Agnes Sapper
Die Familie Pfäffling
Agnes Sapper

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11. Kapitel

Geld- und Geigennot.

Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.

Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und sagte: »Der General hat vor seiner Abreise alle geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben.«

»Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es von Berlin aus geschehen werde?«

»Nein, nein, nein,« erwiderte lebhaft Herr Meier. »Man reist nicht ab, ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut.«

In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. »Es ist ein Glück,« sagte er dann, »daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen.«

Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. »Cäcilie,« sagte er, »was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?«

»Wenn ich auch ›ja‹ sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich bringst,« entgegnete Frau Pfäffling.

»Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz all dem Leid, was daraus entstehen muß?«

»Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig.«

»Also du würdest schreiben, Cäcilie?«

Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Ich weiß nicht, ich würde meinen Mann fragen.« Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: »Hundert Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst.« So blieb der Brief an den russischen General ungeschrieben.

Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben!

Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: »Warum lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?« Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. »Weil sonst keine Überraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, nicht lange vorher fragen.«

Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brüder drangen in ihn: »Jede Überraschung muß heimlich gemacht werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst sagen.« Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. »Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche,« sagte er, »und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen.« Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich angeführt.

Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über diese Wirkung und verstummten.

»Kinder, was habt ihr getan,« rief die Mutter schmerzlich, »wenn ihr auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!«

Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: »Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!«

»Gott Lob und Dank,« rief Frau Pfäffling, »habt ihr nicht gesagt, er sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch, denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge mischt!« Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!

»Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen,« sagte Frau Pfäffling, »ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein.«

Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. »So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten,« sagte er zu seiner Frau, »so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen.«

Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief vergnügt: »Das Russengeld« und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden.

Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. »Vater,« sagte er, »du weißt nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm.«

Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen.

Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. »Ist denn der Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?«

»Bewahre, du bringst auch alles durcheinander,« sagte die Gattin, die sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. »Der Pfäffling ist ja bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die große Familie aufnehmen wollte.«

»O tausend!« rief der Doktor, »wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich keine so gesalzene Rechnung geschickt!«

»Du verwechselst auch alle Menschen!«

»Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich.«

»Gar nicht ähnlich.«

»Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?«

»Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht.«

»Doch!«

»Nein!«

Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit einem bedauernden: »Ändern läßt sich da nichts mehr.«

Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: »Frieder, hör auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken.« Da gab er endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. »Du Böser!« rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder an: »Der Vater kommt!« rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. »Frieder,« sagte er, »ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!« Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: »Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin.«

In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen weinend auf sie zu und rief: »Alle sagen ihm, er soll aufhören und er tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!«

Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.

»Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?« fragte Frau Pfäffling. »Das hätte ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich will hören, was der Vater meint.«

Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: »Es ist mir leid.«

»Das muß dir freilich leid sein, Frieder!« sagte der Vater. »Wenn du bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!«

Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: »Aber Frieder!«

Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: »Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?« und ernst fügte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: »Nun gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!« Aber die Arme des Kindes lösten sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: »Gib sie her!« und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: »Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?« Der Kleine beharrte in seiner Stellung.

»So behalte du deine Violine,« rief nun lebhaft der Vater, »hier hast du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst,« und indem er die Türe zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: »Geh hinaus, du fremdes Kind!« Da verließ Frieder das Zimmer.

Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: »Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine Mutter mehr hat.«

Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an sich, die sich nicht zu fassen vermochte. »Sei jetzt still, Kind,« sagte sie, »Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles wieder gut.«

Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. »Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt,« sagte Herr Pfäffling, »der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen.«

So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu spielen.

Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. »Er spielt!« flüsterte eines der Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche – dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz bewegen kann.

Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den Schwestern.

»Die Marianne möchte hinaus zu Frieder,« sagte die Mutter. Herr Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.

»Da drinnen ist die Violine,« sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: »Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!« Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus.

Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: »Solang Frieder seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen angesehen!«

Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. »Wie kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben,« sagte Frau Pfäffling, »mir ist das ganz unverständlich.«

»Von dir hat er es wohl auch nicht,« entgegnete Herr Pfäffling und fügte nachdenklich hinzu: »Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben.«

»Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln können, daß er einmal ein Musiker wird.«

Unser Musiklehrer sagte schwermütig: »Es wird wohl so kommen.«


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