George Sand
Die Marquise
George Sand

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Die Marquise de R . . . war nicht sehr geistreich, obschon es in der Literatur als ausgemacht gilt, daß alle alten Damen nur so sprühen müssen von Geist. Ihre Unerfahrenheit war entwaffnend in allen Dingen, die ihr die Berührung mit der Welt nicht irgendwie nahegebracht hatte. Noch weniger verfügte sie über jene bis zur Delikatesse getriebene Kunst des andeutenden Ausdrucks, jenen erlesenen Tiefsinn und wundervollen Herzenstakt, der, wie man sagt, die Frauen auszeichnet, die zu leben verstanden haben. Sie war ganz im Gegenteil recht frei heraus, unbesonnen, brüsk, manchmal sogar stark ironisch. Sie zerstörte absolut alle Illusionen, die ich mir von einer Marquise aus der guten alten Zeit gemacht hatte. Und dennoch war sie durch und durch Marquise, eine von denen, die den Hof Ludwigs des Fünfzehnten noch miterlebt hatten; aber da so etwas seit jenen Tagen sozusagen eine Ausnahmeerscheinung darstellte, wollen Sie, meine verehrten Zuhörerinnen, in ihrer Lebensgeschichte nicht zugleich eine ernsthafte Studie der Sitten eines Zeitalters suchen. In der Gesellschaft zu allen Zeiten sich auszukennen ist, dünkt mich, zu schwierig, als daß ich mich hier in eine farbige, genaue Schilderung einlassen möchte. Ich will mich darauf beschränken, Ihnen von solch außergewöhnlichen Fällen zu erzählen, wie sie – zu allen Zeiten – zwischen Menschen aller Gesellschaftsschichten unverwerfliche Beziehungen der Sympathie stiften können.

Irgendwelch besonderen Zauber hatte ich eigentlich nie in der Gesellschaft dieser Marquise empfunden. Fesselnd erschien sie mir wohl hauptsächlich nur durch ihre verschwenderische Lust, die Erinnerungen mitzuteilen, die sie sich aus der Zeit ihrer Jugend bewahrt hatte, und wegen der fast männlich nüchternen Klarheit, mit der sie ihre »Memoiren« zu erzählen wußte. Im übrigen war sie, wie alle alten Leute, etwas vergeßlich gegenüber den Dingen, die sich in der Weltgeschichte zugetragen hatten, und unbekümmert um die Ereignisse, die keinen direkten Einfluß auf ihr Schicksal ausübten.

Sie war keineswegs eine von jenen pikanten Schönheiten gewesen, die mangels des Glanzes an wohlgebildeten Körperformen nie auskommen können ohne Geist. Eine Frau, die so beschaffen ist, muß sich geradezu welchen zulegen, um dadurch so schön zu werden, wie ihre Geschlechtsgenossinnen es durch ihre natürlichen Reize schon sind. Die Marquise hatte im Gegenteil das Unglück, unbestreitbar schön zu sein. Ich habe ihr Porträt gesehen, das sie – wie alle alten Damen – die Koketterie hatte, in ihrem Boudoir vor allen Blicken auszustellen. Sie war darauf konterfeit als Nymphe auf der Jagd, in einer Korsage aus gestreifter Atlasseide, die das Tigerfell vortäuschte, mit Spitzenärmeln, einem Bogen aus Sandelholz und einer perlenbesäten Mondsichel, die auf ihrer gekräuselten Haarfrisur in allen Farben spielte. Trotz allem, ein bewundernswertes Bild war das – und, was noch mehr besagt, eine wundervolle Frau: groß, schlank, brünett, mit dunklen Augen, strengen, edlen Zügen, einem purpurnen Mund, der kaum lächelte, und Händen, die, wie man erzählt, die Prinzessin de Lamballe zum Verzweifeln gebracht hatten. Ohne die Spitzen, die Atlasseide, den Puder wäre das in der Tat eine jener stolzen, leichtfüßigen Nymphen gewesen, die, in Wäldergründen oder am Berghang erspäht, alle Sterblichen toll vor Liebe und Verlangen machen konnten.

Und dennoch hatte die Marquise wenig Abenteuer erlebt. Wie sie selbst gestand, sagte man ihr nach, es mangelte ihr an Geist. Die anspruchsvolle Männerwelt von damals liebte weniger die Schönheit um ihrer selbst willen als wegen ihrer kokettenhaften Reize. Frauen, die unendlich weniger bewundernswert waren, hatten ihr alle Anbeter weggezogen, und, was noch sonderbarer war, es schien, als könne ihr das nichts anhaben. Was sie mir, mit Unterbrechungen, von ihrem Leben erzählte, ließ mich vermeinen, dies Herz sei nie jung gewesen, und seine etwas egoistische Kühle habe jede andere Regung beherrscht. Und doch sah ich sie, höchst lebendig für ihre Jahre, rund um sich Freundschaft pflegen. Ihre Enkelkinder brachten ihr Zärtlichkeiten entgegen, und sie spendete Liebe und Güte, ohne daß es wie großes Gehabe wirkte. Aber da sie keinerlei besondere Grundsätze hervorkehrte und sogar gestand, sie hätte ihren Freund und alten Verehrer, den Vicomte de Larrieux, nie wirklich geliebt, konnte ich mir keine so rechte Erklärung über ihren Charakter machen.

Eines Abends fand ich sie noch mitteilsamer als gewöhnlich. Etwas wie Betrübtheit sprach aus ihren Gedanken.

»Mein liebes Kind«, wandte sie sich mir zu, »der Vicomte de Larrieux ist nun doch seiner Gicht erlegen. Ein großer Schmerz ist das für mich, die ich, sechzig Jahre hindurch, ihm Freundin war. Und erschreckend zu sehen, wie man so abstirbt! Und trotzdem nicht weiter erstaunlich: Er war ja so alt!«

»Wie alt war er?« fragte ich.

»Vierundachtzig! Ja, und ich, ich bin achtzig; aber so hinfällig, wie er war, bin ich noch nicht; ich darf hoffen, länger zu leben als er. Was tut es! Wenn man sieht, wie sich diese und jene von den alten Freunden dies Jahr wieder still davongemacht haben, und man sich noch so schön einredet, man sei schließlich jünger und robuster – hindern kann das nicht, etwas bänglich zu werden, schaut man so zu, wie die Altersgenossen die letzte Reise antreten . . .«

»Daher also«, bestätigte ich ihr, »all das Bedauern, das Sie ihm nachschicken, dem armen Larrieux, der Sie sechzig Jahre hindurch anbetete, der nicht abließ, sich über Ihre unerbittliche Strenge zu beklagen, und sich doch nicht dadurch hat zurückschrecken lassen? Das Musterbild von einem Liebhaber, nicht wahr, das war er! Dergleichen Männer, die kann man heutzutage mit der Laterne suchen!«

»Lassen Sie –!« winkte die Marquise mit ihrem kühlen Lächeln ab, »dieser Mann machte es sich geradezu zur zweiten Natur, zu lamentieren und sich unglückselig zu nennen. Und er war es ganz und gar nicht, wie jeder weiß . . .«

Als ich sah, wie meine Marquise wieder im besten Zuge war, in ihr Plaudern zu kommen, bedrängte ich sie mit Fragen über diesen Vicomte de Larrieux und über sie selbst; und so lautete die sonderbare Auskunft, die ich aus ihrem Mund zu hören bekam:

»Mein liebes Kind, ich sehe wohl, daß Sie mich als eine Person von recht häßlichem und sehr unausgeglichenem Charakter betrachten. Möglich, daß es an dem ist. Urteilen Sie von sich aus darüber: Ich will Ihnen meine ganze Geschichte erzählen, Ihnen all die Verkehrtheiten darin aufdecken, die ich noch nie jemandem enthüllt habe. Sie, der Sie aus einem vorurteilslosen Zeitalter sind, werden mich vielleicht weniger schuldhaft finden, als ich mir selbst erscheine; aber wie auch die Meinung ausfallen mag, die Sie sich über mich machen werden, sterben kann ich nicht, ohne daß ich mich vorher jemandem ganz aufgeschlossen habe. Vielleicht werden Sie mir ein Zeichen des Mitgefühls bekunden können, das mir die Wehmut der Erinnerung versüßen wird. – In Saint-Cyr bin ich erzogen worden. Die glänzende gesellschaftliche Ausbildung, die man dort erhielt, zeitigte allerdings bei mir wenig Sinn für die Wirklichkeiten des Lebens. Ich kam mit sechzehn wieder heraus, um dem Marquis de R . . . zur Frau gegeben zu werden, einem Mann von fünfzig Jahren; und ich wagte nicht, darüber in Klagen auszubrechen, denn alle Welt beglückwünschte mich zu dieser guten Partie, und alle heiratsfähigen Mädchen ohne Vermögen beneideten mich um mein Los.

Ich hatte stets wenig Geist gehabt; in jener Zeit war ich ein ganz und gar törichtes Geschöpf. Jene klösterliche Erziehung hatte das Ihre getan, meine schon immer sehr langsamen Denkfähigkeiten vollends einzuschläfern. Ich kam aus dem Kloster mit einer Unschuld, einer Ahnungslosigkeit, die geradezu albern war und die man uns sehr zu Unrecht als Vorzug und als Tugend zugute hält, mit solchen Eigenschaften, die oft dem Glück unseres ganzen Lebens schaden.

Und in der Tat: für die Erfahrung, die ich in den sechs Monaten meiner Ehe machen sollte, fand sich mein Geist zu eng, um sie zu fassen, und sie diente mir zu nichts. Ich lernte – nicht etwa das Leben kennen, sondern an mir selber zweifeln. Ich trat in die Welt ein mit Vorstellungen, die ganz und gar falsch waren, mit Vorurteilen, die mein ganzes Leben nicht hat in ihr Gegenteil umkehren können.

Mit sechzehneinhalb Jahren war ich Witwe; und meine Schwiegermutter, die mich – gerade wohl wegen meines gänzlichen Mangels an Geist und Energie – in ihr Herz geschlossen hatte, setzte mir mit Ratschlägen zu, mich wieder zu verheiraten. Nun ja, ich war schwanger, und das schmale Wittum, das man mir eingeräumt hatte, mußte an die Familie meines Gatten heimfallen, gesetzt, ich wollte seinem Kinde und Erben einen Stiefvater geben. Kaum daß meine Trauerzeit um war, führte man mich also wieder ein in die Welt. Ich sah mich bald umgeben von Bewerbern. Ich stand damals im Glanze meiner Schönheit, und nach Meinung aller meiner Artgenossinnen gab es kein Gesicht und keine Taille, die sich mit meinen Frauenreizen hätten messen können.

Aber mein Gatte, dieser alte, blasierte Lebemann, der für mich nie etwas anderes als ein ironisches Lächeln gehabt und der mich nur heimgeführt hatte, um sich eine Stellung zu ergattern, die ihm mit Rücksicht auf mich zugesichert war, dieser Mann hatte mir eine so große Abscheu gegen das Eheleben hinterlassen, daß ich mich nie mehr dazu bereit erklären wollte, einen neuen Heiratskontrakt einzugehen. In meiner Unerfahrenheit stellte ich mir vor, daß alle Männer von seiner Art wären, daß sie einer wie der andere diese selbe Dürre des Herzens, diese erbarmungslose Ironie, diese kalten und beleidigenden Zärtlichkeiten hätten, mit denen er mich so gedemütigt hatte. So beschränkt ich war, ich hatte recht wohl herausgefühlt, daß die seltenen Liebesanwandlungen meines Gatten sich nur den Reizen der schönen Frau zuwandten und daß er ihre Seele für nichts achtete. Ich blieb für ihn die dumme Gans, über die er in der Öffentlichkeit rot anlaufen konnte und die er am liebsten hätte verleugnen wollen.

Dieser düstere Eintritt in das Leben nahm mir alle Illusionen – für immer. Mein Herz, das vielleicht nicht für solche Kühle geschaffen war, zog sich in sich zusammen und verschloß sich in Mißtrauen. Ich faßte eine Abneigung, einen Widerwillen gegen die Männer. Ihre Huldigungen kamen mir wie Hohn vor. Ich sah in ihnen nur Schufte, die sich zu Sklaven machten, um Tyrannen zu werden. Ich brachte ihnen ein Ressentiment, einen anhaltenden Haß entgegen.

Wenn man keine Tugend nötig hat, hat man keine – und so war ich, bei strengstem moralischem Lebenswandel, durchaus alles andere als tugendhaft zu nennen. Oh, wie bedauerte ich, es nicht sein zu können! Wie sehr hatte ich Verlangen nach jener sittlichen Kraft und frommen Art, die ihrer Leidenschaften Herr wird und das Leben in Licht und Farbe taucht! Mein Leben war so kalt, so nichtig! Was alles hätte ich nicht gegeben für solche Leidenschaften, die ich hätte unterdrücken, mit denen ich hätte im Kampf liegen und ringen können – wenn ich mich hätte auf die Knie werfen und beten können wie jene jungen Frauen, die ich beim Verlassen der Klosterschule sah, wie sie sich anständig hielten in der Welt, Jahre hindurch, und mit ihrer Willensstärke immer wieder Widerstand leisteten! Und ich Unglückliche, was hatte ich in der Welt zu tun? Nichts als mich herauszuschmücken, mich zu zeigen und mich zu langweilen. Ich hatte kein Herz, keine Gewissensbisse, keine Ängste und Bängnisse: Mein Schutzengel schlummerte, statt zu wachen. Die Heilige Jungfrau und ihre Keuschheitsmysterien hatten für mich keine Tröstung, keinen Zauber mehr. Ich hatte kein Bedürfnis nach himmlischem Schutz: Die Gefahren waren nicht für mich geschaffen, und ich verachtete mich um deswillen, wofür ich mich hätte glücklich preisen sollen.

Denn – ich muß es Ihnen sagen: Ich maß ebensosehr mir selbst wie den andern die Schuld zu, wenn ich in mir diesen kraftlosen, verkümmerten Willen, nicht zu lieben, fand. Den andern Frauen, die mich eifrig zur Wahl eines Ehemannes oder eines Liebhabers überreden wollten, hatte ich wiederholt mein Gefühl des Abgestoßenseins anvertraut, das mir die Undankbarkeit, der Egoismus und die Brutalität der Männer einflößten. Sie lachten mir ins Gesicht, wenn ich so redete, und versicherten mir, es wären doch nicht alle so wie mein alter Eheherr, und sie hätten ihre geheimen Vorzüge, die ihre Fehler und Laster verzeihlich machten. Diese Vernünfteleien brachten mich nur noch mehr auf: Ich fühlte mich als Frau doppelt erniedrigt, wenn ich andere meines Geschlechtes ihren Empfindungen solch groben Ausdruck geben und sie wie toll lachen hörte über die Scham- und Zornröte, die mir ins Gesicht stieg. In solchen Augenblicken bildete ich mir ein, mehr zu gelten als sie alle.

Und dann fiel ich in meinen alten Schmerz zurück. Der Verdruß nagte an mir. Das Leben der andern war erfüllt, das meine war leer und öde. Ich klagte mich der Verrücktheit, des maßlosen Verlangens an. Ich fing an, alles für wahr zu halten, was diese lachenden, lebensklug schwätzenden Frauen, die ihre Zeit so nahmen, wie sie war, mir vorerzählten. Ich sagte mir, daß meine Unerfahrenheit mich dem Leben entzogen, daß ich mir wahnhafte Illusionen zusammengesponnen, mir Gaukelbilder von wahrhaft vollkommenen Männern – wie sie gar nicht von dieser Welt sein konnten – erträumt hatte. Mit einem Wort, ich klagte mich selbst allen Unrechts an, das man gegen mich gehabt hatte.

Solange die Frauen hofften, mich bald zu ihren Maximen bekehrt zu sehen und zu dem, was sie ihre ›Lebensklugheit‹ nannten, solange ertrugen sie mich. Es war sogar mehr als eine, die auf mich ihre große Hoffnung setzte zur Rechtfertigung ihrer selbst, mehr als nur eine, die von übertriebenen Bekundungen einer verbissenen Tugendhaftigkeit übergegangen war zu einer mehr als leichtsinnigen Lebensführung und sich nun schmeichelte, auch mich bald der Welt das Beispiel einer Leichtfertigkeit geben zu sehen, die fähig wäre, ihre eigene zu entschuldigen.

Aber als sie sahen, daß nichts davon in Erfüllung ging, daß ich bereits eine Zwanzigjährige war und noch immer einen unsträflichen Lebenswandel führte, packte sie Wut und Haß gegen mich; sie behaupteten, ich sei ihr leibhaftiges kritisches Gewissen, sie zogen mich vor ihren Galanen ins Lächerliche, und meine Besiegung wurde zum Gegenstand ihres ehrenabschneiderischsten Ränkespiels und unmoralischsten Vorgehens gegen mich. Frauen von höchstem Rang in der Welt konnten, ohne schamrot zu werden, lachend die infamsten Komplotte gegen mich inszenieren; und bei der Sittenfreiheit unseres Landes wurde ich das Ziel aller möglichen Angriffe, die mit einer Zudringlichkeit unternommen wurden, die fast an Haß grenzte. Es gab Männer, die ihren Mätressen versprachen, mich kirre zu machen, und Frauen, die ihren Liebhabern erlaubten, das bei mir zu probieren. Es fanden sich vornehme Gastgeberinnen, die sich erbötig zeigten, bei ihren Haussoupers meine Vernunft mit Hilfe ihrer Weine ins Schwanken zu bringen. Ich hatte Freunde und Verwandte, die mir, um mich in Versuchung zu führen, Männer vorstellten, aus denen ich hätte recht nette Kutscher für meine Equipage machen können. Da ich die Naivität hatte, ihnen meine ganze Seele aufzudecken, waren sie sehr wohl im Bild, daß es weder fromme Tugend noch stolzes Ehrgefühl, noch auch eine alte Liebe war, die mich zurückhaltend sein ließ, sondern einfach das Mißtrauen und ein Gefühl instinktiven Abgestoßenseins. Sie verfehlten nicht, alles, was sie über mich wußten, unter die Leute zu bringen, und ohne sich Gedanken zu machen über die Beunruhigungen und Bängnisse meiner Seele, verbreiteten sie frei und kühn, ich verachtete alle Männer! Es gibt nichts, was sie mehr verletzt als das – eher noch könnten sie leichtfertiges Geschwätz und dumme Hochmütigkeit verzeihen. Und daher teilten sie die Abneigung, die ihre Bundesgenossinnen gegen mich hatten. Sie suchten mich nur mehr, um ihre Rachegefühle zu kühlen und mich dann dem Spott und Gelächter preiszugeben. Auf allen Stirnen fand ich die Ironie und die Verstellung geschrieben, und mein Menschenhaß wuchs darüber von Tag zu Tag mehr.

Eine Frau von Geist hätte aus all dem ihre Konsequenz für sich gezogen: Sie hätte in ihrer Widerstandskraft beharrt, und wäre es auch nur, um dadurch die Wut ihrer Rivalinnen zu steigern. Sie hätte sich offen und vor aller Welt der Frömmigkeit in die Arme geworfen und sich fest verbunden mit der Gesellschaft, der kleinen Schar tugendhafter Frauen, die – selbst zu jenen Zeiten – die Erbauung aller wahrhaft feinen Geister bildeten. Aber ich hatte nicht so viel Charakterstärke, dem Gewitter die Stirn zu bieten, das gegen mich losgrollte. Ich sah mich allein gelassen, mißkannt, gehaßt. Schon spürte ich meinen Ruf das Opfer der scheußlichsten, abwegigsten Ehrabschneidereien werden. Gewisse Frauen, die sich den zügellosesten Ausschweifungen hingaben, stellten sich plötzlich, als sähen sie in meiner Nähe sich und ihren Ruf gefährdet.

II

In der Zwischenzeit kam ein Mann aus der Provinz hierhergereist, ein Mann ohne Talent, ohne Geist, ohne besondere männlich energische oder verführerische Eigenschaften, aber mit einer Lauterkeit und einer Aufrichtigkeit in seinem Fühlen, die recht selten sind in der Welt, in der ich lebte. Ich begann mir einzureden, daß ich endlich eine ›Wahl‹ treffen müsse, wie meine Gefährtinnen es nannten. Da ich Mutter war, glaubte ich nicht, ein neues Ehebündnis eingehen zu sollen, und da ich zu keinem Manne und seiner Güte Vertrauen mehr hegte, meinte ich auch aus diesem Grund von meinem Recht besser keinen Gebrauch mehr zu machen. Es konnte also nur ein Liebhaber sein, den ich mir zulegen sollte, um auf der Höhe der Gesellschaft zu bleiben, in die ich mich hineingestellt sah. Ich entschied mich zugunsten dieses Provinzlers, dessen Name und Stand in der Welt mich mit hinreichend schönem Schutz decken könnte. Es war der Vicomte de Larrieux.

Er, er liebte mich – und aus aller Grundehrlichkeit seiner Seele. Aber – seine Seele! Hatte er eine? Er war einer von jenen kühlen Verstandesmenschen, die nicht einmal für sich selbst genug weltmännischen Elan zum Laster noch Geist für die Lüge haben. Er liebte mich in seiner etwas gewöhnlichen Art, wie mein Mann mich zuzeiten geliebt hatte. Nur von meiner Schönheit war er in Bann geschlagen – doch mein Herz zu entdecken, dazu gab er sich keine große Mühe! Bei ihm war das nicht Hochmut, sondern Geistlosigkeit: Wenn er in mir die Kraft zur Liebe angetroffen hätte, er hätte nicht gewußt, wie er ihr hätte Genüge tun sollen!

Ich glaube nicht, daß es einen vollendeteren Materialisten gab als den armen Larrieux. Er schmauste mit Wollust, er schlummerte liebend gern auf allen Lehnsesseln ein, und für den Rest der Zeit nahm er – seine Prise Tabak. Er war immerzu beschäftigt, irgendeinen leiblichen Appetit zu befriedigen. Ich kann mir nicht denken, daß er an einem seiner Tage auch nur eine Idee gehabt habe.

Ehe ich ihn ganz zu meinem intimen Freunde erhob, hatte ich immerhin Sympathie für ihn empfunden, denn, wenn ich in ihm nichts Großes fand, Böses fand ich auch nicht in ihm; und darin bestand seine Überlegenheit über alles, was mich umgab. Ich schmeichelte mir denn, wenn ich seine Galanterien anhörte, daß er mich mit der menschlichen Natur wieder versöhnen könnte, und ich vertraute mich seiner Anständigkeit an. Aber kaum hatte ich ihm über mich all die Rechte gegeben, die unser schwaches Geschlecht nie wieder zurücknimmt, da verfolgte er mich mit einer unerträglichen Besitzgier und beschränkte sein ganzes System der Zuneigung auf die einzige Art von Liebesbezeigung, die er zu schätzen fähig war.

Sie sehen, mein Freund, ich war aus dem Regen in die Traufe gekommen: Dieser Mann, den ich, bei seinem ausgedehnten Appetit und seinem Hang zur Siesta, für einen Kaltblüter gehalten hatte, nährte nicht einmal in seiner Brust ein Gefühl für die starke Freundschaft, die ich in ihm anzutreffen hoffte. Er sagte lachend, er könne unmöglich Freundschaft empfinden für eine schöne Frau. Und wenn Sie wüßten, was er Liebe nannte . . .!

Ich leide keineswegs unter der Einbildung, aus einem besseren Erdenstoff gemacht zu sein als alle anderen menschlichen Geschöpfe. Nun, da ich sozusagen zu keinem der beiden Geschlechter mehr gehöre, habe ich doch immer noch das Empfinden: Ich muß in jenen Zeiten ganz so Frau gewesen sein wie jede andere auch, nur eben – es hat mir zur Entwicklung meiner Fähigkeiten die Begegnung mit einem Mann gefehlt, den ich so hätte lieben können, daß sich mir ein Hauch von poetischer Verklärung über alles bloß Triebhafte gelegt hätte. Aber da dem gar nicht so war, darum werden Sie, der Sie ein Mann sind und demzufolge weniger heikel denken über derlei Gefühlsdinge, den Ekel begreifen, der sich des Herzens bemächtigt, wenn unsereins sich den Zudringlichkeiten des Liebesverlangens unterwerfen soll, ohne dazu das Bedürfnis verspürt zu haben . . . Nach drei Tagen wurde der Vicomte de Larrieux mir unerträglich.

Ach ja, mein Lieber, ich hatte nie die Energie, mich von ihm loszumachen! Sechzig Jahre hindurch ist er, bis zum Überdruß, mein Quälgeist gewesen. Aus Willfährigkeit, aus Schwäche oder aus Langeweile habe ich ihn doch ertragen. Immer unzufrieden, wie er war, mit meinem inneren Widerstreben und immer wieder zu mir hingezogen – und gerade durch die Hindernisse, die ich seiner Leidenschaft entgegensetzte –, hat er für mich die geduldigste, beherzteste, unentwegteste und – langweiligste Liebe gehegt, die je ein Mann einer Frau entgegenbringen konnte.

Aber das ist wahr: Seit ich einen Beschützer um mich hatte, war die Rolle, die ich in der Welt spielte, unendlich weniger mit Unannehmlichkeiten verbunden. Die Männer wagten nicht mehr meine Nähe zu suchen; denn der Vicomte war ein fürchterlicher Raufdegen und ein wildwütiger Eifersüchtiger. Die Frauen, die prophezeit hatten, daß ich nie das Zeug dazu habe, einen Mann zu fesseln, sahen mit Verdruß, wie ich den Vicomte für mich einspannte; und vielleicht kam zu der Geduld, die ich gegen ihn aufbrachte, etwas von jener Eitelkeit hinzu, die es einer Frau nie erlaubt, hilflos allein gelassen zu erscheinen. Nun ja, viel war nicht an der Persönlichkeit dieses armen Larrieux, auf das man hätte stolz sein können; und doch: Ein recht stattlicher Mann war er, hatte Herz im Leibe, verstand verschwiegen zu sein, wenn es darauf ankam, trat vornehm auf, und natürlich fehlte es ihm auch durchaus nicht an jener mäßigen Geckenhaftigkeit, die das Ansehen der Frau noch erhöht. Kurzum, was meine Geschlechtsgenossinnen betraf: Weit entfernt davon, abgestoßen zu sein von dieser etwas langweiligen männlichen Schönheit, die mir als der Hauptfehler des Vicomte erschien, waren sie vielmehr überrascht von der ehrlichen Ergebenheit, die er mir bezeigte, und sie hielten ihn ihren Liebhabern als Muster vor. Ich hatte mir also eine beneidenswerte Situation geschaffen; aber, ich versichere Ihnen, das alles entschädigte mich nur höchst mittelmäßig für die Verdrießlichkeiten der intimen Freundschaft mit ihm. Ich ertrug sie gleichmütig und resigniert und bewahrte meinem Larrieux eine unverletzliche Treue. Urteilen Sie, mein Lieber, ob ich so schuldig gegen ihn wurde, wie Sie wohl gedacht haben.«

»Ich habe Sie vollkommen verstanden«, bestätigte ich ihr. »Ich wollte damit sagen: Ich bedaure und ich schätze Sie zugleich sehr. Sie haben den Gepflogenheiten Ihrer Zeit ein wahrhaftes Opfer gebracht, und man stellte Ihnen ehrabschneiderisch nach, weil Sie höher standen, als es diese Gepflogenheiten verlangten. Mit ein wenig mehr moralischer Stärke hätten Sie in der Tugend das ganze Glück gefunden, das Sie im heimlichen Liebesverhältnis nicht fanden. Aber lassen Sie meinem Erstaunen über eine Tatsache Ausdruck geben, nämlich die, daß Sie, im Verlauf Ihres ganzen Lebens, nicht einem einzigen Mann begegnet sind, der fähig gewesen wäre, Sie zu verstehen, und würdig, Sie zu wahrhafter Liebe umzustimmen. Muß man daraus nicht schließen, daß die Männer von heute mehr wert sind als die Männer aus Ihren Zeiten?«

»Nun, das zeugte Ihrerseits von großer Einbildung!« erwiderte sie mir lachend. »Ich kann wirklich sehr wenig Loblieder über die Männer meiner Zeit singen, und doch: Ich zweifle, ob Ihresgleichen seither viele Fortschritte gemacht haben. Aber kommen wir nicht ins Moralisieren! Sie mögen sein, wie sie wollen – die Schuld für mein Unglück liegt ganz bei mir. Ich hatte nicht Geist genug, es zu beurteilen. Bei einem so unentwegten Stolze wie meinem hätte unsereins eine überlegene Frau sein müssen und mit Adleraugen, auf einen Blick, unter all diesen so platten, so falschen, so hohlen Männern einen von den wenigen wahren und edelmütigen wählen sollen, die zu allen Zeiten Ausnahmeerscheinungen sind. Ich war zu unerfahren, zu engstirnig dazu. Zwangsläufig dann, mit dem Leben, das ich lebte, habe ich mehr an Urteilsvermögen gewonnen: Ich mußte wahrnehmen, daß gewisse unter jenen Männern, die ich in meinem Haß alle in einen Topf geworfen hatte, andere Gefühle verdienten. Aber – da war ich schon zu alt, da war die Zeit bereits vorbei, mir selber klug zu raten!«

»Und – solange Sie jung waren«, warf ich ein, »fühlten Sie sich da nicht ein einziges Mal verlockt, einen neuen Versuch zu wagen? Hat diese trotzige Abneigung nie ins Schwanken gebracht werden können? Das wäre doch seltsam!«

III

Die Marquise verharrte einen Augenblick in Schweigen. Aber plötzlich setzte sie ihre goldene Tabaksdose, die sie eine Weile zwischen ihren Fingern hatte spielen lassen, mit Nachdruck wieder auf den Tisch.

»Nun gut denn«, sagte sie, »da ich einmal begonnen habe mit meiner Beichte, so will ich alles gestehen. Hören Sie gut zu!

Einmal, ein einziges Mal in meinem Leben bin ich verliebt gewesen, verliebt, wie es noch niemand gewesen ist, von einer Liebe besessen, die leidenschaftlich, unzähmbar, rasend war – und doch ideal und platonisch, falls es so etwas gibt. Oh, Sie finden das wohl erstaunlich, zu erfahren, daß eine Marquise aus dem achtzehnten Jahrhundert in ihrem ganzen Leben nur eine Liebe gehabt haben soll, und ausgerechnet eine platonische Liebe! Das kommt daher, sehen Sie, mein Freund, weil Sie jungen Leute glauben, Sie kennen sich gut aus in den Frauen, und doch verstehen Sie nicht das geringste davon. Wenn viele meines Alters sich bereit fänden, Ihnen frei und offen ihr Leben zu erzählen, dann könnten Sie vielleicht in der weiblichen Seele die Quellen des Lasters und der Tugend entdecken, Dinge, von denen Ihnen noch nicht das mindeste auch nur schwanen mag.

Nun raten Sie mal, von welchem Range der Mann gewesen sein muß, für den ich, die Marquise – und die hochmütigste, stolzeste aller Marquisen –, so ganz und gar meinen Kopf verloren habe . . .«

»Hm, wahrscheinlich der König von Frankreich oder der Thronfolger Ludwig der Sechzehnte?«

»Oh, wenn Sie in der Reihenfolge weiterfragen, dann werden Sie drei Stunden brauchen, bis Sie meinen Geliebten herausfinden. Ich möchte es Ihnen lieber gleich verraten: Es war ein – Schauspieler!«

»Dann war er, in meinen Augen, doch immer – ein König!«

»Der glänzendste und edelste, der je die Bretter bestieg! Wie, Sie sind nicht überrascht?«

»Nicht allzusehr. Vom Hörensagen weiß ich, daß solche unstandesgemäße Liebesbündnisse nicht selten waren, selbst zu jenen Zeiten nicht, wo die Vorurteile in Frankreich noch größere Geltung hatten. Wie war es doch mit jener Freundin der Madame d'Epinay, die mit einem Jéliotte zusammenlebte?«

»Wie Sie sich in unserer Zeit auskennen! Das ist ja ganz entwaffnend. Eh, Sie müßten gerade deshalb, weil solcherlei Einzelheiten in den Memoiren berichtet und in erstaunlicher Weise herausgestellt sind, daraus schließen: Sie waren selten und standen in Widerspruch zu den Gepflogenheiten und Sitten jener Zeit. Seien Sie versichert, sie machten wirklich damals ihren großen Skandal! Und wenn Sie da erzählen hören von der schrecklichen Sittenverderbnis des Herzogs de Guiche und de Manicamp oder der Madame de Lionne und ihrer Tochter, dann können Sie überzeugt sein, daß diese Vorfälle zu ihrer Zeit so schockierend waren wie zu der Zeit, da Sie all das nun lesen. Glauben Sie denn wirklich, daß die, deren vor Entrüstung sich sträubende Feder diese Geschichten Ihnen übermittelt hat, die einzigen ›wohlgesitteten‹ Leute in Frankreich waren?«

Ich wagte nicht, der Marquise zu widersprechen. Ich weiß nicht, wer von uns beiden zuständiger gewesen wäre, diese Frage zu entscheiden. Ich brachte sie wieder auf ihre Geschichte, die sie folgendermaßen weiterführte:

»Um Ihnen einen Beweis zu geben, wie wenig nachsichtig so etwas zu meinen Zeiten behandelt wurde, will ich hier einflechten, daß, als ich ihn das erstemal sah und meine Bewunderung über ihn der Comtesse de Ferrières ausdrückte, sie mir zur Antwort gab: ›Meine Schönste, Sie täten besser, nicht so warmherzig Ihren Eindruck einer andern außer mir mitzuteilen. Man würde grausam über Sie herziehen, wenn man Sie in Verdacht bekäme, Sie vergäßen, daß in den Augen einer Dame von Rang und Stand ein – Komödiant nicht als Mann bezeichnet werden kann!‹

Diese Äußerung der Madame de Ferrières blieb mir im Sinn, ich weiß nicht, warum. In der Situation, in der ich mich befand, schien mir dieser Ton der Geringschätzung fehl am Platz. Und diese Befürchtung, ich könnte mich durch meine Bewunderung kompromittieren, dünkte mir wie heuchlerische Boshaftigkeit.

Lélio – so war sein Name – war Italiener von Geburt, aber das Französisch, das er sprach, war einfach wundervoll. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, obschon er auf der Bühne aussah, als müsse er kaum erst zwanzig sein. Er spielte den Corneille besser als den Racine; doch im einen wie im anderen war er ganz einmalig.«

»Es ist nur erstaunlich«, unterbrach ich die Marquise, »daß von seinem Namen keine Spur geblieben ist in den Annalen der großen dramatischen Talente!«

»Er hatte nie einen sonderlichen Ruf«, erwiderte sie, »man schätzte ihn weder in der Gesellschaft der Stadt noch bei Hofe. Bei seinem ersten Auftreten, habe ich erzählen hören, sei er wütend ausgepfiffen worden. Im weiteren Verlaufe erkannte man dann zwar die Seelenwärme seines Spieles an und billigte ihm zu, er mache in seinen Rollen Anstrengungen, sich zu vervollkommnen; man wurde duldsamer gegen ihn, mitunter nahm man seine Leistungen sogar beifällig auf; aber, aufs Ganze gesehen, behandelte man ihn nach wie vor wie einen Schauspieler von schlechtem Geschmack.

Er war ein Mann, der, was seine Kunst anlangt, durchaus nicht mehr seinem Jahrhundert zuzuzählen war, so wie ich, was meine Lebensgepflogenheiten betrifft, nicht meiner Zeit zugehörte. Vielleicht war darin gerade das ungreifbare, aber allmächtig wirkende Geistesband zu erblicken, das von den beiden äußersten Enden der sozialen Kette unsere Seelen, eine zur andern, zog. Das Publikum hat ebensowenig Lélio begriffen, wie die Welt mich richtig beurteilt hat.

›Dieser Mann ist überspannt‹, sagte man über ihn, ›er übernimmt sich, er empfindet nichts!‹

Und über mich sagte man überall: ›Diese Frau ist hochmütig und kalt; sie hat kein Herz!‹ –

Wer weiß, ob wir nicht die beiden am lebhaftesten, tiefsten empfindenden Menschen unserer Epoche waren?!

Zu jenen Zeiten spielte man die Tragödie mit allen Regeln des Anstands: Man mußte den guten Ton wahren, selbst wenn man eine Ohrfeige verabreichte; man mußte mit Haltung sterben und mit Grazie hinsinken. Die dramatische Kunst war auf den Schicklichkeitskodex der vornehmen Gesellschaft zugeschnitten: Die Deklamation und die Gesten der Schauspieler entsprachen den Reifröcken und dem Puder, mit denen man noch immer eine Phèdre, eine Clytemnestre aufputzte. Ich hatte die Unechtheiten dieser Schule noch nicht herausgefühlt oder gar durchschaut. Ich ging nicht weit in meinen Überlegungen: Ich fand sie nur sterbenslangweilig, die Tragödie; und da es von schlechter Lebensart gezeugt hätte, daraus kein Hehl zu machen, so begab ich mich todesmutig zweimal wöchentlich hin, mich zu langweilen; aber die kalte, gezwungene Miene, mit der ich diese pompösen Tiraden anhörte, ließ das Gerede über mich aufkommen, ich wäre dem Zauber schöner Verse gegenüber unempfindlich.

Es war nach einer ziemlich langen Abwesenheit aus Paris, als ich eines Abends wieder einmal die Comédie-Française aufsuchte, um mir den ›Cid‹ anzusehen. Während meines Aufenthaltes auf dem Lande hatte Lélio seine Zulassung zu diesem Theater erwirken können; ich sah ihn zum erstenmal. Er spielte den Rodrigue. Ich vernahm kaum den Ton seiner Stimme, da war ich schon bis ins Innerste erregt. Das war eine Stimme – mehr eindringlich als sonor, eine nervöse, emphatische Stimme. Seine Stimme, das war das eine, was man an ihm zu kritisieren hatte. Man forderte von dem Cid, er müsse eine tiefe, volle Tenorstimme haben, so, wie man verlangte, daß alle Heroen des Altertums groß und von mächtiger Statur sein sollten. Ein König, der nicht fünf Fuß sechs Zoll – oder wenn Sie wollen: mindestens einen Meter fünfundsiebzig – maß, konnte sich nicht mit dem Kronreif schmücken. Das war wider allen guten Geschmack.

Lélio war klein und überschlank. Seine Schönheit drückte sich nicht so sehr in den Zügen als in dem Adel der Stirn aus, in der unwiderstehlichen Anmut der Haltung, seiner Ungezwungenheit in Schritt und Gang, in der stolzen Melancholie seines Mienenspiels. Noch nie habe ich an einem Standbild, einem Porträt, geschweige an einem lebenden Menschen, eine solche Macht der Schönheit gesehen, die idealer, gedankentiefer und zugleich den Sinnen schmeichelnder gewesen wäre. Es war, als ob eigens für ihn der Ausdruck berückend geschaffen worden wäre, so fügte er sich zu jedem seiner Worte, jedem seiner Blicke, zu jeder seiner Bewegungen.

Was soll ich Ihnen sagen? Es war in der Tat ein Zauber, der über mich kam. Dieser Mann, der ging, sprach, agierte, ohne eingelernte Manier noch berechnendes Geltungsgefühl, der gleichermaßen aus Herz und Stimme schluchzte, der sich selbst vergaß, um eins mit der Leidenschaft zu werden, dieser Mann, den seine Seele ganz einzunehmen, zu zerbrechen schien und dessen Blick alle Liebe in sich schloß, die ich vergeblich in der Welt gesucht hatte – er übte auf mich eine wahrhaft magnetische Macht aus; dieser Mann, der nicht geboren war für eine Zeit, die ihm Ruhm und Sympathien hätte bringen sollen, der nur mich hatte, ihn zu verstehen und den Weg mit ihm zu gehen – fünf Jahre lang war er mein König, mein Gott, mein Leben, mein Geliebter!

Ich konnte nicht mehr leben, ohne ihn zu sehen: Er war mir Herr, war mir Gebieter. Er war für mich nicht ein Mann, oder doch in einem ganz anderen Sinne, als das für Madame de Ferrières gilt. Er war viel mehr: ein starker moralischer Halt, ein geistiger Führer, dessen Seele die meine nach seinem Willen formte. Bald wurde es mir unmöglich, die Eindrücke in mich zu verschließen, die ich von ihm empfing. Ich gab, um mich nicht zu verraten, meine Loge in der Comédie-Française auf. Ich spielte die Fromme und täuschte vor, daß ich abends in die Kirche ginge, mich dem Gebet hinzugeben. Statt dessen verkleidete ich mich als Grisette und mischte mich unter das Volk, um ihm nach Herzenslust zuzuhören und ihn mir zu beschauen. Ich machte mir einen Schließer des Theaters dienstwillig und verschaffte mir in einer Ecke des Zuschauerraumes einen schmalen, verborgenen Platz, wo mich kein Blick finden und zu dem ich durch einen geheimen Gang gelangen konnte. Um noch sicherer zu gehen, vermummte ich mich als Student. Diese Narreteien, die ich vollbrachte um eines Mannes willen, mit dem ich nie ein Wort noch einen Blick getauscht hatte, bargen für mich all den Reiz des Geheimnisvollen, all die Illusionen des Glückes. Wenn an der großen Pendeluhr in meinem Salon die Stunde schlug, die zum Schauspielhaus rief, überkam mich das heftigste Beben und Herzklopfen. Ich versuchte mich zu sammeln, während man meinen Wagen zur Fahrt fertigmachte. Ich lief geschäftig auf und ab, und wenn Larrieux um mich war, ließ ich meinen Unmut an ihm aus, damit er mir aus dem Hause ginge. Ebenso hielt ich mir mit unendlichem Geschick die anderen Zudringlichen fern. Dieser Erfindungsgeist, den mir meine Leidenschaft für das Theater eingab, ist kaum glaublich. Ich muß wohl viel Verstellungskunst und viel Raffinesse ins Spiel gebracht haben, um all das fünf Jahre hindurch vor Larrieux zu verheimlichen, der der eifersüchtigste aller Männer war, wie auch vor allen Übelgesinnten, die um mich waren.

Ich muß Ihnen sagen: Statt diese Leidenschaft zu bekämpfen, gab ich mich ihr mit Gier, ja mit Wollust hin. Sie war so rein! Warum also hätte ich darüber erröten sollen? Sie schuf mir ein neues Leben; sie öffnete mir zu guter Letzt den Weg in all das hinein, was ich so sehnlich gewünscht hatte, kennen und fühlen zu lernen: Bis zu einem gewissen Grade machte sie mich wahrhaft zur Frau!

Ich war glücklich und stolz, zu fühlen, wie es mich durchbebte, mir den Atem benahm, daß ich zu vergehen meinte. Das erstemal, als eine solch heftige Bewegung mein kraftloses Herz wie erweckend durchzuckte, da empfand ich eine so überschwengliche, hochgemute Freude, wie sie eine junge Mutter verspürt bei der ersten Bewegung, die das Kind unter ihrem Herzen macht. Ich wurde launisch, lachte bald, schmollte bald, kam ganz aus dem Gleichgewicht. Der gute Larrieux glaubte, je länger er dem zusah, daß die religiöse Schwärmerei bei mir solche sonderbaren Kapricen zeitigte. In den Salons fand man, daß ich von Tag zu Tag immer schöner wurde, daß mein dunkler Blick einen samtweichen Ton annahm, mein Lächeln gedankenvoller, daß meine Bemerkungen über alle Dinge treffender wurden und mehr sagten, als man mir je zugetraut hätte. Man maß alles Verdienst daran Larrieux zu, der nichtsdestoweniger daran recht unschuldig war.

Jetzt gerate ich ein bißchen sehr durcheinander in meinen Erinnerungen, weil nun eine Epoche in meinem Leben kommt, wo die Gefühle nur so auf mich einstürmen. Wenn ich all das Ihnen so erzähle, dann wird mir, als sei ich wieder so jung wie damals, und mein Herz klopft wie einst beim Namen Lélio. Ich sagte ja: Jedesmal wenn ich die Pendeluhr die Stunde schlagen hörte, erzitterte ich vor Freude und Ungeduld. Noch heute ist es mir, als empfinde ich deutlich wieder die wonnige Benommenheit, die sich meiner beim silbernen Glockenklang ihres Schlagwerkes bemächtigte. Seit jenen Zeiten haben mich die Wandelbarkeiten des Geschickes dahin gebracht, mich sehr glücklich zu fühlen in meiner kleinen Wohnung im Marais. Ja, ja, gut so, ich sehne mich wirklich nicht mit Wehmut zurück nach meiner vornehmen Stadtwohnung, dem eleganten Wohnviertel und all dem vergangenen Glanz – einzig nach den Dingen, die mir die Erinnerung an diese Zeiten der Liebe und der Träume wachgehalten hätten. Aus dem Desaster habe ich mir einige Möbelstücke gerettet, die aus jener Epoche datieren und die ich mit der gleichen Erregung betrachte, als wenn jeden Augenblick die Uhr wieder anhübe zu schlagen und die Hufe meiner Pferde noch auf dem Pflaster stampften. Oh, mein junger Freund, lieben Sie nie so – denn das ist ein Gewittersturm, der erst mit dem Tode Frieden findet!

Damals rollte ich dahin in meinem Gefährt, lebendig und leicht und jung und glücklich! Ich fing an, alles das so recht erst wertzuschätzen und zu genießen, was mein Leben ausmachte: Luxus, Jugend, Schönheit! Das Glück gab sich mir ganz: durch alle Sinne, durch alle Poren. Weich in den Fond meiner Equipage gelehnt, die Füße von der Pelzdecke warm umhüllt, sah ich mein strahlendes, wohlgeschmücktes Gesicht sich in der goldgerahmten Kristallscheibe mir gegenüber spiegeln. Das Kostüm der Frau, über das man sich seither so spöttisch ausgelassen hat, war zu meiner Zeit von einem Reichtum und einem unvergleichlichen Glanz: Mit Geschmack getragen und von Übertreibungen rein gehalten, wie es war, verlieh es der Schönheit einen Adel und eine starke und zugleich liebliche Anmut, von der die Bildwerke von damals Ihnen kaum eine hinreichende Vorstellung zu geben vermöchten. Mit all diesem Zierat von Federn, rauschenden Stoffen und Blumen war eine Frau gezwungen, in ihre Bewegungen eine gewisse Gemessenheit hineinzulegen. Ich habe sehr Blendende unter ihnen gesehen, die, in ihrem weißen Puderglanz und in ihrer ebenso lichten Gewandung, mit ihrer langen schillernden Schleppe aus Moiréseide feierlich dahinglitten und mit Geschmeidigkeit die Federn auf ihrer Stirn hin und her wiegen ließen: Sie konnten ohne Übertreibung mit Schwänen verglichen werden. In der Tat – und was auch Rousseau darüber immer gesagt haben mag –, wir glichen eher Vögeln als Wespen mit unseren weitgebauschten Satinfalbeln, diesem verschwenderischen Übermaß an Musselin der Reifröcke, die einen kleinen, ganz zierlichen Leib unter sich verbargen wie das Daunenfederkleid den der Turteltaube, mit unseren langen Spitzenflügelchen, die vom Arm herabfielen, all diesen lebhaften Farben, die unsere Röcke, unsere Bänderschleifen und unseren Juwelenschmuck noch einmal so bunt leuchten ließen. Und wenn wir auf unseren kleinen Füßchen in den hübschen Hackenpantöffelchen so dahinschwebten, dann sah es wirklich aus, als fürchteten wir, den Boden zu berühren, und als liefen wir mit der hochmütigen Vorsicht einer Bachstelze am Rand eines Wässerchens hin.

In den Zeiten, von denen ich Ihnen erzähle, fing man an, lichten Puder aufzulegen, der dem Haar einen sanften, aschfarbenen Schimmer gab. Diese Manier, die natürliche Härte des Haartons zu mildern, verlieh dem Gesicht viel Süße und den Augen einen außerordentlichen Glanz. Die Stirn, die man entblößt trug, ging über in die blassen Farbtöne dieser modischen Haartracht. Dadurch erschien sie breiter, blanker, und die Schönen bekamen ein edles Aussehen. Den hohen Kreppfrisuren, die, meiner Empfindung nach, nie anmutig wirkten, waren die Flachfrisuren gefolgt, die großen, nach rückwärts geworfenen Locken, die auf Nacken und Schultern herabfielen. Diese Haartracht stand mir sehr gut, und ich war bekannt wegen der einfallsreichen Art, mich festlich zu schmücken. Bald ging ich aus in einer nakaratroten Samtrobe, mit Haubentaucherfedern garniert, bald in einer weißseidenen Tunika, die mit Tigerfell bordiert war, dann wieder in einem Komplet aus lila, mit Silberlahn durchzogenem Damast und mit weißen, perlenverzierten Federn. In solchem Kostüm pflegte ich einige Besuche zu machen, um die Zeit bis zum Beginn des zweiten Stückes auszufüllen: denn Lélio spielte nie im ersten Stück.

Ich erregte Aufsehen in den Salons, und wenn ich wieder in meine Equipage stieg, dann beschaute ich mir mit Selbstzufriedenheit die Frau, die ihren Lélio liebte und die sich darum lieben lassen konnte. Bis dahin bestand das einzige Vergnügen, das ich an meiner Schönheit hätte finden können, in der Eifersucht, die ich einflößte. Die Sorgfalt, die ich an den Tag legte, mich schönzumachen, war eine sehr wohltuende Rache den Frauen gegenüber, die so abscheuliche Komplotte wider mich angezettelt hatten. Aber von dem Augenblick an, da ich liebte, begann ich, ganz für mich selbst, mich meiner Schönheit zu freuen. Nur sie hatte ich Lélio zu bieten als Entschädigung für alle ihm in Paris vorenthaltenen Triumphe, und ich hatte ein inniges Vergnügen daran, mir den Stolz und die Genugtuung des sonst so spöttisch behandelten, verkannten, zurückgewiesenen Bühnenhelden vorzustellen, an dem Tag, wo er erfahren würde, daß ihm die Marquise de R . . . selbst ihre Verehrung entgegengebracht hätte.

Was das übrige anbetrifft, so waren das nichts als heitere, lächelnde, flüchtige Träume: Ausgeburten, selbstsichere kleine Kühnheiten, die ich mir aus meiner Haltung heraus erlaubte. Sobald meine Gedanken Gestalt annahmen und ich gewahr wurde, daß mein Traumbild Wirklichkeit werden wollte, erstickte ich meine Liebesgefühle mutig, und der ganze Standesstolz gewann wieder seine Rechte über meine Seele. Sie schauen mich mit erstaunter Miene an? Ich will Ihnen alles gleich, zu seiner Zeit, erklären. Lassen Sie mich erst die zauberische Welt meiner Erinnerungen bis zu Ende durcheilen!

Gegen acht Uhr ließ ich mich zu der kleinen Kirche der Karmeliterinnen, nahe am Luxembourg, hinunterfahren; dann schickte ich meinen Wagen zurück. Man sollte des Glaubens sein, ich wolle den religiösen Andachtsübungen beiwohnen, die um jene Stunde dort abgehalten wurden. Aber ich durchquerte nur Kirche und Innengarten; so gelangte ich auf einer anderen Straße wieder hinaus. Ich suchte, in ihrem Mansardenstübchen, eine junge Arbeiterin – Florence hieß sie – auf, die mir sehr ergeben war. Bei ihr schloß ich mich ein, legte übermütig auf ihrer armseligen Bettstatt all meinen Schmuck ab, zog mir das schwarze, ungefüge Habit über die Schultern, gürtete mir den Degen in der Chagrinlederscheide um die Hüften und stülpte mir die gradegescheitelte Perücke eines jungen Studienaufsehers, der die Priesterwürde erstrebt, auf mein Haar. Groß, wie ich war, braunäugig und von sanftem Blick, hatte ich ganz das linkische, scheinheilige Aussehen eines jungen geistlichen Seminaristen, der sich vermummt hat, um sich verstohlen ins Komödienhaus zu schleichen. Florence, die mich wahrhaftig eines Stelldicheins in der Umgebung verdächtigte, lachte mit mir über meine Verwandlungskünste, und ich gestehe, um mich an dem Liebesvergnügen zu berauschen wie all die jungen tollen Dinger, die zu ihren heimlichen Soupers in die Lusthäuschen entschlüpften, hätte ich nicht weniger übermütig an meine Maskerade gehen können.

Ich kletterte in einen Fiaker und ließ mich zu meiner kleinen Theaterloge hinbringen; dort drinnen hockte ich mich rasch nieder. Ah, da waren sie mit einem Male wie verflogen, meine zuckenden Herzenserregungen, meine Ängste, meine freudigen Erwartungen, alle meine Unruhe. Ein tiefes Gesammeltsein bemächtigte sich meiner Sinne, und ich blieb bis zum Hochgehen des Vorhangs wie vollkommen abgezogen von all dem übrigen, im Harren auf ein großes feierliches Erlebnis.

Wie der Geier ein Rebhuhn faßt in seinem magnetischen Anflug, wie er es, das kaum noch atmende, reglose, festhält in dem magischen Kreis, den er über ihm zieht, so hielt Lélio mit seiner großen Dichter- und Tragödenseele alle meine Sinne in seinem Bann und drückte mich in die Erstarrung tiefsten Bewunderns nieder. Ich lauschte, die Hände auf den Knien zusammengepreßt, das Kinn gestützt auf die samtene Brüstung der Loge, die Stirn von Schweiß überperlt. Ich hielt meinen Atem an, verwünschte die peinigende Grelle der Lichter, die meine trockenen, brennenden Augen ermattete, die an jeder seiner Bewegungen, an jedem seiner Schritte hingen. Ich wollte die geringste Regung seiner Brust, jedes Fältchen seiner Stirn für mich wahrnehmen. Seine gespielten Erregungen, seine täuschend echten Leidensausbrüche auf der Bühne durchdrangen mich wie erlebte Wirklichkeiten. Ich wußte bald nicht mehr den Schein von der Wahrheit zu unterscheiden. Lélio war plötzlich nicht mehr da für mich: Das war Rodrigue, das war Bajazet, das war Hippolyte. Ich haßte seine Feinde, ich zitterte um ihn in seinen Gefahren, seine Qualen ließen mir die Tränen aus den Augen fließen, sein Tod wollte mir Schreie entpressen, die ich mit aller Gewalt, in mein Taschentuch beißend, erstickte. In den Zwischenpausen sank ich erschöpft in die Polster meiner Loge zurück; wie tot blieb ich im Sessel liegen, bis das schrille Klingelzeichen von neuem das Aufgehen des Vorhangs ankündigte. Da kam ich wieder zu mir, glühend und toll, um zu bewundern, mitzufühlen, zu weinen. Welche Frische, welche Kraft der dichterischen Verwandlung, welcher Zauber der Jugend strömte mir von dem Talent dieses Mannes entgegen! Diese ganze Generation da mußte aus Eis sein, ihm nicht zu Füßen zu sinken!

Und dennoch: Obschon er alle hergebrachten Vorstellungen und Gedanken schockierte, obschon es ihm unmöglich war, dem Geschmack dieses albernen Publikums zu willfahren, er die Frauen in helle Entrüstung versetzte durch die Nachlässigkeit in seiner Haltung, die Männer herausforderte durch seine offene Verachtung ihrer lächerlichen Anmaßlichkeiten, hatte er Augenblicke einer erhabenen Bannkraft, einer unwiderstehlichen Faszination, in denen er das ganze störrische, undankbare Publikum in seinen Blick nahm, mit seinem Wort packte wie mit seiner hohlen Hand und es zwang, ihm fröstelnd und bebend Beifall zu klatschen. Das geschah zwar selten, weil der Geist einer Zeit sich nicht so plötzlich ändert; aber wenn es geschah, dann waren die Beifallsbekundungen frenetisch: Dann schien es jedesmal, als wollten die Pariser, von seinem Genie überwältigt, all ihre Ungerechtigkeit gegen ihn wiedergutmachen. Ich, ich glaubte weit mehr, daß dieser Mann in gewissen Augenblicken eine übernatürliche Kraft hatte und daß seine schärfsten Verächter sich wider ihren Willen mitgerissen fühlten in seinen Triumph. In der Tat: In solchen Momenten schien der ganze große Zuschauerraum der Comédie-Française in einen Taumel des Deliriums zu geraten, so gepackt war jeder, und beim Hinausgehen sah man einander an, erstaunt darüber, wie man Lélio hatte applaudieren können. Was mich betrifft, so gab ich mich jedesmal von neuem meiner innersten Erregung hin: Ich schrie, weinte, rief in leidenschaftlichem Gefühlsausbruch seinen Namen, rief ihn wie rasend heraus; meine schwache Stimme verlor sich zu meinem Glück in dem Beifallssturm, der um mich lostoste.

Andere Male pfiff man ihn aus in Situationen, in denen er mir über alles Lob erhaben und einzigartig vorkam, und ich verließ das Theater voller Zornbeben. Solche Tage waren die gefährlichsten für mich. Ich war heftig versucht, zu ihm hinzulaufen, zu ihm zu finden, mit ihm zu weinen, das ganze Jahrhundert zu verfluchen und ihn zu trösten, ihm meinen flammenden Enthusiasmus, meine Liebe darzubringen.

Eines Abends, als ich gerade im Hinausschlüpfen war durch den verborgenen Gang, der mir offenstand, sah ich vor mir rasch einen kleinen, hagern Mann enteilen; er strebte der Straße zu. Ein Bühnenarbeiter lüftete seine Kappe und grüßte ihn:

›Guten Abend, Monsieur Lélio.‹

Im Nu stürze ich ihm nach; es trieb mich, ihn, diesen außerordentlichen Mann, von nahem zu sehen; ich überquere die Straßen, und betrete dicht hinter ihm, ohne mich um die Gefahr zu kümmern, der ich mich damit aussetzte, ein Caféhaus. Glücklicherweise war es ein Winkelcafé, wo ich niemanden aus meinem Bekanntenkreis anzutreffen hatte.

Als ich beim Lichtschein des blakenden Lüsters meine Augen auf Lélio heftete, glaubte ich, mich getäuscht zu haben und einem andern, den ich für ihn hielt, gefolgt zu sein. Er wirkte wie ein Fünfunddreißigjähriger, wenn nicht noch älter: gelb, welk, abgelebt, schlecht gekleidet, von gewöhnlichem Aussehen. Er sprach mit rauher, brüchiger Stimme, gab jedem der verkommenen Gäste die Hand, goß sich Schnaps durch die Kehle und fluchte entsetzlich. Ich mußte erst mehrere Male hinhören, mit welchem Namen man ihn anredete, ehe ich mir sicher war, daß dies wirklich der göttliche Held des Theaters, der Verkörperer der Gestalten des großen Corneille war. Ich fand nichts mehr an ihm von den Zaubern wieder, die mich fasziniert hatten, nicht einmal jenen Blick, der so edel, so glühend, so trauererfüllt sein konnte. Sein Auge war düster, erloschen, fast stumpf; seine sonst so bedeutsam klangreiche Sprache wirkte blechern, als er sich nun an den Kellner des Cafés wandte und ein Gespräch begann über Jeu, Wirtshausgeschichten, Weiber. Sein Gang war lasch, seine Haltung salopp, seine Backen noch halb verschminkt. Das war kein Hippolyte mehr, das war nur noch Lélio. Das Heiligtum war armselig verödet, der weissagende Mund verstummt, der Gott war wieder ganz Mensch geworden, und nicht einmal mehr Mensch – nichts als Komödiant.

So verschwand er wieder. Wie betäubt blieb ich lange an meinem Platz sitzen. Ich dachte gar nicht mehr daran, den heißen Würzwein hinunterzutrinken, den ich mir hatte bringen lassen, um mir ein männlicheres Aussehen zu geben. Als mir bewußt wurde, wo ich war, und ich fühlte, wie sich alle Blicke auf mich richteten, packte mich die heftigste Beklemmung: Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich mich in eine so zweideutige Situation hineinbegeben hatte und mich so unvermittelt zusammen sah mit Menschen dieser Klasse – seitdem freilich hat mich die Emigration recht abgehärtet gegenüber all solchen Inkonvenienzen.

Ich sprang auf und suchte wieder hinauszukommen, aber ich vergaß zu zahlen. Der Kellner lief hinter mir her. Ich wurde fürchterlich rot vor Scham. Ich mußte zurück, mein Versehen am Schanktisch klarlegen und dabei allen Blicken, die argwöhnisch oder spöttisch wieder auf mich gerichtet waren, von neuem begegnen. Als ich alles endlich hinter mich gebracht hatte und draußen war, war mir, als folge mir jemand nach. Ich spähte vergebens nach einem Fiaker aus, in den ich mich hineinretten konnte, es stand keiner mehr vor der Comédie. Schwere Schritte ließen sich hinter mir vernehmen. Zitternd wandte ich mich um: Ich mußte einen großen Kerl mit langen Armen erblicken, den ich schon in einer Ecke im Café bemerkt hatte; er sah aus wie ein Polizeispitzel oder etwas noch Schlimmeres. Er redete mich an; ich weiß nicht, was er zu mir sagte, der Schrecken benahm mir den Verstand; doch hatte ich noch so viel Geistesgegenwart, ihn mir vom Leib zu halten. Vom plötzlichen Mut, den die Furcht einem eingibt, fühlte ich mich zur Heldin verwandelt: Jählings holte ich aus und stieß ihm meinen Stock ins Gesicht; dann schleuderte ich ebenso blitzschnell meinen Stock von mir weg, um besser fortlaufen zu können; und indes der Mensch noch wie ganz betäubt von meiner kühnen Abwehr blieb, flog ich davon, leicht wie ein Pfeil, und hielt im Lauf nicht eher ein, als bis ich wieder bei Florence angelangt war. Als ich am andern Tag, gegen Mittag, in meinem dichtverhängten, weichen Himmelbett mit den Kapitellen aus rosa Federn aufwachte, meinte ich einen Traum durchlebt zu haben, und die tiefste Niedergeschlagenheit überkam mich über meine Enttäuschung und mein Abenteuer vom Vorabend. Ich glaubte, ich sei dadurch ernstlich von meiner Liebe geheilt, und ich war versucht, mich deswegen glücklich zu preisen – aber vergeblich! Eine fast todbringende Reue ergriff mich; der Überdruß legte sich wieder über mein Leben; alles war für mich entzaubert. An jenem Tage setzte ich Larrieux vor die Tür!

Der Abend nahte und brachte mir nicht mehr das herrlich wohlige Gefühl der Erregung, das die früheren Abende immer für mich hatten. Die Welt erschien mir fade. Ich lief zur Kirche, ich wohnte den Andachtsübungen bei, ich war entschlossen, fromm zu werden; ich zog mir dabei eine Erkältung zu: Krank kam ich heraus.

Mehrere Tage mußte ich das Bett hüten. Die Comtesse de Ferrières besuchte mich, redete in mich ein und versicherte mir, ich hätte nicht das geringste Fieber, nur das Bettliegen mache mich krank, ich müsse mich ablenken lassen, ausfahren, in die Comédie gehen. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, sie hatte Absichten auf Larrieux, sie wollte meinen Tod.

Es kam anders. Sie zwang mich, mit ihr zusammen in die Aufführung des ›Cinna‹ zu gehen.

›Sie erscheinen gar nicht mehr im Theater‹, sagte sie zu mir. ›Die Frömmelei und die Lebensabkehr unterhöhlen Sie. Seit undenklicher Zeit haben Sie Lélio nicht mehr gesehen. Er macht Fortschritte. Man applaudiert ihm jetzt schon öfters. Ich habe den Eindruck, er wird erträglich!‹

Ich weiß nicht, wie ich mich habe mitziehen lassen. Im übrigen – ernüchtert, wie ich von Lélio war – brauchte ich nicht mehr zu befürchten, mich zu verlieren, wenn ich in aller Öffentlichkeit seiner Verführungskunst standhielt. Ich schmückte mich mit besonderer Sorgfalt und ließ mich in der großen Proszeniumsloge sehen, der Gefahr zu trotzen, an die ich nicht mehr glaubte.

Aber – die Gefahr stand für mich nie näher! Lélio war überwältigend, und ich spürte, daß ich noch nie so sehr für ihn eingenommen war. Das Abenteuer, das ich erlebte, kam mir jetzt nur wie ein Traum vor; es konnte nicht sein, daß Lélio ein anderer sein sollte, als er mir auf der Szene erschien. Wider meinen Willen fiel ich wieder zurück in alle die Gefühlserregungen, die er verstand, auf mich übergehen zu lassen. Ich war gezwungen, mein Gesicht, über das die Tränen rannen, mit meinem Taschentuch zu schirmen; in meiner Zerfahrenheit rieb ich mein Rouge aus, wischte meine Schönheitsfleckchen mit fort; die Comtesse de Ferrières flüsterte auf mich ein, ich solle mich ins Innere meiner Loge zurückziehen, da meine Bewegtheit bereits Aufsehen im Zuschauerraum verursache. Glücklicherweise konnte ich sie noch geschickt glauben machen, daß all meine Rührung durch das Spiel der Mademoiselle Hippolyte Clairon hervorgerufen sei. Das war, meiner innersten Überzeugung nach, eine zu kühle, im Gefühl zu gemessene Tragödin, die, durch Bildung und Art ihres Charakters, vielleicht zu hoch angelegt war für das Theaterfach, wie man es damals auffaßte. Aber die ihr eigene Manier, wie sie die Worte ›Gar schön!‹ im ›Cinna‹ sprach, hatte ihr einen Ruf höchsten Ranges eingebracht.

Es ist wahr, wenn man sagt: Jedesmal wenn sie mit Lélio spielte, wuchs sie über sich selbst hinaus. Obwohl auch sie, wie es zum guten Ton gehörte, ihre Mißachtung gegen seine Spielweise bekundete, erfuhr sie unwillkürlich doch den Einfluß seines Genies und inspirierte sich an ihm, wenn die Leidenschaft sie beide auf der Bühne zueinander in Beziehung stellte.

An jenem Abend fiel ich Lélio auf, sei es wegen meines Schmuckes, sei es wegen meiner Erregung; denn ich sah, wie er, in einem Augenblick, wo er sich nicht im Spiel befand, sich einem der vornehmen Zuschauer zubeugte, die zu jener Zeit noch auf der Bühne ihren Theatersessel hatten, und ihn nach meinem Namen fragte. Ich merkte das an der Art und Weise, wie sie mit ihren Blicken auf mich deuteten. Ich hatte ein Herzklopfen, das mir den Atem benahm, und ich wurde gewahr, wie sich im Verlauf des Stückes die Augen Lélios mehrere Male zu meiner Seite herwandten. Was hätte ich nicht daran gesetzt, zu wissen, was ihm der Chevalier de Brétillac über mich zugeflüstert hatte, eben der, den er da ausgefragt und der ihm, den Blick auf mich gerichtet, mit kurzen Zwischenpausen immer wieder Auskunft gegeben hatte! Das Gesicht Lélios, das zwanghaft unbeweglich blieb, um den Adel und die Würde seiner Rolle zu wahren, hatte nichts ausgedrückt, was mich die Art der Auskünfte hätte erraten lassen, die man da über mich erteilte. Ich kannte übrigens diesen Brétillac herzlich wenig; ich konnte mir kein Bild davon machen, was er Gutes oder Böses über mich hätte sagen können.

Seit jenem Abend erst wurde mir klar, welche Art Liebe mich an Lélio fesselte: Eine ganz vergeistigte, ganz romantische Leidenschaft war das. Nicht er war es, dem ich meine Liebe entgegenbrachte, sondern den Helden des Altertums galt sie, die er verkörperte: Diese Gestalten – in ihrer längst entschwundenen Freiheitsliebe, Edelmütigkeit und ihrem Zartsinn – lebten für mich wieder auf, und ich fand mich mit ihm und durch ihn in eine Epoche menschlicher Größe zurückgeführt, deren Tugenden seither vergessen waren. Ich hatte den Stolz, zu träumen, daß ich zu jenen Zeiten nicht mißkannt und verleumdet worden wäre, daß sich damals hätte ein Herz wie das meine ganz hingeben können und sich nicht hätte begnügen müssen, ein Phantom, einen Schauspieler zu lieben. Lélio war für mich nichts als das Schattenbild eines Cid, des Verkörperers der Liebe und der Ritterlichkeit aus alten Tagen, über die man heute in Frankreich kaum mehr als ein Lächeln hat. Ihn, den Mann, den Mimen, fürchtete ich nicht mehr: Ich hatte ihn in seiner ganzen Menschlichkeit gesehen; ich konnte ihn nur noch vor aller Welt, im Theater, lieben. Mein Lélio, das war ein unwirkliches, von mir selbst geschaffenes Wesen, das ich nicht mehr fassen konnte, sobald die Lüster des Komödienhauses verloschen. Es brauchte der Illusion der Szene, des Abglanzes der Rampenlichter, der Schminke und der Kostümierung, damit er zu dem wurde, den ich liebte. Mit dem Augenblick, wo er all das wieder abstreifte, trat er für mich in das Nichts zurück; wie ein Stern verblich er vor der Helle des Tages. Außerhalb der Bühnenbretter ihn zu sehen, dazu überkam mich nicht die geringste Lust mehr, ja, das hätte mich zur Verzweiflung gebracht! Es wäre für mich gewesen, wie wenn ich das Aschehäufchen in einer Urne hätte betrachten müssen, das von einem großen Mann übriggeblieben war.

Meine häufige Abwesenheit in den Stunden, in denen ich sonst Larrieux bei mir zu empfangen pflegte, und vor allem meine Verwahrung ihm gegenüber, mit der ich ihm deutlich machte, daß wir von nun an miteinander auf keinem andern Fuß als auf dem der Freundschaft verkehrten, gaben ihm Anlaß zu einem Anfall von Eifersucht, zu der er mehr Grund hatte als je zuvor. Eines Abends, als ich zu den Karmeliterinnen unterwegs war in der Absicht, mich durch den andern Ausgang gleich wieder hinauszustehlen, bemerkte ich, daß er mir folgte, und mir war klar, daß es weiterhin wohl unmöglich für mich sein würde, ihm meine nächtlichen Ausflüge zu verbergen. Ich entschloß mich, in aller Offenheit zum Theater zu fahren. Ich erwarb so nach und nach die notwendige Verstellungskunst, meine innersten Empfindungen zu verschließen, und ich ging insbesondere dazu über, für Mademoiselle Hippolyte Clairon eine Bewunderung zu bekunden, die über meine wahren Gefühle hinwegtäuschen konnte. Doch ich spürte, ich war seitdem zugleich weniger frei: Bei dem Zwang, mich fortwährend aufmerksam in acht zu nehmen, war mein reines Vergnügen weniger lebhaft und weniger tief. Aber aus dieser Situation erwuchs eine andere, die mir rasch einen Ausgleich schaffte. Lélio sah mich; er beobachtete mich; meine Schönheit hatte ihn getroffen, meine Empfänglichkeit schmeichelte ihm. Seine Blicke hatten Mühe, sich von mir zu lösen. Mitunter geriet er in eine Zerstreutheit, die das Publikum verstimmte. Bald war kein Zweifel mehr möglich: Er liebte mich; es sah aus, als wolle er darüber fast den Kopf verlieren.

Da mir schien, als hätte meine Loge der Prinzessin de Vaudemont in die Augen gestochen, trat ich sie ihr ab, um mir eine kleinere, besser gelegene zu wählen. Ich saß ganz dicht über der Rampe, ich verlor keinen Blick von Lélio, und seine Augen konnten mich suchen, ohne mich zu kompromittieren. Übrigens bedurfte ich dieser Brücke nicht mehr, um all seiner Sinneserregungen und Empfindungen innezuwerden: Aus dem Ton seiner Stimme, aus den Seufzern seiner Brust, aus dem Nachdruck, mit dem er bestimmte Passagen, bestimmte Worte sprach, hörte ich heraus, daß er sich an mich wandte. Ich war die stolzeste, die glücklichste der Frauen; denn in jenen Stunden war es nicht mehr der Komödiant – es war der Held, den ich liebte.

Ja, so war es: Nach zwei Jahren einer Liebe, die ich heimlich und einsam im Grund meiner Seele genährt hatte, strichen noch drei Winter über diese Liebe hin, die wir füreinander hegten, ohne daß mein Blick Lélio das Recht gab, anderes daraus zu erhoffen als solch innige, dunkle Beziehungen von Seele zu Seele. Ich habe seither gewußt, daß Lélio mir oft in den Promenaden folgte; ich geruhte nicht, ihn zu bemerken noch in der Menge einer besonderen Beachtung zu würdigen, so wenig Neigung und Wunsch hatte ich, ihn außerhalb des Theaters mit meiner Gunst auszuzeichnen. Diese fünf Jahre aber sind die einzigen, die ich von achtzig wirklich gelebt habe.

Eines Tages plötzlich las ich im ›Mercure de France‹ den Namen eines neuen Darstellers, der an die Comédie-Française verpflichtet war und den Platz von Lélio einnahm, der ein Engagement ins Ausland eingegangen war. Diese Nachricht traf mich wie ein vernichtender Schlag; ich konnte es nicht fassen, wie ich weiterleben solle ohne diese Aufgewühltheit, ohne diesen Sturm der Leidenschaft. Das trieb meine Liebe zugleich in einer so ungeheuren Weise an, daß ich mich fast verlor . . .

Seitdem kämpfte ich nicht mehr mit mir, um jeden Gedanken zu ersticken, der sich gegen die Würde meines Ranges regen wollte. Ich erhob mich nicht mehr selbstherrlich darüber, was Lélio wirklich als Mensch war. Ich litt, ich murrte im geheimen darüber, daß er nicht der war, der er auf der Bühne schien, und ich ging so weit, daß ich ihn mir so schön und so jung wünschte, wie ihn die Kunst Abend für Abend machte, um ihm allen Stolz meiner Vorurteile, allen Widerstand meines Wesens hinzuopfern. Nun, da ich so weit war, mich aller moralischen Bedenken zu begeben, die so lange meine Seele erfüllt hatten, packte mich das Gelüst, alle meine Träume in die Tat umzusetzen, ein wirkliches Leben zu versuchen, das auf das Jetzt, den Augenblick einzig gestellt war – und sollte ich deswegen in alle Zukunft das Leben und Lélio und mich selbst verabscheuen müssen.

Mitten in all diesen Unentschlossenheiten erhielt ich einen Brief von unbekannter Handschrift: Das ist der einzige Liebesbrief, den ich wohl bewahrt habe zwischen all den tausend Einspruchserhebungen von der Hand Larrieux' und den aber tausend parfümierten Erklärungen von hundert anderen. Und darum, weil er in der Tat der einzige Liebesbrief ist, den ich empfangen habe . . .«

Die Marquise hielt inne, erhob sich, ging mit sicherer Hand ans Öffnen eines mit Einlegearbeit verzierten Kästchens und zog daraus einen recht zerknitterten, abgegriffenen Brief hervor, dessen Inhalt ich nur mit Mühe entziffern konnte; er lautete:

»Madame,

ich bin innerlichst überzeugt, daß dieser Brief Ihnen nichts als Mißbilligung einflößen wird; Sie werden ihn nicht einmal Ihrer Entrüstung wert finden. Aber was macht es einem Mann, der in einen Abgrund stürzt, aus, ob ein Stein mehr oder weniger in der Tiefe auf ihn fällt? Sie werden mich als einen Verrückten ansehen, und Sie täuschen sich darin nicht. Nun schön, Sie mögen mich vielleicht insgeheim für beklagenswürdig halten, denn zweifeln können Sie an meiner Ehrlichkeit nicht. Wie ergeben in das Schicksal Sie die Frömmigkeit auch immer gemacht haben möge – verstehen werden Sie vielleicht das Ausmaß meiner Verzweiflung; und wissen sollen Sie jetzt schon, Madame, was Ihre Augen an Gutem und Bösem anzurichten vermögen!

Nun gut, sage ich, wenn ich von Ihnen nur einen einzigen Gedanken des Mitleids erlangen kann, wenn ich heut' abend, zur Stunde, die ich mir so brennend herbeiwünsche, in der ich allabendlich wieder wahrhaft aufzuleben beginne, auf Ihren Zügen auch nur das leichteste Zeichen von Mitgefühl gewahren darf, dann werde ich weniger unglücklich von hier weggehen; ich will aus Frankreich eine Erinnerung mit mir nehmen, die mir vielleicht die Kraft geben wird, anderswo zu leben und meine verdienstlose und mühevolle Laufbahn weiterführen und vollenden zu können.

Aber Sie sollen jetzt schon wissen, Madame: Es ist unmöglich, daß mein Taumel, mein Entzücken, meine Zornes- und Verzweiflungsschreie mich nicht schon zwanzigmal auf der Bühne verraten hätten. Sie haben nicht alle diese Feuer in mir entfachen können, ohne wenigstens einen Schimmer des Bewußtseins davon gehabt zu haben, was Sie da taten. Ah, Sie haben vielleicht nur gespielt wie die Tigerin mit ihrer Beute, Sie haben sich vielleicht nur ein Vergnügen aus meinen Qualen und Narrheiten gemacht.

O nein, das ist zuviel Vermessenheit! Nein, Madame, ich kann es nicht für möglich halten: Sie haben nie daran gedacht. Sie sind empfänglich für die Verse des großen Corneille, Sie fühlen sich eins mit den edlen Leidenschaften der Tragödie: Das ist alles! Und ich Unsinniger, ich wagte mir einzureden, daß es einzig meine Stimme war, die bisweilen Ihre Sympathien erweckte, daß mein Herz ein Echo fand in dem Ihren, daß es zwischen Ihnen und mir ein Etwas gab, größer, mächtiger als das, was zwischen mir und dem Publikum schwang. Oh, das war wohl ein herrlicher, nur zu süßer Wahn!

Lassen Sie ihn mir, Madame, was macht das Ihnen aus! Fürchteten Sie, ich ginge hin und rühmte mich dessen? Mit welchem Recht könnte ich es tun, und welche äußeren Gunstbeweise hätte ich, damit man mir aufs Wort glaubte? Ich brächte es nur dahin, daß ich mich dem Gelächter der besonnenen Leute aussetzte. Lassen Sie sie mir, bitte, diese Überzeugung, die ich zitternd bewahre und die mir mehr an Glück gegeben hat, sie ganz allein, als die Kaltherzigkeit des Publikums gegen mich mir je an Ingrimm und Schmerz zuzufügen vermochte. Lassen Sie mich Sie seligpreisen, Ihnen auf Knien danken für diese Empfänglichkeit, die ich in Ihrer Seele entdeckte und die keine andere mir je gewähren mochte, für diese Tränen, die ich Sie habe vergießen sehen über mein Unglück, meine Qualen auf der Szene und die immer wieder meine Inspirationen bis zum selbstvergessenen, höchsten Rausch über sich hinausgesteigert haben; für all diese zurückhaltenden Blicke, die, so wähnte ich wenigstens, mich über die Kälte meines Auditoriums zu trösten suchten.

Oh, warum sind Sie in Glanz und Reichtum hineingeboren? Warum bin ich nichts als ein armer Künstler ohne Ruhm und ohne Namen? Warum habe ich nicht die Gunst des Publikums oder das Vermögen eines Finanzmannes einzutauschen gegen einen Namen, einen der Titel, die ich bis jetzt für nichts erachtete, Dinge, die mir nun vielleicht erlauben würden, Ihnen immer nahe zu bleiben! Ehedem zog ich die Auszeichnung des Talentes allem andern vor; ich fragte mich, was es schon damit auf sich habe, sich Chevalier oder Marquis zu heißen, wenn nicht, um sich die Freiheit zu nehmen, albern, geckenhaft, unverschämt sein zu können. Ich haßte den eitlen Hochmut der Großen, und ich meinte, ich hätte mich genug gerächt für ihre Verachtung, wenn ich mich über sie erhöbe durch mein Genie.

Wahnbilder und Enttäuschungen! Meine Kräfte haben meinen sinnlosen Ehrgeiz schmählich verraten. Ich bin im Dunkel geblieben: Ah, ich habe Schlimmeres getan – ich habe den Erfolg schon beinahe mit Händen gegriffen, und ich habe ihn entwischen lassen. Ich glaubte mich groß fühlen zu können, und man hat mich in den Staub gestoßen. Ich bildete mir ein, ans Erhabene zu reichen, und man hat mich zur Lächerlichkeit verdammt. Das Geschick hat mich samt meinen maßlosen Träumen und meiner tollkühnen Seele genommen, und es hat mich wie ein Schilfrohr zerbrochen! Oh, ich Unglückseliger!

Aber die größte meiner Narrheiten war, daß ich meine Blicke über diese Rampe voll Windlichtern habe schweifen lassen, diese Rampe, die eine unübersteigbare Grenze zieht zwischen mir und der übrigen Gesellschaft. Für mich ist das der Kreis des Popilius! Ich habe ihn überschreiten wollen, ich habe gewagt, Augen zu haben, ich Mann des Theaters, und sie auf einer schönen Frau ruhen zu lassen! Auf einer jungen Dame, die so edel, so liebreizend und – so hohen Ranges ist! Denn Sie sind alles das, Madame, ich weiß es. Die Welt bezichtigt Sie der Kälte und der übertriebenen, verstiegenen Frömmelei, ich ganz allein beurteile Sie recht und kenne Sie besser. Ein einziger lächelnder Blick von Ihnen, nur eine Träne in Ihren Augen waren mir Beweis genug, die erbärmlichen Lügengeschichten, die mir ein Chevalier de Brétillac gegen Sie ins Ohr geflüstert hat, als das abzutun, was sie sind.

Aber welches Geschick ist denn wohl auch das Ihre? Welch entsetzliches Mißgeschick lastet auf Ihnen wie auf mir, daß Sie, mitten in einer Welt, die so brilliert, die sich so urteilsfähig dünkt, nichts finden konnten, was Ihnen Genüge geben kann, als – das Herz eines armen Tragöden? Wie dem auch sei, nichts wird mir diesen so traurigen und doch tröstlichen Gedanken nehmen: Wenn wir im Leben, in der Gesellschaft gleichen Ranges wären, dann hätten Sie sich mir nicht entziehen können, was ich auch für Rivalen dabei gehabt hätte und wie groß immer meine Mittelmäßigkeit als Mensch sein möge. Einer Wahrheit sollten Sie Ihr Herz immer offenhalten: daß etwas in mir lebt, das weit höher zu werten ist als alle Reichtümer und alle Titel jener Weltmänner – die Größe meiner Liebe zu Ihnen, Madame!

Lélio«

– »Dieser Brief«, nahm die Marquise wieder ihre Geschichte auf, »so seltsam er für die Zeit sein mag, in der er geschrieben ist, mutete mich – trotz einiger Reminiszenzen an die lyrische Deklamationskunst eines Racine, die im Anfang durchbricht – eben doch so stark und so wahr an. Es wehte mich daraus ein Gefühl der Leidenschaft an, so unerhört neu und kühn, daß ich davon im Innersten ganz durcheinandergebracht war. Der Rest an stolzem Sinn, der sich in mir noch dagegen wehrte, schmolz davor hin. Ich hätte mein ganzes Leben für eine Stunde solcher Liebe dahingegeben.

Ich will Ihnen nichts weiter von meinen tiefen Beklommenheiten, meinen Traumvorstellungen, meinen Erschütterungen erzählen, ich könnte auch gar nicht den rechten Faden und Zusammenhang mehr wiederfinden. Genug, ich antwortete ihm mit einigen Zeilen, die, soweit ich mich noch zu erinnern vermag, so lauteten:

›Ich klage Sie nicht an, Lélio, ich klage das Schicksal an; und nicht Sie allein beklage ich – ich beklage auch mich. Keinerlei Grund von Hochmut, Vorsicht oder auch nur Prüderie könnte mich willens machen, Ihnen das trostreiche Gefühl zu nehmen, sich durch meine Gunst ausgezeichnet zu glauben. Behalten Sie es, es ist das einzige Gefühl, das ich Ihnen entgegenzubringen vermag: Ich kann nicht darein willigen, Sie selbst zu sehen!‹

Am darauffolgenden Morgen wurde mir ein Billett zugestellt, das ich in aller Hast überflog, ich hatte kaum die Zeit, es ins Feuer zu werfen, um es vor Larrieux, der mich beim Lesen überraschte, zu verbergen. Es enthielt etwa folgende Worte:

›Madame, ich muß Sie sprechen – oder sterben! Einmal, ein einziges Mal, nur eine einzige Stunde, wenn Sie wollen. Was fürchten Sie denn von einem Sehen unter vier Augen, wo Sie mir Ehre und Verschwiegenheit zutrauen mögen? Madame, ich weiß, wer Sie sind! Ich kenne die reine Strenge Ihrer Sitten, ich kenne Ihre fromme Art, ich weiß sogar von Ihren Gefühlen, die Sie für den Vicomte de Larrieux haben. Ich bin nicht so geistverlassen, etwas anderes von Ihnen zu erhoffen als ein Wort des Mitleids, aber es ist unerläßlich, daß es mir von Ihren Lippen kommt. Mein Herz bedarf seiner, um es in sich zu bewahren und mit sich zu nehmen, oder mein Herz muß mir zerbrechen!

Lélio‹

Zu meiner rühmlichen Ehre – denn alles edelsinnige und mutige Vertrauen in der Gefahr ist ja rühmlich – kann auch ich also für mich sagen: Ich hatte nicht einen Augenblick die Furcht, das Opfer der Schadenfreude eines frechen Witzlings zu werden. Ich glaubte fest an die schlichte, ergebene Aufrichtigkeit Lélios. Im übrigen war ich mir sicher genug, um Vertrauen in meine Kraft zu haben; ich entschloß mich, ihm eine Begegnung zu gewähren. Ich hatte gänzlich sein welkes, abgelebtes Gesicht, seinen wenig schönen Straßenton, sein gewöhnliches Wesen vergessen; ich hatte nichts anderes mehr vor Augen und Sinnen als das Eigenrecht seines Genies, seinen Stil und seine Liebe. Ich antwortete ihm:

›Ich werde Sie sehen. Machen Sie einen ungestörten Ort ausfindig. Aber erhoffen Sie sich nichts anderes von mir, als worum Sie mich baten. Ich setze mein Vertrauen in Sie wie in Gott. Wenn Sie versuchen sollten, es zu mißbrauchen, wären Sie ein Elender, und ich würde Sie niemals fürchten!‹

Seine Antwort: ›Ihr Vertrauen würde Sie vor jedwedem – selbst dem gemeinsten Verbrechen schützen! Sie werden sehen, Madame, daß ein Lélio diesem Ihrem Vertrauen gegenüber kein Unwürdiger ist. Der Duc de X . . . hat die Güte gehabt, mir des öfteren seinen Pavillon in der Rue de Valois zur Verfügung zu stellen. Was hätte ich dort tun wollen? Seit drei Jahren lebt für mich nur eine Frau unter dem Himmel! Geruhen Sie, mir ein Rendezvous zu gewähren – nach Schluß meines Auftretens in der Comédie!‹ (Es folgten die genauen Ortsangaben des Treffpunkts.) –

Ich bekam dies Billett um vier Uhr. All diese Dinge hatten sich im Verlauf eines Tages abgespielt. Diesen Tag hatte ich damit ausgefüllt, durch meine Gemächer ziellos zu irren, wie eine, die den Verstand verloren hat: Ich fieberte. Dieses Auf-mich-Einstürmen von Ereignissen und Entscheidungen, die alle Entschlüsse von fünf Jahren nahezu über den Haufen warfen, riß mich mit wie ein Traum; und als ich den letzten Entschluß gefaßt hatte, als ich sah, daß ich mich fest gebunden hatte und daß keine Zeit zum Rückweichen mehr blieb, sank ich ganz kraftlos und ermattet auf meine Ottomane nieder, atemlos, und sah den Zimmerboden sich unter meinen Füßen im Kreise drehen.

Ein ernstliches Übelsein befiel mich. Ein Arzt mußte herbeigerufen werden; er ließ mich zur Ader. Ich verbot meinen Leuten, auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen – zu wem auch immer –, was es mit meinem Unwohlsein auf sich habe. Ich fürchtete die Zudringlichkeit von allerlei Ratgebern; und auf keinen Fall sollte man mich daran hindern, am Abend wieder auszugehen. In Erwartung dieser Stunde warf ich mich auf mein Bett und verbot den Eintritt zu mir sogar für Monsieur de Larrieux.

Der Aderlaß hatte mich körperlich erleichtert, aber auch geschwächt. Ich fiel in eine schwere, dumpfe Niedergeschlagenheit des Geistes; alle meine Wunschbilder zerrannen mit dem Steigen des Fiebers. Ich fand ins Bewußtsein zurück, und die Erinnerung an alles kam mir wieder. Ich rief mir wieder die furchtbar enttäuschenden Erlebnisse im Caféhaus vor Augen, die erbärmliche Erscheinung Lélios. Ich spürte, wie mir die heiße Schamröte über meine Tollheit ins Gesicht stieg; ich war nahe daran, aus Traum und Wahn in die platte, fade Wirklichkeit zurückzufallen. Ich konnte nicht fassen, wie ich mich hatte hinreißen lassen können, mein heroisch-romantisches Liebesideal einzutauschen gegen das abstoßende Bild, das mich erwartete, die Verkörperung der Abscheu, die meine Erinnerungen mit Gift durchsetzen würde. Mich überkam eine marternde Reue über das, was ich getan hatte. Ich sah unter Tränen meine Seligkeiten, mein Liebesleben, die Zukunft reiner, inniger Zufriedenheit – nun, da ich daranging, sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Und vor allem Lélio selbst galten meine Tränen, ihm, den ich durch dieses Wiedersehen ganz und für immer verlieren sollte, den zu lieben mir, fünf Jahre hindurch, so viel Glück bedeutete und den ich in wenigen Stunden nicht mehr würde lieben können.

In meiner Verzweiflung rang ich heftig die Hände, die kleine Wunde vom Aderlaß sprang wieder auf, und das Blut schoß von neuem hervor. Ich hatte nur noch die Kraft, meiner Pflegerin zu läuten; sie fand mich ohnmächtig in die Kissen zurückgesunken. Ein tiefer, schwerer Schlaf, gegen den ich vergebens ankämpfte, bemächtigte sich meiner. Ich träumte nicht, ich litt nicht, ich war einige Stunden lang wie tot. Als ich die Augen wieder aufschlug, war mein Zimmer in Dämmer gehüllt, das ganze Haus grabesstill. Meine Betreuerin war auf einem Stuhl eingenickt, zu Füßen meiner Bettstatt. Ich lag eine Weile in einem Zustand der Betäubung und der Schwäche; ich konnte mich an nichts erinnern, nicht einen Gedanken fassen . . . Mit einemmal ist mein volles Bewußtsein wieder da. Ich frage mich, ob die Stunde, der Tag dieses Rendezvous bereits verstrichen sei, ob ich eine Stunde geschlafen habe oder ein ganzes Jahrhundert, ob es Tag ist oder schon Nacht, ob mein nicht gehaltenes Wort Lélio getötet haben möchte, ob noch Zeit sei . . . Ich versuche mich zu erheben; meine Kräfte versagen mir; ich ringe wie mit einem Alp. Schließlich raffe ich meine ganze Willenskraft zusammen, um meinen wie gelähmten Gliedern aufzuhelfen. Ich wanke über das Parkett zum Fenster hin, ziehe die Vorhänge halb auseinander: Ich sehe den Mondschein auf den Bäumen meines Gartens schimmern. Ich laufe zur Pendeluhr: Sie zeigt auf zehn. Ich stürze auf meine Kammerfrau zu, schüttle sie, rüttle sie wach:

›Quinette, den wievielten haben wir?‹

Sie fährt schreiend von ihrem Stuhl auf und will davonrennen, denn sie glaubt, ich sei im Fieberwahn. Ich halte sie fest und beschwichtige sie. Ich erfahre, daß ich nur drei Stunden geschlafen habe. Ich danke Gott. . . . Ich will, daß sie nach einem Fiaker schickt. Quinette starrt mich wie entgeistert an. Schließlich überzeugt sie sich doch, daß ich ganz klar bei Verstand bin; sie führt meine Anordnung aus und kommt wieder, mich anzukleiden.

Ich ließ mir die schlichteste, keuscheste Robe anlegen; ich steckte mir keinerlei Schmuck ins Haar; ich nahm kein Rouge. Ich wollte – das war meine vornehmste Absicht – Lélio Achtung und Respekt einflößen, die mir köstlicher waren als seine Liebe. Indes fühlte ich doch ein Vergnügen, als Quinette, ganz verblüfft über alles, was mir durch Geist und Sinn ging, mich von oben bis unten anstarrte und zu mir meinte:

›Wahrhaftig, Madame, ich weiß nicht, was Sie da vorhaben: in der schlichten, weißen Robe, ohne Schleppe, ohne Reifrock! Krank wie Sie aussehen – und blaß wie der Tod! Nicht mal eine winzige Mouche haben Sie sich auf die Wange tupfen wollen – nein, wirklich, Gift möchte ich drauf nehmen, wenn ich Sie je so schön gesehen habe wie heute abend! Ich könnte die Leute beneiden, die Sie so beschauen werden!‹

›Du hältst mich doch wohl für recht vernünftig, meine arme Quinette?‹

›Ach, gnädige Frau Marquise, tagtäglich bitte ich den Himmel, so wie Sie es zu werden; aber bis jetzt . . . .‹

›Los, Plappermäulchen, gib mir meine Mantille und meinen Muff!‹

Um Mitternacht war ich an dem Palais in der Rue de Valois. Ich war sorgsam verschleiert. Eine Art Kammerdiener kam und tat mir auf; er war der einzige sichtbare Bewohner dieses geheimnisvollen Hauses. Er führte mich durch die Wandelwege eines düsteren Gartens bis zu einem Pavillon, der ganz in Schatten und Schweigen lag. Nachdem er im Vestibül seine Laterne aus grünem Seidenstoff niedergesetzt hatte, öffnete er mir die Tür zu einem dunklen, ausgedehnten Gemach, wies mit undurchdringlicher Miene und respektvoller Geste auf den Lichtschein, der aus dem langgestreckten Raume herausquoll, und sagte mit gedämpfter Stimme, als fürchte er die schlafenden Echos aufzuwecken:

›Madame befindet sich allein hier, niemand sonst ist bis jetzt noch eingetroffen. Madame wird im Sommersalon eine Klingel bemerken, auf deren Läuten ich wieder zur Stelle sein werde, falls Madame in irgendeiner Weise meiner bedarf!‹

Und er verschwand wie ein Geist und zog die Tür hinter sich zu.

Eine entsetzliche Beklommenheit befiel mich. Ich fürchtete, in einen Hinterhalt geraten zu sein. Ich rief ihn sofort zurück. Im Nu erschien er wieder. Seine feierlich dumme Miene machte mich wieder sicherer. Ich wollte wissen, wie spät es sei. Ich wußte es natürlich ganz genau: Noch im Wagen hatte ich mehr als zehnmal das Schlagwerk meiner Remontoiruhr läuten hören.

›Es ist Mitternacht‹, antwortete er, ohne die Augen auf mich zu heben.

Ich sah, es war ein vollkommen in den Obliegenheiten seines Amtes unterrichteter Mann. Ich entschloß mich, in den Sommersalon einzutreten, und ich überzeugte mich von der Unangebrachtheit meiner Befürchtungen, als ich sah, daß alle Ausgänge, die in den Garten führten, nur durch Portieren von orientalisch bemalter Seide verhängt waren. Nichts Köstlicheres gab es als dieses Boudoir, das in Wahrheit der honetteste Musiksalon der Welt war. Die Wände waren aus schneeweißem Stuck, die Rahmen der Spiegel aus Mattsilber. Musikinstrumente von außerordentlicher Erlesenheit waren auf den mit Perlbehängen verzierten, mit weißem Samt überzogenen Möbeln ausgebreitet. Alles Licht kam von oben, aber verborgen durch Blattgewinde aus Alabaster, die in der Rotunde wie eine Zwischendecke umliefen. Man hätte diese matte, sanfte Helligkeit für die des Mondlichts nehmen können. Ich beschaute mir eingehend mit Wißbegier und Interesse dieses Refugium, dem ich aus meinen Erinnerungen nichts Gleiches an die Seite stellen konnte. Es war und es geschah das einzige Mal in meinem Leben, daß ich meinen Fuß in ein solches Lusthäuschen setzte: Aber sei es, daß dies Gemach nicht dazu bestimmt war, als Tempel für die galanten Mysterien zu dienen, die dort ihre Weihe fanden, oder sei es, daß Lélio daraus jeden Gegenstand hatte entfernen lassen, der meinen Blick verletzen und mich in meiner Situation hätte schockieren können – diese Stätte rechtfertigte nicht das Gefühl inneren Widerstrebens, das ich beim Eintritt zu empfinden meinte. Eine einzige Statue aus weißem Marmor schmückte das Interieur: Sie war antik und stellte die verschleierte Isis dar, die einen Finger auf ihre Lippen gelegt hielt. Die Spiegel, die unsere Gestalten, ihre und meine, in unseren weißen, keuschen Gewändern – bleich, wie wir beide waren – zeigten, entrückten mich dermaßen der Wirklichkeit, daß ich mich unwillkürlich bewegen mußte, um ihre Gestalt von meiner zu unterscheiden.

Mit einem Male wurde dieses dunkel sinnende, unheimliche und zugleich köstliche Schweigen jäh gestört: Die Tür im Hintergrund öffnete sich und schloß sich wieder. Leichte Schritte ließen das Parkett leise knacken. Ich sank in einen Sessel, mehr tot als lebend. Ich sollte Lélio sehen, mir ganz nah, nicht als Held des Theaters. Ich senkte meine Augen, und ich sagte ihm innerlich adieu, ehe ich sie wieder hob.

Aber welche Überraschung ward mir! Lélio war schön wie ein lichter Geist. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sein Theaterkostüm gegen ein anderes zu vertauschen. Es war das eleganteste, in dem ich ihn je zu Gesicht bekommen hatte. Sein ranker, schmiegsamer Körper war von einem eng anliegenden spanischen Wams aus weißem Satin umschlossen. Seine Schulter- und Strumpfbänder waren aus kirschrotem Stoff. Einen kurzen Mantel von gleicher Farbe trug er über die Schulter geworfen; die riesige Halskrause war aus englischen Spitzen. Sein Haar war ungepudert und kurz geschnitten. Über seiner Stirn wiegten sich die weißen Federn seines Samtbaretts, an dem eine Rosette aus Diamanten funkelte. Es war das Kostüm, in dem er eben den Don Juan im ›Festin de Pierre‹ gespielt hatte. Noch nie hatte ich ihn so schön, so jung, so von Poesie umwoben gesehen wie in jenem Augenblick. Velázquez hätte sich in Bewunderung gebeugt vor einem solchen Modell.

Er ließ sich vor mir auf die Knie nieder. Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihm meine Hand hinzustrecken. Er sah so bang und so ergeben aus. Ein von Liebe entflammter Mann, der drauf und dran ist, schüchtern vor der Dame seines Herzens zu werden, das war so selten in jenen Tagen von einst! Und dazu ein Mann von fünfunddreißig Jahren, ein Held der Bühne!

Nun, was mochte das hier schon für eine Rolle spielen: Mir dünkte, ja mir dünkt es noch heut' wie in jener Stunde, als stände er in all der Frische eines Jünglings vor mir da. In seinem weißen Gewand glich er einem jungen Pagen; seine Stirn strahlte die ganze Reinheit, sein wogendes Herz die ganze Glut erster Liebe aus. Er ergriff meine Hände und bedeckte sie mit verzehrenden Küssen. Da wurde ich wie von einem tollen Schwindel erfaßt: Ich zog seinen Kopf auf meine Knie; ich streichelte seine glühende Stirn, sein rauhes, schwarzes Haar, seinen braunen Hals, der im weichen Weiß seiner Krause halb verschwand . . . und Lélio erkühnte sich nicht. Aller Glücksrausch sammelte sich in seinem Herzen. Ich sah Tränen in seinen Augen blinken wie bei einer Frau; ich wurde überwältigt von dem Schluchzen, das aus ihm brach.

Oh, ich gestehe Ihnen: Da mischte ich mit Wonne meine Tränen mit den seinen! Ich zwang ihn, den Kopf zu heben und mich anzuschauen. Großer Gott, wie schön er war! Was für einen Glanz, was für einen Ausdruck der Zärtlichkeit hatten seine Augen: Mit welchem Zauber übergoß seine wahre, edle Seele die allzu menschlichen Mängel seines Gesichts, seine durch Nächte und Jahre verheerten, abgelebten Züge. Oh, die Macht der Seele! Wer nicht ihre Wunderwerke erfahren hat, der hat nie geliebt! Beim Anblick der frühen Falten auf seiner schönen Stirn, der Sehnsüchtigkeit seines Lächelns, der Blässe seiner Lippen, da wurde ich weich. Ich fühlte die Tränen in mir aufsteigen über die Enttäuschungen, Verbitterungen und Mühen dieses Lebens; ich versetzte mich in all seine inneren Qualen und empfand selbst seine lange, hoffnungslose Liebe für mich mit; und ich hatte nur noch den einen Willen: das Leid gutzumachen, das er litt.

›Mein Lélio, mein großer Rodrigue, mein schöner Don Juan!‹ sprach ich – in meiner Verwirrung – ihm zu.

Seine Blicke lagen brennend auf mir. Er legte mir alle Wegstrecken, das Wachsen seiner Liebe zu mir dar; er beichtete mir, wie ich aus ihm, dem Komödianten mit den lockeren Sitten, einen Mann voll glühenden Lebens gemacht, wie ich ihn in seinen Augen so gänzlich umgewandelt, ihm den Mut und die Ideale der Jugend wiedergeschenkt habe. Er gestand mir seine Achtung, seine tiefe Verehrung für mich, seinen Ekel gegen die geistlosen Schöntuereien, dies fade Getändel. Er schwor mir: Alle ihm noch bleibenden Tage seines Lebens würde er dahingeben für eine Stunde, die er in meinen Armen verbringen könnte – und doch müsse er diese Stunde, und alle Tage dazu, der Befürchtung opfern, meine Gefühle zu verletzen! Noch nie wohl hat eindringlichere Beredtheit das Herz einer Frau so für sich eingenommen: Selbst der zartsinnige Racine hatte nie von der Liebe mit solch hinreißender Überzeugungskraft und Poesie zu sprechen verstanden. Alles, was Leidenschaft je an Feinstem und Ernstestem, Süßestem und Überwältigendstem einzuflößen vermag, seine Worte, seine Stimme, seine Augen, seine Liebkosungen, seine ganze Ergebenheit – alles zeigte mir das! Ach, übernahm er nur sich selber? Spielte er – wie so oft – Komödie?«

»Ich glaube bestimmt nicht!« rief ich und blickte die Marquise an.

Sie schien sich beim Erzählen zu verjüngen und ihre fast hundert Jahre abzustreifen wie die Fee Urgèle. Ich weiß nicht, wer einmal ausgesprochen hat, das Herz einer Frau könne nie alt und runzlig werden.

»Hören Sie bis zu Ende!« fuhr sie in ihrer Geschichte fort. »Ganz verloren, wie ich war, von allem, was er mir sagte, warf ich meine Arme um ihn. Ich zitterte, als ich die Seide seines Gewandes berührte, den Duft seines Haares einatmete. Mein Kopf verwirrte sich immer mehr. Alles das, was mir bis dahin unbewußt war, was ich zu empfinden für unmöglich gehalten hatte, entschleierte sich mir; aber es war zu heftig . . . mir schwanden die Sinne. . . .

Ich kam wieder zu mir selbst; er war mir beigesprungen. Ich fand ihn zu meinen Füßen, befangener, erregter denn je.

›Erbarmen Sie sich meiner‹, stammelte er, ›schicken Sie mich in den Tod –!‹

Er war ganz totenblaß – mehr als ich selbst.

Aber all diese nervenaufwühlenden Stürme, die ich – im Lauf jenes so gewittrigen Tages – durchmachen mußte, ließen mich jäh aus einer Gemütsstimmung in die andere fallen. Der rasche Blitzschein eines neuen Lebens war verblaßt; mein Blut war wieder ruhig geworden, die verhalteneren Gefühle der Liebe gewannen wieder die Oberhand in mir.

›Hören Sie mir gut zu, Lélio‹, sagte ich zu ihm, ›nicht der kühle Verstand ist es, der mich Ihren Verzückungen entzieht. Es mag sehr wohl sein, daß ich über alle die Empfindsamkeiten verfüge, die man uns von Kindheit an eingeschärft hat und die in uns zu einer Art zweiten Natur werden. Aber es kann nicht hier sein, daß ich mich ihrer erinnere, denn mein ganzes Ich ist gerade jetzt in ein anderes verwandelt worden, das mir unbekannt war! – Wenn Sie mich lieben, helfen Sie mir, Ihnen zu widerstehen! Lassen Sie mich von hier die köstliche, volle Genugtuung mit mir nehmen, Sie geliebt, einzig mit meinem Herzen geliebt zu haben: Vielleicht, wenn ich nicht schon einem anderen gehört hätte, gäbe ich mich mit Freuden Ihnen ganz zu eigen! Doch Sie sollen wissen, daß ein Larrieux mein ganzes Selbst entweiht hat: Sie sollen wissen, daß ich, mitgezogen durch die schreckliche Notwendigkeit, zu tun, wie alle Welt tut, die Vertraulichkeiten eines Mannes duldete, den ich nie geliebt habe. Sie sollen wissen, daß der Widerwille, den ich davor empfunden habe, in mir alle Illusion bis zu einem solchen Grade zum Erlöschen gebracht hat, daß ich Sie vielleicht jetzt hassen könnte, wäre ich Ihnen in dieser Stunde erlegen. Ah, lassen wir uns nicht zu solch schrecklicher Versuchung hinreißen! Erhalten Sie Ihr Bild rein in meinem Herzen und in meinem Gedächtnis! Trennen wir uns für immer, und nehmen wir von hier nur freundliche Gedanken und verklärte Erinnerungen in die Zukunft mit! Lélio, ich schwöre: Ich will Sie lieben bis an mein Lebensende. Ich fühle, daß die Eiseskälte des Alters solch glühende Flammen nicht zu löschen vermöchte. Ich schwöre auch, daß ich, die ich Ihnen widerstanden habe, nie einem andern Mann mehr gehören werde. Dieser Entschluß wird mir nicht schwer werden, und Sie können mir glauben!‹

Lélio beugte sich in tiefer Verehrung vor mir. Er bestürmte mich nicht, er machte mir keine Vorwürfe. Er sagte mir nur, daß er niemals das ganze Glück für sich erhofft hätte, das ich ihm schenkte, und daß er nicht das Recht habe, mehr zu verlangen. Dennoch – als er mir sein letztes Lebewohl sagte, erschreckten mich seine Niedergeschlagenheit und die Erregung, die in seiner Stimme mitschwang. Ich fragte ihn, ob er nicht voll Glück an mich zurückdenken könnte, ob die Seligkeiten dieser Nacht nicht ihren Zauber über alle seine Tage breiten würden, ob seine Leiden, die vergangenen wie die künftigen, nicht versüßt werden durch all das Erlebte, jedesmal wenn er es wieder beschwöre. Er kam wieder in Feuer und schwor und versprach alles, was ich wollte. Er fiel von neuem zu meinen Füßen nieder und bedeckte mein Gewand mit heißen Küssen, wie von Sinnen. Ich fühlte, wie ich schwankte . . . ich winkte, und er wich zurück. Der Wagen, nach dem ich gerufen hatte, rollte vor. Der dienstbare Hausgeist, der in diesem versteckten Aufenthalt alles automatisch zu regeln schien, klopfte dreimal von draußen, um mich zu verständigen. Lélio warf sich voll Verzweiflung vor die Tür: Er hatte ein Aussehen – wie ein Gespenst. Ich wies ihn sanft zurück, und er gab nach. Als ich über die Schwelle schritt und er mir folgen wollte, deutete ich auf einen Sessel mitten im Salon, zu Füßen der Statue der Isis. Da ließ er sich nieder. Ein leidenschaftliches Lächeln irrte über seine Lippen hin. Aus seinen Augen glänzte mir ein letzter Blitzstrahl der Dankbarkeit und Liebe nach. Er war immer noch der schöne, immer noch der jugendliche Grande aus Spanien. Nach ein paar Schritten – nun, wo ich ihn für immer verlieren sollte – wandte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf ihn. Die Verzweiflung hatte ihn zerbrochen. Er war wieder alt geworden, verfallen, erschreckend anzusehen. Sein Körper schien wie gelähmt; um seine verkrampften Lippen zuckte es wie von verstörtem Lächeln; sein Auge war gläsern, wie erloschen: Er war nichts mehr als nur noch Lélio, der Schatten von einem Liebenden, von einem Helden –«

Die Marquise machte eine Pause; dann – mit einem düsteren Lächeln, während sie in sich zusammensank wie eine Ruine – schloß sie:

»Seit jenem Augenblick habe ich nichts mehr von ihm gehört. . . .«

Die Marquise machte eine neue Pause, länger als die erste. Aber dann brach es aus ihr wieder heiter hervor, und mit jener unwiderstehlichen Kraft, die lange Lebensjahre, hartnäckige Liebe zum Leben oder Hoffnung auf den nahen Tod der Menschenseele verleihen, sagte sie lächelnd zu mir:

»Nun gut, und – glauben Sie jetzt an die Tugendsamkeit des achtzehnten Jahrhunderts?«

»Madame«, erwiderte ich ihr, »ich habe keinerlei Anlaß, daran zu zweifeln! Doch – wenn ich weniger im Bann Ihrer Geschichte wäre, würde ich vielleicht sagen, daß Sie gut daran taten, sich an jenem Tage zur Ader zu lassen. . . .«

»Nichtswürdige Männer!« rief die Marquise lächelnd: »Nichts versteht ihr doch von der Geschichte des Herzens!«

 


 


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