Ferdinand von Saar
Tambi
Ferdinand von Saar

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Ich schwieg. Einer so scharfen und im Grunde auch richtigen Selbstkritik gegenüber ließ sich nicht sogleich etwas vorbringen. »Nun wohl«, sagte ich endlich, »eigentlich haben Sie recht. Aber wer kann heutzutage auf wirkliche Geltung, auf unanfechtbare Bedeutung Anspruch erheben? Das Wort Goethes: ›Weh dir, daß du ein Enkel bist‹ gilt vor allem in der Kunst. Und zuletzt ist jede Größe doch nur eine relative. Die Zeit rüttelt an allem und jedem – selbst an den Säulen, die uns bis jetzt in den Himmel zu ragen scheinen. Jedenfalls aber hätten Sie nicht in Kleinmut verfallen, sondern sich weiter versuchen sollen.«

»Als ob ich mich nicht versucht hätte!« rief er. »Glauben Sie denn, daß ich mich wirklich nur mit diesem einen Stoffe getragen habe – wie freilich von vielen Seiten ausgestreut wurde? Nein, Verehrter! Da drinnen« – er schlug sich mit der Hand vor die Stirn »da drinnen lebte und webte es! Eine Fülle von Gestalten drängte sich in mir – aber wie ich sie fassen, wie ich sie von mir loslösen wollte, zerflossen sie – um mir wieder und wieder als daseinfordernde Schatten zu nahen. Und als ich endlich, meine Unmacht erkennend und auf hohen Ruhm verzichtend, mich von ihnen ab und den gewöhnlichsten, ausgetretensten Pfaden der Literatur zuwandte, versagte mir mein Geist auch dort. Oh, der Direktor hatte damals recht! Ich war fertig – längst fertig; ich wollte es mir nur nicht eingestehen!«

»Aber wie ist das möglich!« rief ich aus.

»Ja, wie ist das möglich! So fragte ich mich selbst in öden, stumpfsinnigen Tagen, in schlaflosen, qualdurchtobten Nächten. Wie ist das möglich! stöhnte ich verzweifelt, wenn ich in mein erstes gedrucktes Werk hineinsah, während das aufgelegte Blatt Papier leer blieb und die Tinte im Schreibzeug vertrocknete. Und doch war es so. Vielleicht liegt der Grund in einer erschlafften Faser des Gehirns oder in einer widerstrebenden Blutwelle. Aber da stehen wir im Dunkeln, und da wird man schuldig – schuldig in den Augen der Welt, wird verachtet, verspottet, und die Schmerzen, die solch ein Unglücklicher durchzukämpfen hat – die Nacht des Wahnsinns, die vor ihm aufzusteigen beginnt, ahnt kein Mensch! Oh, was habe ich gelitten!«

Er verhüllte sein Antlitz mit den Händen und brach in Tränen aus, die er gewaltsam zurückdrängen wollte. Aber es gelang ihm nicht: unaufhaltsam, in heißem Gusse strömten sie hin.

Ergriffen saß ich da und ließ ihn weinen. Der Hund, eine Art Dächser, der bis jetzt in sich zusammengerollt an seiner Seite geschlafen hatte, richtete sich empor und legte winselnd die Vorderpfoten auf die Schulter seines Herrn.

Plötzlich erschallten wüste, ohrenzerreißende Klänge: die Bläser in der Wirtsstube hatten ihr Spiel eröffnet. Bacher fuhr auf, begütigte mit der einen Hand das Tier, das laut zu heulen angefangen hatte; mit der anderen zog er ein zerknülltes farbiges Taschentuch hervor und trocknete sich hastig Augen und Wangen.

»Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen so gezeigt habe«, sagte er dann. »Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Sie sind gut und verständnisvoll und werden mich nicht verachten.«

»Gewiß nicht!« Und ich reichte ihm die Hand.

»Ich bin auch nicht immer so schwach«, fuhr er fort. »Ich habe mich ja längst resigniert. Nur jetzt wurden die alten Wunden wieder aufgerissen.«

Ich drückte mein Bedauern aus, daß ich, ohne es zu wollen, die Veranlassung gewesen.

»Machen Sie sich deshalb keine Sorge«, erwiderte er. »Die Tränen haben mir wohlgetan. Wenn ich mit mir allein bin, kann ich nicht weinen, und da ich jetzt einem Manne, den ich hoch halte, mein Herz ausgeschüttet, werde ich um so leichter mein unbeachtetes Dasein weiterleben.«

»Sie sind also mit Ihren äußeren Verhältnissen nicht gänzlich unzufrieden?«

»Keineswegs; im Gegenteile. Was ich mir bei dem Notar verdiene, ist freilich nicht viel; aber es läßt sich damit auskommen.«

»Es freut mich, dies zu hören. Aber – entschuldigen Sie, daß ich mich gewissermaßen als unbefugter Ratgeber eindränge – wäre es denn einem Manne von Ihrer Begabung nicht möglich, sich eine vorteilhaftere Stellung zu gründen? Es ließe sich gewiß etwas Passendes für Sie finden, und wenn Sie mir erlauben wollten, daß ich in Wien –«

Er zuckte erschreckend zusammen und streckte mir die Arme in heftiger Abwehr entgegen. »Nein! Nein!« rief er, »um keinen Preis – nicht um das Gehalt eines Ministers! Wie sollte ich den Leuten dort unter die Augen treten! Und dann – Sie überschätzen meine Fähigkeiten. Ich besitze nur sehr geringe Kenntnisse; denn ich habe meine Studien leider nicht beenden können. Mein Vater starb, als ich noch ein Knabe war, und meine Mutter blieb arm, sehr arm zurück. Daher mußte ich die Schule vorzeitig verlassen und in ein Amt eintreten, bei welchem es mehr auf die Praxis als auf die Theorie ankam. Es war im Zollwesen. Die erste Zeit, da ich in sehr untergeordneter Stellung beschäftigt war, ging die Sache leidlich. Als ich aber später selbständig eingreifen sollte, da zeigte sich sofort der Mangel meiner Natur. Der direkte Verkehr mit den Parteien verwirrte mich; ich konnte keinen raschen Überblick über die Tätigkeit der mir unterstehenden Handlanger gewinnen, und so kamen Verstöße vor, die mich bei meinen Vorgesetzten in den Ruf eines leichtsinnigen und sorglosen Beamten brachten, während ich doch nur ein ängstlicher und schwerfälliger war, der sich selbst das kleinste Vergehen tief zu Herzen nahm. Und als man endlich erfuhr, daß ich ›dichte‹, war es auch um mich geschehen. Man wurde mir aufsässig, bereitete mir absichtliche Schwierigkeiten und Verlegenheiten, überging mich bei einer mir zustehenden Beförderung – und ich sah den Tag herannahen, an welchem man mich schlechthin entlassen würde. Daher gab ich auch sofort selbst meine Stelle auf, als ich einen literarischen Erfolg errungen hatte. Also nicht aus Hochmut oder gar aus Trägheit, wie mir späterhin in die Schuhe geschoben wurde. Hochmütig, wie ich Ihnen schon gestanden, war ich wohl, aber nur in jener einen Hinsicht; im übrigen aber kann es keinen Menschen geben, der anspruchsloser wäre als ich. Und ohne Tätigkeit – das habe ich während meines qualvollen unfreiwilligen Müßigganges zutiefst empfunden – könnte ich gar nicht leben. Aber es muß eine ruhige, gleichmäßige, mehr mechanische Tätigkeit, wie die des bloßen Abschreibens sein. Bei allem anderen, das mir gewissermaßen eine über mich selbst hinausgehende Verantwortlichkeit auferlegt, verliere ich den Kopf. Es ist eigentümlich«, fuhr er nach einer Pause, da die Musik inzwischen wieder aufgehört hatte, mit leiserer Stimme fort, »es ist eigentümlich, daß ich das schon als Knabe vorempfunden hatte. Wenn meine Mitschüler ihre Pläne und Absichten für die Zukunft kundgaben, und der eine Soldat, der andere Kaufmann, Arzt – oder noch Höheres werden wollte, so schwebte mir hingegen stets das stille, gleichmäßige Dasein eines einfachen Schreibers vor. Ich hatte dabei die drei Kanzlisten des Advokaten meiner kleinen Vaterstadt im Auge. Seine Kanzlei befand sich im Erdgeschosse des Hauses, wo wir selbst wohnten, und wenn ich die drei Kumpane, die in den verschiedensten Lebensaltern standen, mit dem Schlage der Uhr erscheinen, dann in der Nähe der Fenster behaglich schreiben – und mit dem Schlage der Uhr wieder weggehen sah, da hielt ich ihr Los – Träume von Dichterruhm hatte ich ja damals noch nicht! – für den Gipfel alles Glückes. Nun, dieses Glück hätte ich bald genug mein eigen nennen können – aber es war mir bestimmt, erst auf weiten, sehr weiten Umwegen dazu zu gelangen. Doch nun bin ich auch damit zufrieden und möchte meine bescheidene Stelle mit keiner anderen in der Welt vertauschen – schon deswegen nicht, weil ich, wie gesagt, keiner anderen gewachsen wäre. Von acht bis sechs Uhr schreibe ich, mit kurzer Unterbrechung während der Mittagszeit, meine Bogen voll; die Abende und die Sonn- und Feiertage aber gehören mir und meinem Hunde.« Er zog dabei das Tier auf seinen Schoß und liebkoste es, als wär' es ein Kind.

Auf diese entschiedene Auseinandersetzung war füglich nichts mehr zu erwidern. Ich ließ daher den Faden des Gespräches fallen und wandte mich nun auch dem Hunde zu, der mit seinen gelben Pfoten und ebensolchen Flecken über klugen braunen Augen in der Tat ganz artig aussah. »Ein hübscher Hund«, sagte ich beifällig. »Wie heißt er?«

»Tambi. Ich habe ihn, da er noch ganz klein war, von einem Heger gekauft, der ihm den abgeschmackten Namen ›Tambourl‹ gegeben hatte.«

»Ein häufiger Name bei Dachshunden.«

»Da er nun doch schon daran gewöhnt war, so habe ich wenigstens die erste Silbe beibehalten.«

Ich wollte Tambi an mich locken. Er sah mich freundlich an und wedelte; aber er kam nicht.

»Oh, er geht niemandem zu!« rief Bacher. »Er ist die Anhänglichkeit selbst und von meiner Seite gar nicht wegzubringen.«

»Eine vortreffliche Eigenschaft. Schade, daß sich in ihm die Rasse nicht rein erhalten hat. Er ist viel zu hochläufig; auch trägt er, wie ich sehe, die Rute aufgerollt, ein sicheres Zeichen, daß eine Kreuzung stattgefunden.«

»Das sagte schon der Heger, der ihn auch deshalb dem Hause und den Kindern überlassen hatte. Von diesen wurde das arme Tier in argloser Grausamkeit sehr gequält. Zudem zeigte sich eine böse Krankheit in den Ohren. Aber das heilte bald – und nun sind wir beide glücklich!« Er herzte das Tier wieder, das sich schmeichelnd in seinen Armen wand. »Sehen Sie nur, wie verständig er mich anblickt; er weiß, daß von ihm gesprochen wird. Ein ganz einziger Hund! Still, sanftmütig – und doch sehr wachsam. Dabei keine Spur von Gier oder Gefräßigkeit; man muß ihn förmlich bitten, sein bißchen Futter anzunehmen. Er kennt nur eine Leidenschaft: die Jagd.«

»Sind Sie Jäger?«

»Ich? O nein – wie käme ich dazu? Er jagt ganz für sich allein. Und da sollten Sie sehen, welches Leben, welches Feuer in dem sonst so ruhigen Tiere zum Vorschein kommt! Mit welcher Spannung er in den Ackerfurchen hinläuft, wie er die Spur verfolgt, wie er dem aufgestöberten Hasen mit hellem Gekläff nachsetzt...«

»Und das lassen Sie ihm hingehen?«

»Warum nicht? Er verursacht ja keinen Schaden. Freund Lampe ist doch stets weit schneller, und so kehrt Tambi nach einer Weile keuchend und schäumend wieder zu mir zurück.«

»Das geschieht, weil er sichtlich noch jung ist. Aber lassen Sie ihn erst völlig ausgewachsen sein, so werden Sie erfahren, daß er von der Fährte nicht mehr abläßt. Denn was Sie da gesagt haben, beweist mir, daß trotz allem die wilde Natur der Dächser in ihm steckt, und wenn es ihm einmal gelingt, einen Hasen anzuschneiden, so ist auch in ihm ein nicht mehr zu bezähmender Blutdurst wachgerufen.«

Die Worte berührten Bacher offenbar höchst peinlich und machten ihn nachdenklich. »Also meinen Sie wirklich –« sagte er kleinlaut.

»Ganz gewiß. Und auf alle Fälle müssen Sie darauf gefaßt sein, daß man Ihnen den Hund heute oder morgen erschießt; denn die Jagdgesetze werden hierzulande sehr streng gehandhabt.«

Er erbleichte. »Das hat mir unser Förster auch gesagt. Aber ich dachte, er wolle mir bloß Angst machen und den Hund verleiden. Die Menschen können ja nicht mit ansehen, daß einer an etwas seine Freude hat; wie denn auch alle im Anfang über das Tier lachten und spotteten – und jetzt erscheint es ihnen mit einem Male gefährlich. Der Förster meinte zwar, er selbst und sein Gehilfe würden Tambi nichts anhaben; wenn dieser aber einmal an jemand geriete, der ihn nicht kennt, oder in ein fremdes Revier –«

»So ist es auch um ihn geschehen, denn nur wirkliche Jagdhunde genießen das Recht der Schonung. Und überdies besitzen alle Forstleute den eigentümlichen Hang, gerade solchen Vierfüßlern auf den Pelz zu brennen.«

Er rückte wie in Verzweiflung auf seinem Sitze hin und her. »Aber, mein Gott, was soll ich denn tun? Ich kann doch den Hund nicht in meiner Stube eingeschlossen halten. Und im Freien stößt man hier bei jedem Tritte auf Wild!«

»Sie müssen ihn an die Leine nehmen.«

»An die Leine!« rief er empört. »Ein Geschöpf, das zu unbehindertem Lauf geschaffen ist, dessen Natur und Instinkt es antreiben, Wald und Flur zu durchstreifen, an die Leine! Bedenken Sie, Verehrter, was das sagen will! Hin und wieder möchte es wohl angehen, und im Walde selbst, wo Tambi auf Rehe stoßen und sie beunruhigen oder verscheuchen könnte, pflege ich es ohnehin zu tun. Aber sonst und stets! Bei jedem Schritte mit ansehen zu müssen, daß er vor- und seitwärts springen möchte – fühlen zu müssen, wie er fast bis zur Selbsterdrosselung an der kettenden Schnur zerrt – Nein! Nein!«

»Nun, dann gilt es, eine Dressur zu versuchen, damit er lernt, Ihrem Rufe unter allen Umständen Folge zu leisten.«

»Aber er hört ja, wenn er auf einer Fährte ist, in seiner Aufregung meinen Ruf gar nicht.«

»Er wird ihn schon hören, wenn er erst einige Male ausgiebig gezüchtigt worden ist.«

»Gezüchtigt!? Sie meinen, ich solle ihn schlagen? Das kann ich nicht – eher mich selbst!«

»Entschuldigen Sie, das ist eine Schwäche...«

»Mag sein, aber es ist mir nun einmal nicht möglich. Und dann – ich hasse alle und jede Dressur! Ich habe es zu tief an mir selbst erfahren, was es heißt, dem innersten Drange seines Wesens nicht folgen zu können – gebunden zu sein; ob innerlich oder äußerlich bleibt sich ja gleich. Eh ich den Hund zwänge, seiner Natur zu entsagen – eher sollte er...« Er erschrak vor der Schlußfolgerung, die er aussprechen wollte, und brach plötzlich ab. »Aber es muß irgendein anderes Mittel – einen Ausweg geben«, fuhr er nach einer Pause fort, »ich habe schon öfter darüber nachgesonnen...« Und er versank, die Stirn in die Hand legend, in Gedanken.

Es wurde ganz still in dem kleinen Zimmer, das sich bereits allmählich verdunkelt hatte. Tambi saß aufrecht auf der Bank und blickte von einem zum anderen.

Drüben begann die Musik wieder. Es war früher nur eine Introduktion gewesen; jetzt aber schien der Tanz seinen Anfang zu nehmen. Bacher blickte auf. »Es ist schon spät«, sagte er; »Ich muß an den Heimweg denken.«

Da auch mich nichts länger zurückhielt, so bezahlten wir unsere geringfügige Zeche und entfernten uns, nachdem wir noch einen Blick in die Wirtsstube getan, wo sich wirklich die aufgebauschten Röcke mehrerer Dirnen im Kreise drehten.

Draußen brach eben die Dämmerung herein. Rosige Abendlichter lagen noch auf den weißen Gipfeln ferner Höhenzüge; über uns aber, im Azur des Himmels, zitterten bereits die ersten Sterne.

Schweigend schritten wir durch das Schweigen der Natur, während Tambi schnobernd an einem nahen Waldrande hinlief.

Nach einer starken halben Stunde hatten wir die Landstraße erreicht, wo sich unsere Wege trennten.

»Leben Sie wohl«, sagte ich, »und behalten Sie unsere Begegnung in guter Erinnerung. Vielleicht lassen Sie sich einmal bei mir sehen; Ihr Besuch wird mich jederzeit sehr erfreuen.«

»Ich werde mir jedenfalls die Freiheit nehmen; erlaube mir jedoch, zu bemerken, daß meine Zeit derart gemessen ist, daß ich vielleicht nicht so bald...«

»Ich bitte Sie, sich keinerlei Verpflichtung aufzuerlegen. Wir sind ziemlich nahe Nachbarn, und so können wir es getrost dem Zufall überlassen, daß er uns wieder zusammenführt.« Ich reichte ihm die Hand, die er mit der ihm eigentümlichen Unterwürfigkeit ergriff. Dann ging er.

Inzwischen war es Nacht geworden, und die Mondessichel, die hinter einem Hügel hervortauchte, warf ihr zauberisches Licht über die Landschaft. Plötzlich ertönte in der Ferne hinter mir lebhaftes, nach und nach verhallendes Gebell. Tambi hatte offenbar einen Hasen aufgejagt.


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