Ferdinand von Saar
Schloß Kostenitz
Ferdinand von Saar

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VIII.

Am folgenden Nachmittag saß der Freiherr am Schreibtische und richtete folgenden Brief an Frau Charlotte Nespern in Wien:

»Ich schreibe Ihnen in größter Beängstigung, liebe Tanti Lotti! Meine theure Clotilde, welche sich schon gestern unwohl gefühlt, ist heute in den frühen Morgenstunden von einem Schüttelfroste befallen worden, in welchem ich sofort den Vorboten einer ernstlichen Erkrankung vermuthete. Dennoch unterließ ich es, auf ihre Einsprache hin, nach einem Arzte zu schicken, denn der Anfall ging vorüber, und nur eine gewisse Abspannung war zurückgeblieben, welche Clotilde bewog, im Bette zu bleiben, wo sie auch späterhin in einen, wie es schien, ruhigen und erquickenden Schlaf verfiel. Aber gegen Mittag erwachte sie unter erneuten Fiebererscheinungen – und nun zögerte ich keinen Augenblick, nach dem Doctor zu senden, der aber, wie das schon so zu gehen pflegt, nicht anzutreffen war, da er sich zu einem Kranken außerhalb der Ortschaft begeben hatte. Es konnte nur der Auftrag hinterlassen werden, daß er nach seiner Rückkunft sogleich im Schlosse erscheine. Bis jetzt (vier Uhr) ist er noch nicht da – und ich fange bereits an, die Minuten zu zählen; denn das Fieber ist im Zunehmen begriffen und die geliebte Kranke, obgleich sie nicht darüber klagt, scheint an den quälendsten Kopfschmerzen zu leiden. In dieser verzweifelten Gemüthslage schreibe ich diesen Brief mit der innigen Bitte: wenn es Ihnen die Umstände nicht ganz und gar unmöglich machen, so eilen Sie hierher und stehen in voraussichtlich schwerer Zeit bei Ihrer Sie zärtlich liebenden Nichte und Ihrem treu ergebenen Günthersheim.«

Der Freiherr hatte das Schreiben hastig fertig gestellt und dann durch einen Diener eilends zur Post bringen lassen. Es gab damals noch keine Telegraphenverbindungen, auch keine Eisenbahnen, die von den Hauptlinien abzweigten, und so mußten wenigstens vier Tage verstreichen, eh' die sehnlich herbei Gewünschte eintreffen konnte. Der besorgte Gatte begann den Zustand der völligen Verlassenheit, in welchem er sich jetzt mit der Kranken befand, auf's verzweifeltste zu empfinden.

Nunmehr aber wurde das Erscheinen des Arztes gemeldet. Der Freiherr ging ihm rasch entgegen und führte ihn in das Zimmer, wo Clotilde lag, das Antlitz erhitzt, die Stirn mit einem kühlenden Umschlag bedeckt.

Der Doctor, ein hoher Fünfziger mit stark geröthetem, pockennarbigem Gesicht, trat auf seinen Stock gestützt – denn er hatte ein lahmes Bein – mit einer plumpen Verbeugung an das Bett und betrachtete sie aufmerksam. Dann entfernte er den kalten Bausch und befühlte die Stirn. »Diese Umschläge nützen nichts – Eis! Eis!« Er setzte sich auf einen Stuhl und prüfte den Puls der Kranken, an die er einige kurze Fragen richtete.

»Hm« – machte er nach einer Pause. »Ich werde eine Kleinigkeit verschreiben.« Damit erhob er sich und hinkte schwerfällig aus dem Zimmer.

Der Freiherr war ihm gefolgt und fragte jetzt ängstlich: »Nun, lieber Doctor – nun?«

»Cerebrales Fieber« erwiderte dieser trocken, indem er sich nach Schreibzeug umsah.

»Ich bringe Ihnen sogleich das Nöthige. – Aber sagen Sie: halten Sie den Zustand für sehr gefährlich?«

»Es kann eine Gehirnentzündung werden. Hat die Frau Baronin in letzter Zeit eine Aufregung durchgemacht?«

Trotz seiner Selbstbeherrschung und obgleich er auf die Frage vorbereitet gewesen, fühlte der Freiherr, wie er erröthete. »Sie hat sich allerdings einen Vorfall sehr zu Herzen genommen, aber –«

»Hm, ja. Kinderlose Frauen in solchem Alter und –« er warf einen eigentümlichen Blick auf den Freiherrn. »Uebrigens wer weiß, wie die Dinge zusammenhängen. Excellenz haben ja hier oben auch Einquartierung gehabt? Nicht wahr?«

Der Freiherr konnte eine Geberdc der Betroffenheit nicht unterdrücken. »Ja, gewiß –«

»Nun also. Ich kann Ihnen nur sagen, daß seit einigen Tagen im Orte Typhusfälle vorkommen. Vielleicht haben die Dragoner Etwas eingeschleppt und nun als Andenken zurückgelassen.«

Um seine Erregung zu verbergen, trat der Freiherr ins Nebenzimmer und brachte ein kleines zierliches Tintenfaß sammt Feder und Papier herein.

»So,« sagte der Doctor, nachdem er rasch ein Recept geschrieben,«das ist Alles, was ich thun kann. Im Uebrigen fortgesetzte Eisumschläge, kühlende Getränke. Unter allen Umständen aber möchte ich ihnen rathen, noch einen Arzt zu Rathe zu ziehen. Ich übernehme in solchen Fällen nicht gern allein die Verantwortung. Denn ich gelte, obgleich ich mein Diplom in der Tasche habe –« er schlug dabei an die Hüfte – »in den Augen vieler Leute doch nur als Landbader. Eine Capacität aus Prag – oder gar aus Wien hieher zu bescheiden, ist es freilich zu spät.«

»Zu spät!« rief der Freiherr angstvoll.

»Ja; denn die Krisis pflegt oft sehr rasch einzutreten.«

»Aber eine günstige Wendung ist doch möglich!«

»Möglich, ja. Schicken Sie daher gleich einen Wagen nach Trautenau – zu Doctor Lederer. Ein Schüler Oppolzers. Er ist zwar ein sonderbarer Heiliger und wird sich spreizen – schließlich aber kommen. Allerdings kann auch er vor zwölf Stunden kaum da sein,« fügte der Doctor nachdenklich hinzu.

»Sie beängstigen mich auf's äußerste!«

»Na! Na! Verlieren Excellenz den Kopf nicht. Eines muß ich Ihnen noch sagen, damit Sie nicht etwa allzu sehr erschrecken: es werden voraussichtlich schon heute Delirien eintreten. Jedenfalls komme ich Abends wieder. Guten Tag!«

Mit dieser gedankenlos gesprochenen Grußformel, die ihm bei jedesmaligem Kommen und Gehen zur Gewohnheit geworden, entfernte er sich und überließ den Freiherrn einer stummen Verzweiflung.

»Mein Gott! mein Gott! Sollte es schon so weit – und keine Rettung mehr sein?« flüsterte endlich der qualvoll Bedrückte und begab sich mit leisen Schritten in das Krankenzimmer zurück. Er beugte sich über Clotilde, die in unruhigem Schlummer zu liegen schien, und faßte leicht ihre Hand. Bei dieser Berührung schlug sie die Augen auf und sah ihn wie fremd an. Dann aber lächelte sie, und er fühlte, wie sich ihre Finger zu sanftem Drucke schlössen.

»Wie fühlst Du Dich?« fragte er.

»O nicht schlechter,« erwiderte sie mit matter Stimme. »Nur müde, sehr müde – ich möchte in einemfort schlafen.«

»Nun, schlafe, mein Kind, schlafe,« sagte der Freiherr zärtlich. Aber wir werden Eisumschläge machen müssen.«

»Das wird mir Wohl thun,« hauchte Clotilde, während sie schon die Lider geschlossen hatte.

Inzwischen war Eis gebracht worden und der Freiherr traf selbst die ersten Anstalten. Dann überließ er dem Kammermädchen die weitere Sorge, um jetzt die Absendung, des Wagens nach Trautenau veranlassen zu können. Er that es, wie er sich selbst eingestand, ohne tröstliche Erwartung. Denn mit jener ahnungsvoll düsteren Voraussicht, welche reifen und vielgeprüften Menschen eigen ist, zweifelte er bereits an einem glücklichen Ausgange. »Ich baue auf Ihre Umsicht,« sprach er zu dem Kammerdiener, den er mit der Botschaft an den Arzt betraute, »und weiß, daß Sie nichts verabsäumen werden.«

Dann kehrte er zu der Kranken zurück, hieß das Mädchen einstweilen sich entfernen und nahm dicht an dem Bette Platz. Clotilde schlummerte. Aber sie bewegte Kopf und Arme hin und her; ihre weißen Finger schienen von dem blauen Atlas der Bettdecke Flocken auflesen zu wollen.

Langsam, bleischwer zogen die Stunden vorüber, während draußen die Sonne tiefer und tiefer sank und ihr letztes röthliches Gold durch die Spalten der Jalousien schimmern ließ.

Was war das plötzlich? Clotilde hatte die Lippen bewegt und unverständliche Worte gemurmelt. Er glaubte, sie gälten ihm, und neigte sein Haupt tief zu dem ihren hinab. Aber sie bemerkte es offenbar nicht.

»Willst Du Etwas, Clotilde?« fragte er leise.

Keine Antwort; nur erneutes, stärkeres Gemurmel – unverständliche Worte.

Sein Herz erstarrte. Die beginnenden Delirien! sprach es in ihm.

Immer unruhiger wurde die Kranke; sie warf ächzend und stöhnend den Kopf hin und her, und schien dabei mit unsichtbaren Personen zu sprechen.

Wenn er nur verstehen könnte! Und jetzt waren ihm auch einige Worte deutlich in's Ohr gedrungen. Es waren französische Worte! Sie hatten sich Beide im gegenseitigen Verkehr dieser Sprache nur selten bedient; ja Clotilde hegte eine Art Abneigung dagegen, denn sie hatte sie in ihrer Jugend äußerst schwer und mühsam erlernt und später nur sehr unvollkommen beherrscht. Und jetzt – in ihrer Krankheit.– in der Bewußtlosigkeit ihres Geistes griff sie darnach!

»Le chéval! Le chéval!« stieß sie jetzt, furchtbar aufschreiend, hervor und richtete sich mit halbem Leibe auf. Plötzlich aber sank sie wieder zurück, streckte sich lang aus und verblieb regungslos.

Der Freiherr nahm dies Alles wahr im ungewissen Dunkel des Gemaches. »Clotilde!« rief er entsetzt. »Clotilde!«

Sie blieb stumm.

»Mein Gott!« ächzte der Freiherr. »Wenn nur Doctor –«

Aber der trat auch eben jetzt, so leise wie es ihm möglich war, durch die Thür, von dem ängstlich blickenden Mädchen gefolgt, welches das Licht einer Kerze mit vorgehaltener Hand dämpfte.

»O Doctor, sehen Sie nur ....«

Dieser nahm dem Mädchen das Licht ab und ließ den vollen Schein auf Clotilde fallen. Sie lag noch immer ganz starr; ihr schönes Antlitz war verzerrt, die Mundwinkel herabgezogen.

»Mein Gott, Doctor, was ist das?«

Dieser schien selbst erschrocken; er hatte diesen Anblick offenbar nicht erwartet. »Trismus – Trismus« sagte er endlich. »Ist Senfmehl im Hause? Rasch!«

Das Mädchen eilte fort.

Aber schon trat Etwas ein, das den Freiherrn erschaudern machte. Ein plötzliches Schüttern ging durch den Körper seiner Frau; die Augen öffneten sich weit, die Finger krampften sich zusammen und mit zischenden Athemstößen schnellte die Kranke wiederholt im Bette empor.

»Konvulsivischer Anfall!« rief der Doctor. »Ein so akuter Verlauf ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen. Sobald einige Beruhigung eintritt, werde ich sofort einen Veneneinschnitt applicieren. – Aber jetzt, Excellenz, ist es Zeit, daß Sie nach dem Geistlichen schicken.«

Der Freiherr zuckte zusammen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Dem Geiste seiner Zeit gemäß war er kein Ungläubiger; auf religiöse Gebräuche und Feierlichkeiten jedoch hatte er, so wie seine Gemahlin, die ihre stille Andacht am liebsten in der kleinen, im Erdgeschoß gelegenen Schloßkapelle verrichtete, seit jeher nur wenig Gewicht gelegt. Jetzt aber sollte Clotilde mit den Sterbesakramenten versehen werden, und die tiefernste Bedeutung des Augenblickes fiel ihm erschütternd auf die Seele.

Es traf sich, daß der Ortspfarrer, der durch einen Diener in Kenntniß gesetzt wurde, seit einigen Tagen selbst unwohl war und daher seinen Cooperator entsenden mußte; dieser erschien auch in kurzer Zeit.

Der Freiherr war ihm die Treppe hinunter entgegengegangen und befand sich einem ganz jungen Geistlichen gegenüber, der erst vor Kurzem aus dem Alumnat getreten sein konnte. Eine schmächtige, hoch aufgeschossene Gestalt mit blonden Haaren und einem zarten, fast mädchenhaften Gesichte, das Befangenheit und Verlegenheit ausdrückte. Als ihm jetzt der Freiherr mit zitternder Stimme auseinandersetzte, wie so ganz unvorhergesehen und rasch der traurige Fall eingetreten – und daß die Kranke bewußtlos sei, erwiderte er, hoch erröthend: »O ich verstehe, ich verstehe – ich werde die heilige Handlung so rasch wie möglich vornehmen.«

Die Augen zu Boden gesenkt, betrat er das matt erhellte Zimmer und erhob den Blick erst, als er dicht vor der Kranken stand, bei welcher der Doctor inzwischen eine leichte Blutentziehung angewendet hatte. Mit bebender Stimme und bebender Hand nahm er, während die Anderen in dem Hintergrunde des Zimmers knieten, die Ceremonie der letzten Oelung vor; er wagte dabei das regungslose, bleiche junge Weib kaum anzusehen, und es glich einer Flucht, als er nach einem kurzen Gebete das Zimmer verließ.

Der Freiherr war ihm nachgeeilt und ergriff draußen dankend seine Hand. »Gott schütze Sie!« murmelte der Priester, hastig abwehrend, und entfernte sich mit dem Meßner, der jetzt im Hofe sein Glöckchen erklingen ließ.

Als der Freiherr zurückkehrte, fand er den Doctor am Bette, trübselig das Haupt gesenkt. Beide blickten nun schweigend auf Clotilde, aus deren schönem Antlitz die Verzerrung verschwunden war. Aber sie hatte die Augen geschlossen und athmete hastig und stoßweise.

»Doctor!?« flehte leise der Freiherr.

Der andere schüttelte muthlos den Kopf. »Sopor! Sopor!« sagte er leise.

»So muß ich mich auf das Aeußerste gefaßt machen?«

»Ich glaube. Was geschehen konnte, ist geschehen. Es wäre jetzt an der Natur, sich selbst zu helfen. Jedenfalls bleibe ich hier. Ich darf mich wohl ein wenig da drinnen auf das Sopha hinstrecken?« Mit diesen Worten zog er sich in das anstoßende Zimmer zurück.

Der Freiherr jedoch kniete am Bette nieder. Bis zu dieser Minute war sein Auge trocken geblieben. Der furchtbare Krampf seines Inneren hatte keine Lösung finden können. Jetzt aber machte er sich in Thränen Luft. Zuerst drängten sie sich einzeln, tropfenweise zwischen den Wimpern hervor, aber immer strömender, immer heißer weinte sie der gebrochene Mann auf die geliebte Hand nieder, die er umfaßt hielt ....

»Doctor! Doctor!«

Dieser fuhr, aus dem kurzen Schlafe, in den er verfallen war, von dem Freiherrn wachgerüttelt, empor.

»Ein neuer Anfall! Ein neuer Anfall!«

»So, so,« sagte der Doctor, sich etwas mühsam zurechtfindend, und folgte in das Krankenzimmer.

Der Anfall war heftig, aber kurz. Clotilde lag wieder ruhig da; sie schien jedoch kaum mehr zu athmen.

Und nun geschah Etwas, das nur Diejenigen kennen, welche an Sterbebetten gestanden haben. Clotilde öffnete mit einemmale die Augen und richtete sich mit halbem Leibe empor. Ausdruckslos blickte sie um sich; dann kehrte sie ihr Antlitz langsam dem Gatten zu. Sah sie ihn? Sah sie ihn nicht? Wer konnte es sagen? Unverwandt, aber verglast blieben ihre Augen auf ihn gerichtet. Plötzlich lächelte sie; dann fiel sie in die Kissen zurück, seufzte tief auf – und ihr Kinn sank zur Brust hinab.

Der Freiherr von Günthersheim beugte sich über die Leiche.


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