; sie dürsten, doch keiner gesteht es ein; man war auf eine große Hitze gefaßt gewesen, was jetzt in schwirrender Tücke um sie singt, ist Glut.

Yai knüpft die Lodenjacke ab, die er sich durch den Gürtel gezogen hatte und streift sie über den Kopf; verbissen setzt er sich an die Spitze des kleinen Trupps und stapft voraus, mit seiner Notkapuze ein freilich recht stummer Poltergeist im Reiche des großen Pan. Jörg sieht auf Gabriele und lächelt insgeheim: gleichmäßig setzt sie, kaum merklich angestrengt, Fuß vor Fuß – das Zarte sich bewährend sehen, ist eine Gnade, vielleicht die größte – denkt er.

Der Weg wird jetzt so steil, daß er, wie der böse Glanz des in der Sonne schwärenden Gesteins, das rötliche Geflimmer der erhitzten Luft die Freunde ganz benommen macht, dem entzündeten Auge fast senkrecht anzusteigen scheint. Yai keucht – man muß es ihm ersparen, dies »ich kann nicht mehr«, denkt Jörg und ohne daß ein Wort fällt, nehmen die Großen ihn auf und tragen den Wicht, dessen Kraft, wie sie des hier wirkungslosen Zaubers des heimischen Schwarzwaldes entraten muß, nur ganz natürlich versagt. Jörg spürt durch Jacke und Hemd hindurch auf seiner Schulter den schweren, feuchten Arm des Knaben, der ihm die Schlagader preßt und den er doch nicht verändern will. »Zu einem Christopherus fehlt mir das Nötigste allerdings – das Wasser« begreift er mit dem stets schwachen Trost, den man sich selbst zu spenden vermag, seine freilich wenig erquickliche Lage.

Yai aber wirft den Kopf plötzlich in den Nacken und atmet tief und schön: um ihn wogt die purpurne, gegen ein fernes Tor hin silbern zerstäubende Luft einer Grotte – er muß zu diesem Tor, das immer strahlender in einem lind geahnten Blau sich vor ihm auftut, er lacht, selig und befreit und schließt, als in seinem Rücken ein strenger, zorniger Mönchsgesang ertönt, bedachtsam und im Herzen seiner Sache ganz sicher, mit seinen Fäusten die Ohren. Nun hält er sich fest an den Quadern, die das Rund des Tores bilden und bleibt geblendet stehen.

Vor ihm breitet eine unendliche Ebene sich aus, über und über bedeckt von Narzissen, die im heiteren Wind sich wiegen als ein einziger, gelb schäumender Strom, bis ferne am Horizont ein dunkel ragender Wald sein schonendes Halt gebietet. Er will sie streicheln können, die feinen, lichten Blüten, als eine liebliche Musik vom Meer her anhebt, das er – welch' wunderlicher Umstand – erst jetzt entdeckt. Eine vielfach gestaffelte Flotte ist aufgefahren; ihre froh ermüdeten Segel hängen still; bekränzte Scharen ziehen zum Ufer, das große Fest der Heimkehr zu feiern.

Der Himmel aber, das weiß der Knabe, wird sich nicht öffnen jetzt; er ist ganz nahe ja, ist irdisches Widerspiel und wie er in einer Überfülle entstürzenden Lichts der Erde sich vermählt, ist ihrer beider Leuchten, sind Menschen und Götter eins.

Nun schrickt er auf, – man hält ihm die Augen zu – wer sonst als Gabriele – »natürlich die Weiber!« entlädt sich sein schlafbefangener Unmut.

»Brüderlein – schau' doch mal«.

Vor ihm erheben sich – vom Troß der dienenden Berge, weiß brennend in der Sonne des Mittags, strenge geschieden durch die Form – Giebel und Säulen, und »Leute« flüstert Yai, »ihr Leute, ach – Wolfgang – Jörg und Gaby – Segesta«!

Nur – und er läßt die Arme, die er betend emporgehoben, sinken; der heilige Tempel und über ihm der stumme, träg blaue Himmel sind leer.

Da rauscht mit jähem Flügelschlag ein Vogelschwarm auf; groß sind die Vögel und nie zuvor sah Yai an ungezähmten, freien Tieren solche Farben.

Dreimal umkreisen sie den First des Tempels um bald indessen in schwerem, gelassenem Flug zu entschwinden und ihre Fittiche glänzen, als trügen sie ein Geheimnis mit sich fort – wieder dahin woher es einzig uns kam, zur Sonne.

 

*

 


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