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Der Gespenster-Bungalow.

1.

Wir hatten uns in Bombay bei Watson kennen gelernt und später in Benares in Clarks Hotel wiedergesehn. Wir hatten in Agra in demselben Hotel gewohnt, und jetzt trafen wir uns mitten im Gebirge.

»Wirklich ein tolles Stück!« meinte Oberst Butler und schüttelte uns die Hand.

Ich sage: Mitten im Gebirge.

Nehmt eine Karte von Indien und legt den Finger auf Darjeeling. Fahrt mit ihm nach Nordwesten – nach der Grenze von Nepal. Da werdet ihr eine Straße finden, eine große Straße, die aus dem Gebirge kommt und nach der Ebene hinunterführt. Der Verkehr auf der Straße ist heute gleich null. Streckenweise existiert sie überhaupt nicht mehr. Oben ist sie noch vorhanden. Windet sich in hundert Krümmungen zum Paß hinauf. Aber man konnte es verstehn, daß der Oberst sie einen Schandfleck für die ganze anglo-indische Verwaltung nannte. Denn die Straße war miserabel, und wir verdankten es nur unsern kleinen, tibetanischen Ponys, daß wir nicht ohne weiteres den Hals brachen.

Der Weg lief auf steilen, schmalen Bergrücken entlang, kletterte die kahlen Felskuppen hinauf und tauchte wieder hinab, in tiefe, feuchte Wälder aus Eichen, Lorbeeren, Kastanien, Zimtbäumen. Oder es ging im trocknen Bett eines Gebirgsbachs weiter. Rechts und links Bambusrohr oder baumhohe Rhododendren und Magnolien. Unsere Gäule stampften durch Barrikaden von blutroten und weißen, faustgroßen Blüten, die abgefallen waren und einen starken, würzigen Duft verbreiteten.

Vom Hochgebirge war noch nichts zu sehn. Millionen von Silbertannen verschränkten oben die Aussicht. Wie ein schwarzer Samtgürtel hielten sie das wundervolle, tiefblaue Kleid des Himmels zusammen, an dem – als großer, einziger Goldknopf – die Sonne prangte.

»Du wirst bloß noch 'runterfallen, Carry!« knurrte Oberst Butler.

Mrs. Butler lachte und ließ ihren Pony noch näher an den Abhang herangehn.

»Carry – –!!«

Der Oberst biß sich auf den dicken, eisengrauen Schnurrbart. Dann gab er seinem Pferde einen Schlag. Das Tier drängte nach vorn und rannte gegen den Pony an, auf dem sie saß.

Wenig fehlte, dann lagen beide unten.

»Sind Sie des Teufels, Oberst?« brummte Rolby, der voran ritt. Er packte mit seiner Riesenfaust den Pony am Zügel und riß ihn vom Abhang.

Mrs. Butler war blaß geworden. Sie setzte sich wieder im Sattel zurecht. »Was meinen Sie, Mr. Rolby – – – wenn er mich da hinab würfe?«

Rolby behielt den Zügel ihres Pferdes in der Hand.

»Was ich meine – –? Hm!« machte er. »Kalkuliere: Sind keine fünfundzwanzig Fuß. Wenn man nicht grade unter den Pony zu liegen kommt – –«

Sie lachte. Es war ein eigenartiges Lachen. Ein leises, heimliches Lachen, und doch ein Lachen, das uns in jedem Nerv vibrierte.

Rolby hielt einen Augenblick inne; dann fuhr er bedächtig fort:

»Wenn man nicht unter den Pony zu liegen kommt, braucht man nicht grade den Hals zu brechen. Sind dort unten höllisch viel Nesseln und Berberitzen. Gibt das ein komfortables Bett, meine ich.«

Er sah sie mit seinen halb treuherzigen, halb verschmitzten Augen an.

Wir ritten weiter.

Der Oberst sah finster drein. Er war wahrhaftig keine angenehme Reisebekanntschaft. Sein tief gebräuntes, fast schwarzes Gesicht mit der plumpen Nase und den gelben, stechenden Augen hatte etwas Brutales, Gemeines. Mit seiner Frau stand er offenbar in schlechtem Einvernehmen. Man konnte sich gar kein Paar denken, das weniger zu einander paßte. Der kleine, vierschrötige Mann mit seiner Bulldogmaske und die elegante Frau mit dem prachtvollen Haar und den berückenden Augen ...

Der Weg wurde steiler, schlängelte sich zwischen tief eingeschnittenen Wasserläufen und engen Schluchten zu einer Berghalde empor, die bis zum Fuß der Tannen hinanstieg. Die kurze, glatte Rasennarbe, auf der unsere Tiere ausrutschten, ein paar einsame Rollsteine von kolossaler Dimension – Granitfindlinge, mit Gneisadern durchschossen und von schwefel- oder scharlachfarbigen Flechten und Moosen karriert und gesprenkelt – goldne Wolken aus langem, trocknem Federgras: alles leuchtete in prächtiger Verklärung. Große, schwarze Schmetterlinge mit gelben oder purpurroten Augen auf den Flügeln segelten durch die stille, heiße Luft; oder sie saßen auf den glühenden Felsblöcken, klappten die stolzen Schwingen auseinander, grade als wenn sie uns ihre Schönheit zeigen wollten.

Oben am Walde machten wir halt. Wir stiegen ab und setzten uns in den Schatten, um auf unsere Leute zu warten.

»Was hat Sie eigentlich nach Indien geführt?« fragte Mrs. Butler. »Sie sind doch Amerikaner, Mr. Rolby?«

»Bin ich, Mrs. Butler! Bin ich,« nickte der.

»Und wo sind Sie drüben zu Hause, Mr. Rolby?«

»Bin ein Missourimann, Mrs. Butler. Ein richtiger Missourimann! – Unten vom Mississippi.«

»Vom Mississippi?« sagte Mrs. Butler. »Wir kennen New Orleans und den Mississippi. Nicht wahr, Charley?« Sie wendete sich zu ihrem Manne, der verdrießlich zuhörte.

»Ist ein stolzer Strom der Mississippi,« fuhr Rolby fort. »Der Meister aller Ströme! Schluckt Euren Ganges über, ohne Magenschmerzen zu bekommen, schnappt Euren Indus zum Frühstück weg und guckt sich noch nach mehr um. Sage: Ist ein glorreicher Strom – der Mississippi; steckt alle Eure Ströme, Flüsse und Flüßchen – wie sie auch heißen mögen – in die Tasche.«

Ich unterbrach ihn. Denn ich kannte sein Lieblingsthema und wußte, daß es schwer hielt, ihn davon abzubringen. »Dick!« sagte ich also, »Dick –«

Aber der Oberst kam mir zuvor. »Mr. Rolby,« fragte er, »Sie haben uns noch nicht gesagt, was Sie nach Indien führte.«

»Was mich nach Indien führte?« erwiderte Rolby. »Was mich nach Indien führte? – Du lieber Himmel! – Wollte Tiger schießen, mit den Radschas Brüderschaft machen – – wollte Elefanten jagen und Kamele reiten, wollte Buddha und den andern Heidenkerlen meine submisseste Verehrung machen, wollte – – – Ja, was wollte ich nicht alles, Oberst!«

Ich mußte lachen. Rolby war bei aller Biederkeit ein neunmal durchgesiebter Bursche von echter Yankeesmartneß. Er gehörte zu einem englisch-amerikanischen Syndikat, das die Kohlenfelder des Damudatals ausbeuten wollte. Nach Darjeeling war er herauf gekommen, um dort die heißeste Zeit zu verbringen und mit mir über den Erwerb von Goldseifen und Diamantgräbereien im Vindhyagebirge zu beraten.

Aber der Oberst ließ nicht locker. »Mr. Rolby!« fuhr er fort. »Sie kommen aus Bhopal?«

Wir staunten.

»Sind ganz respektabel informiert,« brach Dick endlich los, und ich fragte, ob er zur Geheimpolizei gehöre.

Die geheime Polizei spielt in Indien eine große Rolle.

Der Oberst stutzte. Mrs. Butler aber lachte, so herzlich, wie ich es noch nicht von ihr gehört hatte. Sie schüttelte sich ordentlich vor Lachen.

»Charley!« stöhnte sie nach einer Weile. »Du – und die Polizei!«

Sie konnte sich garnicht zufrieden geben, bis ihr ihr Mann unter seinen dicken Augendeckeln hervor einen Blick zuwarf, der sie verstummen machte.

Nach einer Minute fing er von neuem an.

Der wortkarge Mann war mit einmal gesprächig geworden. Um das Damudasyndikat wußte er. Ebenso, daß Rolby in Bhopal und Rajpur gewesen war, um die Vindhya zu besuchen. Und wir wunderten uns über die treffenden Bemerkungen, die er machte, sein sicheres Urteil und die kaufmännische Kenntnis, die bei einem Offizier erstaunlich war. Auch wir traten mehr aus unserer Reserve heraus. Das Gespräch wurde lebhaft, drehte sich um alle möglichen Dinge, Handels- und Industrieunternehmungen, Geld- und Bankverhältnisse, bis das »Mail, mail! – ai hai! – arre, arre!« unserer Leute über die stille Matte herüberklang.

Unsere Karawane zog mit gellendem Geschrei vorüber, den Wald hinauf. Der Kuli-Sirdar Anführer der Lastträger. an ihrer Spitze. Wir saßen noch und schauten den Weg hinab, den wir gekommen waren. Bei Gott! War das schön – –!

Wie Kulissen schoben sich die Berge in einander. Reckten und streckten die buntgefleckten Riesenleiber, an denen die Wälder bis zur Ebene hinabkletterten. Bei der köstlichen Klarheit der Atmosphäre konnte man deutlich die einzelnen Vegetationszonen unterscheiden, die das Gebirge umgürten.

Unten an der Halde fingen Eichen, Kastanien, Lorbeer und Magnolien an. Draus lugten – kokettem Spielzeug gleich – die weißen Häuser von Darjeeling. Dann kam – nach unten – die Region des Baumfarns, dann Palmen und wieder Palmen mit ihren wundervollen Kronen und Fächern und Säulenschaften und zuletzt, ganz unten am Fuße des Gebirges, die wogenden Massen der wilden Platane, die in Sikkim zu Hause ist.

Aus tief eingerissenen Schluchten, ein paar tausend Meter unter uns, brachen die Bergwasser heraus – der Myong, der Pemmi, der Tambar und wie sie alle heißen, die hoch vom ewigen Schnee herunter kommen. Und draußen in der unermeßlichen Ebene zwischen Reis- und Mais- und Weizenfeldern, Bananengärten und Zuckerrohrplantagen, Orangen-, Feigen-, Palmenhainen, – – – zwischen Städten und Dörfern, Palästen, Hütten, zwischen Kuppeln und Türmen, Pagoden ... da blitzten die Fluten des heiligen Stroms.

– – Wir stiegen zu Pferde und ritten in den Himalayawald. Kühl umfing uns der Schatten der Silbertannen.

Die Sonne stand schon niedrig.

Der Wald war still. Ab und zu baumte ein schwarzes Eichhörnchen auf, oder ein paar Bülbüls schlüpften, wie große Mäuse, durch die Zweige. Der Krishenpatti ließ sein eintöniges Lied hören, das so seltsam zu Herzen geht. Da leuchtete es vor uns auf.

Fackellicht unter den Tannen?

Ein kalter Luftzug flog uns entgegen. Die Ponys schnaubten und verfielen in munteres Tempo. Wir hatten den Bergsattel erreicht.

Der brennendrote Abendhimmel hing über dem Gipfel. Der ragte keine tausend Schritt von uns empor. Alles gleißte in rotem Licht: die Kuppe, das kahle, mit Schutt und Geröll bedeckte Plateau, die wenigen Latschen- und Wachholderbüsche ...

Es war ein seltsames, überirdisches Licht, das wie eine ziegelrotgoldige Patina den ganzen Berg überzog und uns blendete. Wir mußten die Augen mit der Hand beschatten.

»Hurra!« rief Rolby. »Da sind sie! – Bei meiner Seele! – da sind sie! Wie in der Geschichte vom artigen Jack, der ins Märchenland reiste ...!«

Wir brachen in einen Schrei des Entzückens aus. Über dem Passe standen die Schneeberge, von der untergehenden Sonne mit tausend und abertausend Lichtern und Farben übergossen.

Tausend und abertausend Lichter und Farben, die Menschenhand nicht schaffen, keines Menschen Hirn sich ausmalen kann. Ein Chaos von Farben ... und wieder kein Chaos. Schroffe Kontraste – ein Wettstreit von zarten und schreienden Tinten – und wieder ein köstliches Verschmelzen von Farben und Farbentönen ... ein Ineinanderfließen feinster Nuancen ...

Rechts im weiten Bogen bis zum Tschola zehn – zwanzig – hundert funkelnde Spitzen: die Berge von Sikkim; links in veilchenblauen Schatten eingehüllt, die Kette von Nepal. Und dazwischen – im Norden, gerade vor uns – türmte sich das ungeheuere Massiv des Kantschindschinga gegen den blutroten Zenit ... ein grandioser Sockel aus Firnen und Gletschern, und droben in furchtbarer Unnahbarkeit die drei granitnen Zinnen, über die noch die letzten Sonnenstrahlen, wie feurige Zungen, leckten.

– Der Sirdar riß uns aus der Verzückung. Er hatte eine Strecke weiter unten halt gemacht und das Lager aufgeschlagen. Mipo war ein prächtiger Bursche. Er stammte aus Chabang am Tawa, kannte hier oben Weg und Steg und hielt seine Leptscha brav in Ordnung. Der Platz paßte zum Camp. Der Berg fiel an dieser Seite terrassenförmig ins Tal ab. Auf der obersten Terrasse, durch Wald und Bergkuppe geschützt, standen die Zelte. Keine hundert Schritt von einer Quelle, die in sumpfiger Rinne zu Tal floß. Schilf und Zwergbambus begleiteten ihren Lauf und gaben dem Fleck etwas Freundliches, Anheimelndes.

Unsere Leute hatten sich schon häuslich eingerichtet. Gleich vorn unter uralten Tannen das Zelt, das Rolby und ich bewohnten. Weiter zurück das des Obersten. Es war ein ganz stattliches Ding, aus weiß- und rotgestreiftem Segeltuch, die Stangen mit eleganten Messingknäufen; oben flatterte ein grüner Seidenwimpel. An der Vorderseite eine Art Veranda aus Bambusstäben, mit Palmgrasdecken austapeziert. Ein großer Feldtisch, Bambusstühle und eine allerliebste, kleine Chaiselongue – natürlich auch aus Bambus und mit Yakleder überzogen – vollendeten die Einrichtung.

»Donnerwetter!« machte Rolby bewundernd. »Sind komfortabel einlogiert, Oberst.«

Der Oberst nickte. »Und es bleibt dabei, daß Sie das Dinner auf unserer Veranda einnehmen.«

– – Wir stiegen ab, gaben die Pferde dem Syce und gingen ins Zelt. Das erste war ein Tschatty Gefäß zum Uebergießen des Badewassers.-Bad, ohne das es in Indien nicht geht. Dann bummelten wir durch das Lager. Revidierten die Ponys und die Bagage. Besuchten Habib Ullah, den mohammedanischen Koch, der mit der Würde eines Propheten seines Amts waltete. Habib war Küchenjunge bei einem der unzähligen Duodezfürsten im Norden Indiens gewesen. Dann kam er in gleicher Eigenschaft zum achten Regiment, und von dort avancierte er nach Agra ins Metropol. Warum er diesen ehrenvollen Posten aufgegeben hatte, war nicht aus ihm 'raus zu kriegen. Jedenfalls war er ein geschickter Koch, der es ab und zu über das Herz brachte, sich die Hände zu waschen, und wohl auch ein ehrlicher Mensch, soweit das bei einem Eingeborenen möglich ist. Ein Glück, daß wir ihn hatten! Denn der Bawartschi Koch. des Obersten war unterwegs krank geworden und wieder umgekehrt.

Unser braver Küchenchef hockte mit untergeschlagenen Beinen vor seinem kleinen, transportabeln Ofen, der ihn überallhin begleitete. Gleichzeitig briet und schmorte er noch auf zwei offenen Feuerstellen, die er rechts und links von sich in die Erde gegraben hatte.

»Hallo, Mr. Habib!« sagte Dick, »wie steht's mit dem Dinner?«

Der Alte salamte.

Ein freundliches Grienen lief über sein schwarzes Gesicht. Rolby war bei allen Natives beliebt. »Bara Sahib« Der große Herr. nannten sie ihn wegen seiner phänomenalen Körpergröße.

»Khoda segne Euere Herrlichkeit!«

Dann berichtete er das Menü. Zuerst gab's die obligate Grünkernsuppe, dann Murgian quawa – gebratenes Huhn – mit Aru, Scorzoneren und grünen Schoten. Zuletzt kam Curry mit Reis, ein Gang, der in Indien bei keinem Essen fehlen darf, und zum Schluß – als Nachtisch – eingemachte Früchte: Aprikosen, Pistacien, Ingwer, Quitten und die delikaten Mangofrüchte ...

Auf der Veranda empfing uns Mrs. Butler.

Wir nahmen Platz. Der Tisch war geschmackvoll gedeckt; blendender Damast, elegante Weinkelche, sogar Sektgläser schmückten die Tafel. Der Sirdar hatte einen Strauß bengalischer Rosen aufgetrieben, der in der Mitte prangte. Eine stilvolle Hängelampe aus matter Bronze beleuchtete das Ensemble.

Rolby strahlte. Bei aller Rauheit war er doch für den Zauber behaglicher Häuslichkeit besonders empfänglich. Ebenso ging's ihm mit der holden Weiblichkeit. Freilich hatte er es noch nicht zu einer Frau gebracht. Es fehlte ihm – wie er zu sagen pflegte – die Zeit dazu.

Auch Mrs. Butler hatte es ihm angetan. Seitdem er ihren Gaul vom Abhang gerissen, ging er ihr nicht mehr von der Seite. Und die schöne Frau ließ sich seine Huldigung gern gefallen.

»Wo steckt nur mein Mann?« meinte sie ungeduldig.

Ich sagte, daß wir ihn mit seinem Hindudiener vor einer Weile bei den Pferden gesehn hätten, und Rolby fragte: »Wie ist der Oberst nur zu dem widerwärtigen Burschen gekommen? Hat eine ganz verbotene Physiognomie, der Mann – ein Paar Augen in seinem grüngefleckten Halunkengesicht, wie eine Mocassinschlange. Jagte ihn lieber heute als morgen zum Teufel ... Wo er auch hin gehört!«

Mrs. Butler lachte ihr melodisches Lachen, das uns beide immer wieder berückte.

»Aber, was hat Ihnen denn der arme Boy getan?! Er ist ein Muster von einem Diener, wie man ihn in Indien garnicht wieder kriegt. Und für sein gräßliches Gesicht kann der Mensch doch nicht.«

Dick schüttelte den Kopf. »Verstehe den Oberst nicht, daß er sich so einen Galgenvogel aufgeladen hat. Auch die andern Leute gefallen mir nicht.«

»Warum mieteten Sie keine Leptscha?« fragte ich. »Das sind die besten Kulis hier oben.

Sie kennen das Gebirge, vertragen Bergsteigen und Höhenluft. Dabei sind es zuverlässige Menschen. – Sehn Sie doch bloß unsern Mipo an!

Das Volk, das in Darjeeling zusammenläuft und seine Dienste anbietet, ist der Abhub von ganz Indien. Da gibt's Leute aus Bengalen, Orissa, Tschota – Nagpur, aus dem Punjab; selbst aus dem Berar und aus Madras kommt Gesindel herauf, um ein paar Rupien zu verdienen. Von allen Ihren Leuten taugt nur der Dhobi Wäscher. etwas. Das ist ein Kulu-Mann. Dort gibt's ordentliche Boys.«

Mrs. Butler nickte: »Sie mögen recht haben. Aber – – wir haben sie vom Agenten bekommen.«

»Netter Agent das!« knurrte Rolby. Mir wollte es nicht scheinen. Denn ich war mit den Verhältnissen bekannt und wußte, daß es gar nicht schwer hielt, gute Kulis zu finden. –

Das Gespräch war Mrs. Butler offenbar nicht angenehm. Drum begrüßten wir es, als der Oberst erschien. Ein Pony war geschlagen worden. Er hatte selber den Verband angelegt und räsonierte über die verd– – Natives, die an allem schuld seien.

»Khana ka hukm do!« »Laß anrichten.« wandte er sich an seinen Diener, der mit gekreuzten Armen hinter ihm stand und auf den Befehl zum Anrichten wartete.

»Khana mez par lao!« »Bring das Essen auf den Tisch.« gellte der zu Habib Ullah hinüber ...

Das Dinner machte Habib alle Ehre. Wir verlebten einen sehr vergnügten Abend und gingen erst spät zur Ruhe. – – – – – – – – –

*

Am nächsten Morgen klapperten wir den Wald nach Fasanen ab, die in Sikkim häufig vorkommen.

Mrs. Butler schloß sich uns an. Der Oberst blieb im Camp, um Briefe zu schreiben.

Kühl wehte es von den Schneebergen, die ihre Silberscheitel in den köstlich blauen Sonnenhimmel reckten. Von der Straße zweigte sich gleich beim Lager ein Fußweg ab, dem wir folgten. Schattengesprenkelte Tannen, blaugrüner Wacholder, mannshohes Riedgras. In den goldnen Wipfeln rauschte der Bergwind; unten sang und kicherte der Bach. Ein zarter, lavendelblauer Duft stieg aus den Tälern und schleierte um die fernen Kuppen. Vogelgezwitscher; die kleinen, schwarzen Eichhörnchen häkelten sich, pfeifend und murksend, an den kerzengeraden Stämmen in die Höhe.

Ich ging voran. Die beiden andern folgten langsam. Sie sprachen laut und lachten. Wie konnte man da zum Schuß kommen!

»– – Die vermaledeite Liebelei!« Ich war mit der ganzen Geschichte überhaupt nicht einverstanden und verwünschte den unbegreiflichen Zufall, der uns zusammengeführt hatte. Wie ich mich umdrehte, sah ich, daß Rolby eine Rose im Knopfloch hatte, die Mrs. Butler vorher im Gürtel trug. Ich stieß einen lästerlichen Fluch aus und muß zu meiner Schande bekennen, daß es der blasse Neid war, der ihn mir auspreßte.

Sie paßten zu einander.

Rolby mit seinem kleinen, feinen Kopf und den Athletenschultern; Mrs. Butlers schlanke Figur, ihre wundervollen Formen, die durch das schicke weiße Flanellkleid nur noch gehoben wurden ... das Elfenbein des schmalen Gesichts mit dem zierlichen Bocksnäschen, den blassen, schöngeschwungnen Lippen, den Augen – –!

Ich schlenderte weiter, die Flinte im Arm. Das Silberlachen wollte mir nicht aus den Ohren. Da lichtete sich der Wald. Ich staunte ... Vor mir in einer Einsattelung ein schmales Wiesental und drüben auf der andern Seite – keine hundert Schritt! – ein Haus.

Ich blieb stehen.

»Hallo, Rolby!« rief ich. »Ein Bungalow.«

»Scheint nicht bewohnt zu sein,« meinte der.

Wir gingen 'ran. Das Haus sah nicht vertrauenerweckend aus. Verfallen, die Fenster mit Brettern verschlagen, das Dach windschief, die Veranda eine Ruine.

»Ein richtiges Rattenloch!« lachte er. »Aber grandios gelegen.«

Aus den Hinterfenstern mußte man einen überwältigenden Blick auf die Kluft haben, deren fürchterlich zerrissene Felswände ein paar tausend Fuß hinabstürzten. Vorn das schmale, grüne Waldtal, das sich sichelförmig an die dunkeln Tannen anschmiegte. Darüber die Pandim-Gletscher. Sie funkelten in der Sonne wie goldgefaßte Berylle und Aquamarinsteine.

»Ein alter Dak Bungalow,« sagte Mrs. Butler.

»Der sich vor dem Schnee hier 'runter in das warme Tal geflüchtet hat.«

»Nein!« erwiderte Dick. »Wo kommt der Garten her?«

Er hatte Recht. Das Haus lag in einem verwilderten Garten, den sicher nicht die Hand eines Eingebornen angelegt hatte. Bäume und Pflanzen, die man in dieser Höhe sonst nicht findet, wuchsen beim Bungalow. Die hatte ein Sahib mit heraufgebracht – in das warme, geschützte Tal, das wie ein Treibkasten für ihr Fortkommen sorgte. Wir schätzten das Alter der Banianen-, Walnuß- und Orangenbäume auf etwa zwanzig Jahr; aber das Haus war höchstens erst ein paar Jahr verlassen.

Rolby kletterte auf die Veranda und rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Unheimlich hallte es im Hause wider.

»Kommen Sie, Mr. Rolby!« rief Mrs. Butler. »Lassen Sie doch die alte Baracke!«

Sie stand an der Tamariskenhecke, die das Gehöft nach dem Abgrund zu begrenzte, und pflückte einen Strauß von den herrlichen, violetten Blütentrauben.

Aber Rolby ließ nicht locker. Er kletterte auf den Sims unter dem Fenster, das nach der Veranda hinausging, und seiner Bärenkraft gelang, ein Brett loszuwuchten.

Wir guckten beide durch die blinde Scheibe. Mit einmal fuhren wir zurück. Es hatte drin an das Fenster geklopft.

»Eine Fledermaus,« sagte ich, und wir versuchten wieder hineinzusehn. Aber wieder fuhren wir zurück.

» Damn!« knurrte Rolby. »Der Katen ist behext.«

Deutlich sahn wir hinter der dunklen Scheibe eine Gestalt. Sie bewegte, bückte sich ... ein weißes Gesicht erschien an der Scheibe. Plötzlich aber lachte Rolby, wie nur Rolby lachen kann. »Mrs. Butler!« schrie er ausgelassen und schwang seinen Hut. »Bei Jingo! Sind ein paar gloriose Helden, Ralph!«

Wir lachten. – Wie war sie aber hinein gekommen? Vorn nur die eine Tür. Die Giebelwände hatten weder Tür noch Fenster. Also mußte sie von hinten ins Haus gelangt sein. Doch da war der Abgrund. – –

»Verhext, Ralph!« sprudelte Rolby. Dann stieß er mit dem Kolben die Scheibe ein. » Good day, Mrs. Butler! Wie kommen Sie aber wieder 'raus?«

Wir hörten ihr glockenhelles Lachen. Dann verschwand sie vom Fenster. Wir stürmten nach der Hinterfront. Senkrecht fiel die blanke Granitwand in die Tiefe. Die Mauer des Bungalows stand unmittelbar auf der Felsenkante, die ihr zum Fundament diente.

»Teufel!« sagte Dick. »Da ist sie hinüber.«

Er wies auf einen kleinen, baufälligen Balkon, der über dem schrecklichen Abgrund schwebte. Eigentlich waren es nur noch zwei eiserne Schienen, zwischen denen der Fußboden hing.

»Teufel!« wiederholte er und maß mit den Augen den Sprung. Er hätte ihn für seine Person wohl riskiert – wenn Not am Mann war. Aber – –?

Er sah mich mit wilden Augen an. »Sie darf den Sprung nicht wieder machen! Ich laufe und trete die Tür ein.«

Aber da war sie schon auf dem gräßlichen Sprungbrett. »Achtung!« Ein scharfer Schrei, wie ihn der Jockei ausstößt, wenn er die Hürde nimmt. Dann landete sie sicher und elegant neben uns auf dem Felsen.

– Die Sache war uns auf die Nerven gefallen. Noch nie hatte Rolby so jämmerlich schlecht geschossen, wie an diesem Morgen. Aber zuletzt konnten wir Mr. Habib doch noch ein paar Fasanen und einen speckfetten Berghasen zu Füßen legen.

Im Lager fanden wir Fremde – Ghorkas, die aus einem der nahen Nepaldörfer über die Grenze herüber gekommen waren. Sie hatten ein Zicklein, Eier, frische Milch, Pisangfeigen, Zwiebeln, Petersilie und Jamswurzeln mitgebracht: Geschenke, die vom Oberst fürstlich erwidert wurden. Jetzt hockten sie um ihr Feuer und kochten ab. Es mochte ein Dutzend Männer sein; auch zwei Frauen waren dabei. Die Gruppe nahm sich eigentümlich malerisch aus. Stämmige Burschen, besonders ein sehniger, hagerer Graukopf, der wohl der Anführer war. In blau und weiß gestreiften Wollkitteln, die Tartarenmütze über den ernsten, braunen Gesichtern. Das krumme Nepalesenmesser steckte jedem im Gürtel und die wunderlich geformte Tabakpfeife aus Messing im Munde.

Unsere Leute wollten nichts von ihnen wissen. Die Nepalesen gelten für heimtückisch und gewalttätig, stehn im Verdacht der Zauberei und anderer böser Künste und werden besonders von den Bengalen und den Nordindern gehaßt und gefürchtet. Der Oberst kümmerte sich nicht darum. Er sprach mit dem Anführer der Bande, und wir wunderten uns, daß er dessen Nepali so gut verstand.

Am Abend waren die Ghorkas abgezogen. Wir saßen beim Dinner und schlürften den eiskalten Pommery, den Habib in der Quelle gekühlt hatte. Das Gebirge lag dunkel da; nur wo die Sonne untergegangen war, hing braunroter Dunst über den Spitzbergen von Nepal und ließ sie noch schwärzer, noch wilder und gigantischer erscheinen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Bloß ein paar Sterne blinzelten verschlafen durch das dicke Ultramarin des Himmels.

Mrs. Butler war heute berückend schön. Das wundervolle Oval ihres Gesichts zart gerötet. Wie pfirsichfarbener Flaum lag es auf den Wangen. Die übergroßen Augen schienen schwarzer Gagat, schwimmend auf weißer Emaille, und unter Brauen, die dunkeln Mondsicheln glichen. Dazu – welch ein Kontrast! – das goldrote Haar und die brillanten Lichter, die darauf spielten.

Sie hatte Toilette gemacht: weiche, fliederfarbene Assamesen-Seide, Brüsseler Spitzen und im Haar ein Band aus mattem Gold und edeln Steinen. Das funkelte – –! Aber das Wundersamste waren doch die Augen – diese großen gagatschwarzen Augen, die sich hineinbohrten in die unsern, sich festsaugten und nicht wieder losließen ...

Ich sah Rolby an.

Sein Gesicht brannte. Er war bezaubert – gerade wie ich. War es die Hitze, oder der Wein? War es das schöne Weib? – – – In meinen Schläfen stürmte das Blut. Nur der Oberst war derselbe geblieben. Seine häßliche schwarze Larve wurde um keinen Schatten dunkler; gleichmütig schob er seine Zigarre zwischen die gelben, greulichen Fangzähne, blies riesige blaue Ringe in die stille Luft und beteiligte sich nur an der Unterhaltung, wenn er eine neue Pulle Sekt bestellte oder zum Trinken animierte.

»Du sollst uns noch ein Lied singen, Carry!« meinte er. Und Mrs. Butler sann einen Augenblick nach. Dann sang sie:

»'Mid pleasures and Palaces, though we may roam,
Be it ever so humble, there's no place like home!
A charm from the skies seems to hallow all there,
Which, seek through the world, is ne'er met with elsewhere.

Home, home, sweet home!
There's no place like home!

An Exile from home, splendour dazzles in vain,
Oh, give me my lowly thatched Cottage again!
The birds singing gaily that came at my call,
Give me these and the peace of mind dearer than all.

Home, home, sweet home!
There's no place like home!«

Sie hatte eine tiefe, volle Altstimme, die stolz und schön in die Nacht hinaus flutete und unter den schwarzen Tannen allmählich verebbte. Wir horchten entzückt. Auch die Natives wurden an ihren Lagerfeuern wieder munter, richteten sich hoch und lauschten auf die Tschambeli-Sahiba. Frau Jasmin. Ernstes, großes Schweigen lag über dem Walde, als das Lied verklungen war.

Der Oberst gab seiner Frau einen Wink. Ich verstand und mahnte zum Aufbruch. Es war schon spät, wie wir hinüber kamen.

2.

Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen, und manche Stunde hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Diese Nacht werde ich nie wieder vergessen.

Ich war bald eingeschlafen, erwachte aber, weil Rolby Licht machte. Er saß aufgerichtet im Bett und schien zu lauschen. Ich konnte nichts hören. Nur ein paar Moschusratten tobten wie besessen auf dem Fußboden herum. Das ist in Indien nichts Besonderes. Draußen war alles still. Ab und zu stampfte dumpf ein Pony.

»Dick!« fragte ich endlich. »Hörst du was?«

Er sah auf. Sein Gesicht war rot und verschlafen.

»Ralph!« erwiderte er, »es hat mich wer gerufen.« Er flüsterte: »Bei Jingo, Mann! Sie war's! – – – War Mrs. Butler, Ralph! War Mrs. Butler! – – Oder es gibt keine Schlangen im alten Missouri.«

»Er ist betrunken!« dachte ich und wunderte mich. Denn Dick Rolby stand seinen Mann bei Gin oder Whisky, und das war doch eine andere Sache als der labberige Franzose. Aber auch mir dröhnte der Schädel wie ein Tamtam beim Bairamsfest, und die verflixten Ratten deuchten mir wie ausgewachsene Känguruhs.

»Meiner Seele!« fuhr Rolby fort, »war Mrs. Butlers Stimme.«

»Du hast geträumt,« sagte ich.

»Geträumt, Ralph? Den Teufel auch, geträumt! War wach – komplett wach, wie ein Opossum bei Mondschein. War ihre Stimme, Mann! – – – Rief: ›Dick! Dick Rolby!‹ – – Dreimal: ›Dick Rolby!‹ – Da machte ich Licht.«

»Ein Goat-milker, Dick! – Eine Nachtschwalbe.«

Er knurrte bloß.

»Das kommt vom Wein, Dick,« meinte ich. »Oder von der Hitze. Es ist heiß im Zelt.«

»Heiß!« bestätigte er. »Heiß, wie in den siebzehn mexikanischen Höllen! – – – Will nicht Dick heißen, wenn ich länger in diesem verdammten Backofen bleibe.«

Er steckte seine langen Beine aus dem Bett, war in einer Minute in den Kleidern, nahm die Büchse, stolperte über Gur Singh – unsern Boy – der vor der Zelttür schlief, und weg war er.

Was sollte ich machen! Schlafen? – – – Unmöglich! Dazu war es zu heiß. Als ich ins Freie trat, kam Dick vom andern Zelt her.

»Auf der Veranda liegt der Tschaukidar Wächter. und schnarcht. Hat sich zusammengerollt wie'n Stachelschwein.« Er lachte.

Wir bummelten durch's Lager. Die Kulis schliefen, in ihre Kamalas gewickelt. Die Ponys schnaubten im Schlaf; in der Ferne bellte ein Schakal ...

Wie wir auf die Straße kamen, schwamm langsam hinter dem schwarzen Klotz des Kantschindschinga der Mond herauf. Nicht unser alter, bleichsüchtiger, philiströser Nachtgesell – nein – der indische Vollmond! Eine ungeheure Feuerkugel, bald goldig, bald grün und rot und wieder blau oder violett im intensivsten Farbenglanze strahlend. Als er den Gipfel erreicht hatte, da überflutete er – einem Riesenfeuer gleich – die tausend dunkeln Kuppen, die Felswände, Klippen und Terrassen, die Wälder ... mit einer Woge bengalischen Lichts. Und je weiter das wundervolle Gestirn, stolz und feierlich, in den fast schwarzen Aether hineinschwamm, um soviel mehr silberne Scheitel tauchten auf, aus dem Dunkel – wie ferne, schöne Inseln aus einem stillen, unbekannten Ozean – und um so überwältigender wurde das großartige Nachtbild, vor dem wir standen ... bewundernd ... andächtig!

– – Schweigend schritten wir dem Walde zu. Mit einmal blieb Rolby stehn.

»Du!« sagte er, »dort ist wer.« Er wies auf einen Wacholderbusch am Waldrande.

Ich legte die Hand über die Augen. Richtig! Deutlich konnte man die Figur erkennen, die sich weiß vom Hintergrunde abhob.

»Eine Frau!« sagte ich erstaunt. Es mochten keine hundert Yards sein.

Dick nickte. »Sie winkt. Wollen hören, was sie will. – – – Halt! Sie kommt – –«

Die Gestalt löste sich vom Busche, glitt, am Saum des Waldes entlang, auf uns zu. Tauchte in die tiefen Schatten, die die Tannen warfen, bis sie an der Straße stand, wo diese in den Wald führt.

»Winkt wieder,« sagte Rolby.

Wir gingen rasch vorwärts.

» Damn! – Jetzt läuft sie in den Wald.«

Die Gestalt ging mit eiligen Schritten weiter in den Wald hinein. Bald sahn wir nur noch ihren Schatten auf der taghell erleuchteten Straße.

Dann verschwand auch der.

»Sie ist in den Fußweg eingebogen – nach dem Bungalow. Sicher ein Ghorkaweib! Sie treiben sich noch hier herum.«

Rolby ging schleunig weiter. Fast laufend erreichten wir den Fußweg. Auf der Straße war nichts mehr zu sehn. Wir rannten noch ein gutes Stück in den Steig hinein; dann machten wir halt.

»Unsinn, Dick!« keuchte ich. »Wir können zehnmal an ihr vorbeigelaufen sein. Glaube mir: Ein schmutziges Nepalesenweib, die ihren Liebsten besucht hat.«

»Nein!« erwiderte er bestimmt. »So geht kein Native. Sage dir, Ralph, so geht kein Native. – Aber horch! – – horch!«

Wir spitzten die Ohren. »Was ist das?« flüsterte ich.

Ein dumpfes Summen kam durch die Wipfel.

Wie wenn im Frühjahr ein Schwarm der kleinen, schwarzen, grimmigen Bienen, die in den Felsen und Erdlöchern wohnen, aus seiner Höhle herauskommt und, zum Klumpen geballt, durch die heiße Luft tobt. Aber Bienen? – – Mitten in der Nacht? Und das Summen und Brummen will kein Ende nehmen; es schwillt an, wird schwächer. Dazwischen lange, klagende Töne, gerade als ob auf einer Riesengeige eine einzelne Saite gestrichen wird ... immer wieder ausschwingt.

Mit einmal ist es still.

Rolby nahm seine Büchse schußbereit in den Arm und trabte den pechschwarzen Waldweg hinunter.

Ich hinterher.

Wenige hundert Schritt. Dann standen wir an der Wiese. Grasgrüner Mondschein, blaue, weiße, grüne Nebelschwaden wallten durcheinander. Aber wir sahen sie nicht. Wir sahen durch die zitternde, schwankende, in allen Farben schillernde Dunstmasse einen ungeheuerlichen, schattenhaften Fleck mit einem feurigen Auge.

Es war der Bungalow, und im Bungalow war Licht.

Ich faßte Dick am Arm.

»Wollen uns 'ranpirschen!« wisperte der.

Eine Minute später schoben wir uns wie zwei Katzen auf die Veranda. Vorsichtig schauten wir uns um. Bloß der Nebel quirlte und zog Gespensterfratzen um das einsame Haus. Drüben bellte der Schakal – – – Sonst war alles mäuschenstill. Wir guckten in das Fenster, das Dick am Morgen zerbrochen hatte.

Drin war nicht viel zu sehen.

Eine große, leere Stube mit kahlen, weißen Wänden. An der Hinterwand eine Tür. Staub und Schmutz, ein paar Glasscherben auf der Diele: das war alles. Wo das Licht herkam, konnte man nicht erkennen.

»Holla!« schrie Dick.

»Holla! – – Holla!« hallte es zurück.

»Niemand da?« fuhr er fort. »Heda – –!« Er verstummte. Die Rede stockte ihm im Munde. Mit angehaltenem Atem starrten wir ins Fenster ...

Schreckliches Wimmern kam aus dem Hause. Wimmern und Stöhnen, Schluchzen – – – ein Schrei! – ein gräßlicher, gurgelnder Schrei – ein Schrei, wie ihn der Mörder ausstößt, der vor dem Schafott steht – wie die Verdammten schrein, am Tage des jüngsten Gerichts – und dann wieder ein Wimmern, ein Stöhnen, ein unbeschreiblich grausiges Röcheln.

Kalter Schweiß trat uns auf die Stirn.

Plötzlich wurde es still. Das Licht flackerte. Dicker, häßlich gelber Dampf stieg auf, teilte, ballte sich, schwankte und bebte in hundert Gesichtern und Formen ... füllte den Raum bis unter die Decke.

Und durch den Qualm kam es wie ein Feuerrad – zischend und prasselnd. Blitze und Flammen sprühten und zuckten und pufften; rote, grüne, blaue Lichter! Der ganze Regenbogen kollerte und raste durch die Stube, fuhr in alle Ecken, sprang und hüpfte von einer Wand zur andern – von der Diele zur Decke und wieder von der Decke zur Diele. Bis er in einem Winkel fauchend zerplatzte.

Schwarzer, beißender Rauch – der letzte Atem des Kobolds – stopfte uns Mund und Nase, uns fast erstickend. Wir husteten und rieben die tränenden Augen ...

»O – ah – – ah – – a! O – ah!« knarrte da eine Stimme. Eine unangenehme Stimme! Sie kam aus dem Zimmer. »O – ah – – – a! Wo bist du, mein Liebling, mein Täubchen? – Wo bist du? O – ah – –«

Es war ein greuliches Krächzen und Knarren.

Wir standen versteinert. Drin – an der Wand – auf scharlachroten Polstern lag halb, halb saß eine Gestalt – ein Mann! ein unförmig dicker Mann mit einem feisten, roten, glänzenden Vollmondsgesicht. Deutlich konnten wir die scheußliche Fettwamme sehn und die dicken Speckfalten in seinem Nilpferdnacken. Er trug einen Kaftan aus grüner Seide, auf der kahlen Stirn einen maisfarbigen Turban, den ein kleiner, blitzender Halbmond schmückte.

»O – ah – – ah!« knarrte der Unhold wieder. »Wo steckst du, mein Täubchen – –?«

Er schmatzte mit den blauen, wulstigen Lippen. Ein scheußliches, öliges Grinsen lief über das ganze runde, rote Gesicht, das immer mehr einer blank geputzten Kegelkugel glich. – Ein scheußliches Grinsen! Das Grinsen eines gutgelaunten Werwolfs, der kauend und schmatzend an die letzte ekelhafte Mahlzeit denkt.

»O – ah – – –!« Der Unhold schnaufte und grunzte und rekelte sich auf den Kissen. »O – ah! – Brr!« Er suchte in den Falten seines langen, grünen Seidenschlafrocks, in den Taschen der weiten, zeisiggelben Pumphosen; endlich holte er ein großes, kornblumblaues Schnupftuch, mit kleinen, roten Halbmonden darauf, hervor, tupfte die schweißbedeckte Stirn und krähte: »Suleima! Wo steckst du – – –? Suleima! Mein Seelchen! – – Ah – –!«

Er tupfte sich wieder die Stirn. Ein faunisches Grinsen, eine unbeschreiblich widerliche Lüsternheit spielte um seinen Mund. Er drückte die kleinen – winzig kleinen! – Aeuglein tief in die dicken Fettpolster, bis sie verschwanden.

» Goddam!« knurrte Rolby neben mir. »Sollten dem alten Sünder eins auf seinen Plattkopf geben!« Aber das Wort starb ihm auf den Lippen.

Denn wieder begann es zu ächzen, zu stöhnen ... zu wimmern und schluchzen. Als wenn sich ein Mensch in Folterqualen, in Todesschmerzen wände. Uns erstarrte das Blut. Und dazwischen knarrte das gräßliche »O – ah – – ah!« des grünen Scheusals. Das krümmte und wand sich, das jappte und prustete und hopste auf seiner Ottomane und schien vor Uebermut und Ausgelassenheit ganz außer Rand und Band zu geraten. Seine blöden und doch wieder so grausam tückischen Augen triumphierten; sein Murmeln und Stammeln wurde zum Kreischen ...

 

Dumpfes, feierliches Dröhnen – die Schläge eines Riesentamtams.

Dazwischen die schrillen Töne des Matalans – der indischen Flöte – und das Schwirren und Singen von Mandolinen. Allmählich ging das Adagio in feuriges Allegro über. Tambourins rasselten. Kastagnetten fielen knackend ein. Die Flöte schrillte eine wilde, bizarre Melodie, von kurzen, hastigen Griffen auf der Guitarre begleitet. Der Dicke lag und wackelte mit dem Kopf im Takt. Seine Maulwurfsäuglein füllten sich mit düster glimmendem Feuer. Er richtete sich hoch. »Suleima! mein Täubchen!« kreischte er.

Wir folgten seiner Geste. In der Tür stand ein Weib. Ein Weib, schön wir die Houris des Paradieses ... wie eine Bajadere aus Siwas Tempel!

– – Mit leichtem, unhörbarem Schritt trippelt sie heran – bis zum Alten, kreuzt die Arme über dem wundervollen Busen und salamt.

»O – ah!« stöhnt der verzückt.

Sie beugt sich nach vorn, tief – – fast bis zur Erde, schnellt wieder zurück und hebt die nackten, runden, bronzefarbenen Arme mit schöner Grazie. Die Arme tragen handbreite, goldne Armbänder, auf denen edle Steine funkeln, und an den Fingern der schönen Hände sprühn Diamanten blaues Feuer. Jetzt faßt sie den weiten, golddurchwirkten Schleier, der sie vom Kopf bis zu den nackten, kleinen, juwelengeschmückten Füßen einhüllt. Sie rundet die Arme und streckt sie wieder ... Der goldne Schleier folgt und schwebt, wie eine phantastische Wolke, um die Tänzerin.

Sie tanzt.

Hinter dem Schleier gleitet sie in köstlich harmonischen Bewegungen – bald vorwärts, bald rückwärts. Die Bewegungen werden schneller, kühner; ihre Geberden lebendiger, ausdrucksvoller. Sie flieht und verfolgt ... hascht nach einem Partner, den uns ihr Spiel vorgaukelt. Sie zieht ihn in ihre Arme – ihre verführerischen Arme! – an ihre Brust.

Sie lacht und frohlockt – – – und ringt die Hände in rührender Pantomime.

Wir vergaßen alles. Wir standen und starrten. Unsere Seele war in unseren Augen.

Und jetzt! – jetzt zuckt sie empor. Wie eine glatte, glänzende, farbenprächtige Natter! ... Der Atlas ihres knappen Mieders kracht. Leise klirren die Ringe und Kettchen an ihren Fußknöcheln. Der herrliche Goldton des Gesichts dunkelt sich; unter der kurzen, rosigen Oberlippe zeigt sie ihre Perlenzähne – wie eine wunderschöne Tigerkatze ... Ein Ruck! – Sie wirft die blauschwarze Mähne aus Stirn und Augen. Aus den großen, mandelförmigen Augen, die wie Kohlen glühn – – – uns versengen.

»Bei Gott!« stöhnte Rolby und stürzte nach der Tür ...

Da pfiff was durch die Luft: ein schmaler Schatten, wie von einer endlosen Peitschenschnur. Klatsch! ging's, und Dick taumelte und schlug zu Boden, als wenn ihn der Blitz getroffen hätte.

Ich sprang zu. Aber am Fuße der Veranda wurde mit einmal ein dunkler Knäuel lebendig: schwarze Gesichter, weiß rollende Augen! – Ein Messer fuhr mir in die Schulter.

Mit einem Wutschrei packte ich den Strolch und stauchte ihn gegen seinen Hintermann, so daß sie beide von der Veranda purzelten. Dem dritten Spießgesellen rannte ich den Kolben meiner Büchse in die Visage. – Alles in einer Sekunde! – Dann sah ich mich nach Rolby um.

Gottlob! – Der stand schon wieder auf den Beinen. Breitbeinig stand er da. Zwei Klumpen am Boden zeigten, daß er seine Zeit gut angewendet hatte.

»Hurra, old fellow! Gib es ihnen!« brüllte er mit Donnerstimme. »Hurra!« – – –

Er faßte nach seinem Halse. Jetzt sah ich, was es war. Sie hatten ihm eine Schlinge übergeworfen. Der Lasso spannte sich eben wieder. Aber die Spitzbuben schätzten unsern Rolby zu niedrig ein. Er stieß ein grimmiges Lachen aus, sein riesiger Körper straffte sich. »Hep! hep!« – – Und dann tat er einen Ruck am Riemen – einen einzigen, kleinen Ruck – und wie eine Kanonenkugel sauste aus den Tamarisken eine dunkle Gestalt heraus und knallte gegen die Veranda. Wo sie regungslos liegen blieb.

Dick streifte die Schlinge bedächtig über den Kopf. Seine Büchse krachte, und ein Aufschrei bewies uns, daß er sein Pulver nicht umsonst verschossen hatte. Jetzt blitzten auch von der Wiese Schüsse auf. Wir hörten die Kugeln an die Wand klatschen.

»Stehn hier wie der Truthahn auf der Balz,« murrte Dick und sah sich nach Deckung um. »Vorwärts, Mann! – In die Hecke!«

Er stieß ein gellendes Kriegsgeschrei aus, schwang seine Büchse über dem Kopf und sprang von der Veranda hinab, in den dichten Schatten der Tamarisken. Ich ihm nach. Wir liefen ein Stück und warfen uns dann platt auf den Bauch. Den Kolben an der Backe.

So lagen wir eine Weile.

»Wissen nicht, wo wir stecken,« lachte Rolby. »Kalkuliere: Werden sich die ganze Prostemahlzeit auf den Hals laden. – – – Müssen doch die Schießerei hören im Camp!«

»Pst!« machte er und drückte sich ins Gras.

Wir hörten rascheln: ein Ast knackte ...

»Da ist er!«

Der Schatten fiel vor uns auf die Erde. Sein Inhaber flitzte – selbst wie ein Schatten – vorüber. Es war der alte Graukopf vom Morgen, der die Ghorkas kommandierte.

Ich hob die Büchse; aber Dick kriegte mich am Arm: »Du verrätst uns bloß.«

Der Nepalese verschwand in einem Boskett, das – schräg gegenüber – etwa zwanzig Schritt von uns im Mondschein verdämmerte.

Wir hofften, unentdeckt zu bleiben. Da drang ein leiser, zischender Ton an mein Ohr.

»Pfeile!« sagte Rolby und griff ins Gras. »Da! Noch einer.« Er hatte einen dicken, kurzen Rohrpfeil, vorn mit einem langen, eisenharten Berberitzendorn als Spitze.

»Teufel!« – – – Das wurde ernst. Denn daß die Nepalesen ihre Pfeile mit Kabaratel vergiften, weiß in Indien jedes kleine Kind. »Hätte ich doch dem alten Halunken ein paar Lot Blei in die Rippen gejagt!«

– – Wieder zischte ein Pfeil. »Getroffen?« fragte Rolby.

»Nein! – Aber wir müssen fort.«

»Müssen fort! – Ist ein Fakt.« Er überlegte – – – – »Krieche in die Tamarisken! Sind dort sicher für's erste. Müssen uns doch Sukkurs bringen.«

»Und du?«

»Komme hinterdrein. Wenn's not tut, deck' mich mit der Büchse!«

Es war der einzige Ausweg.

Aufspringen und über die Wiese laufen, um dem schwarzen Satan den Hals umzudrehn, war der helle Wahnsinn. Der Nebel hatte sich verzogen, und die Wiese lag taghell da. Lebendig wären wir nicht davon gekommen. Drum sicherte ich meine Büchse und kroch blitzgeschwind unter die Tamarisken. Das hohe Buschgras rauschte, aber verbarg mich wie eine Wand. Gott sei Dank! – Die Zweige hingen nicht tief, so daß ich ohne große Schwierigkeit drunter durchkriechen konnte.

Einen Augenblick später war Dick an meiner Seite. Die Wirrnis der vielverästelten Tamarisken mit ihren langen, dünnen Zweigen bot uns Schutz vor Pfeilen und Kugeln, da sie uns den Blicken vollständig entzog. Bei einem Überfall hatten wir unsere Repetierbüchsen. Dazu schossen wir vom Dunkeln ins Helle. Das war auch was wert.

»Zum Henker!« knurrte Rolby. »Schlafen wie die Murmeltiere im Camp.«

Wir lauschten. – – – Kein Schuß, kein Geschrei – – nichts war zu hören.

Nur über uns bewegte der schwache Lufthauch, der den Morgen ankündigt, die Büsche. Im Gras pfiffen die Gumtsche, die schwanzlosen Himalayaratten, die in unserer Nachbarschaft logierten. Ein Laubfrosch quarrte. Dazu das eintönige Singen von Myriaden von Mücken und andern Blutsaugern, die unsern Schlupfwinkel nicht behaglicher machten. Ich sah nach der Uhr. In einer Stunde mußte die Sonne aufgehn ...

Ich hatte den Messerstich, den ich auf der Veranda abbekommen hatte, ganz vergessen. Jetzt fing die Wunde zu brennen an, und mein Arm wurde steif. Wir mußten sehn, daß wir fortkamen. Vielleicht konnten wir auf der andern Seite – am Abhang entlang – bis zum unteren Ende des Tamariskengürtels gelangen.

Es ging besser, wie wir hofften.

Der Gürtel war nicht breit; am hintern Rande lief, zwischen Gebüsch und Felsen, ein kahler Streifen, der bloß mit Geröll bedeckt war. Vorsichtig schlichen wir talabwärts, bis wir den nördlichen Saum erreicht hatten.

Der Mond stand hinter dem Walde.

Das ganze Tal ruhte in mattem Dämmerlicht. Nichts rührte sich. Den Bungalow konnte man nicht mehr sehn. Er lag zu weit oben.

Wir warteten eine gute Viertelstunde. Dann sagte Rolby: »Galopp, alter Junge!« und, wie zwei Hirsche, sprangen wir über die Wiese. Hinter einem riesigen Wacholder duckten wir uns nieder.

»Sind zu Bett, Ralph!« brummte Rolby vergnügt. »Sind zu Bett. – – -Wollen auch ins Bett!«

Aber wir stiefelten doch in einem respektabeln Bogen den Berg hinauf zum Lager.

Als wir ankamen, war es Tag.

Der Oberst schlief noch. Man hatte nichts gehört. Unsere Leute mußten zuviel Opium genossen haben. Freilich schwor Mipo bei Krishna, Rama und Kartikkeya und einer ganzen Reihe von anderen Heidengöttern, daß er und seine Leptscha keinen Bissen davon in den Mund gekriegt hätten.

*

– – Ich wurde verbunden. Rolby und der Oberst unternahmen eine Strafexpedition gegen die Nepalesen, die erfolglos blieb, weil sich natürlich keiner mehr blicken ließ. Der Bungalow lag tot und einsam. Nichts deutete auf unser Abenteuer von der vergangenen Nacht.

Der Oberst schüttelte den Kopf, als wir ihm die Geschichte erzählten, und Mrs. Butler lachte uns aus und meinte, der Pommery sei schuld.

Wir hatten aber die Freude am Camp verloren. Machten uns drum noch am Vormittag aus dem Staube und trafen abends wieder in Darjeeling ein.

3.

Der Doktor steckte mich ins Bett.

Rolby pflegte mich. Der Oberst brachte Grüße von seiner Frau und lud uns nach dem Landhause ein, das er dicht bei den Viktoria-Fällen gemietet hatte.

Ich mußte ihm fürs erste noch einen Korb geben. Aber Rolby war einen Abend dort und kehrte recht fidel zurück. Bald verging kein Tag, an dem er nicht draußen gewesen wäre.

Meine Wiederherstellung wollten sie durch ein Picknick feiern.

Schon früh am Morgen zog Rolby ab, um mit Mrs. Butler Verabredungen zu treffen. Zur Tiffinstunde war er noch nicht wieder zurück. Ich wunderte mich und aß allein. Es wurde Nachmittag; kein Rolby ließ sich blicken. Da ging ich nach der Villa.

Das Haus lag im Garten, von blühendem Gebüsch umgeben. Auf der Veranda war niemand. Ich klingelte – – –

»Der Kuckuck hole den Tschaukidar!« dachte ich. »Willst dich selber anmelden.«

Die Tür zum Drawing-room stand offen. Ich klopfte an und trat ein. Das Zimmer war leer. Ich wollte mich gerade hinsetzen, um zu warten, als ich nebenan etwas hörte.

Ich schob also die Palmgrasdecke, die als Tür diente, zurück und guckte ins Nachbarzimmer.

Ein kleiner, gemütlicher Raum. Das Fenster ins Grüne hinaus, von lila Glycinen fast verdunkelt. Am Fenster Sofa und Tisch, und auf dem Sofa ... ein Mann.

»Allmächtiger! Kann der Mensch schnarchen! – He, Oberst – –!«

Denn ich dachte, es wäre der Oberst. Aber wer ermißt mein Staunen. Ich gucke und gucke ... Das ist nicht der Oberst, sondern das ist Rolby, der da lang ausgestreckt auf dem Sofa liegt und Siesta hält.

»Dick!« rufe ich, – – Mensch!!« Und ich kriege ihn beim Grips und rüttle ihn. Aber Dick stöhnt behaglich und reckt und streckt sich und schnarcht ruhig weiter.

»Wach auf!« schreie ich. Aber er rührt sich nicht, liegt mit einem Engelslächeln und schnarcht.

Ich sah mich ratlos um.

Auf dem Tisch standen Tassen, Gläser, Wein und Früchte, Kuchen und Konfekt. Offenbar hatte er hier mit Mrs. Butler gefrühstückt. Mir wurde mit einmal bange; ich wußte nicht recht warum. Wieder rüttelte ich ihn, richtete ihn hoch, schrie ihm ins Ohr ... Er stöhnte bloß, fiel zurück und schlief weiter.

Da rannte ich aus der Stube auf den Korridor. Ich rief und rief. Niemand kam; alles wie ausgestorben! Jetzt fiel mir die Unordnung auf, die überall herrschte ... Ich rannte wieder zu Rolby.

Der lag und schnarchte.

Da ging die Gartentür. Ich stürzte auf die Veranda und sah mit wahrer Wonne, daß ich nicht mehr allein war.

Ein kleiner, behäbiger Babu in knappem, rohseidenem Sakkoanzug! – Mit himmelblauen Strümpfen und ausgeschnittnen Lackschuhen an den Füßen, den Fez auf dem kahlen, braunen Schädel.

Er sah mich unverschämt an und salamte pomadig.

Was ich wolle?

Ich fragte dagegen, wo der Oberst sei.

Ob ich den Oberst Butler Sahib meine – –?

Ich wurde ungeduldig. Der Kerl grinste und wippte in seinen Lackschuhen. Dann fragte er, was ich von Butler Sahib wolle.

Jetzt riß mir die Geduld.

Einige englische Kraftworte und eine Erörterung seines Stammbaums auf Bengalisch, die mit dem Sohne einer Hündin anfing, machten ihm klar, daß ich mit seinesgleichen umzugehn wußte.

Sofort zog der Patron andere Saiten auf.

Butler Sahib sei nicht da – – – sei fort.

»Und die Sahiba?«

Sei auch fort.

»Ja! – Aber wohin denn? In drei Teufelsnamen!«

»Fort – abgereist – –«

Ich blickte den Mann verblüfft an.

Wann sie wiederkämen?

Er zuckte die Achseln: Morgen – – – übermorgen! – Er wüßte nicht.

So kam ich nicht weiter. Ich faßte daher in meine Hosentasche.

Der Babu sah mir aufmerksam zu.

Gewinnend klapperte ich mit ein paar Rupien ...

Der Babu hatte ein feines Gehör; sein Gesicht hellte sich auf.

Ich klimperte lauter ...

Er verbeugte sich hochachtungsvoll. Griente über sein ganzes, breites Gesicht, und ich mußte unwillkürlich die famosen Zähne bewundern, die er besaß.

»Wenn Euere Gnaden eine kleine Vergütung zusichern – –«

Ich nickte.

Dann erfuhr ich, daß er der Wirt sei, und daß Oberst Butler und Frau am Mittag abgereist seien – mit der Bahn. Sie hatten schon am Tage vorher ihre Miete bezahlt und was sonst noch zu bezahlen war. Die Dienerschaft war entlassen, das Gepäck bereits in den letzten Tagen abgegangen.

Ich sperrte Mund und Nase auf.

»Und Mr. Rolby – – – Und der Sahib drin im Hause – –?«

Jetzt war die Reihe am Babu, zu erstaunen.

Ich kriegte ihn beim Schlafittchen und zog ihn die Veranda hinauf – in die Stube, wo Rolby lag. Seine Verwunderung war grenzenlos; ich sah, daß sie echt war.

»Er schläft,« sagte ich.

Der Bengale roch an den Tassen, die auf dem Tisch standen.

»Opium – –!!«

»Richtig!« – Aber wie in aller Welt kam Dick zu Opium?!

»Wann wird der Sahib aufwachen?«

Der Babu zuckte vielsagend die Schultern. »Hazur Euere Herrlichkeit., wer kann das wissen! – – Morgen – übermorgen – – – wer kann das wissen!«

Ich drückte ihm ein paar Rupien in die biedere Rechte. Er überlegte ...

»Kahwa! Kala kahwa! – Kaffee!« sagte er bedächtig. »Der Sahib wird aufwachen, wenn er die schwarze Blume riecht.«

Noch eine Rupie, und mein Babu sprang, wie ein Gummiball, zur Tür hinaus. Zwanzig Minuten später war er mit einem Boy aus Woodlands Hotel und einer riesigen Kanne Kaffee wieder zur Stelle.

– – Eine ganze Weile dauerte es, bis es uns gelang, Rolby zu wecken. Aber allmählich tat der heiße, schwarze Kaffee seine Schuldigkeit.

Rolbys Geschichte war bald erzählt. Er hatte mit Mrs. Butler gefrühstückt. Dann wollten sie zusammen nach dem Basar gehn und Früchte für den Abend kaufen. Kein Sterbenswörtchen hatte sie ihm davon gesagt, daß sie abreisen wollten. Und Rolby rieb sich den schmerzenden Kopf und wollte immer noch nicht dran glauben, daß sie wirklich fort seien.

Wer ihm das Opium beigebracht hatte, war ihm ein Rätsel. Bei mir aber fing es an zu tagen.

»Dick!« fragte ich. »Hattest du Geld bei dir?«

Er starrte mich erstaunt an: »Geld – –?«

»Ja – Geld!« Er holte sein Portemonnaie hervor. »Ein paar Sovereigns und eine Handvoll Rupien,« dröselte er.

»Und Banknoten, Dick?«

»Banknoten?«

Er schüttelte immer noch etwas stumpfsinnig den Kopf. Aber mit einmal fuhr er in die Höhe.

Seine Weste stand offen. Er faßte hinein, nestelte am Hemd herum. Er fühlte und drückte und suchte ...

»Bei Gott!« stöhnte er. »Sie ist weg – – –! Ralph, sie ist weg!« – Er war blaß geworden – »Ist weg – – Bei Gott! Ist weg – – ist weg!« Er stammelte die beiden Worte wie von Sinnen.

Ich wußte, was er meinte.

Er meinte die Ledertasche – die kleine, schwarze Ledertasche – die er auf der bloßen Brust an einem starken Riemen um den Hals trug ... die er bei Tag und Nacht nicht von sich ließ ... die Tasche, in der er die Brownschen Feldbücher aufbewahrte.

– – Die Brownschen Feldbücher!

Rolby hatte sie vom alten Brown bekommen. – – Als Brown starb! – Er starb in Burdwan an der Cholera, als er für das Syndikat die Kohlenpläne im Damudatal absteckte. Dick pflegte ihn bis zum letzten Augenblick, und der alte Miner vermachte ihm zum Dank den einzigen Schatz, den er besaß: die Feldbücher und Risse, die er über seine Diamanten- und Goldfunde im Vindhyagebirge und im Flußbett der Narbada selber aufgenommen hatte.

Nach Browns Meinung waren sie Millionen wert, und Rolbys Reise hatte seine Annahme nur bestätigt ...

»Tod und Teufel!« knirschte Rolby. »Weg! – Gestohlen! Gott verdamm' ihn! – – – Müssen sie wiederhaben, Ralph! – – – Müssen!«

– – Und nun fing ein Suchen an – ein Suchen! Wir drehten das Unterste zu oberst. Das ganze Haus – jede Stube, jede Kammer, jedes Kämmerchen, jedes Loch – wurde durchsucht. Der Babu und der chinesische Boy vom Woodland halfen mit. Rolby war wieder ganz der alte, sein Opiumdusel verflogen ...

Die Tasche fand sich nicht; aber was anderes: wir fanden den Riemen, an dem sie gehangen hatte – um Rolbys Hals gehangen hatte. Wir fanden ihn unter dem Schrank in des Obersts Schlafzimmer.

Er war zerschnitten. Die Tasche blieb verschwunden.

Wir stürzten nach der Bahn.

Mr. und Mrs. Butler waren tatsächlich abgereist. Sie hatten Billets bis Siliguri genommen. Ihr Diener begleitete sie. Vom Agenten erfuhren wir noch, daß sie das Gepäck nach Calcutta aufgegeben hatten.

Zu Hause überlegten wir.

Es lag auf der Hand, daß Dick einem wohlangelegten Plane zum Opfer gefallen war. Der Oberst hatte Brown selbst erwähnt. Er wußte vom Damudaprojekt und um Dicks Reise in die Vindhya. Rolby hatte Mrs. Butler sogar von den Feldbüchern erzählt.

»Das hat sie mir abgeluchst, wie wir zum Camp hinaufritten. – Ich Narr!! – Habe es ihr selber auf die Nase gebunden. Ich Narr! – – ich kompletter Narr – ich! – – Und alles um ein Paar Augen – ein Paar schwarze Augen – – – schwarze, falsche Augen!!«

Er stöhnte.

Wir beschlossen hinterher zu fahren.

In Siliguri mußte man doch herausbekommen, ob sie nach Calcutta weiter gereist seien. Die Spur ließ sich leicht verfolgen. In Indien gibt es immer noch zu wenig Europäer, als daß nicht der einzelne überall bemerkt wird. Das galt besonders für die Bahn und dann von einem so auffallenden Paar, wie Oberst Butler und seine schöne Frau.

Aus dem Fahrplan ersahn wir, daß die Flüchtlinge am andern Tage um 10 Uhr 30 Minuten vormittags in Calcutta eintrafen. Sie hatten einen Tag Vorsprung. Nirgends verbirgt man sich leichter, als in einer Weltstadt. Das weiß jeder Spitzbube. Dazu kam die bequeme Möglichkeit, Indien zu Wasser zu verlassen, wenn der Boden unter den Füßen zu heiß wurde.

Wir wollten unser Glück auf eigene Faust versuchen und die Polizei erst im Notfall zu Hilfe rufen. Denn die ganze Sache mußte ängstlich geheim gehalten werden, wenn Dick nicht einer in der Vindhya zuvorkommen sollte. Auch die rapide Steigung der Grunderwerbspreise war zu fürchten.

Am nächsten Morgen um 2 Uhr 10 Minuten saßen wir in einem von den kleinen Wagen der Himalayabahn.

Langsam kroch der Zug die steile Höhe nach Jelapahar hinauf. Hinter uns versanken die Villen und Paläste von Darjeeling mit ihren Terrassen und Gärten, ihren Veranden ... ihren Palmen und Zedern, Magnolien, Rhododendren, den haushohen Rosen – Azaleen – und Jasmingebüschen ... dem berauschenden Duft von Gardenien, Buvardien ...

4.

Die nächsten Tage klapperten wir in Calcutta die Hotels und Boardinghäuser ab.

Die Stadt lag verschlafen in der glühenden Sommerhitze. Das europäische Viertel wie ausgestorben; die herrlichen Paläste, die Calcutta – wie kaum ein Ort in der Welt – aufzuweisen hat, die eleganten, blitzblanken Villen: verträumt, verlassen; alles stand leer. Ihre Bewohner waren in die Sommerquartiere gegangen.

Wir hatten kein Glück. Liefen von einem Hotel zum andern. Nur im Continental waren Herrschaften abgestiegen, die in Frage kommen konnten – ein kleiner, untersetzter Herr mit einer großen, schlanken Dame von auffallender Schönheit. Aber das war ein Pflanzer aus Assam gewesen – ein Mr. Burke mit Tochter. Sie waren gleich am Morgen nach ihrer Ankunft nach Colombo weitergereist.

Der alte Herr hatte schon schneeweißes Haar gehabt; Miß Burke war eine Brünette gewesen.

Das stimmte alles nicht.

– – Wir fuhren ein dutzendmal über den Maidan, die berühmte Promenade der feinen Welt von Calcutta.

Jetzt lag er einsam.

Wir machten den Edengarten und die Gärten am Government House unsicher. Alles war öde und leer. Denn der Vizekönig residiert über Sommer oben in Simla. Wir patrouillierten Chowringhee und die Basare vom Bagh Basar bis nach der Theaterstraße ab. Besuchten die Clubs – den Bengal Club, den India Club, den New Club, den Calcutta Club – vergebens! Auf der Polizei wußte man nichts von einem Oberst Butler. Der Inspektor zuckte die Achseln ... Am Abend des dritten Tages meinte Rolby, wir sollten nach einem Logierhaus hinüber, das drüben über dem Hugli, weit draußen am Eingang eines Nativesquartiers, lag. Die Expedition war wenig aussichtsvoll und bei der Hitze garnicht erbaulich; aber wir gondelten los.

Natürlich war es auch da Essig. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Vermutlich ging der Wirt spazieren, weil er keine Gäste hatte.

Wir bummelten mißmutig durch die gräßlich engen Gassen und Gäßchen der schwarzen Stadt. Nur um die Zeit totzuschlagen. Ich war ganz desperat und bewunderte Rolby, der immer noch nicht den Mut verlor.

Der reine Hexensabbat tobte um uns 'rum, Lärm und Gedränge. Alles schwatzte, lachte, gestikulierte ... Volk aus aller Herren Länder! Aus allen Kasten, allen Religionen!

»Ho!« schrie ein Afghane, schwarz wie der Teufel, der auf seiner Kabulistute hing. »Platz, Ihr Söhne des Shaitan! – – Platz da!«

Rücksichtslos drängte er sein Tier ins Getümmel.

»Der Teufel hole den Pathan!« kreischten die Getretenen. »Mögen die Geier seine Eingeweide fressen!«

»Platz! – Macht Euch fort, Ihr Schweine! Ihr Söhne und Enkel und Urenkel von Schweinen! Ihr schreienden Affen! Platz da – – –!«

Der Afghane fletschte die weißen Zähne unter seinem starken Fuchsbart. Dann hieb er bösartig mit der kurzen, dicken Kamelpeitsche auf die bunte Gesellschaft ein. Die Kabulistute stieg und bockte und feuerte mit den Hufen vorn und hinten aus. Der wildäugige Kerl aber klebte wie Pech auf ihrem Rücken, stieß lästerliche Flüche und Verwünschungen aus ... Endlich hatte er das ungebärdige Tier wieder in der Gewalt und raste die Straße hinauf.

Im Nu schloß sich das Gedränge hinter ihm.

»Sitzt wie 'n Cowboy auf dem Racker,« meinte Rolby anerkennend und gab einem gelbkitteligen Heiligen, der seelenruhig auf der Straße hockte, im Vorbeigehen einen Knuff.

Hinter uns brüllt es: »Challow, challow! Marsch, marsch!

Ein Palki! Sänfte. – Aus dem Schiebefenster guckt ein verschleiertes, gelbes Gesicht. Die Träger schreien wie besessen. Gott im Himmel! Hat die Gesellschaft eine Lunge – – –

Dahinter flutet die Menge wieder zusammen.

»Bakhschisch, Sahib! – Sahib bahadur, Bakhschisch!« Eine Gabe, Herr! Tapferer Herr, eine Gabe!

Ein Dutzend Hindukinder – alle nackt – Jungen und Mädchen.

Sie sind bildhübsch, die braunen Rangen. Schlank und feingliederig! Die glatten, schwarzen Haare über der schmalen Stirn mit Jasminkränzen geschmückt; die schönen, ernsten Augen mit blauen oder violetten Strichen, Arabesken umrandet. Die Mädchen tragen große Ringe in den kleinen Ohren und Perlen in den zierlichen Näschen.

»Bakhschisch! – – – Bakhschisch!«

Englische Matrosen schieben sich durch den Schwarm. Sie sind betrunken, gröhlen, haschen nach den kleinen, braunen Amoretten, werfen den Hinduweibern, die, in ihre Musselinschleier gehüllt, vorüberhuschen, verliebte Blicke, Kußhändchen zu – – –

Plötzlich packte mich Rolby am Arm und riß mich durchs Gedränge.

»Da!« sagte er. »Das ist er.«

Er wies auf einen Hindu, der nach dem Ghat hinunter trottete. Der Hindu hatte einen großen, roten Turban auf und einen funkelnagelneuen Tschadder an.

Ich erkannte ihn sofort. Es war Chinasawany, der Boy des Obersts Butler.

Wir liefen und stellten uns hinter einen Bullockwagen.

Der Mann ging am Flusse entlang. Er hatte keine Ahnung, daß wir ihm folgten. Zuletzt bog er in einen großen Holzplatz ein, auf dem die Stämme lagerten, die den Hugli herabkommen.

Unter zwei Tulpenbäumen stand ein Haus, in das Chinasawany hineinging.

Ein Bretterstapel versteckte uns. Da kam der Inder wieder. Er schien niemand getroffen zu haben.

»Umph!« machte er, als er mit einmal vor uns stand. Das Zusammentreffen war ihm offenbar unangenehm. Seine schwarzen Augen rollten wie Pechkugeln in ihren Höhlen.

»Tag, Mr. Chinasawany!« sagte Rolby. »Wenn Sie fortlaufen, schieße ich.«

Er faßte gemütlich in seine Tasche.

Der Boy sah uns giftig an. Aber den Gedanken ans Ausreißen schien er fallen zu lassen.

»Was wünschen?« fragte er. »Chinasawany sein hocherfreut, Euere Herrlichkeit wiederzusehn.« Er gewann seine Zuversicht wieder. Denn er mochte sich wohl sagen, daß man auch in Indien nicht den ersten besten Menschen über den Haufen knallt.

»Wollen wissen, wo dein Herr steckt, schwarzer Teufel! – Deine Lady!« fauchte Rolby.

»Wen meinen?« fragte Chinasawany zurück – mit der Unschuld eines Achtmonatskindes.

»Deinen Herrn! – Deinen Herrn!« brüllte Dick. – »Soll ich dem verwünschten Nigger den Schädel einschlagen?« wandte er sich an mich.

Ich mußte mich ins Mittel legen. Wußte ja, was in Indien jede Tür, jede Hand, jeden Mund öffnet.

Legte also ein Häufchen Rupien neben mich auf die Bretter.

»Wo steckt der Oberst, Chinasawany?«

Der Halunke spitzte den Mund, als wenn er pfeifen wollte. Die Rupien blitzten verlockend.

»Oberst Butler Sahib?« flüsterte er.

Ich nickte.

»Wenn du lügst, kriegst du nichts.«

Er fand das verständlich.

»Sein fort – – – nach Colombo.«

Ich nickte aufmunternd.

»Und Mrs. Butler?«

»Oberst haben die Mem Sahib mitgenommen.«

»Und wo haben sie logiert, Chinasawany?«

»Continentalhaus.«

»Ha!« lachte Rolby. »Mr. Burke und Tochter!!«

Der Bursche machte ein verblüfftes Gesicht.

»Ein alter Gentleman mit weißem Haar; das Töchterchen, braun wie eine Kastanie.«

Der Inder grinste verschmitzt.

»Challow!« fuhr ich fort. »Weiter Mann! Erzähle! – – Dann sind die Rupien dein.«

Chinasawany war beleidigt: »Er sei kein verräterischer Schakal. Er sei ein Ehrenmann. Sein Vater sei ein Ehrenmann gewesen – und Schreiber auf der Distriktspolizei; sein Großvater – – –«

Ich erklärte Chinasawany für den nobelsten Charakter von ganz Vorderindien, griff in die Tasche und legte noch ein Häufchen Rupien neben die andern.

Das gab ihm den Rest, und wir erfuhren, wie alles gekommen war.

Es handelte sich um eine abgekartete Sache. Die Ghorkas standen mit Butler im Bunde. Vermutlich hatte sie der Bawartschi des Obersts geholt, als er – angeblich krank – nach Hause geschickt wurde.

Am Spuk im Bungalow und am Überfall hatte Chinasawany nicht teilgenommen. Denn er war im Lager zurückgeblieben, um auf die Leptscha zu passen, denen ein Schlafmittel beigebracht worden war. Die ganze Geschichte sollte in aller Stille und Gemütlichkeit abgemacht werden. Der Oberst fürchtete unsere Leute. Drum durfte auch nicht geschossen werden. Der Knall konnte Mipo wecken.

Nachher kam alles anders, als der Schurkenstreich mit dem Lasso mißlang und wir von unsern Büchsen Gebrauch machten.

Chinasawany wußte, daß es die Sahiba gewesen war, die uns nach dem Gespensterbungalow lockte. Die Entwicklung in Darjeeling war einfach. Man hatte uns sicher gemacht, alles zur Flucht vorbereitet und zu guterletzt Rolby mit Opium betäubt. Chinasawany präsentierte selber den verhängnisvollen Becher mit Portwein, der die Schuld an Dicks unfreiwilliger Siesta trug.

Er wußte um die Feldbücher und kannte ihren Wert. Die Mem Sahib hatte Rolby die Tasche abgenommen und ihrem Manne gegeben, der unterdessen im Schlafzimmer wartete.

Dann waren sie abgereist ...

Der Inder hatte sich von vornherein als Kompagnon betrachtet. Sie wollten ihn mit hinüber nehmen – nach Europa. Das war ihm versprochen worden. Er sollte an der Beute teilhaben. Aber in Calcutta zahlte ihm der Oberst seinen Lohn, kaufte ihm noch einen neuen Tschadder und den großen roten Turban und hieß ihn zu allen Teufeln gehn.

– Haß und Gier glimmten in den Augen des Mannes, daß sie wie die grünen Lichter des Dschungelwolfs funkelten. Hundert Flüche – schlecht gerechnet! – sprudelte er aus seinen zischenden Lippen. Und mir wurde zweifelhaft, ob es wirklich meine Rupien gewesen waren, die ihm die Zunge lösten.

Sie wollten nach London, um dort zu warten, bis über die Geschichte Gras gewachsen war, und um einen Geldmann ausfindig zu machen, der die Papiere kaufte oder aber die Mittel zum Abbau der Diamantenlager hergab ...

»Oberst Sahib sein ein großer Zauberer,« schloß Chinasawany seinen Bericht. »Und die Sahib ein blanker Teufel ... Wechselt die Haut wie Sarp – die Schlange. Hat ein grausameres Herz, als Durga, die Menschenblut trinkt – – –«

Am andern Morgen gingen wir mit dem ersten besten Steamer nach Colombo ab. Nach sechs Tagen wurde der Adamspeak gesichtet. Er hing, wie ein riesiger Zuckerhut, frei in der Luft. Unten – der perlmutterfarbene Fleck auf der See! – war Ceylon.

In der Frühe lief das Schiff in den Hafen von Colombo ein.

Dort erfuhren wir, daß Mr. und Miß Burke mit einem holländischen Dampfer, der nach Hoek van Holland bestimmt war, weiter gereist seien.

Wir entschlossen uns kurz und folgten mit dem nächsten Lloyddampfer.

Achtzehn Tage später setzten wir uns in Genua in den D-Zug.

5.

Nebel ... Regen!

In Dover krabbelten wir aus dem Dampfer. Ein schmutziger Bahnsteig; der Bahnhof eine Art Baracke.

Dann Kampf auf Leben und Tod bei der Revision des Handgepäcks. Kein Sterblicher hat soviel Zeit, wie diese englischen Zollbeamten. Rolby ragt, wie ein Turm, aus dem Gedränge.

Endlich sitzen wir im Zug.

Die Kreidefelsen von Dover – – samtgrüne Wiesen, Hecken, Gehölze, breite Alleen – – – kleine Städte, Weiler, Landsitze unter uralten Ulmen und Kastanienbäumen fliegen vorüber.

Wir sind in Kent – im fröhlichen Kent!

– – Immer mehr drängen sich Flecken und Dörfer zusammen. Da tauchen lange Straßenzüge auf, Bauplätze, Unland, Plakate und Plakate auf Riesentafeln, auf allen Wänden – in schreienden Farben: » Dont worry; Sunlight Soap!« und » Look up, buy the Karnabin!« oder » Pelhams pills are the best – – – «

London! ... London!

Fabriken, häßliche Schlote, Manufakturen, Holzplätze, Speicher ... Das ist der Strom – die Themse! Drüben die Westminsterabtei und die imposanten Formen der Pauls-Kathedrale.

Grosvenor Bridge! ... Die Fahrkarten 'raus!

'Rauf und 'runter den Fluß Brücken und wieder Brücken ... Da donnert der Zug unter die häßliche Kuppel der Viktoriastation.

– – Wir mieteten uns in der Gowerstraße ein, wo wir schon bekannt waren. Dann suchten wir fast drei Wochen lang. Ich will Euch nicht damit langweilen. Wer London kennt, der weiß, was es heißt, ein paar Fremde suchen, die sich versteckt halten wollen.

Mr. und Mrs. Butler und Burke gab es in Masse.

Natürlich waren unsere Leute nicht darunter.

Die saßen vielleicht in Paris oder Ostende und ließen sich's wohlgehn. Oder sie wohnten am andern Ende der Gowerstraße, und wir wußten es bloß nicht.

Eines schönen Tages frühstückte ich bei Pimm und wartete auf Rolby. Neben mir schlang Mr. Hobbes sein Steak mit Kartoffeln 'runter.

Mr. Hobbes war ein Citymann, den ich kannte. Als er mit der unglaublichen Fixigkeit, die bei Pimm Existenzbedingung ist, seine Mahlzeit beendet hatte, wippte er mit dem dreibeinigen Schemel, schob sich den Hut in die kahle Stirn und fragte im Abgehn: »Schon gehört, daß die Geldschrankknacker gefaßt sind? – Das hat wieder Sparks gemacht. Ein Prachtkerl – der Sparks! – – – Morgen!« Er wollte abdampfen.

Ich fragte, wer Sparks wäre.

»Was!« sagte er. »Kennen Sparks nicht? – – Gott bewahre uns!«

Damit war er draußen.

Ich sah ihm verblüfft nach. Da drängelte sich Rolby zu mir durch. Er hatte eine Zeitung in der Hand – wohl ein Extrablatt oder sowas. Ganz rot sah er aus und wischte sich den Schweiß ab, riß heimtückisch ein Dreibein an sich, auf das er stöhnend niedersank. Dann stieß er heraus: »Prachtkerl – der Sparks! – – By Jove! Ein Prachtkerl!«

Jetzt wurde ich falsch. Aber er unterbrach mich.

»Ist unser Mann,« sagte er bestimmt. »Kalkuliere: Ist unser Mann, Ralph!«

Er bestellte sich sein Steak und nahm einen Alligatorschluck.

Dann schoß er los.

Mr. Jared Sparks war die Zierde Londons. Wer kannte nicht Sparks – den großen Detektiv!

Der Name Sparks erfüllte die Unschuld mit Zuversicht, das Herz der Verbrecher mit Schrecken.

– – Dick hatte Recht: Das war unser Mann ...

 

Am andern Morgen stiegen wir auf der Oxfordstraße in die Untergrundbahn. Sparks wohnte in der Queenstraße.

Eine alte Frau öffnete uns.

»Mr. Sparks zu Hause?«

Sie führte uns in ein einfaches Empfangszimmer und bat uns, Platz zu nehmen. Ihr Sohn werde gleich kommen.

»Da ist er schon,« sagte sie, als die Tür zum Nebenzimmer aufging und Mr. Sparks eintrat.

Mr. Sparks war in großer Aufregung. Er schien uns garnicht zu sehn, stürzte auf seine Mutter zu und rief: »Wahrhaftig, Ma! – Jimmy wird wieder! Ich glaube: Jimmy wird wieder.«

»Gott sei Dank!« seufzte die aus tiefster Brust. »Das freut mich – – – das freut mich wirklich!«

Und dann trippelte sie trotz ihrer Körperfülle mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Stube, aus der er herausgekommen war.

Mr. Sparks folgte.

Drin hob lautes Reden an. Wir konnten jedes Wort verstehn, obgleich ein halbes Dutzend Kanarienvögel spektakelten.

Erst frohlockte die alte Dame, und Mr. Sparks schien einen Indianertanz aufzuführen. Danach wurden sie ruhiger und besprachen die Einzelheiten des Falls mit großer Ausführlichkeit.

»Tannin, Ma! Oder – verstehst du? – Salicylsäurelösung! – – – Das muß ja helfen. Schlimmstenfalls Glaubersalz! Und ein warmer Breiumschlag um den Leib: einfach großartig!«

»Du hättest Doktor werden müssen, Boysie!« meinte Mrs. Sparks. »Es ist ewig schade!«

»Ein bißchen Darmkatarrh. – – – Das wollen wir schon kriegen. – Nicht wahr, Jimmy, my darling?!«

Er pfiff die Paloma – drei Takte bloß – aber greulich falsch! Die Kanarienvögel begannen von neuem ihren Spektakel.

Da hustete Rolby. Mrs. Sparks kam wieder zu sich.

»Ach du meine Güte, Boysie! – Die Herren!«

Mr. Sparks trat in die Tür und bat um Entschuldigung.

»Geschäfte?« fragte er.

»Dann bitte in mein Arbeitszimmer!«

Ich sah mich erstaunt um. Also – das war das Arbeitszimmer des großen Detektivs!

Ich hatte es mir anders vorgestellt.

In der Mitte ein kleiner Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Ein paar Aktenbündel darauf. Das war alles, was auf Sparks Beruf deutete. An der Wand ein altes Ledersofa – ein gelber Klapptisch davor – ein paar gleiche Stühle, zwei große, wunderliche Schränke mit Butzenscheiben und altmodischen Verzierungen. Auf dem Fensterbrett eine Kollektion Kakteen und Epiphyllen ... Ein schöner Cereus Ackermanni war über und über mit scharlachroten Blüten bedeckt.

Auf einem Lehnstuhl schnarchte ein großer Bulldog, und am Fenster hingen zwei Käfige mit Kanarienvögeln in der Sonne.

Ein behagliches Zimmer!

Wilder Wein überspann das Fenster und sah kupferrot aus, im durchscheinenden Lichte. Die Sonne malte weiße Kringel auf das hübsche Blumenmuster der Tapete, vergoldete die Rahmen der altfränkischen Bilder und Bildchen, die sie schmückten ...

Wir setzten uns, und ich fing an.

Aber da unterbrach mich Mr. Sparks.

»Ich sehe,« sagte er, »es handelt sich um eine neue Sache. Ich bin stark besetzt und muß bedauern, Ihre Angelegenheit zu übernehmen. – – Bedauere wirklich –«

»Ma!« rief er mit einmal. »Ma!«

Die Alte erschien wieder in der Tür.

»Ma! – Horch! Jimmy hat 'was gesagt.«

Sie liefen beide zum Fensterbrett, und Mr. Sparks nahm einen kleinen Pappkasten in die Höhe, der unter den roten Kaktusblüten in der Sonne stand.

Sie besahn ihn liebevoll.

»Das ist der Patient,« erklärte Mrs. Sparks, die unser Staunen bemerkte.

Mr. Sparks trat zu uns an den Tisch. Sein blasses, ruhiges Gesicht hatte sich belebt.

»Armer Kerl!« meinte er bedauernd. »Darmkatarrh – –!

Nichts besser als Tannin – versichere ich Ihnen – und Wärme! Wärme, die macht alles! – – – Ein Umschlag auf den Leib! – Sonnenbäder! oder ein Sandbad – eben handwarm.

Glaubersalz ist ein bißchen scharf! aber – –«

Es war ein Kanarienvogel, der seinen gelben Kopf aus einem runden Loch im Deckel steckte.

»Ich denke, ich werde ihn durchbringen.

Nachher ein Schlückchen Rotwein – – Haferschleim – – leichte Diät!

Wird sich schon machen, Ma! – Wird sich schon machen! Nur nicht gleich den Mut verlieren.

Wissen Sie, meine Herrn: Die Diagnose ist einfach, ganz einfach! Matte Augen, gesträubtes Gefieder, hängende Flügel, übermäßige Freßlust – –«

Der Mann wurde ordentlich geschwätzig. Ich stand auf; denn wir waren doch nicht hergekommen, um ein Privatissimum über die Behandlung des Darmkatarrhs bei Kanarienvögeln zu hören. Auch Rolby erhob sich.

»Denke, Ralph,« sagte er, »gehn wieder. Wünschen Ihrem Jimmy alles Gute, Mr. Sparks –«

Er wollte zur Tür; blieb aber nochmals stehn. Vor dem Lehnstuhl, auf dem der Bulldog lag. Der war erwacht und hatte sich aufgerichtet.

Es war ein kolossaler Kerl mit einem Löwenkopf und grimmiger Faltenmaske.

Dick hätte kein Amerikaner sein müssen, um nicht über den Hund in Verzückung zu geraten.

»Statiöser Bursche das, Mr. Sparks! Kalkuliere: Champion mit allen Punkten.«

Der Köter erhob sich schwerfällig und setzte sich auf die Hinterhand. Den dicken Kopf zwischen die massigen Schultern gesenkt – wie ein Stier – guckte er uns aus schönen, runden Bulldogaugen aufmerksam an.

»Mr. Maneater!« stellte ihn sein Herr vor.

»Eingetragen?«

Sparks bejahte. »Von Boomerang aus der Pale Girl.«

»Prämiirt?«

Mr. Sparks nickte wieder. »Dreimal –«

»Erste – –?«

»Drei erste, sieben Guineapreise, zwei Ehrenpreise! Den Championship holte er sich auf der Bulldog-Club-Show und der Crufts Show.«

Rolby pfiff durch die Zähne. Dann tätschelte er Mr. Maneater auf den mächtigen Schädel. »Brav, altes Haus!« meinte er wohlwollend.

»Da kannst du 'was lernen,« wandte er sich zu mir, und dann hielt er mir einen Vortrag darüber, wie ein Bulldog aussehn müsse. Er war in Boston Mitglied der Preisrichterjury gewesen und verstand sich auf die Sache.

»Sieh bloß den famosen Stop!« bewunderte er. »Überhaupt den ganzen, typischen Schädelbau! – – Ich wette, er hat fünfundfünfzig Centimeter Kopfumfang.«

»Siebenundfünfzig ein halb,« bestätigte Mr. Sparks.

»Volle, dunkle Augen! – – Brillant aufgebogener Unterkiefer, Rosenohren – tadellos angesetzt!« kritisierte Dick weiter und besah den Hund von vorn und hinten. – – – »Tief gestellt! – Schwergewicht. – Wieviel, Mr. Sparks?«

»Sechzig Pfund!«

Rolby nickte. »Glaube es,« fuhr er fort. »Tiefe Brust, lose Schultern – › Well out in elbow‹, sagt man hier zu Lande – schnittiger Karpfenrücken! – – Korkzieherrute! – Was will man mehr!«

Er war in seinem Element. Seine Augen glänzten.

»Großartiger Bursche das, Ralph! – Großartiger Bursche! – – Good bye, old chap!«

Er hielt die Hand hin. Der fürchterliche Hund blickte ihn an. Dann legte er bedächtig seine Riesenpfote in Rolbys Rechte, die sich gleichfalls sehn lassen konnte.

Mr. Sparks war ganz mobil geworden. Er guckte Dick ordentlich verliebt an.

»Er läßt sich sonst von keinem Fremden anfassen,« meinte er. Als wir gehn wollten, fragte er, ob wir ihm nicht wenigstens unsern Fall erzählen wollten.

»Gern!« erwiderte Dick. »Schieß los!«

– – Der Detektiv hörte aufmerksam zu. Sein glatt rasiertes Schauspielergesicht färbte sich. Die tiefliegenden Augen stachen unter ihren schweren Deckeln. Von Zeit zu Zeit machte er sich eine Notiz in sein Taschenbuch.

»Und Sie sind sicher, daß die gestohlnen Papiere Wert haben?«

Wir bejahten.

Rolby hatte selber gegraben ... Steine gefunden. Er legte sie Sparks vor, der sie mit der Lupe betrachtete.

»Brillanten!« murmelte der Detektiv. »Brillanten; jeder mindestens dreißig Pfund wert – der das Doppelte! – Echte Vindhyasteine! – – – Kenne das.«

» Well!« fuhr er fort. »Will den Fall übernehmen. Habe aber diese Tage zu tun – – Kommen Sie am Montagmorgen wieder!« – –

*

Am nächsten Montag waren wir wieder in der Queenstraße. Wir meinten, es sei eine böse Sache: »Wer weiß, ob sie überhaupt in London sind.«

Aber Sparks sagte: »Sie sind in London. Wir werden das heute Abend sehn.«

Wir starrten ihn ungläubig an.

Der Detektiv holte einen ganzen Stoß Briefe aus seinem Schreibtisch. »Ich habe in der Times annonciert: Geldmann wolle sich an einer lukrativen Unternehmung – am liebsten im Ausland – beteiligen. Eventuell diskreter Natur. Dreihundert Mille disponibel.

Zweiunddreißig Offerten – – Alles nichts. Ich habe recherchieren lassen.

Aber hier! Der Brief von heute – –«

Er schob uns den Brief hin.

Elegantes, graues Leinenpapier; der Umschlag schottisch gefüttert. Sicher eine Damenhand. Wir lasen:

»Wenn A. K. 50 geneigt ist, sich an einem lukrativen Geschäft – Diamantengräberei in Indien – zu beteiligen, so wird er gebeten, sich heute abend um 7 Uhr auf dem Trafalgar Square, Nelsonsäule, einzufinden. Millionenobjekt. 300 % garantiert.«

Die Unterschrift fehlte.

Wir sahn uns an. Sparks fragte: »Kennen Sie die Handschrift von Mrs. Butler?«

Wir verneinten. Hatten nur ein paar Billets vom Oberst zu Gesicht bekommen.

Das hatte er sicher nicht geschrieben ...

Kurz vor sechs waren wir wieder bei Sparks.

Im Empfangszimmer saß ein alter Herr und wartete. Er hatte einen langschößigen, schnupftabakfarbigen Rock und weite, großkarrierte Hosen an; eine schwarze Samtweste mit grünen und weißen Dessins. Altmodisch, aber vertrauenerweckend. Neben ihm lag sein steifer, grauer Hut. Das, was man gewöhnlich eine Silberpappel nennt.

»Ein Freund vom Hause!« dachte ich. Denn Mr. Maneater behandelte ihn mit Zuvorkommenheit.

Wir wechselten ein paar höfliche Worte. Er mußte aus Devonshire sein, oder da herum zu Hause – wenigstens nach dem Dialekt. Ich hielt ihn für einen Geschäftsmann, der sich zu Ruhe gesetzt hatte. Er strich seinen weißen Bart durch die Finger, zog die Uhr und meinte dann gemütlich: Müßten fort, wenn wir noch zur rechten Zeit auf dem Trafalgar sein wollten.

Wir standen wie die Oelgötzen, und Mrs. Sparks lachte sich halb tot. Der Mann aus Devonshire war Mr. Sparks.

Er pfiff dem Hunde, und wir machten, daß wir fort kamen. An der Ecke von Edgware Road nahmen wir ein Cab. Unterwegs gab er uns unsere Instruktionen.

Wir sollten am Eingang vom Strand vor dem Grand Hotel halten und auf ihn warten. Bei Pall Mall stieg er aus, nachdem er uns nochmals eingeschärft hatte, uns nicht sehn zu lassen.

»Man kann nicht wissen, welche Augen den Platz überwachen.«

Den Hund nahm er mit sich.

»Fünfzig Schritt Distanz, Master!« sagte er, und der Köter verstand und trollte sich.

Wir fuhren die Cockspurstraße 'runter, Charing Croß vorüber und machten am Hotel halt.

Mr. Maneater war verschwunden.

Wir konnten alles genau verfolgen. Der Detektiv schlenderte beim Unionsklub vorbei – beguckte die Fontänen. Gerade, als es auf St. Martin sieben schlug, querte eine Dame die Straße – von der Post her. Am Monument trafen sie zusammen.

Die Fremde zögerte einen Augenblick. Dann redete sie ihn an. Sie gingen ein Weilchen mit einander auf und ab ... blieben stehn, und die Fremde empfahl sich wieder.

Sie kam direkt auf uns zu.

Hohe, schlanke Figur. Lederfarbiges Tuchkleid mit kleinem Bolero und gestickter Weste. Ein Rembrandt mit großen Hahnenfedern auf dem Kopf.

Das Gesicht konnten wir nicht erkennen. Sie war tief verschleiert.

»Donnerwetter!« machte Rolby. »Das ist sie!«

Er fuhr in die Höhe und guckte aus dem Schlage.

»Dick!« warnte ich.

Aber er starrte ihr wie verzaubert nach, wie sie – keine fünfzig Schritt weit – an uns vorüber ging.

»Ist es, Ralph!« stöhnte er. »Ist Mrs. Butler! – – Ist Mrs. Butler – – –! Will erschossen sein: Ist Mrs. Butler!«

»Sie hat dich gesehn, Dick,« sagte ich. Denn die Fremde beschleunigte mit einmal ihr Tempo. An der Ecke von Charing Croß winkte sie einer Droschke und stieg ein. Der Wagen rollte nach Whitehall.

»Kutscher!« schrie Rolby. »Nach Whitehall! Dalli, dalli, Mann! Doppelte Taxe!«

Er war außer sich.

Der Kutscher wendete. Da war schon Mr. Sparks. Kaum saß er, so preschten wir los.

Aber vergebene Liebesmüh!

Charing Croß ist der Kreuzungspunkt aller Omnibuslinien von Westend. Ein paar Dutzend Omnibusse, Cabs, Hansoms, Kraftwagen, Equipagen drängten sich ... Rolby tobte. Der Kutscher fluchte. Aber wir kamen nur langsam weiter. Schließlich noch eine vierspännige Mail-Coach mit Gardeoffizieren, die aus der Charlesstraße einbog, und eine Abteilung Life-Guards mit ihrer Musik. Das genügte – – –

Wir fuhren noch bis zur Brücke. Dort lachte Mr. Sparks in seiner stillen Weise und meinte: Die Reise habe keinen Zweck. Er habe sich das gleich gedacht. Sowas käme bloß in Räubergeschichten vor.

Wir drehten um. Rolby war geknickt und fragte, ob ihm denn die Dame Straße und Hausnummer auf die Nase gebunden hätte.

Der Detektiv lachte vergnügt: »Nein! – Aber die werden wir bald wissen.«

Und Rolby: Wer – in Dreiteufelsnamen! – ihm das verraten werde.

»Mr. Maneater!« antwortete Sparks zuversichtlich. Weiter war nichts aus ihm herauszubringen.

Richtig! – Mr. Maneater! – – Der Hund war weg. Er war nicht wieder mit eingestiegen. Wir hatten es in der Hitze des Gefechts ganz vergessen.

Sparks ließ beim Montague House halten. Er hätte noch Geschäfte. Wir sollten ihn punkt elf Uhr bei Molyneux erwarten.

»Bringen Sie einen Mantel mit!« sagte er. »Die Nacht wird kalt. Auch braucht Sie niemand zu kennen.«

6.

Seid Ihr schon 'mal bei Molyneux gewesen?

Wenn nicht, dann müßt Ihr unfehlbar hingehn. Sowas muß man in seinem Leben gesehn haben.

Wir lehnen in den behaglichen Klubsesseln mit ihren wonnigen Rücken und bequemen, breitausladenden Hüften und freuen uns über den wunderbaren Rhythmus von Formen und Farben. Und je länger wir sitzen, umsomehr freuen wir uns.

Echte Epikuräer!

Aus dem Musiksaal tönt schwach der Luxemburgwalzer herüber; nebenan im Billardzimmer das feine Klicken der Elfenbeinkugeln ... leichtes Klappern von Meißner Porzellan und silbernen Platten. Sektkelche, goldene Römer singen ... gedämpfte Stimmen, der Glockenklang eines Mädchenlachens.

An den kleinen, blitzblanken Mahagonitischen Weltdamen und Halbweltdamen, Gentlemen und Talmigentlemen. – Dazwischen geräuschlose, eidechsenflinke Boys in schmucker, blauer Jacke.

Mr. Sparks holte uns um elf Uhr ab. Er trug einen langen, dunkelgrauen Havelock. Vor der Tür saß Mr. Maneater und wartete. Rasch gingen wir über Pall Mall nach dem Trafalgar Square.

Am Monument nahm Sparks den Hund an die Leine.

»Los, meine Herrn! Wir haben vielleicht einen weiten Weg vor uns.« Und nun erzählte er uns, daß er Mr. Maneater dem Wagen nachgeschickt hatte, der die Fremde entführte. »Er läuft zwischen den Hinterrädern, und nichts kann ihn von seiner Pflicht abwendig machen. – Es ist Verlaß auf den Hund. – Er hat das schon oft getan, und mancher schwere Junge verdankt ihm seine Exkursion nach Botanybay.«

– – Die Dame hatte Sparks erzählt, ihr Mann sei in Geschäften verreist und kehre erst in zwei bis drei Wochen zurück. Er werde ihn dann aufsuchen.

Der Detektiv gab ihr eine Deckadresse. »Denn ich bin leider zu bekannt, um für einen Kapitalisten und soliden Geschäftsmann zu gelten,« meinte er bescheiden. »Sie sagte: Es handele sich um Diamantenlager in Indien – im Vindhyagebirge! Kein Mensch wisse bisher von der Sache. Man werde mir zur rechten Zeit alles vorlegen, was ich zur Beurteilung des Unternehmens brauche. Namen und Wohnung wollte sie vorläufig nicht angeben.«

»Und wie sah sie aus?« fragte ich gespannt.

»Sie war verschleiert, so daß ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aber blond war sie.«

»Ihre Stimme?«

»Eine Altstimme. – Jedenfalls eine Irländerin! Wundervolle Figur; aber ordinäre Hände – trotz aller Juchtenhandschuh! – Ordinäre Hände! sage ich. Kurz und breit – – ganz auffallend breit; wie eine Männerhand – – –? Sie muß viel mit den Händen gearbeitet haben.«

Ich vermochte nicht mich auf Mrs. Butlers Hände zu besinnen.

»Hat reizende Patschchen!« meinte Dick. Doch sein Urteil war wenig zuverlässig.

»Der Anzug elegant – –« überlegte Sparks weiter. »Fast zu elegant – – –«

»Hm!« machte er. »Stammt kaum aus London.«

Wir fragten, wie er das wissen wolle.

»Die Stickerei ist indisches Muster. Mit Goldfäden durchschossen – wie es die Weiber im Punjab machen – und der Schleier war ein Sari – ein richtiger Sari aus Amritsar – – – aus Amritsar! sage ich.«

»Sie müssen wissen,« setzte er erklärend hinzu, »ich habe auch 'mal einen Abstecher nach Indien gemacht. Damals suchte ich Juwelen – die Kronjuwelen des Maharadscha von Maysinghpur, die auf Reisen gegangen waren. – – – Hallo, Master!! – Langsam!«

Mr. Maneater riß ungestüm an seiner Leine.

»Wir sind noch weit vom Ziel. Dicht vorm Bau wird er vorsichtig.«

Wir hatten Whitehall und die Parlamentsstraße hinter uns. Der Hund führte in die Brückenstraße; dann ging es über die Westminsterbrücke. Im Geschwindschritt marschierten wir durch Georges Road und Walworth Road. Es war eine dunkle Nacht; dicke, gelbe Luft sackte sich in den still gewordenen Straßen. Zuletzt sprühte ein feiner, kalter Regen herab. Wir wickelten uns in unsere Mäntel und trabten schweigend durch Lambeth ...

Es schlug eins von einer Kirche, als wir Camberwell Road erreichten. Gleich beim Addington Square bog der Hund links ab und leitete uns durch eine Menge von kleinen Straßen, die mir völlig unbekannt waren. Mr. Sparks schien dagegen überall Bescheid zu wissen.

Nach einer ganzen Weile lenkte Mr. Maneater in eine Art von Heckenweg ein.

»Müssen gleich da sein,« flüsterte Sparks.

Bedächtig schritt der große, schwere Hund weiter. Rechts und links Gärten, in denen ab und zu ein Haus auftauchte. An der Ecke stand eine Laterne.

»Brickkiln Row,« las ich bei ihrem Licht. Dann ging es in den finstern Gang hinein.

Das trockne Hainbuchenlaub raschelte in der Hecke. Wie Nebel hing die Regenluft in den Obstbäumen. Bisweilen fiel ein gelber Streifen Mondlicht durch das Gewölk. Dann kamen uns die schwarzen Schatten noch schwärzer und unheimlicher vor.

Es wurde schmutzig, der Boden immer weicher und weicher. Langsam ging's im Dunkeln vorwärts. Daß der Hund bei uns war, hörten wir an seinen tiefen Atemzügen ...

Der Weg lichtete sich.

Wir glitschten ein paar hundert Schritt über freies Feld – wohl über Bauplätze oder dergleichen. Doch konnten wir nicht weit sehn. Nur eine Reihe von Fabrikschornsteinen ragte im Hintergrunde, wie Finger einer schwarzen Riesenfaust, aus dem Dunste.

Sparks machte halt. Er bückte sich. Zuletzt holte er eine kleine elektrische Taschenlampe hervor und beleuchtete den Boden.

Wir sahn neugierig zu. Mr. Maneater schnüffelte und blies durch die Nase.

»Sehn Sie!« sprach der Detektiv und wies auf eine Wagenspur, die sich deutlich im weichen Boden abzeichnete. »Und hier die andere!«

»Wir sind auf der richtigen Fährte. Bleiben Sie 'mal stehn, Mr. Maneater!«

Er ging ein Dutzend Schritte weiter. Dann machte er wieder Licht.

»Da ist das Cab gefahren. – – – Hin- und Rückweg! Sie sehn das an den Pferdehufen. – Und – – da haben wir auch den Hund. Sehn Sie seine Spur im Lehm?«

Wieder schlossen sich die Hecken auf beiden Seiten des Wegs. Da knurrte der Hund leise ... blieb stehn. Dann kroch er behutsam in den tiefen Schatten der Hainbuchen und legte sich nieder.

»Wir sind am Platze,« wisperte Sparks.

»Vorsicht! – – – Niemand darf uns sehn.«

Vor uns auf der rechten Seite war ein niedriges Gittertor in der Hecke. Ein Garten mit einem Haus. Alles dunkel; das Haus schien klein, ein gewöhnliches Einfamilienhaus, wie man es in Lambeth und in andern Vorstädten Londons zu Dutzenden findet. Davor ein verfallener Springbrunnen, um ihn herum Beete und dahinter zwei alte, große Ulmen.

Mehr ließ sich nicht bei dem schlechten Licht erkennen.

Ich zog die Uhr. Es war dreiviertel zwei durch. Sparks und Rolby hatten sich auf ihre Mäntel gekniet und untersuchten die Straße.

»Hier hat er gewendet,« brummte Rolby vergnügt. »Ein Hauptkerl – der Maneater. – – Wahrhaftig, ein Hauptkerl!«

»Ich will rekognoszieren,« erklärte der Detektiv. »Bitte! Kein Geräusch! – – – Wäre ein Hund da, hätte er lange angeschlagen.«

Wie der Blitz war er über das Gitter hinüber, und es dauerte lange, bis er zurückkam.

»Fertig,« sagte er, als er wieder neben uns stand. Uns fror. Wir waren müde geworden und machten uns gern auf den Heimweg.

Sparks blieb einsilbig; er schien zu überlegen. Auf Walworth Road faßten wir glücklich eine Droschke. Rolby und Maneater schnarchten um die Wette. Der Detektiv saß regungslos in seiner dunkeln Ecke; nur die glühende Zigarre verriet, daß er nicht schlief. Der Wagen schaukelte und stieß. Mit seinen häßlichen Augen guckte der Nebel ins Fenster.

7.

Am andern Morgen schrieb Sparks, daß er Freitag vorsprechen wolle. Er bat uns, bis dahin alle Nachforschungen auf eigne Hand zu unterlassen. Wir sollten Brickkiln Row nicht besuchen. Davon machte er überhaupt seine weitere Hülfe abhängig.

Rolby reiste drum nach Newbury, um dort bei einem Geschäftsfreund Hühner zu schießen. Ich nach Ipswich, wo mein Schwager wohnt. Am Freitag saßen wir wieder in unserm behaglichen Wohnzimmer zusammen und freuten uns über das prächtige Knacken der Eichenkloben im Kamin.

Draußen fuhr der Wind durch die Gowerstraße, pfiff und lärmte, wie ein Gassenjunge, um die schönen, korinthischen Säulen des University Colleges, wirbelte Staub und dürre Blätter auf, hinauf bis zu den Riesenschultern der Irvingianerkirche am Gordon Square.

Klappernde Pferdehufe, Zeitungsjungen, der Ruf eines Sandwichmans, das Tuten eines Autos ... Der gelbe Abendhimmel hing, wie eine reife Pomeranze, über der Kirche. Rolby machte mit seiner schrecklichen Virginia das dunkle Zimmer noch dunkler; ich trat ans Fenster.

Da kam ein Cab von Euston Road her in schnellem Tempo angerollt, hielt vor unserer Tür, und der sehnlichst Erwartete sprang heraus.

– – Sparks setzte sich zu uns an den Kamin, nahm eine Zigarre und stemmte die Füße gegen den Sims.

»Brr!« – Er rieb sich die Hände. »Kalt heute Abend!« Dann rückte er noch näher ans Feuer.

Rolby warf ein paar Kloben hinein. Funken sprühten; das Holz knisterte und krachte.

Nachdenklich starrte der Detektiv in die Glut, die sein ernstes Gesicht wunderlich belebte.

»Sind verstimmt, Mr. Sparks?« meinte Rolby.

Der nickte.

»Ja!« sagte er. »Der kleine Kerl ist gestorben – der Jim! – Sie wissen – –«

»Oh!« machten wir bedauernd.

Nach einer Pause fuhr er fort:

»Elf Jahre haben wir ihn gehabt. Der arme, kleine Bursche! – – Meine Mutter ist ganz unglücklich.

Wir haben alles getan – – was menschenmöglich! – – – Er wird uns recht fehlen, denke ich.«

Er starrte wieder ins Feuer.

Wir sahn erstaunt zu.

Der berühmte Detektiv, der Mann mit dem Scharfsinn eines Irokesen und dem stahlharten Herzen – der Günstling von Presse und Publikum! – Von dessen Taten die Gasse sang, mit dem die Mütter in Whitechapel ihre Kinder gruselig machten – – der Mann, der den blöden Johny und den Champagnerbaron entlarvte, der Jack the Ripper erschossen und die rote Sarah Holloway in Bethnal Green – die berüchtigte Engelmacherin – an den Galgen gebracht hatte, der – – – der Mann saß dort am Kamin und trauerte um seinen Kanarienvogel!?

Wir begriffen das nicht.

Nach einer Weile hob Sparks an: »Das Haus in Brickkiln Row gehört einer Aktiengesellschaft in der City. Vor vier Wochen mietete es eine Mrs. Marian Wilverly und bezog es wenige Tage später ... Witwe ohne Anhang!

Sie kam aus Stockport.

Ich habe festgestellt, daß tatsächlich dort vor etwa Jahresfrist ein Mr. Wilverly verstorben ist. Er war früher Pächter in Yorkshire gewesen. Seine Witwe lebte in guten Verhältnissen und ist vor einigen Monaten – soviel bekannt – nach London gezogen.«

Sparks Gewährsmann hatte noch geschrieben, sie sei eine Frau in den besten Jahren, groß und stark, mit blondem, etwas spärlichem Haar, und nicht gerade hübsch zu nennen. Kinder hätte sie nicht gehabt ...

Der Vornamen stimmte.

In Indien war die Witwe kaum gewesen. Stammte aus Oldham, wo ihr Vater noch heute als Beamter an einer Spinnerei lebte. Jedenfalls hatte sie die letzten Jahre vor ihres Mannes Tode Stockport nicht verlassen.

»Wir müssen selber sehn,« sagte Sparks. »Das ist die Hauptsache! – Ich habe alles Mögliche versucht; leider ohne Erfolg.

Mrs. Wilverly lebt ganz zurückgezogen.

Sie hat eine alte Frau, die ihr die Aufwartung macht. Sonst kommt sie mit niemand zusammen. Nachbarn hat sie nicht. Das Grundstück grenzt oben an Bauparzellen, unten an einen Obstgarten, der früher zur Ziegelei gehörte. Hinten ist der Lagerplatz von E. T. Cook und Sohn.

– Sie machen Zementrohre und sowas. –

Gegenüber – auf der andern Seite – stößt ein großer Garten an den Weg, der sich bis zur Toftstraße hinaufzieht.

In ganz Lambeth konnte ich nichts über Mrs. Wilverly erfahren. Ich habe in Camberwell die Geschäfte abgeklappert ... Alles umsonst!«

Rolby grunzte.

»Auf dem Polizeirevier wußte man bloß, daß das Haus wieder bewohnt sei.

Das Haus steht schon lange. Es muß ziemlich geräumig sein und ist für eine einzelne Person viel zu groß.

Früher war dort eine Ziegelei, die später eingegangen ist. Eine Terraingesellschaft kaufte das Grundstück und parzellierte es. Dabei blieb das Zieglerhaus stehn. Vor mehreren Jahren soll dort 'mal ein Falschmünzernest ausgenommen worden sein.«

»Sie haben Mrs. Wilverly nicht wiedergesehn?« fragte ich.

»Doch! – Mehrere Male.

Sie geht jeden Tag in die Stadt. Ich bin ihr gefolgt; habe neben ihr im Tramway gesessen.

Aber sie ist immer tief verschleiert.«

»Verdammt!« knurrte Dick, der keine Geduld zu haben schien. »Sage: Sie ist es. – Ist Mrs. Butler! – Kenne ihren Gang; bin ein alter Jäger ... By Jove! Kann einen Hirschen von einer Milchkuh unterscheiden.«

Der Detektiv nickte: »Wir müssen aber sicher gehn.

Viermal war ich draußen – immer in anderer Verkleidung. Aber da machte die Alte auf. Einmal kam ich als Gemüseweib, wie sie gerade ausgegangen war: Mrs. Wilverly kaufte mir drei Bund Bleichsellerie ab ... Doch sie war in Hut und Schleier – –«

Rolby stieß wieder einen lästerlichen Fluch aus.

»Sie hat bis tief in die Nacht hinein Licht. Das habe ich festgestellt. In den Garten kommt sie nicht. Besuche scheint sie auch nicht zu empfangen. Immer nur die Fußspur von ihr selbst und von der Alten.«

»Und die Alte?« fragte ich.

»Ist Kitty Doolan,« schüttelte der Detektiv. »Da ist nichts zu wollen. Die kenne ich wie meine Tasche.

Wie ist sie nur zu der alten Hexe gekommen?!

Ist ein Stammgast von Newgate. Ihr Mann: Spieler und Trunkenbold. Früher berühmter Cricketmann, der in der Saison seine tausend Pfund verdiente.«

Er schwieg und sah ins Feuer. Rolby reichte ihm eine neue Zigarre.

»Ich denke« – fuhr Sparks langsam fort – »daß Mrs. Wilverly von Brickkiln Row und Mrs. Wilverly aus Stockport nicht mit einander identisch sind.

Überlegen sie 'mal!

Die eine kommt aus Stockport, stammt aus Yorkshire. – – Die andere spricht wie eine Irländerin.

Mrs. Wilverly aus Stockport ist eine einfache Pächtersfrau. Unsere Mrs. Wilverly scheint eine Dame aus Westend. Jene ist nie in Indien gewesen. Diese trägt Kleider, die sie vermutlich in Indien selbst gekauft hat.

Mrs. Wilverly aus Stockport nahm nach dem Tode ihres Mannes ihr ganzes Mobiliar mit – wie das jeder tut, der von einem Ort zum andern zieht. – – – Mrs. Wilverly von Brickkiln Row kaufte sich die ganze Einrichtung ihrer Wohnung – von A. bis Z.! – bei Bracket in der Fleetstraße.«

Wir nickten.

»Dann fabelt sie von Diamantenlagern im Vindhyagebirge, das die wackere Pächtersfrau aus Yorkshire kaum dem Namen nach kennen dürfte. Dann – – soll ihr Mann auf Reisen sein, während doch der selige Mr. Wilverly längst im Himmel ist.

Warum endlich – frage ich – verbirgt sie ihr Gesicht? – sogar zu Hause! Die brave Dame aus Yorkshire wird kaum mit ihren Reizen verstecken spielen.

Und Mr. Rolby hat recht. Auch mir ist ihr Gang aufgefallen. Das sind nicht Schritt und Haltung einer schlichten Frau vom Lande. Nein! – – Nein! – – – Schwipp, wie eine Feder – wie – –«

Er sann nach – – – »Ich sah sie aus der Trambahn springen. Famos! – So springt nur eine Großstädterin ab. Wartete garnicht, bis der Wagen ordentlich hielt. Und richtig in die Kniekehlen!

Und dann ihre Börse! – Ein kleines, reizendes Ding ... Perlenstickerei, blau und weiß karriert. – Die stammte sicher nicht aus Stockport. War aber schon Jahr und Tag im Gebrauch. Denn der Bügel hatte sich blank gescheuert. –

Und welche Pächtersfrau riecht nach Ylang-Ylang?«

»Ylang-Ylang?« brach Rolby los. »Bei Gott! – Ylang-Ylang! – – Das Zeug, das nach Hyazinthen riecht?«

Sparks nickte.

Rolby schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel, daß es wie ein Büchsenschuß knallte. »Ho!« schrie er und sprang auf. »Ho! – Ylang-Ylang?! – – Will Euch Ylang-Ylang zu riechen geben.«

Er rannte nach seinem Koffer, schloß auf und kramte drin 'rum. Dann kam er mit hochrotem Kopf wieder.

»Da!« sagte er und hielt Sparks etwas unter die Nase. »Schnuppern Sie, Mann!«

»Ylang-Ylang!« bestätigte der.

Es war ein kleines Spitzentaschentuch. Auch ich mußte dran riechen. Deutlich war der zarte Hyazinthenduft zu spüren.

»Ist Mrs. Butlers Tuch!« frohlockte Dick. »Ist ihr Tuch. Stahl es – damals im Camp – am Abend, als es so heiß war. Bin ein doppelt destillierter Spitzbube, Mr. Sparks. – – Sowas für Sie, Mr. Sparks!«

Er lachte dröhnend.

Der Detektiv besah das zarte Gewebe von allen Seiten. »Hm!« machte er. »Sagten Sie nicht, daß Mrs. Butler Carry hieß?«

»Hieß Carry!« erwiderte Rolby. »Natürlich hieß sie Carry. – – Ein hübscher Name! – – – Carry – –«

»Aber« – fuhr der andere fort – »hier ist ein I. und ein O. Man stickt doch seine Anfangsbuchstaben ins Taschentuch?!«

Rolby beguckte sich das Tuch verblüfft.

Sparks hatte Recht. Das Taschentuch trug die Initialen I. O.

»– – Ich wollte Sie eigentlich bitten, mit mir nach Brickkiln Row hinauszufahren.

Doch halt! Noch eins!«

Er wendete sich wieder zu Rolby, der rittlings auf seinem Stuhle saß und nach Art der Amerikaner, in Ermangelung eines Besseren, ein Stück Eichenholz mit seinem Taschenmesser bearbeitete.

»Noch eins, Mr. Rolby! Ich habe mich Ihrer Sache angenommen und denke, sie durchzuführen. Aber meine Zeit ist Geld, Mr. Rolby – –«

»Weiß es, Mr. Sparks,« erwiderte der und sägte an einem besonders dickfälligen Aste. »Wieviel – –?«

»Fünfhundert Pfund werden nicht zuviel sein, wenn ich die Feldbücher schaffe. Die Hälfte muß ich für meine Arbeit verlangen, wenn ich keinen Erfolg habe.

Ich bin kein reicher Mann, Mr. Rolby!«

Rolby nickte bloß.

»Es wäre mir lieb,« fuhr Sparks fort, »wenn Sie das Geld auf der Bank deponierten. Ich habe einen gefährlichen Beruf und manchen guten Freund, dem es auf einen Messerstich nicht ankommt. Meine Mutter ist alt. Da –

Ich mache es immer so, Mr. Rolby.«

Wir hielten sein Verlangen nur für gerecht, und Rolby erklärte, daß er die Summe einzahlen werde, was er auch gleich am andern Morgen tat.

– – Wir nahmen ein Cab, das uns rasch nach Brickkiln Row führte.

Vorn – im Erker – brannte Licht. Das Rouleau war herunter. Aber wir konnten sehn, daß jemand im Zimmer hin und her ging. Dann knarrte hinten die Haustür. Schritte ... Wir krochen gegenüber in den Schatten der Hecke. Es kam jemand um das Haus herum. Eine alte Frau mit einem Korb am Arm.

»Kitty Doolan!« wisperte Sparks.

Da fiel ein Lichtstrahl auf den Weg. Das Rouleau war aufgezogen worden. Das Fenster öffnete sich. Eine dunkle Gestalt blickte heraus.

Die Alte sah sich um. Dann schloß sie die Gartentür hinter sich und schlurrte Brickkiln Row hinunter.

Als ihr Schritt verklungen war, kamen wir aus unserm Versteck. Schlichen zur Hecke und kauerten uns dort nieder.

Die Person lehnte noch am Fenster. Sie wollte offenbar frische Luft schöpfen.

Wir strengten unsere Augen an: Es war eine Frau.

Sie trug keinen Schleier. Das konnten wir deutlich erkennen; aber es war zu weit und zu dunkel, um ihre Züge zu unterscheiden.

So stand sie lange – fast eine halbe Stunde – am Fenster und sah in den Garten hinab. Nichts passierte ... Dann schloß sie es wieder, und das Rouleau rollte nieder.

Dick knurrte, stand auf und streckte sich. Auch mir waren die Beine eingeschlafen.

»Das tut sie jeden Abend,« sagte Mr. Sparks und schien ganz befriedigt.

Verstimmt fuhren wir nach Hause; aber am andern Abend ging es wieder nach Brickkiln Row.

Sparks hatte seinen Havelock um, trotzdem schönes Wetter war. Als wir bei der Laterne anlangten, staunten wir. Wir hatten schon auf Camden Grove singen gehört. Jetzt sahn wir, was es war.

Eine ganze Kompagnie kleiner Jungen marschierte zwischen den Hecken. Sie hatten Papierlaternen, und ab und zu puffte ein Frosch oder sonst ein billiger Feuerwerkskörper in die stille, warme Luft. Gerade, als wenn es einen Bank Holiday Festtag, an dem nach Parlamentsbeschluß alle Geschäfte usw. geschlossen bleiben. gäbe.

Rolby brummte, aber freute sich doch über die Gesellschaft, die ein Indianergeheul anstimmte, als wir vorüber gingen. Bengalisches Feuer hüllte auf einen Moment die dunkeln Heckenwände in phosphorweißes Licht ein.

»Ferien!« meinte Sparks zufrieden. »Die Ferien haben heute angefangen.«

Und die kleinen Barfüßler kreischten, daß es eine Lust war:

» School is over, oh, what fun!
Lessons finished, play begun.
Who 'll run fastest, you or I?
Who 'll laugh loudest? Let us try!
«

Oder:

» Rain! rain! go to Spain!
And mind you don't come back again!
«

Und dann das schöne Lied von Jack Sprat, der kein Fett essen konnte, und von seiner Frau, die nicht mager mochte, und dann das von Tommy Snooks und Bessy Brooks ...

»Kitty ist noch da,« flüsterte Sparks. »In der Küche ist noch Licht.

Nun passen Sie 'mal auf, Mr. Rolby!«

Er holte aus der tiefen Tasche seines Mantels ein Päckchen hervor. »Hier! – Das ist eine Blitzlichtpatrone – – Magnesiumband.

Haben Sie Streichhölzer?«

Dick nickte.

»Sie schleichen bis vor das Haus – unter das Erkerfenster! Da ist ein alter Kellerhals – – Gebüsch drüber gewachsen. Sie kriechen 'rein, legen die Patrone auf die oberste Treppenstufe und halten Ihr Feuerzeug bereit.

Sobald Sie ein Käuzchen schnarren hören, zünden Sie an.

Vorsichtig! Hier oben am Zünder – – Sehn Sie?«

Rolby nickte.

»Sie verstehn, Mr. Rolby?«

Rolby nickte wieder.

»Es wird ein Weilchen dauern. Denn Kitty muß erst weg.«

»Und Sie« – er wandte sich an mich – »halten meinen Mantel und verstecken sich in der Hecke! Niemand darf gesehn werden – – – Verstanden?«

Er zog einen kleinen Kasten aus dem Havelock; den Havelock gab er mir. Dann war er über das Gatter. Rolby voltigierte wie ein Zirkusklown hinterher.

Ich sah noch, wie sie unter den Bäumen verschwanden, und schlüpfte in die Hainbuchen.

– – Die Kinderstimmen kamen näher. Ich sah die bunten Papierlaternen auf und nieder schwanken.

» Solomon Grunday,
Born on Monday,
Christened on Tuesday – – –
«

Da knarrte die Haustür.

Kitty Doolan ging heim. Oben erschien der Kopf von Mrs. Wilverly am Fenster. Sie öffnete und bog sich weit heraus, den Spektakel mit anzusehn.

Rotfeuer, Weißfeuer flammte auf. Die alte Frau wurde von den Jungen mit Hurra begrüßt und ging schimpfend vorüber.

» Little Jack Horner sat in a corner,
Eating a Christmas pie:
He put – – –
«

Da schnarrte oben in den Ulmen ein Käuzchen ... einmal ... zweimal – – –

Dann blitzte es auf – – grelles, blendendweißes Licht unter dem Erkerfenster, das die ganze Front taghell beleuchtete.

Dann war alles wieder dunkel.

Von oben tönte ein zorniger Ruf. Das Fenster schlug zu, und das Rouleau wurde nieder gelassen.

Eine Minute später waren Sparks und Rolby wieder bei mir.

Sparks lachte in seiner unterirdischen Weise. Steckte sich eine Zigarre an und schlug den Heimweg ein.

Rolby blieb stehn. Sein Gesicht war finster.

»Gott steh mir bei,« knurrte er, »wenn ich 'was gesehn habe – – Sind auf dem Holzwege – – – total auf dem Holzwege!!

Das verdammte Licht! War blind wie 'ne Katze am dritten Tag. Und hören konnte ich auch nichts in dem vermaledeiten Loch. – – – Was sagte sie denn eigentlich?«

»Lausejungen!« erwiderte Mr. Sparks vergnügt. »Weiter nichts wie: Lausejungen! – Sie dachte natürlich, daß die Jungens einen schlechten Witz mit ihr gemacht hätten.

Aber vorwärts, meine Herrn! Ich will noch heute Nacht nach Westham.«

An der Ecke von Brickkiln Row gesellte sich einer von den Jungen zu uns, die zwischen den Hecken gespielt hatten.

»Wieviel?« fragte Sparks.

»Neun Jungens und ich,« antwortete er.

»Macht zehn Schilling.«

Der Detektiv holte sein Portemonnaie aus der Tasche und gab ihm einen halben Sovereign.

»Dank Ihnen, Sir.«

»Jetzt singt Ihr noch eine Viertelstunde!«

»Sehr wohl, Sir!«

Noch lange hörten wir in der Ferne: » Little Jack Horner – –«

8.

»Tag, altes Haus!«

»Guten Tag, Mr. Rolby!«

Damit traten zwei Herrn in unser Zimmer, die Rolby mit einem Hurra begrüßte.

Es waren Mr. M'Nab und Mr. Buffin aus Newbury. Sie hätten in der Stadt zu tun und den Beschluß gefaßt, Dick Rolby in Ale zu ersäufen.

Nachdem wir bekannt gemacht waren, setzte Mr. M'Nab auseinander, welchen Schlachtplan sie für den Abend entworfen hatten.

Es war ein würdiger, kleiner, untersetzter Herr mit rosigen Bäckchen, grauem, kurzgeschnittnem Haar und Backenbart, die gewiß 'mal feuerrot gewesen waren, mit viel zu engem Rock und tütenförmigen Beinkleidern.

Er trug prächtige, weiße Kamaschen, die mit dem porzellanblauen Cheviot der Hosen kräftig kontrastierten, und einen kleinen, runden Hut von einer Fasson, die sicher in den vereinigten drei Königreichen nicht wieder zu finden war und als Sehenswürdigkeit gelten konnte.

Seines Zeichens war er Landwirt. Ein bekannter Schweinezüchter aus Newbury, der ein hübsches Stück Geld gemacht hatte und sein Borstenvieh an die Londoner Großschlächter verkaufte.

Sein Kamerad war ein wunderlicher Kauz.

Wenn Mr. M'Nab kurz und dick war, so war Mr. Samuel Buffin lang und mager. War Mr. M'Nab schön rosig, wie ein eben angeschnittener, schwach gesalzener Lachsschinken, so sah Mr. Samuel Buffin aus, als käme er direkt aus einem Sack voll Weizenkleie. Er hatte einen außerordentlichen Anzug aus erbsengelbem Nanking an. Sein spindeldürrer, schlecht rasierter Hals ragte aus einer Atlaskravatte, die schon zu Oliver Cromwells Zeiten Aufsehn erregt hätte. Einen Kopf hatte er nicht. An seiner Stelle saßen ein Paar wasserblaue Augen und eine Nase, die lebhaft an einen Gänseschnabel erinnerte.

Mr. M'Nab beantragte, man solle den Abend im Drury Lane-Theater, im Tivoli oder sonst in einer Musikhalle verbringen.

Wir marschierten darauf in ausgezeichneter Stimmung über den Strand und durch die Fleetstraße und landeten endlich in einem kleinen Variété, dessen Vorzüge notorisch sind.

Ich will nicht weitschweifig werden und erwähne bloß, daß das Programm vollen Beifall verdiente.

Die Gebrüder Gibson waren in ihren phänomenalen Leistungen auf dem Drahtseil unvergleichlich. Mr. Abel Smutts entfesselte Lachstürme, und Mr. und Mrs. Grant Nubbels zeigten immer erstaunlichere Tricks als Aviatiker.

Alle taten ihr Bestes.

Maëstro Cavallatti, der berühmte Tenor vom Scalatheater, Madame Matsuko – die kleine, gelbe Japanerin mit den unsichtbaren Schlitzaugen und dem lackschwarzen Chignon – und Mr. Washington Harvey – der decente Niggertänzer! – und Titi Klimsch und Effie Hopkins, die beiden internationalen Nachtigallen, und ... Aber der Stern des Abends war doch Mademoiselle Adelaide!

Mademoiselle Adelaide, die extra von Paris herüber gekommen war und beinahe Anlaß zu einem regelrechten Faustkampf zwischen Mr. M'Nab und Richard Rolby gab.

Den Schluß machte der auf dem Continent bestens bekannte Emir Abdullah den Haji Baba mit seinen sprechenden Puppen. Uns reizte der Wundermann nicht, und wir wollten gerade gehn, als Dick und ich mit einmal wie angewurzelt stehn blieben.

Ich traute meinen Ohren kaum ...

»O – ah – – – ah!« krächzte es von der Bühne. »O – – ah – – – Brr!«

Waren wir verhext?

»O – – ah – – –«

Wir starrten hinauf.

Da saß auf seinem roten Polster ein dickes Ungetüm ... Wir kannten es nur zu gut.

Im grünen Kaftan, den gelben Turban auf dem glänzenden Vollmondsgesicht.

»Brr!« machte das Scheusal.

»– – Donnerwetter!«

Ich hatte mich wieder gesetzt; aber Rolby brach los.

» Goddam!« knirschte er. »Ist der Plattkopf – bei Gott! – ist der Plattkopf – – –!! Ralph, mein Lämmchen, mein – –! Will –«

Aber ich hielt ihn fest, eisern fest. »Dick!« stöhnte ich. »Dick Rolby! – Mann! Du verdirbst alles.«

Ich riß ihn auf den Stuhl nieder.

»Will ihm den Hals umdrehn, Ralph! – dem dreimal gottverdammten Spitzbuben, dem Pferdediebe, dem – – –«

Er konnte nicht weiter.

Mr. M'Nab, der natürlich von der ganzen Sache nichts verstand, vereinte seine Kräfte mit den meinen, und wir erreichten, daß er wenigstens sitzen blieb. Er mochte einsehn, daß ich recht hatte. Aber, wie ein gereizter Grizzlybär, duckte er sich auf seinen Stuhl – die Riesenfäuste geballt, mit blutunterlaufenen Augen auf sein Opfer starrend.

»Wir dürfen nichts ohne Sparks tun, Dick!« flüsterte ich. »Wir haben es versprochen. Was willst Du auch? – – Willst Du ihn vom Podium reißen. Glaubst du, daß er die Feldbücher mit ins Theater schleppt?«

»Kalkuliere,« knurrte Rolby, »breche ihm das Genick – – – breche ihm das Genick! – – – Soll ich, Ralph? – – Soll ich?«

Der Mann war ganz außer sich. Zuletzt kam er wieder zur Besinnung.

Wir verabredeten, daß wir Abdullah am Ausgang auflauern und folgen wollten. Eine Szene, ein Skandal im Saal hätte keinen Zweck gehabt. Vermutlich wären wir nur an die Luft gesetzt worden. Denn die Umsitzenden fingen an, über uns zu murren.

Der berühmte Emir war weiter nichts als ein gewöhnlicher Bauchredner, der seine fünf Puppen ganz nett mit einander plappern ließ. Wie man das schon dutzendmal gehört und gesehn hat.

Als die Vorstellung zu Ende war, drängten wir uns nach der Tür. Auf der Straße machten wir halt. Aber das Theater hatte zwei Ausgänge. Leider begingen wir im blinden Eifer die Dummheit, Mr. M'Nab und Mr. Buffin an den einen Ausgang zu postieren, nachdem wir ihnen auseinandergesetzt hatten, daß wir Abdullahs auf alle Fälle habhaft werden müßten.

Wir warteten eine Ewigkeit ... Kein Abdullah kam. Als wir zuletzt zum andern Portal hinüber gingen, lehnte dort Mr. Buffin an der verschlossenen Tür und schlief. Mr. M'Nab hatte sich gedrückt, um sich an einer Ovation für Mademoiselle Adelaide zu beteiligen.

»Sammy!« hatte er gesagt. »Sammy! Ich gehe, wohin mich meine Pflicht und mein Herz rufen.

Du wirst Wache halten, Sammy. – Denk daran! Alt-England erwartet, daß jedermann seine Pflicht tut.«

Mit diesen schönen Worten Nelsons hatte er sich davon gemacht.

Mr. Samuel Buffin aber war eingeschlafen.

9.

Den Tag darauf erzählten wir Sparks die Geschichte.

Er nickte.

»Ich habe mir gleich gedacht, daß es kein Oberst ist, und die Mistreß – na! – –?«

»Wir wollen hören, ob er heute auftritt.«

Er ging ans Telephon und klingelte die Direktion des Theaters an.

»Ja!« sagte er. »Abdullah ben Haji Baba tritt heute Abend wieder auf. – – – Seine Adresse kennt der Mann nicht.«

Er lachte. »Ich denke: Er wird wohl auch in Brickkiln Row abgestiegen sein.«

Rolby sah ihn feindselig an. »Will die ganze Themse aussaufen, wenn wir erst wüßten, wer in der vertrackten Bude einlogiert ist.

Wahrhaftig! – das wollte ich.«

Sparks lachte wieder.

»Ich will Sie nicht beim Wort nehmen, Mr. Rolby. Aber – – Ihre Neugier soll befriedigt werden.«

Er ging an seinen Schreibtisch und nahm eine Photographie, die dort lag.

»Kennen Sie das?« Damit gab er ihm das Bild.

Dick warf einen Blick darauf ... einen zweiten ... einen dritten! Dann stierte er wie verzaubert auf die Photographie.

»Mann!« schrie er. »Mann! – Mr. Sparks!

Wo haben Sie das her?

Ist ja Carry! – – – ist Carry, wie sie leibt und lebt!! – – – ist – – Mrs. Butler – ist Mrs. Butler – – –«

Er tanzte mit dem Bilde in der Stube herum. Ich dachte, er sei verrückt geworden.

Sparks setzte sich ins Sofa und schien vergnügt. Die Kanarienvögel lärmten unausstehlich, und Mr. Maneater erwachte und sah mißbilligend auf Dick Rolby, der sich gar nicht zu lassen wußte.

Endlich entriß ich Dick mit einem raffinierten Griff die Photographie.

Wahrhaftig! – Er hatte recht. Es war Mrs. Butler ... brillant getroffen! Der ganze Oberkörper und ein Stückchen Fenster. – – – Wirklich unglaublich!

Der Detektiv erzählte, daß er mit seinem Kodak ganz vorn auf einem dicken Ast gesessen – keine drei Meter vom Fenster – und in aller Gemütsruhe exponiert habe, als das Magnesiumlicht aufleuchtete. »Daß sie mich sah, war nicht zu befürchten. Im Baum war rabenschwarze Nacht, und nachher blendete sie das Blitzlicht.

Sonst wäre sie ausgerückt, und wir könnten ihr nachpfeifen.«

Rolby war mit Mr. Sparks versöhnt.

Er schwur, daß er der größte Mann des Jahrhunderts sei. Vom Bilde konnte er sich gar nicht trennen.

»Wir wollen 'mal überlegen,« meinte Sparks endlich, »was wir bis jetzt wissen. Also:

Wir wissen, daß Ihnen Mrs. Butler die Tasche mit den Feldbüchern weggenommen und Mr. Butler – ihrem angeblichen Ehemann – gegeben hat. Sie sind damit entflohn. Mrs. Butler wohnt jetzt Brickkiln Row Nr. 17 und ist identisch mit der Dame, die einen Partner sucht – zur Ausbeute von Diamantenlagern im Vindhyagebirge.

Mr. Butler – wollen ihn so nennen – tritt unter dem Namen Abdullah als Bauchredner auf.

Wo er wohnt, wissen wir nicht. Es ist unwahrscheinlich, daß wir seine richtige Adresse auf der Theaterdirektion oder der Polizei erfahren. Schon die Nachfrage ist bedenklich. Sobald er Wind bekommt, sind sie über alle Berge.

Aber wir müssen zunächst herausbekommen, wo er seinen Unterschlupf hat.

Das ist der Kern der ganzen Sache!

Denn – gesetzt, ich lasse sie beide morgen verhaften – was nutzt das?

Der einzige Zeuge ist Chinasawany, und wer weiß, wo er jetzt steckt! Indien ist groß; ein Native schwer zu finden.

Immer vorausgesetzt, daß der Mann bei der Stange bleibt, wenn ihm die Polizei über den Hals kommt ...

Weiter im Text!

Liegt Ihnen daran, Mr. und Mrs. Butler zu einer Exkursion nach Botanybay zu verhelfen?

Nein! – – – Sie wollen die gestohlnen Feldbücher wiederhaben. Weiter nichts!

Wir müssen daher wissen, wo Mr. Butler sich verborgen hält. Denn dort müssen wir zunächst nach den Papieren suchen.«

Wir sahn ein, daß er recht hatte.

»Ich denke« – fuhr Sparks fort – »daß Mr. Butler doch in Brickkiln Row steckt. Ich habe deshalb das Haus Tag und Nacht bewachen lassen – – vergebens! Ebensowenig habe ich feststellen können, daß Mrs. Butler ihn in der Stadt trifft oder sonst mit ihm in Verkehr steht.

Der Postbote ist nicht ein einziges Mal in diesen Tagen nach Nummer 17 gekommen.«

»Dann werden sich die beiden Spießgesellen eben getrennt haben,« warf ich ein.

»Nein!« meinte der Detektiv. »Das ist wenig wahrscheinlich. Und dann sehn Sie – –!«

Er ging an den Schrank, öffnete, und nahm etwas heraus, was er uns hinhielt.

»Ja,« sagte ich. »Zigarrenstummel.«

»Richtig!« nickte er. »Sieben Stück, dort sind noch mehr.«

Ich war etwas enttäuscht. Aber Mr. Sparks betrachtete sie ordentlich liebvoll.

»Sie glauben garnicht, wie lehrreich so ein Zigarrenstummel sein kann – – –

Sagen Sie 'mal, fehlt Mr. Butler ein Vorderzahn?«

»Natürlich!« erwiderte Dick. »Oben fehlt ihm ein Schneidezahn. Ein greuliches Loch –«

»Und – sagen Sie 'mal! – raucht der Oberst? – Zigarren?«

Wir nickten.

»Viel? und schwer?«

»Gräßliche, schwarze Giftnudeln.«

»Sehr gut! – – – Beißt die Spitze ab?«

Wir bejahten.

»Aber – in Dreiteufelsnamen! – woher wissen Sie das alles?« platzte Rolby heraus.

»Sehn Sie!« – fuhr der Detektiv fort – »diese Zigarrenstummel fand ich in Kitty Doolans Mülleimer.

Daß Mrs. Butler keine Zigarren raucht, ist anzunehmen, und Kitty – –? Sie besitzt so ziemlich alle Laster, die es gibt. Aber – ich habe mich sorgfältig erkundigt – das Rauchen gehört nicht zu ihren Leidenschaften.

Die Stummel waren oft noch weich. Also war es nicht lange her, daß jemand sie geraucht hatte. Und dann – – sehn Sie mal! – – die Spitzen sind bestimmt nicht abgeschnitten worden – nein! – abgebissen.

Der Mann hat das Deckblatt stets lädiert – – – und immer schief gebissen. Ihm fehlt ein Vorderzahn, denk' ich.«

Wir mußten seinen Scharfsinn bewundern.

In der Tat hatte Oberst Butler die abscheuliche Gewohnheit, die Zigarrenspitzen abzubeißen. Seine großen, plumpen Zähne, die Zahnlücke waren uns nur zu gut in der Erinnerung.

Sparks fuhr fort: »Ich begreife noch nicht, wie er ins Haus kommt. Meine Kontrolle ist absolut zuverlässig. Ich habe meine besten Leute dort. Jeden Fußtritt im Garten und auf dem Wege untersuche ich persönlich.

Leider sind unten ums Haus herum Läden. Durch die Ritzen im Holz kann man nichts sehn. Der Rouleaus wegen. Jedenfalls habe ich festgestellt, daß in dem einen Zimmer nach hinten hinaus – das Zimmer an der nördlichen Giebelwand! – bis tief in die Nacht hinein Licht brennt.

Vor ein Uhr verschwindet es selten; meist wird es erst gegen zwei ausgetan.

Das muß seinen Grund haben –«

Er ordnete die sieben Zigarrenstummel in einer Reihe und sah sie nachdenklich an.

»Das Haus ist schon alt,« begann er wieder. »Wenn ich nur wüßte – – –«

Er unterbrach sich, warf die Zigarrenstummel durch einander und sagte zu uns:

»Auf heute Abend, meine Herren! Punkt acht Uhr! Wir müssen herauskriegen, wo der berühmte Emir Abdullah ben Haji Baba sein Zelt aufgeschlagen hat.

Aber inkognito! – Ich werde das Kostüm für Sie besorgen. – – – – – – – – –

*

Kurz vor Schluß der Vorstellung verließen drei Seeleute das Theater. Ein baumlanger Untersteuermann mit brandrotem Haar und dunkelbraunen Backen, ein dicker Matrose mit einem mächtigen, kohlschwarzen Habybart und drittens ein kleiner, gelber Kerl, der eben erst aus dem Golf von Petschili oder sonstwo daherum hergekommen schien.

Draußen blieb das Kleeblatt stehn.

»Nur die beiden Türen,« flüsterte der Kleine.

»Einen andern Ausgang gibt's nicht.

Sie nehmen die Seitentür; Mr. Rolby und ich das Hauptportal.«

– – Wir warteten eine Weile. Die Straße war fast leer. Zwei Cabs hielten vor dem Theater. Ab und zu kam jemand heraus und ging weg.

Es war eine kalte, unsichtige Nacht. Der Wind fuhr in kurzen, hastigen Stößen über den Platz und jagte einzelne Nebelfetzen wie große, graue Nachtvögel in die stille Straße. Gegenüber lag ein Haus mit breiten Simsen, kleinen, altmodischen Fenstern und wunderlichen Schnörkeln und Verzierungen. Im Dachgeschoß Luken, ein schwerer Kran – wohl ein uraltes Geschäftshaus. Die geräumige Einfahrt war durch Eisengitter zugesperrt.

Vor dem Haus ging ein Mann auf und ab. Er schien zu frieren. Denn er hatte den Kragen seines grauen Überziehers hochgeklappt. Auch ich begann zu frösteln.

Zuletzt trat der Graue in die Einfahrt; ich konnte seine Gestalt im Dunkeln erkennen. Dort war er vor dem Winde sicher.

Endlich nahmen die Kutscher ihren Pferden den Futtersack weg und die Decken ab. – – Das Theater war aus.

Ich stellte mich dicht neben die Tür und paßte auf. Mit dem Rücken gegen das Licht. Jeden, der herauskam, guckte ich mir genau an.

Publikum ... die Cabs rasselten davon ... dann ein paar Musici. Drei vermummte Damen – ich erkannte die kleine Japanerin und die beiden internationalen Nachtigallen. Sie lachten verständnisinnig, als sie mich stehn sahn.

Dann kam eine ganze Weile niemand. Auch am Hauptportal verliefen sich die Menschen. Ich sah Sparks und Rolby; der Graue stand noch im Torweg. Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen.

»Steht vielleicht Schmiere,« dachte ich. »Wenn der wüßte, daß Sparks dort drüben lauert.«

Da kam wieder jemand aus dem Theater. Ich hörte auf dem Flur sprechen. Dann trat zuerst ein Mann heraus mit einem großen Paket unter dem Arm; eine Frau folgte, und dann noch ein Mann.

Ich erkannte sie auf der Stelle.

Die beiden ersten waren Mr. und Mrs. Nubbels, und der letzte war der Emir Abdullah – – – war Mr. Butler!

Fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen. So packte es mich. Der Schein der Laterne fiel voll auf sein Gesicht. Es war blasser geworden; wenigstens schien mir das so bei der Beleuchtung. Er sah entschieden schäbig aus, hatte einen schlecht sitzenden dunkelblauen Winterpaletot mit fettigem Samtkragen an, auf dem Kopfe einen schwarzen, steifen Filzhut.

Die drei schlenderten die Straße hinauf. Am andern Ausgang schloß sich ihnen noch ein vierter an. Wohl ein Kellner oder sowas.

Sie sprachen laut mit einander. Lachten ... Frau Nubbels, die noch – wie wir sehn konnten – ihr Kostüm unter dem Regenmantel trug, hängte sich ungeniert dem Pseudoemir an den Arm.

Bei Ludgate Hill verabschiedete sich der Kellner. Die andern gingen nach der Brücke weiter.

Drüben stieg unser Mann in die Trambahn, während die beiden Nubbels zur Station abbogen.

»Auf Wiedersehn!« flüsterte Sparks hastig. Mit einem Satz war er im Wagen, der Blackfriars Road hinab fuhr.

Wir guckten ihm erstaunt nach. Dann machten wir kehrt, um nach Hause zu gehen ...

Gerade in diesem Augenblick huschte jemand an uns vorüber.

»Teufel!« sagte Rolby. »Wer war das?«

Er blieb stehn und sah sich um.

Es war der Graue vom Theater. Er mußte hinter uns her gegangen sein.

Dick hatte den Mann in der Torfahrt nicht bemerkt. Wir sahn noch, daß er mit langen Schritten Blackfriars Road entlang lief.

10.

Am nächsten Morgen waren wir wieder in der Queenstraße.

Sparks schaute blaß und übernächtig aus. Aber seltsames Feuer glimmte in seinen Augen. Die Falte über der Nasenwurzel, die immer hervortrat, wenn er nachdachte, und wie ein Hufeisen aussah, lag tief eingegraben auf seiner Stirn. Er zog seine Uhr – eine wundervolle, goldne Ankeruhr mit Brillanten besetzt. Ein Lord hatte sie ihm verehrt, dessen Sohn er aus der Hand von Mördern gerettet hatte.

»Wir müssen fort,« meinte der Detektiv und machte sich dran, uns wieder in zwei waschechte Seeleute zu verwandeln. Er selbst holte sich aus dem unergründlichen Schranke eine alte, blaue Friesjacke und steife, verwaschne Drilchhosen, voll Oel- und Teerflecken, heraus. Ein grobes, wollnes Halstuch, ein Südwester, und der Schiffer war fertig.

Wir machten uns auf den Weg.

Sparks hatte gestern Pech gehabt. Mr. Butler war bis nach Camberwell Green gefahren. Von dort bummelte er durch eine Reihe Straßen. Zuletzt kam eine Art Sackgasse. Butler stieg über den niedrigen Zaun, der ein Fabrikgrundstück einschloß, schritt gemächlich über den Hof und durch einen Garten, an den freies Feld stieß.

»Und nun kommt das Malheur,« fuhr Sparks mißmutig fort. »Ich blieb hinter der Hecke stehn, um ihn ein Stück voraus zu lassen. Er hätte mich sonst leicht bemerkt – trotz des Nebels.

Bis dahin war alles gut gegangen. Auf dem ganzen Wege hatte er sich nicht ein einziges Mal umgedreht.

Ich wartete, bis er halbwegs im Nebel verschwunden war. Dann schlich ich ihm nach. Der Boden war fest; eine kurze, weiche Grasnarbe, auf der man wie auf Samt marschierte. Trotzdem hörte ich die schweren Tritte vor mir.

– – – Plötzlich verstummten sie.

Er hatte also halt gemacht. Ich blieb stehn und horchte. – – Nichts war zu hören! – – – Dann Klappern und Klirren, wie wenn einer auf Scherben tritt ... ein schwacher, dumpfer Ton!

Dann war alles wieder ruhig.

Ich kroch in ein mächtiges Zementrohr, das am Wege lag, und lauschte. Aber alles blieb mäuschenstill. Endlich avancierte ich vorsichtig in der Richtung, aus der ich den Ton gehört hatte.

Von Mr. Butler keine Spur!

Wo war der Mann geblieben? Wollte er mich in eine Falle locken – – –?

Der Nebel wurde dicker und dicker; doch – wir hatten Mondschein – – da konnte ich eine kurze Strecke weit sehn.

Vor mir 'was Dunkles – – – ein Haus? – Brickkiln Row?

Das mußte weit ab sein.

Als ich herankam, fand ich einen ganzen Berg von zerbrochnen Ziegelsteinen, Koksschlacken, Scherben, Bierflaschen, alten Drainröhren, mit Brombeergestrüpp, Brennesseln, Huflattich in Masse garniert. Oben drauf lag ein zerbrochner Zieglertrog.

Das war alles.

Ich schlich mich um den Haufen herum – immer gewärtig, auf Mr. Butler zu stoßen. Dann jagte ich in der Richtung nach Brickkiln Row weiter.

Ein Wunder, daß ich mich nicht verlief. Ich stolperte über Hecken und Zaunpfähle, über Schutt und Aleflaschen, Konservenbüchsen – – – aber ich kam doch richtig auf den Heckenweg.

Das Haus lag dunkel.

Meine Wache hatte nichts bemerkt. Kurz vor meiner Ankunft war das Licht erloschen.«

– – Mit dem Frühsten war Sparks wieder draußen gewesen. Der große Schutthaufen, vor den er in der Nacht geraten war, lagerte auf einer Parzelle, die, etwa fünfundzwanzig Minuten von Brickkiln Row entfernt, zu dem unbebauten Komplexe gehörte, an den Nummer 17 anstieß.

Der Detektiv hatte das Gelände Schritt für Schritt abgesucht. Fußtapfen konnte er nicht entdecken. Unglücklicherweise regnete es auch noch gegen Morgen.

Es war eine Schuttabladestelle, wie es viele im Weichbilde einer großen Stadt gibt. Alle Pflaumenbäume, verkommene Stachelbeerbüsche zeigten, daß dort vor Zeiten ein Garten gewesen war. An der Ostseite der Abladestelle befand sich eine Ausschachtung von fünf bis sechs Meter Tiefe und geringem Umfang. Unten stand Wasser drin. Vermutlich hatte man dort 'mal Lehm gestochen.

»Ich kann nur annehmen,« schloß Sparks, »daß Butler mich doch bemerkt hat, und daß er, am Abladeplatz angelangt, blitzgeschwind und leise davongelaufen ist.

Freilich habe ich nichts gehört, und ich habe doch ein gutes Ohr für sowas. Dann: Gleich hinter dem Haufen hört der Rasen auf; der Boden wird lehmig. Da hätte ich doch Spuren finden müssen! Trotz des Regens – – –?!

Wozu kletterte er auch auf die Scherben?

Er mußte Bescheid wissen. Wer ausreißen wollte, hätte sich nicht damit aufgehalten, sondern wäre einfach drum 'rum gelaufen.

Endlich der Ton?

Es klang, als ob jemand gegen ein leeres Faß stößt. Oder – was war es? – eine Tür – –?«

 

– – Wir brauchten diesmal nicht lange zu warten. Kaum war die Vorstellung zu Ende, da erschien Mr. Butler in Begleitung von Mr. Nubbels. Sie hatten Eile und schlugen einen andern Weg ein, wie das vorige Mal.

Als wir Cannon Street erreicht hatten, fiel mir mit einmal unser grauer Begleiter von gestern ein. Ich sah mich unwillkürlich um und erblickte zu meinem allergrößten Erstaunen auf der andern Seite der Straße denselben Mann, der uns am Abend vorher begegnet war. Er schien keine Notiz von uns zu nehmen, sondern eilte im Geschwindschritt weiter.

Dicht bei der Station gingen die beiden, die wir verfolgten, in einen Laden. Wir machten halt. Dabei zeigte ich Sparks den Mann und erzählte ihm, wie und wo wir ihn getroffen hätten.

Der Detektiv zuckte die Achseln und schaute hinter dem Fremden her, der wie ein Schatten im Laternenlicht verschwand.

Da kamen die beiden schon wieder. An der Ecke von Eastcheap stand ein Kandelaber, und unter dem Kandelaber stand der Mann im grauen Paletot ...

Wir konnten ihn bequem betrachten, obgleich die Straße zwischen uns lag. Es war ein großer, schlanker Mann in hellgrauem, karriertem Überzieher. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und einen dicken Shawl um den Hals gebunden, der sein Gesicht fast bis zur Nase verhüllte. Auf dem Kopf trug er einen grauen, breitrandigen Filzhut – tief in die Stirn gedrückt. Die kurze, aufgestülpte Nase und das Weiße in den Augen war alles, was wir von seinem Antlitz erkennen konnten. Einen Bart hatte er nicht.

Butler und Nubbels achteten garnicht auf ihn. Sie gingen immer schneller. Wir ebenso. Als ich mich 'mal umdrehte, sah ich, daß der geheimnisvolle Fremde hinter uns her kam.

»Haben Sie vielleicht jemand, der Ihnen auflauert?« fragte ich Sparks.

»Möglich,« meinte der. – – – »Was die Kerle laufen.

Uebrigens kommt mir der Mann unbekannt vor. Ich habe ein gutes Personengedächtnis. – – Ich glaube kaum, daß es ein Engländer ist.«

Wir näherten uns den Docks, passierten zwei, drei schmutzige Gassen.

Haus bei Haus eine Matrosenkneipe.

Gerade als die Tabakmagazine des London Docks die Straße verdunkelten, machten Butler und Nubbels vor einer roten Laterne halt, öffneten eine Glastür und gingen hinein.

Wir blieben stehn.

Ein elender Katen mit hohem, steilem Dach. Der Giebel nach der Straße. Neben der Tür ein einziges Fenster – dahinter ein altes, blaues Rouleau mit ausgefranster, schwarz und weißer Kante, durch das Licht schimmerte. Ueber der Tür schwelte in einem Kasten aus rotem Glas eine trübe Flamme.

»Zum Vater Nump! – So heißt die Spelunke,« flüsterte Sparks. »Wenn er nicht muß, kommt kein Polizist hier hinunter.

Bitte: Vorsicht! – – – Ich habe zwar eine Waffe –«

»Ich auch!« brummte Rolby, dem die Geschichte Spaß zu machen anfing.

»Werde Betrunkenheit markieren,« fuhr Sparks fort. »Sonst traut uns der alte Pfiffikus nicht über den Weg.«

»– – Ahoi, Jungens!« schrie er auf einmal mit seltsam veränderter, heiserer Grogstimme. »Hopla! – – Licht voraus! – – – alle Mann an Deck! – – Hp –!«

Mit einem dröhnenden Schluckser stieß er die Glastür auf und stolperte über die Schwelle. Wir folgten.

»Ho! – – Backbord, Neddy! – – Hopla! Backbord – – mehr Backbord, Junge!«

Damit steuerte Sparks mitten durch die Schenkstube, übersegelte einen Tisch und zwei Stühle und landete gerade vor der Bar.

»Beidrehn, Maat! – – – Beidrehn!« brüllte ein halbes Dutzend Stimmen – und was für Stimmen!

»Denkt: Ist im Western Dock, Joe!«

»Drei Fuß über Ladelinie.«

»Taxiere: Schwimmt auf der Ladung, Herrschaften!«

Wieherndes Gelächter ... Ein Kerl mit den Knochen eines Mammuts und der Physiognomie eines geräucherten Knurrhahns schlug mit der Faust auf die Bar, daß die grünen, gelben, weißen und roten Flaschen wackelten und klirrten.

Sparks stülpte seinen Hut auf einen Nagel an der Wand und fiel schwer in einen Schemel aus Erlenholz, der sehr gut aus der Zeit der großen Königin stammen konnte.

»Potz Klüver und Stagsegel!« gröhlte er. »Lords und Gentlemen! – – Hp! – – Ueber Bord, meint Ihr? – Ueber Bord? – – – Ich – der alte Jack Tippler! – – hp! – – der alte Jack Tippler von der Londonbrücke, den jeder Seekrebs vom Big-Ben Der Glockenturm am Parlamentshaus. 'runter bis zum Feuer auf dem Southend kennt. – – Ich – sage – Euch – – –«

»Sage Euch,« brüllte jetzt Rolby und schob zwei oder drei Galgengesichter, die schon ziemlich wacklich auf ihren Gestellen schienen, zur Seite. »Sage Euch, Gentlemen! – Sage Euch: ›Säuft Euch den ganzen Western aus!‹ – – – Kenne ihn, Gemmen, Verdorben, für: Gentlemen. kenne ihn. – – Nicht wahr, Jacky, mein Schätzchen, den ganzen Western? – – – Natürlich muß er voll Brandy sein – heißem Whisky und Zucker!

Kann auch Rum sein, Gemmen, Rum mit Zitrone und kleinen Korinthen drin!«

Der Riese – halb Mammut, halb Knurrhahn – grinste Rolby wohlwollend an. Es war Vater Nump selber, der Schenkwirt.

» Have a drink!« fuhr Dick fort. » What is yours? Give it a name!«

Die Gesellschaft entschied sich für Whisky – echten, alten Whisky von Peter Dawson in Glasgow.

» Good luck!«

» Here is luck!«

Schmatzend leerte man die Gläser. Rolby bezahlte die Runde.

» It 's my turn!« schrie Sparks – alias Tippler – der allmählich wieder festern Ankergrund gefunden zu haben schien.

» It 's my turn!

He! Polly, Molly, Dolly! Noch einen Schluck für die Gentlemen!«

Wieder wurde die Libation mit einem knallenden Schnalzer hinuntergegossen. Dann setzten wir uns neben Sparks, und ich fand Muße, mich umzusehn.

Es waren zwei Stuben.

Vorn die Bar. Der Verschlag rotbraun angestrichen. Ein langer, schmaler Tisch davor, auf der Platte zahllose, glänzende Kringel und Arabesken, die die Grog-, Whisky- und Gingläser zurückgelassen hatten. Ein paar schwere Stühle, am Kamin ein Lehnstuhl, mit rissigem Wachstuch überzogen. Die Wände getüncht. Das traurige Fragment eines Spiegels, eine Uhr und die stark verräucherte Wiedergabe der Seeschlacht von Trafalgar daran. Von der Decke baumelte das obligate Modell eines Nordseecoasters, das schon manchen Sturm erlebt haben mochte.

Außer dem ehrwürdigen Besitzer dieser trefflichen Inn und uns dreien waren noch ein untersetztes Schenkmädchen und fünf Individuen vorhanden, die ein Mittelding zwischen Taschendieben Flußpiraten und Gurgelabschneidern schienen.

Mr. Butler und Nubbels waren nicht darunter.

Sie saßen nebenan in der zweiten, größern, nach hinten hinaus belegenen Gaststube – wohl dem Honoratiorenzimmer – zu der eine Stufe hinaufführte. Wir konnten sie sehn; denn die Tür stand offen oder war überhaupt nicht vorhanden.

Sie spielten mit zwei Männern Karte.

Der eine davon war ein vierschrötiger Goliath mit aschgrauem Negergesicht und scheußlichen, schwammigen Lippen, großen, rollenden Augen und dickem Wollschopf. Sein unglaublich breiter Oberkörper steckte in einem ochsenblutfarbigen Sweater. Die Aermel weit aufgekrämpelt, sodaß man die knotigen Muskeln bis zum Oberarm verfolgen konnte. Ein breiter, mit Messingzwecken beschlagener Ledergurt um die Hüften. Weiß- und blaugestreifte Flanellhosen vervollständigten seine Garderobe.

Der andere war ein feines Herrchen. – Der richtige Swell, wie man ihn auf dem Strand und in Piccadilly bewundern kann.

Es ging scharf zu. Ganze Säulen von Silberstücken wurden hinundher geschoben. Dazwischen funkelte ein Sovereign. Mr. Butler fluchte lästerlich, wenn er verlor. Der Schwarze fletschte seinen Haifischrachen; Mr. Nubbels trällerte einen Gassenhauer. Nur der Stutzer blieb gelassen, rauchte Zigaretten, schlürfte eine Zitronenlimonade nach der andern; machte aber anscheinend die besten Geschäfte ...

Wir saßen; die fünf Biedermänner standen und hockten um uns herum und saugten an ihren Pintgläsern. Wahrhaftig! Ich wollte, ich wäre wo anders gewesen, als in dieser respektabeln Gesellschaft.

Aber Rolby war in seinem Element.

»Holla!«, wendete er sich an seinen spindeldürren Nachbarn und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter, sodaß der Wackere fast die Balance verlor.

»Holla, Maat! – – – Will ersäuft werden, wie ein Ratz, wenn Ihr nicht grade soviel Erbswasser unter Euern zwei Beinen gehabt habt, wie Komodore Cook seligen Angedenkens.«

Der Alte griente, nahm seine Holzpfeife aus dem Munde, hob das riesenhafte Glas an die dünnen, rostfarbigen Lippen, warf den Kopf weit hinten über, schüttete mit einem Ruck die ganze Pinte Whisky 'runter – wie Wasser! – schmatzte und gluckste und leckte den Rand des Glases ab.

Es war ein scheußlicher Anblick, dieser zahnlose Mund mit den vertrockneten Lippen und der kurzen, dicken, blauroten Zunge.

»Will ersäuft werden, wie 'ne Ratte,« fuhr Rolby fort, »wenn Ihr nicht ausseht akkurat wie Bill Biggelby – der Zimmermann.

Stammte aus Galway, Bill Biggelby ... war Zimmermann auf der Mary Cushman.

Sage Euch: Ein gutes Schiff, die Mary Cushman! – Teeklipper von achtzehnhundert Tons, ganz aus Eisen; lief zwischen Frisco und Hongkong.

Also der Bill – –!

War ein richtiger Galwaymann. Bin mit ihm sieben Jahr gefahren. Starb in Hongkong – unter den gelben Teufeln. Konnte das dünne Zeug nicht vertragen, was sie da trinken.

Bei meiner armen Seele! – – Bill Biggelby! – – – War kein Falsch an ihm.

Sitzen da eines schönen Tags auf der Back, und Bill lutscht an seinem Tonstummel. Ich spintisiere und frage beiläufig, ob ihm vielleicht einer die Zähne mit 'ner Handspake in den Hals 'runtergeschlagen hat.

Konnte nicht viel Staat machen mit seinen Barten – der alte Bill.

›Nein,‹ sagt er und lutscht weiter.

›Hm!‹ mache ich, und nach 'ner Weile frage ich wieder, ob das wohl vom Brandy kommt.

Aber mein Bill schüttelt den Kopf, lutscht und lutscht; endlich meint er: ›Von den Galapagos.‹

›Von den Galapagos?‹ sage ich.

›Ja,‹ sagt Bill. ›Von den Galapagos!‹ und dann erzählt er mir die Geschichte. –

Die Galapagos liegen vor der Westküste von Südamerika – ausgerechnet unter dem Aequator. Bißchen heiß daherum, sonst aber ganz nett. – Bill hatte dort 'mal Malheur gehabt.

Kamen mit Ballast von Iquique; wollten nach Guayaquil.

Am Kap Blanco – gerade wie sie in den Golf einlaufen wollen – erwischt sie ein Wetter und setzt die Brigg glücklich bei den Galapagos auf den Sand.

Das eine Boot schlug die See weg. Mit dem andern wurden sie klar; aber es kenterte, und von der ganzen Crew rettete sich nur mein guter Bill, der sich richtig ans Brandyfäßchen angeklammert hatte.

– Polly, noch einen Kleinen! Man soll nichts gering achten. –

Also gut! – – Bill Biggelby saß auf dem Trocknen.

Tausend Yards lang und ein Halbtausend breit. Sand und Steine, und, wo kein Stein lag, waren Austernschalen. – Aber keine Austern drin! – Was Grünes gab's nicht. Hundertzwanzig Grad Fahrenheit im Schatten!

Natürlich kannte man dort den Schatten nur per Telephon.

Nicht 'mal Seeschwalben oder sowas. Aber eins gab's – in Masse! – – sage Euch Jungens: ›in Masse!‹

Ich meine Schildkröten.

Donnerwetter! ... Schildkröten!!

Große, kleine, dicke, dünne – – – Heckten da zu Tausenden – was sage ich! – Millionen! Alles kribbelte und krabbelte durch einander.

– Mochte seitdem keine Turtlesuppe mehr essen, der Bill. –

Legten ihre Eier in den heißen Sand und plumpsten dann wieder ins Wasser. War das ihre ganze Beschäftigung – denke ich.

Ging das vom Morgen bis zum Abend ...

Wäre für den Bill etwas langweilig geworden; aber sollte anders kommen. – Sage Euch, Jungens! Sage Euch: Erbarmte sich der Himmel über die arme Kreatur und ließ den Nordoster noch ein Stücker vierzehn Tage weiter blasen. Schickte allerhand mit herüber.

Gleich am ersten Tag fand Billy den Steuermann am Strande.

War nicht mehr viel zu wollen mit dem Mann ... Tot – mausetot – steif wie'n Decksbalken. Aber gleich daneben eine ganze Bescherung.

Hättet es sehn sollen, Gentlemen! – Hättet es sehn sollen! – – Lief dem alten Bill das Wasser im Munde zusammen, wenn er dran dachte.

War da ein Fäßchen mit Salzfleisch – und ein paar Blechbüchsen mit Nudeln, wie sie sie in St. Vincent machen. Und ein Kasten mit Steam Cakes und eine gepökelte Rinderzunge – ganz 'was Delikates! – und ein Tönnchen mit Essiggurken ... Aber das Beste kommt noch: Waren drei Pullen von dem dicken, gelben Franzwein, den der Alte immer in seiner Kiste versteckt hielt – – –

Sage Euch, Gemmen: Bill war der richtige Galwaymann.

Buddelte ein Loch in den Sand und legte den Steuermann 'rein. – Sollte sein ehrliches Grab haben. – Oben auf den Hügel packte er Steine drauf und sowas, damit die verflixten Seekrebse nicht dran konnten. Schlug drei Kreuze und setzte sich auf's Grab und überlegte ...

War ein richtiger Galwaymann – der Bill. Wußte, was sich schickte. Machte sich an den Leichenschmaus. – Hatte alles gleich bei der Hand. – Erst ein ordentlicher Happen Salzfleisch; staute von den Nudeln bei. Dann ein Cargo Steam Cakes und die Gurken. Zuletzt die Rindszunge! – Die hatte er sich aufgespart. – Dazu nippte er von dem dicken, gelben Franzwein des Kapitäns, und den Brandy hatte er auch noch ...

Als er am nächsten Morgen wieder aufwachte, war der Koch angekommen und hatte einen großartigen Schinken mitgebracht und einen Mund voll Ochsenmaulsalat, einen Steintopf Ingwer – ist gut für den Magen, Gentlemen! – und zwei Gläschen Pickles.

Und zur Abwechslung gab's diesmal eine Flasche Gin – so den richtigen Old Tom-Gin, gegen den auch nichts einzuwenden ist.

Ich, für meine Person, nehme gern nach dem Whisky einen Schluck Wacholder –«

Die Anwesenden drückten ihre Zustimmung aus. Dann hob Dick wieder an:

»Versteht sich von selbst, daß Bill auch dem Koch die letzten Ehren erwies. Und so ging es weiter – alle Tage! Am elften kam ein Schlepper von Guayaquil 'rüber, um nach dem Wrack zu sehn, und holte ihn ab.

War garnicht aufgelegt, zu verreisen – der Bill. Nein! – im Gegenteil! – – – Meine: War eine glorreiche Insel das – –

Aber der Spaniole wollte sich auf nichts einlassen – sind eine kleine, grüne, neidische Sorte, diese Spaniolen.«

»Ja,« sagte ich. »Aber – – wie war denn das mit den Zähnen?«

»Richtig!« fuhr Dick fort. »Hätte das fast vergessen.

War ganz einfach das mit den Zähnen. – – Kam von den Schildkröten – von den verflixten Schildkröten! – von den verflixten, ganz kleinen Schildkröten, Gentlemen!

Von den Babys unter den Schildkröten.

Sagte, daß es dort davon kribbelt und krabbelt. Purzelten dem Bill ins Essen und Trinken; konnte sich garnicht vor ihnen retten.

Knacks ging's, und Bill biß auf eine – wie ein Kabeljau auf seinen Haken – knacks! auf die zweite – – und knacks! wieder auf eine dritte. Bei meiner Tante Jemima! – Kalkuliere: Sind das die besten Zähne, die das auf die Dauer aushalten. Will nicht Neddy Fry aus Gloucester heißen, wenn's kein Fakt ist, Gentlemen ...«

*

Wir mußten uns erst ein wenig erholen. Die ganze Geschichte wurde viel drolliger erzählt, als ich das kann. Dick war ein Meister in solchen Impromptus.

Unsere fünf Spießgesellen drückten sich, einer nach dem andern. Vater Nump fiel in den Sorgenstuhl am Kamin und begann zu schnarchen. Die untersetzte Schenkmamsell fischte mit einem Blechlöffel die Fliegen aus den Bratheringen, die in der braunen Essigtunke ein Massengrab suchten. War eine gehörige Portion zusammen, so schlenkerte sie den Inhalt ihres Löffels auf den Boden. Klatsch! sagte es, wenn sie drauf trat.

An der Wand tickte die Uhr ... Vater Nump grunzte und röchelte.

»Jetzt weiß ich auch,« sagte Sparks, »wie Kitty nach Brickkiln Row gekommen ist.

Der Nigger ist Pompey – ihr Mann.

Mr. Pompejus Doolan aus Demarara, Sohn eines Sträflings und einer Farbigen ... Meisterboxer ... Preisringer ... Cricketspieler! Brach beim Hockey Match in Brighton das Bein. Seitdem Spieler, Trunkenbold, Tagdieb usw.«

»Und der andere?«

»Den kenne ich auch.

Tüchtige Kraft! Der silberne Guy genannt. Ich habe ihm im ganzen zu vier – nein! – fünf Jahren verholfen ...

Die Spieler rüsteten sich zum Aufbruch. Die Schenkmamsell ließ ihre Fliegen, und Vater Nump wachte auf.

Wir verabschiedeten uns von ihm durch einen Händedruck, der mir fast das Gelenk kostete.

Draußen traten wir in eine offenstehende Hoftür, stellten uns hinter die Mauer und guckten darüber.

Nubbels, Doolan und der silberne Guy verließen das Lokal und gingen mit einander die Gasse hinauf. Sie sahn sich mehrere Male um und warteten. Endlich verschwanden sie um die Ecke. Unser Mann war nicht herausgekommen. Ich meinte, daß er vielleicht bei Nump logierte. Aber Sparks schüttelte den Kopf.

»Nein, nein!« Er lachte in seiner stillen Weise. »Er kommt noch – Geduld, nur Geduld! – sucht bloß seinen Hut.«

»Seinen Hut?« fragte ich verblüfft.

»Ja! Seinen Hut,« bestätigte er. »Ich habe aus Versehn seinen Hut mitgenommen und ihm dafür meinen dagelassen.

Der Teufel hole den Whisky – –!«

In diesem Augenblick flog drüben die Tür auf und knallte dann wieder klirrend ins Schloß. Mr. Butler erschien knurrend und fauchend, wie ein gereizter Kater, und ein paar fromme Wünsche für Vater Numps Penaten auf seinen Lippen.

»Weiß Gott! Hat den Oelhut auf,« griente Rolby. »Kleidet – – –«

Aber da geschah, was ihn plötzlich verstummen machte.

Von der dunkeln Wand einer Fischerhütte löste sich's – einem grauen Schatten gleich – huschte, wie ein Gespenst, über die Gasse ...

Rasch hatte es Mr. Butler eingeholt.

Wir hörten einen unterdrückten Fluch. Butler machte eine Geberde des Schreckens.

»Ich dachte gleich, daß es nicht mir gelte,« sagte der Detektiv. »Aber es tut nicht gut, wenn zwei Jäger denselben Fuchs jagen.

Vorsicht! – – Sie dürfen nichts merken.

Horch – –!«

Wie drei Indianer auf dem Kriegspfade schlichen wir die Gasse entlang.

Die beiden waren nach dem Flusse abgebogen. Mondschein lag auf der stillen Straße. Die steilen Giebel sahen pechschwarz aus und streuten pechschwarze, haarscharfe Dreiecke über das Pflaster. Auf den dunkeln Höfen ragten lange Stangen gegen den blassen Nachthimmel – Gerüste, an denen die Fischer ihre Netze zum Puhlen aufheißen.

Es roch nach Teer, Tauwerk, Tabak und Moder. Das Schwarze da unten – das mußte der Fluß sein. Oder ein Fleet.

Der Mann im grauen Ueberzieher sprach heftig auf seinen Begleiter ein. Der ging neben ihm und schien hartnäckig zu schweigen. Wir konnten nichts verstehn; nur die Schritte hallten unheimlich laut zu uns herauf.

Das Ufer war hier ziemlich hoch. Unten lag ein kleines Haus am Wasser. Netze, ein Boot; auf einem niedrigen Mastbaum drehte sich kreischend die Figur eines Matrosen nach dem Winde.

In der Ferne bellte ein Hund. Wohl auf einem Kahne ...

Die beiden gingen ins Gehöft und um das Haus herum. Dann kamen sie wieder.

»Zum Henker!« sagte Rolby. »Sie gondeln los.«

Wir hörten die Kette ins Boot rasseln; Fußtritte polterten. Dann schor das Boot vom Ufer.

Sie schoben sich unter einem großen, blätterlosen Weidenbaume durch, der im Mondschein wie pures Silberfiligran aussah, pullten das Stückchen Fleet hinab, das – tief ins Ufer eingeschnitten – Tinte glich.

Mit einem Satz war Sparks am Wasser.

Zu spät! ... Das Boot trieb draußen auf der Themse.

»Entwischt!« knirschte Rolby.

Der Detektiv sah sich nach einem andern Boote um. Ich war am Fleet hinunter gelaufen.

Mr. Butler saß an den Riemen, die er wie ein Matrose hantierte; der Graue kauerte im Heck.

– – Ueber den Strom zog sich, mit dem Ufer parallel, ein breiter, weißer Streifen: der Reflex des Mondscheins im Wasser.

Sie tauchten hinein und verschwanden. Der Glanz des Streifens war so intensiv, daß er alle Gestalt und Farbe aufsaugte.

Nichts war da als der breite, weiße Streifen auf dem Wasser.

Rolby stand neben mir. Wir lauschten ...

Ein Schrei kam herüber – ein einziger, kurzer, gräßlicher Schrei. – – – Dann war alles wieder still.

Die steigende Flut gluckste im Fleet. Die silbernen Zweige der Weide raschelten.

Mitunter ein Krachen und Dröhnen: Schiffe, die am Anker rissen.

Es ist merkwürdig, was man alles nach so einem Schrei zu hören bekommt.

Leises, feines Wimmern und Klagen; das machten die Taue in den Klüsen. Dazwischen quietschte ein Ankerspill. Taljen, Blöcke, die festgelaschten Ruder knarrten, Segel klapperten im leichten Nachtwind, und oben, von der Brücke her, tönte das Tuten eines Dampfers.

»Bei meiner Seele,« wisperte Rolby. »Ist wieder einer weniger geworden.«

Da kam etwas blitzgeschwind unter dem Ufer entlang. Ein glühendes Auge ...

Kurzes Kommando. Der kleine Motor stoppte. Die Schraube wühlte, wie toll, im Wasser. Frage und Antwort – herüber, hinüber – und Sparks stand schon auf dem Deck des Polizeiboots, als es drehte und in die Mitte des Stroms hineinschoß.

11.

Gleich am nächsten Morgen kam die Ueberraschung.

Ich will mich nicht bei den Einzelheiten aufhalten. Tatsache war, daß Rolby Mrs. Butler getroffen und mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte ihm mit Tränen in den Augen – »in den wundervollen Augen!« – erzählt: Ihr Mann sei ein Teufel, ein Oger, ein – – Er habe sie zu der Schandtat angestiftet – nein! – gezwungen. Sie sei tief unglücklich und warte alle Tage darauf, das Unrecht wieder gut zu machen.

Ob ihr Rolby verzeihe?

Das tue er.

Ob Rolby die Tasche wiederhaben wolle?

Das tue er auch.

Dann sollten wir beiden heute Nachmittag punkt zwei Uhr draußen in Brickkiln Row sein. Dann werde der Oger weg und sie imstande sein, die Tasche aus seinem Schreibtisch zu nehmen und ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben.

Vom Abenteuer mit dem Grauen wußte sie nichts. Mr. Butler hatte die Geschichte jedenfalls nichts geschadet.

»Dem kann Wasser nichts anhaben. Der will höher hinaus,« setzte Dick hinzu. Dann aber trommelte er einen amerikanischen Flottenmarsch auf dem Tisch, daß die Teetassen tanzten, und fuhr fort:

»Pfeife auf Sparks und die ganze Geheimniskrämerei. Wären schon vor einer Woche am Ziel, hätte ich Carry« – er sagte jetzt immer Carry – »auf dem Trafalgar angesprochen.

Kalkuliere: Selbst ist der Mann.«

– – Dann machten wir sorgfältig Besuchstoilette und fuhren zum Rendezvous hinaus.

Ich bestand darauf, Sparks in unser Vorhaben einzuweihn.

Leider trafen wir ihn nicht zu Hause. Er war erst am Morgen heim gekommen und nach zwei Stunden Schlaf wieder weggegangen. Den Hund hatte er mitgenommen.

»Er wird nach dem Regentpark sein, um frische Luft zu schöpfen! Wirklich! – er hat es nötig,« meinte seine besorgte Mutter.

Ich hinterließ einige Zeilen, in denen ich ihm das Geschehene und unsere Absicht, nach Brickkiln Row zu fahren, mitteilte. – – – – –

 

Mrs. Butler empfing uns schon an der Gartentür.

Sie war ganz wie früher. Sah reizend aus und brachte Dick durch eine Träne, die auf seine Hand fiel, selber fast zum Weinen. Als sie uns die Geschichte erzählte, wie sie im Gespensterbungalow für uns gezittert habe ... wie sie sich vor dem grün beschlafrockten Oger auf die Knie geworfen und um unser Leben gefleht habe, geriet Dick beinahe in Raserei; als sie uns mit ihrem entzückendsten Spitzbubenlächeln von Dick Rolbys unfreiwilliger Siesta in der Villa zu Darjeeling berichtete, kugelten wir uns wieder vor Vergnügen.

Das Haus war dürftig genug möbliert.

Wir bedauerten die Arme, die so fürlieb nehmen mußte. Sie deutete an, daß sie aus guter Familie, von Mr. Butler entführt und namenlos unglücklich geworden sei.

Vorsetzen konnte sie uns nichts.

Kitty Doolan war nicht da, und sie hatte rein garnichts im Hause. – Nicht ein Glas Portwein – – –

»Sie würden wohl auch keinen Schluck mehr trinken, Mr. Rolby, den ich Ihnen kredenze?«

Sie lächelte traurig.

»Einen Reitstiefel voll! Wenn ich ihn auf Ihre Gesundheit leeren darf,« versicherte Rolby mit Emphase.

»Aber – –« sagte sie dann ernst, »zuerst das Geschäft!

Darf ich jetzt das Unrecht wieder gut machen, das ich Ihnen zufügte?

Bitte! – Mein Mann wohnt drüben.«

Wir gingen über einen kurzen, schmalen Korridor. Dann kam ein kleiner, unmöblierter Raum, mit Steinfließen – wohl 'mal eine Küche.

»Gehn Sie voran, meine Herrn! – Aber bitte, Vorsicht!

Es geht ein paar Stufen 'runter.

Nichtwahr: eine gräßliche Budike? – – – Hier! – Bitte – –!«

Wir passierten die nächste Tür. Rolby ging voran und stieg langsam die etwas dunkle Treppe hinab. Ich folgte.

»Sind Sie unten, Mr. Rolby? – Nehmen Sie sich in acht!« sagte Mrs. Butler freundlich und lachte.

Es war wieder das Lachen, das uns so oft elektrisiert hatte.

Ich wollte mich nach ihr umdrehn ... da erhielt ich einen Puff in den Rücken und kam auf Rolby zu reiten.

Ein dumpfer Knall ...

Danach wurde es stockpechrabenfinster.

»Mach keine Dummheiten!« brummte Dick. Ziemlich unsanft rutschte ich von seinem breiten Buckel. Zugleich wurde mir klar, daß wir eine ausgesuchte Dummheit begangen hatten.

Ich fuhr wie der Blitz herum.

Zu spät! – Der Eingang, durch den wir gekommen waren, hatte sich geschlossen.

»Mach Licht!« schrie ich Rolby an. »Wir stecken in der Falle. Merkst du denn nicht, was wir für Dummköpfe sind?«

»Dummköpfe – – – Dummköpfe!« hallte es von den Wänden wieder.

Jetzt war auch Rolby aus seiner Lethargie erwacht.

»Mistreß! – Mrs. Butler!« rief er kläglich. »Mrs. Butler! – – Carry!«

»Unsinn!« herrschte ich ihn an. »Mach Licht!«

Endlich brannte ein Streichholz.

– – – Wir versuchten alles, um die Tür zu öffnen. Ein Schloß war nicht da; wenigstens konnten wir keins finden. Es waren dicke Eichenbohlen, die mit breiten Eisenbändern beschlagen waren. Selbst Dicks ungeheure Kraft vermochte nichts dagegen auszurichten.

Wir riefen und donnerten mit der Faust gegen die Tür. Der Schall pflanzte sich unheimlich fort. Sonst blieb alles mäuschenstill.

Die Geschichte wurde unbehaglich.

»Geleimt!« schäumte Rolby. »Bei Gott! geleimt – richtig geleimt!

Kann lange dauern, bis man uns ausgräbt – –«

Wieder flammte ein Streichholz auf.

»Mach einen Fidibus!«

Ich durchsuchte meine Taschen. In der letzten fand ich einen Frachtbrief.

Ich riß ein Stück ab und kniffte es kunstgerecht.

Aber das Streichholz war erloschen; wir mußten ein neues opfern.

Als das Papier brannte, sahn wir uns um.

Wir steckten in einem langen, schmalen Gewölbe, in das acht Steinstufen hinabführten. Schutt und Unrat bedeckten den Boden. Jetzt merkten wir erst, wie schlecht die Luft war, in der wir atmeten. Die Flamme brannte trübe und knisterte ...

Dann war es wieder dunkel.

Eine Weile schwiegen wir still. Schließlich sagte Rolby:

»Mut! Mann! – Müssen doch aus dem vertrackten Rattenloch heraus. Wollen sehn, wo der Gang hinführt.«

Ich machte einen zweiten Fidibus, den Dick ansteckte.

Darauf marschierten wir los. Er voran; ich hinterher. Wir mußten uns in acht nehmen. Denn der Gang war schmal, so daß wir nur einzeln gehn konnten, und oft so niedrig, daß Rolby sich bücken mußte.

Wieder ging es ein paar Stufen hinunter. Als wir unten waren, erlosch die Fackel.

»Au!« machte Rolby; er hatte sich die Finger verbrannt. Wir standen im Finstern.

»Will 'mal sehn, wieviel Streichhölzer noch da sind, Ralph!« meinte er. »Müssen sparsam sein, wie Elias in der Wüste.«

Er zählte.

»Eins, zwei – – fünf – – – fünf Stück noch.

Verdammt wenig! – Das kommt davon, daß Du nicht rauchst,« knurrte er mißmutig. »Jeder respektable Mensch hat doch Streichhölzer bei sich.«

Wir hatten beim Schein des letzten gesehn, daß der Schacht in schnurgerader Richtung verlief und sich allmählich senkte. Die Sohle mußte drei bis vier Meter unter der Erdoberfläche liegen. Vermutlich war es der Ausläufer einer Kloake. Ein großer Teil Londons ist von ähnlichen Kanälen unterminiert, wie jeder weiß.

Wir tappten langsam vorwärts. Stolperten im Dunkeln über allerhand. »Knochen!« dachte ich, als 'was unter meinen Stiefeln zerplatzte ...

Nach einer Weile wurde wieder Licht gemacht.

Der Schacht senkte sich mehr und mehr. Wir konnten zwanzig – dreißig Schritt weit sehn. Das Mauerwerk war noch gut erhalten – Feldstein in Mörtel gelegt – mußte also wohl schon vor der Ziegelei dagewesen sein.

»Fest wie Eisen,« grollte Rolby.

Dann war es dunkel.

Wir tasteten uns weiter.

Wieder leuchtete es auf. Wieder rabenschwarze Nacht.

Der Boden wurde schlüpfrig. Dick rutschte aus und stieß sich gehörig die Nase. Als wir wieder Licht machten, sah er wie ein Müllkutscher aus, und mir ging's nicht viel besser.

Unsere Lage wurde immer ungemütlicher.

Die Luft war dick und schwer. Mir trat der Angstschweiß auf die Stirn. Meine Knie zitterten. Immer wieder rannte ich gegen die Mauer, als wenn der Schacht zu eng wäre.

»Mach Licht, Dick!« stöhnte ich endlich. »Ich werde sonst verrückt. Wir müssen doch bald heraus kommen – – –«

Rolby strich ein Zündholz an – das vorletzte.

»Ratten!« meinte er und wies auf ein Dutzend Schatten, die sich um einen Haufen Knochen herumbalgten.

Ein Weilchen zitterte das Licht im Gewölbe. Wir sahn noch, daß sich der Gang nach links wendete. Dann war es erloschen.

– – – Blanke Kringel tanzten mir vor den Augen, huschten und liefen in einander ... durch einander.

Teufel! Waren das die Ratten?

Ich hörte sie deutlich quieken.

Wunderbar! – Soviel Ratten? Es mußten ihrer eine Legion sein – – – Wo sie nur alle herkamen? Ueberall quietschte und quiekte und pfiff es, und rumorte es.

Ich lauschte ...

Nichts als diese fürchterlichen Ratten!

Was sie für einen Spektakel machten; ich konnte meinen eignen Schritt nicht hören. Es sauste mir in den Ohren.

»Vorwärts, Mann!« sagte eine Stimme. Ich schrak ordentlich zusammen.

War das Rolbys Stimme? Es klang, als käme die Stimme weit her – – – weit her!

Aber ich raffte mich auf und schwankte vorwärts.

Und immer diese Ratten – –! Dieses Quieken und Pfeifen ... diese gräßliche Musik!!

Ich bohrte meine Augen in das Dunkel.

»Licht – Gott im Himmel, Licht!« Ich wollte sie sehn – die Bestien – – – die vermaledeiten Bestien!

Wütend knirschte ich mit den Zähnen.

Da – – Rolby stieß einen Schrei aus – einen unartikulierten Schrei. Ich stolperte gegen ihn; denn er war stehn geblieben.

»Was ist?« stöhnte ich. »Dick, was ist?«

Aber da brach auch schon ein Jauchzen aus seiner Kehle:

»Licht! – – – Licht! Gottlob, Licht!!«

Ich klammerte mich an ihn; so standen wir eine ganze Weile ...

Licht! – – Ja – es war Licht!

Ein blasser, gelber Fleck – weit unten im Schacht. Aber wir konnten schon die Wand erkennen. Dort mußte eine Oeffnung sein.

»Licht!«

Wir stürmten vorwärts.

Der Gang wurde breiter, so daß wir neben einander her laufen konnten. Mattes Dämmerlicht trat an Stelle der Dunkelheit. Links öffnete sich in der Mauer ein zweiter schwarzer Schlund.

»Stopp!« machte mit einmal Rolby. »Stopp – –!«

Er packte mich beim Arm.

»Guck – –«

Wir hielten an.

Vor uns stand etwas. Eine dunkele, unförmige Masse – mitten im Wege – und bewegte sich.

Ein Tier? – – – War das ein Tier? Wo war es hergekommen?

Ich muß gestehn, daß es mir eiskalt über den Rücken lief.

Ein ungeheurer Kopf! Ein plumper, dicker Leib – wie lang er war, konnte man nicht erkennen – krumme, greuliche Dachsbeine!

Alles kolossal, bizarr, ungeschlacht – wie ein Gebilde absurder Phantasie. Noch absurder im düstern Zwielicht, das alle Formen vergrößerte, verdoppelte ... unbestimmbar machte.

Das Ding schnaufte und schnarchte ... drehte zwei große, grüne Lichter nach uns. Schob sich im Dämmer weiter. Wir sah'n noch 'mal seinen ungeheuerlichen Schatten auftauchen. Dann war es weg – verschwunden – – – wie ein Spuk!

»Sachte!« wisperte Rolby. »Ein Bär!«

»Was?« sagte ich. »Ein Bär? – – – Wir sind doch nicht in Arkansas.«

Dick stampfte mit dem Fuß.

»Hast es auch gesehn, Ralph?

War doch da? – – Stand doch da? Aeugte uns an?

Bin ich toll? oder haben wir das Fieber im Leib? – – – die giftige Ague?« Sumpffieber.

Er stampfte wieder mit dem Fuße auf den Boden, daß es unheimlich schallte.

»Will verdammt sein, Ralph, wenn ich nicht – –«

Grimmig richtete er sich hoch.

Aber nach ein paar Dutzend Schritten machten wir wieder halt – – – jählings halt.

Wir starrten ...

Dort unten an der Wand – mitten im Hellen – saß etwas – – –

Bei Gott – Saß etwas: ein Mensch – – ein Mann! – – – War das ein Mensch?

Wir sahn den Oberkörper. Unten hüllte ihn 'was Weißes ein, wie ein großes Leintuch. Der Mann rührte sich nicht – hatte die Augen gesenkt – – – schien zu schlafen.

Totes, farbloses Licht spielte über das schreckliche Gesicht.

War es ein Mensch? – von Fleisch und Blut –?

Da hob das Gespenst mit einem gräßlichen Ruck den Kopf und schlug die Augen auf ...

»Machen Sie fix, Mr. Rolby! Ich kriege kalte Füße,« sagte eine Stimme.

– – Mir wurde schwindlig; ich mußte mich anhalten. Bei Rolby aber löste die Nervenentspannung ein dröhnendes Gelächter aus.

»Und wo steckt der Teufelsbraten?« brüllte er förmlich.

»Der Höhlenbär! Der – –«

Er lachte aus vollem Halse und tätschelte Mr. Maneater glückselig auf den dicken Kopf.

Sparks faltete seine Times, in der er studiert hatte, sorgfältig zusammen und stand auf. Dann half er uns aus dem Schacht.

Als wir draußen waren, drehte er eine grauverwitterte Steinplatte um ihre Angel. Leise schloß sich die Oeffnung. Brombeerranken fielen darüber. Kein Mensch konnte denken, daß hier der Eingang zu der Unterwelt war, in der wir solche Höllenpein hatten dulden müssen.

Wir standen auf dem Baukomplex, der sich bis nach Brickkiln Row hinzog. Dort war die Abladestelle; zu unsern Füßen das Schachtloch, von dem Sparks erzählt hatte und an dessen unterm Rande sich der Drehstein befand.

»Es ist eine alte Kloake,« bestätigte Sparks unsere Vermutung. »Wir müssen aber fort – – nach Brickkiln Row.«

Wir machten uns auf den Weg ...

»Wie ich den Eingang in die Kloake gefunden habe, wollen Sie wissen?« begann er.

»Ganz einfach!

Ich machte mich heute früh mit dem Hunde auf. Am Scherbenberg nahm ich ihn an die Leine und hielt ihm Mr. Butlers Hut unter die Nase.

Eine Minute später standen wir vor dem Stein.

Bin ein alter Praktikus – wissen Sie. Ich sah sofort, um was es sich handelt. Nach einer zweiten Minute war die Röhre offen, durch die unser Fuchs in seinen Bau einfährt.

Daß er erst spät heimgekehrt war, wußte ich. Die Lampe hat bis in den hellen Morgen hinein gebrannt. Wir haben ihn gestern eine ganze Welle gejagt; aber schließlich entwischte er uns doch noch zwischen den Schiffen.

Als ich wieder nach Hause kam, fand ich Ihren Brief vor. Mir schwante gleich nichts Gutes, und ich machte mich sofort wieder auf.

Meine Wache berichtete, daß Sie hineingegangen seien, und daß Mrs. Butler nach einer halben Stunde allein herausgekommen und zur Stadt gefahren sei.

Also – – waren Sie noch drinnen.

Ich klingelte und pochte. Niemand erschien; die Tür war verschlossen. Das konnte mich natürlich nicht hindern. Ich machte das Schloß auf und durchsuchte das Haus von oben bis unten.

Nirgends eine Spur.

Jetzt war mir die Sache klar.

Im Hause waren Sie nicht – herausgekommen waren Sie auch nicht. Also mußten Sie sich in dem Schachte befinden, dessen unteres Ende ich kannte.

Ich ging zur Giebelstube und entdeckte dort sofort die Tür ...«

»Müssen ordentlich dagegen geballert haben, Mr. Rolby,« meinte er schmunzelnd. »Ich sah das aus dem Mehl, das aus den Wurmlöchern bis mitten in die Stube geflogen war.

Auf ging die Tür nicht. – Es muß da irgend ein Trick dabei sein. – Ein Schloß war nicht vorhanden.

Doch – ich mochte mich nicht damit aufhalten. Sie mußten schon abmarschiert sein; denn ich hörte nichts mehr. Drum lief ich nach dem Schachtloch, kroch hinein und wartete geduldig.

Ich hörte Sie sprechen und wußte, daß alles in schönster Ordnung sei – –«

»Donnerwetter!« machte Rolby, und der Detektiv lachte in seiner stillen Weise.

Auf dem Heckenwege trafen wir einen Arbeiter, mit dem Sparks ein paar Worte wechselte.

»Sie ist noch nicht wieder da,« sagte er. »Ich denke, wir warten drin auf die Herrschaften.«

Wir hatten uns kaum am Fenster eingerichtet, da klang der Ton einer Kindertrompete herein.

»Da kommt wer,« sagte der Detektiv, faßte in die Tasche und legte einen Revolver neben sich auf das Fensterbrett.

Hinter den Rouleaus hervor spähten unsere sechs Augen in den Garten.

»Aha!« machte Sparks. »Mr. Butler selber. Also weiß er, daß die Röhre zum Bau besetzt ist.

Aber – – was hat der Mann? Er kann doch nicht wissen, daß Besuch da ist.«

Mr. Butler hatte an der Gartentür halt gemacht. Er sah sich scheu um; sein Gesicht war entstellt. Schreck und Entsetzen malten sich auf seinen Zügen.

Er lauschte nach dem Heckenweg hinaus. Dann irrten seine kleinen, unruhigen Augen durch den Garten.

»Wie ein gehetztes Wild,« dachte ich. Es war ein häßlicher Anblick, der Mann da draußen in seiner Todesangst.

Sparks legte die Hand an den Revolver. Da hörten wir einen Aufschrei ... einen schwachen Schrei bloß; aber er klang doppelt fürchterlich.

Mr. Butler war fast bis zu den Ulmen gekommen. Da stockte er ... seine bleichen Lippen öffneten sich ... er faßte nach seiner Brust und stand einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen.

Dann drehte er blitzgeschwind um und rannte wie wahnsinnig wieder den Weg zurück. Aber nur wenige Schritte machte er noch. Er taumelte, blieb stehn, krallte die Hände in die Luft – – –

Schwer schlug sein Körper auf die Erde.

Sparks hatte das Fenster aufgerissen, den Revolver gepackt und stand schon draußen, bevor wir beiden aus unserer Erstarrung erwachten.

Mit einem Satze folgte ihm der Hund.

Was nun geschah, geschah in Sekunden.

Ein grauer Schatten huschte unter den niedrigen Zweigen der Ulmen hervor ... huschte durch das Boskett.

Doch schon war der Hund zur Stelle. Wie eine Kanonenkugel schoß das sonst so langsame Tier vorwärts. – – – Ein Ruck! Und der Flüchtling lag auf dem Boden.

Mr. Maneater stand über ihm.

Jetzt bekamen wir unsere Besinnung wieder. Wir sprangen aus dem Fenster.

Der Detektiv kniete neben Butler.

»Tot!« sagte er und zeigte auf das verzerrte Gesicht. »Er ist uns zuvor gekommen.«

Dann riß er dem Toten die Weste auf.

»Da!« sagte er. »Ein Pfeil.«

Es war ein kurzer, dicker Rohrpfeil. – Ich hatte schon so einen Pfeil gesehn. – Das Hemd war durchbohrt. Ein Tropfen Blut färbte die Leinwand.

Behutsam knöpfte Sparks den Einsatz auf. »Vorsicht!« murmelte er. »Vorsicht! Der Pfeil ist vergiftet.«

Damit schob er das Hemd zur Seite. »Hier sind Ihre Feldbücher, Mr. Rolby,« sagte er ruhig.

Auf der Brust des Toten hing die kleine schwarze Ledertasche, die wir suchten. Der Pfeil hatte sie gerade getroffen ...

Aber – – wer war der andere? – der Mörder?

Wir flogen hin.

Der Mann lag auf dem Gesicht. Es war der graue Unbekannte.

Mr. Maneater hatte ihn im Nacken gepackt. Auf ein Wort seines Herrn ließ der furchtbare Hund los.

Der Fremde drehte sich um und sah uns mit rollenden Augen an.

– – Wir kannten das häßliche Gesicht mit der breiten, aufgestülpten Nase, der grauen, fast grünen Farbe, den schwarzen, blitzenden Basiliskenaugen.

»Chinasawany!« schrie Rolby außer sich.

Der Inder wollte sprechen; aber er fiel ohnmächtig zurück. Jetzt bemerkten wir, daß er mitten auf der Stirn eine fürchterliche Verletzung hatte. Der Verband war verschoben. Wir sahn die klaffenden Ränder einer fingertiefen Wunde, die vom Nasenbein bis zur Mitte des kahlgeschorenen Schädels reichte.

Ein wahres Wunder, daß der den schrecklichen Schlag ausgehalten hatte. – – – – – – –

*

Aber Schluß!

Chinasawany starb noch in der Nacht nach seiner Einlieferung an Gehirnentzündung. Die Polizei hatte wenig zu tun. Er kam nicht wieder zu sich. Wie er nach England gelangt war und Butler ausfindig gemacht hatte – – sein Abenteuer auf der Themse: das blieb dunkel.

Mrs. Butler war verschwunden, was nur Rolbys Wünschen entsprach. Sparks ermittelte noch, daß Butlers wahrer Name O'Hara gewesen, daß er aus Irland stammte und eine Schwester besaß, die als Akrobatin auftrat ...

Mr. Sparks ist nicht bloß in England berühmt. Sein Ruf erfüllt die ganze Welt. Wenn ich nach London komme, so besuche ich ihn und freue mich, daß es seinen kleinen, gelben Schreihälsen wohl geht. Mr. Maneater wird etwas beleibt; aber Sparks hält große Stücke auf ihn.

Dick Rolby endlich ist in Indien ein steinreicher Mann geworden.

Ich habe ihn erst vor kurzem wiedergesehn. Er war immer noch der alte. Schwört auf Mrs. Butler und überhaupt auf die ganze schöne Weiblichkeit – – – Zum Heiraten ist er aber bis zum heutigen Tage nicht gekommen.


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