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[9]

Ein kühler Abend wispert in den Zweigen der Bäume. Regents Park liegt ganz still, die Wege sind ausgestorben, ein feiner, dünner Sprühregen geht nieder, die Tropfen fallen in die Wasserlachen, die, noch vom letzten Guß zurückgeblieben, im Licht der Laternen schillern.

Von fern brummt gedämpft das Brausen der ungeheuren Stadt herüber, die mit hellem, gelbem Schein durch die Büsche flimmert.

Der dumpfe Ton eines Tierrufes dringt dann und wann aus dem Zoo, ein anderer antwortet, bis alles wieder verstummt.

Stark duften die verblühenden Tropenpflanzen in dem Botanischen Garten.

Es ist still, totenstill, ein regnerischer Herbstabend.

*

Ora Lee hockt auf einer einsamen Bank, die Hände im Schoß verkrampft. Sie ist total durchnäßt, sie sieht im Augenblick nicht viel anders aus als irgendeine der Unzähligen, die am Morgen in die Büros strömen und abends müde zurückkehren, in keiner Weise erinnert sie an die elegante, gefeierte Grand'-Dame von ehedem.

Aber sie scheint das alles nicht zu fühlen, sie bemerkt es nicht, vielleicht hat sie seit Tagen nicht mehr in einen Spiegel gesehen. Schritte werden vernehmbar, sie nähern sich schnell der Bank, auf der sie wartet; sie ist so stumpf, daß sie erst aufblickt, als Holl vor ihr steht.

Er sieht betroffen auf sie herab – er ist ja noch ein junger Mensch und kein in langen Dienstjahren hart gewordener Beamter. »Gnädige Frau«, spricht er sie an, »es tut mir leid, daß ich auf diese Weise ihren Aufenthalt feststellen mußte!«

Er setzt sich neben sie auf die Bank.

»Ach«, erinnert sie sich, ohne dabei zu erschrecken, »dann stammt die geheimnisvolle Annonce von Ihnen – so, die Polizei hat uns also schon wieder herausgefunden.«

»Ich mußte versuchen, Sie zu ermitteln, gnädige Frau – als Sie heute mittag Kensington 1418 anriefen und sich verabredeten, sprachen Sie mit mir!«

Sie nickt stumpf. Sie hat auf die Annonce hin angerufen und sich mit einem Unbekannten, der aber über alles informiert schien, um diese Zeit im Regents Park verabredet; sie versuchte zwar noch vorsichtshalber, den Eigentümer des Anschlusses herauszubekommen, aber es war eine Geheimnummer, sie erfuhr nichts. Und inzwischen hatte sich etwas ereignet, das alle Vorsicht überflüssig machte, sie war nicht mehr nötig, denn Jane brauchte keinen Schutz mehr. Es war vorbei mit ihnen.

Die Frau bricht bei diesen Erinnerungen in Tränen aus, sie sinkt kraftlos zur Seite, Holl muß sie stützen. Er versucht sie zu beruhigen, er redet ihr freundlich zu.

»Was ist denn geschehen, gnädige Frau?« fragt er beunruhigt.

Sie zuckt konvulsivisch.

»Was – geschehen – ist – oh!« Es ist ihr nicht möglich, weiterzusprechen, sie bricht mitten im Satz ab.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« fragt er ziemlich ratlos. Sie starrt ihn an wie einen Menschen aus einer anderen Welt, sie tastet zitternd nach seiner Hand – wie ein hilfloses Kind ist sie jetzt. »Kommen Sie«, murmelt die Frau, »kommen Sie mit mir, verlassen Sie mich jetzt nicht – alles sollen Sie erfahren.« Sie ist so verwirrt, daß sie gar nicht mehr weiß, was sie spricht; wie könnte sie sonst annehmen, daß sie der Kriminalbeamte Holl, der sie mit vieler Mühe mit Hilfe eines raffinierten Tricks endlich gefunden hat, verlassen will.

Sie gehen zur nächsten Straßenecke und halten eine Taxe an; sie ruft dem Schofför die Adresse zu, dann sinkt sie erschöpft in den Fond zurück. Sie beginnt wieder leise vor sich hin zu weinen. Draußen ziehen die Straßen vorüber, belebte Fahrbahnen brausen dem Wagen entgegen, Polizisten stehen, Signalglocken ertönen. Zu beiden Seiten gehen viele Menschen.

Sie fahren den Strand entlang bis zum Blackfriars Road. Hinter der Eisenbahnüberführung tauchen grau und verschwommen die Umrisse von St. Paul auf, eine Woge von Autobussen und Automobilen davor. Sie schlüpfen vorüber, die Straße aufwärts. Dann gibt ihr Führer Zeichen und biegt scharf nach Osten ein.

Oldstreet, Eisenbahnbrücken, Hackney Road, Eisenbahnbrücken, endlose Güterzüge, die oben vorüberrasseln, dann ein Kanal mit vielen schmutzigen Kohlendampfern.

Die Straßen werden dunkel und öde, am Fahrdamm spielen ärmliche Kinder – ist dort nicht der kleine Oliver Twist inmitten einer Rotte von Straßenkindern, so, wie ihn Dickens beschrieb?

Gleich darauf fegen sie durch einen Park, der erfrischende Duft von nassem Laub und weiten Wiesen dringt herein und vermischt sich sonderbar mit dem Geruch des abgenutzten Wagenleders. Ein Schild fliegt vorüber: Victoria Park.

Noch einmal biegen sie in eine Seitenstraße ein, rechts und links stehen freundliche dünne Bäumchen, mit einem scharfen Ruck hält der Wagen. Sie sind angelangt.

Sie entlohnen den Schofför, dann gehen sie in das Haus hinein. Auf der Treppe bleibt die Frau stehen, sie weint auf und geht langsam, Schritt für Schritt, wieder zurück, bis sie bei ihm steht; sie lehnt sich zitternd an ihn, sie sucht Schutz bei ihm, als habe sie vollkommen vergessen, daß er ihr Verfolger ist.

Er sieht an ihr vorüber, unten, hinter den Glasfenstern der Haustür, geht von Zeit zu Zeit jemand vorbei, manchmal fährt ein Auto. Über ihnen führt die Treppe empor, es ist still, kein Laut ist zu hören. In die Stille des Treppenhauses dringen von draußen die Geräusche des Hofes, aus offenen Küchenfenstern schallt Gesang, Teller werden klappernd gespült, Stimmen schwirren durcheinander, hier muß irgendwo eine Kneipe sein, ein Klavier lärmt, dazwischen kann man das klirrende Rasseln der Biergläser unterscheiden, die auf die Blechplatte des Schanktisches niedergesetzt werden.

»Wollen wir nicht weitergehen, Mrs. Lee?« fragt er beklommen. Sie hebt den Kopf, die Augen sind grau von Tränen, sie sieht ihn erstaunt an wie einen ganz unbekannten Menschen.

»Ja – wir wollen nun hinaufgehen, sicherlich – gehen wir!«

Während sie die Treppe hinaufsteigen, schluchzt sie auf.

»Gehen wir – gehen wir!« wiederholt sie immer wieder sinnlos. Endlich stehen sie vor einer Tür, an der der Name Großbride befestigt ist. Darunter und darüber stecken verschiedene gelbliche Visitenkarten, so wie man das findet bei Wohnungen, in denen Untermieter wohnen.

Sie sucht den Schlüssel heraus und will öffnen. Aber jetzt befällt sie ein derartiger Schüttelkrampf – sie kann den Schlüssel nicht hineinstecken, Holl muß es statt ihrer tun.

Ein dumpfiger, dunkler Korridor führt zu dem Zimmer, das sie heute morgen mit Jane verließ.

Ora Lee legt den Finger an die Lippen und geht auf Zehenspitzen voraus, sie tastet nach der Türklinke.

*

Als ihr Schrei, der hallende, gequälte Schrei eines Tieres – nur noch nachzittert im Raum, steht Holl immer noch an der Tür, seine Augen gehen langsam über alles hin, über die kahlen Wände, die Ecken, in denen die Tapete zerrissen herabhängt, über einen verwelkten Lorbeerkranz, den eine Varietédirektion dem großen Artisten James Lane vor vielen Jahren gestiftet hat.

James Lane – Jane liegt lang und starr unterhalb des Fensters am Boden. Er muß sich während des Falles aufgestützt haben oder haben wollen, nun ist dieser Arm leblos geworden und weit ausgestreckt, als taste er über den Fußboden.

Die Frau geht langsam auf Zehenspitzen hinüber, zurückgestoßen von einem natürlichen Entsetzen der Empfindung, unerbittlich herangezwungen durch sich selbst.

Sie hebt die Hände etwas und beugt sich über den ausgestreckten Körper – »Oooh!« Der Assistent sieht sie wieder in einem Stuhl kauern wie damals im Polizeipräsidium, aber er muß jetzt alle mitleidigen Gedanken gewaltsam zurückdrängen. Was war zuerst zu tun – die Polizei verständigen, Nicholas anrufen? Vielleicht fand sich hier endlich die erste brauchbare Spur.

»Wir müssen ihn von hier wegbringen!« sagt die Frau plötzlich, und es klingt fürchterlich aus diesem Munde: »Wegbringen.«

Sie flüstert noch leiser, als graue ihr vor der eigenen Stimme: »Hier wohnen noch andere Leute, er muß weg!« Sie sieht Holl in die Augen. Er überlegt, daß es in diesem Fall besser wäre, den Toten ohne viel Aufsehen fortzuschaffen, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Man mußte erst einmal feststellen, was eigentlich hier geschehen war.

Er geht zu dem reglosen Körper hinüber, jetzt kann er das Gesicht erkennen; es ist ihm fremd, er kennt ja den Artisten Lane nicht. Die Frau weint vor sich hin, »Jane – mein Jane!«

Der Assistent kniet auf die Erde und berührt den Körper; er fährt zurück, als erhalte er von unsichtbarer Hand einen Stoß. »Aber er lebt ja – er lebt doch noch!« Sein Gesicht spiegelt grenzenlose Verblüffung, wie konnte er sich nur so von einer verzweifelten Frau beirren lassen! Er macht sich sofort daran, den Mann umzulegen, er sucht nach einer Verwundung. Ora Lee ist aufgesprungen, sie hockt neben ihm auf dem Fußboden, bewegungslos, sie vermag sich nicht zu rühren.

»Er lebt?« Draußen wird ein Geräusch vernehmbar, sie springt sofort zur Tür und schließt sie vorsichtig ab. Auf dem Korridor klirren Schlüssel, Schritte scharren heran.

Es klopft.

Die Augen der verängstigten Frau gehen hin und her, vom Fenster zur Tür, von dem Assistenten, der jetzt den Körper des Ohnmächtigen halb aufgerichtet hat und eine Wasserkaraffe heranlangt, zu dem Türgriff, der von draußen heruntergedrückt wird.

Es klopft heftig ein paarmal. Sie holt Atem, ihr Gesicht verzieht sich zu einem starren Lächeln, »oh – Miß Loan, ja, Miß Loan?« Draußen antwortet eine ältliche Stimme: »Pardon – wollte nicht stören –«; dann entfernen sich die Schritte. Ora Lee schnellt von der Tür zurück. Der Assistent benetzt dem Mann systematisch den Puls, die Stirn. In der Polizeischule werden alle jungen Beamten für diese besonderen Fälle sorgfältig ausgebildet und vorbereitet, nicht immer verfolgt die Polizei, viel öfter hilft sie! »Er muß hier weg!« flüstert sie wieder erregt. »Helfen Sie mir, ihn fortbringen!« In den Körper scheint Leben zurückzukehren, der Mann öffnet die Augen noch nicht, er regt sich auch nicht, aber wenn die beiden die Ohren auf ihn pressen, spüren sie schon den schwachen Schlag des wieder pulsierenden Blutes.

»Wenn ich nur eine Wunde entdecken könnte«, sagt der Assistent verwundert, »hat ihn denn jemand mit einem Gummiknüppel geschlagen? Seit wann liegt er denn so?«

Die Frau schauert zusammen. »Als ich heute nachmittag zurückkam, lag er in der Ecke. Ich dachte, er wäre schon tot – und da verlor ich ganz den Kopf und wagte gar nicht erst, mich zu überzeugen.« Holl schüttelt den Kopf. »Er scheint weiter nichts als schwer benommen zu sein, wovon, weiß ich selbst noch nicht, das muß der Arzt feststellen – ich kann keine Wunde entdecken – nirgends ist Blut zu sehen. Wer kann ihn nur so zugerichtet haben? Und warum?«

Sie blickt angstvoll zu ihm auf: »Er muß weg hier, weg! Pall ist hinter uns her!« Sie fröstelt schaudernd. »Pall wird uns alle töten!«

*

Sie fahren Hackney Road hinunter, denselben Weg, den sie gekommen sind, zurück. Wind und Regenschauer fegen gegen die Wagenfenster, rütteln wild an den klirrenden Türen.

Der Betäubte lehnt zwischen ihnen wie ein Betrunkener. Fort! Sie haben Jane die Treppe hinuntergeschleift und dann untergefaßt, so brachten sie ihn in die nächste Taxe.

»Ich verstehe nicht! Pall ist doch – Ihr Komplize?«

Die Lee – so, wie sie jetzt in ihrer Ecke lehnt, flüchtig in einen Mantel gehüllt, blaß und übernächtig, ist sie wahrhaftig keine Mrs. Lee mehr, sondern »die Lee«, wie man zu sagen pflegt – sieht Holl an, ihre Augen verschleiern sich in einem Ausdruck ohnmächtigen, dumpfen Hasses. »Ja, er war Janes Komplize – ich habe wohl auch dazu gehört, ja!« Sie verstummt wieder und tastet mit ihren zärtlichen, gramvollen Blicken den Mann ab, der zwischen ihr und dem Assistenten hin und her schwankt. Sie sausen unter den Bahnüberführungen von Liverpoolstreet hindurch, die Oldstreet, die hier beginnt, ist etwas abschüssig und holprig, sie fliegen hin und her wie in einer Luftschaukel.

»Ach was«, bricht es plötzlich aus ihr heraus, »ach was, jetzt sollen Sie alles wissen, es ist mir egal, ich muß es runter haben von mir!« Sie schreit fast. »Ich komme vom Varieté, Sie wissen? Nun, mein Mann nahm mir das nie übel – er hatte auch keinen Grund. Später, als ich frei war, lernte ich Jane kennen.« Sie sieht ihm ins Gesicht, das taumelig auf ihrer Schulter lehnt. In abgerissenen Sätzen erzählt sie Holl alles von sich und diesem Mann, für den sie sich ruiniert hat, erzählt ihm von ihrer Artistenlaufbahn, von ihrer Liebe, sie macht kein Hehl daraus, daß sie ihre gesellschaftlichen Beziehungen dazu mißbrauchte, um der Kolonne Palls Winke zu geben, wo etwas zu holen war – weil eben Jane ein Mitglied dieser Bande war. In Paris, in Berlin – überall führte sie dieses gehetzte Leben, das zwischen einer unfaßlich großen Liebe und tiefstem Verbrechen schwankte.

Holl hört ihr aufmerksam zu. Sein geschultes Hirn registriert alles, was sie sagt, um es zu gegebener Zeit zu benutzen, trotzdem kann er sich eines großen, erbarmungsvollen Mitleids mit dieser Unglücklichen nicht erwehren – vielleicht ist er doch etwas zu weich für seinen schweren Beruf, der ohne die geringste Rücksicht auf Gefühlsmomente erfüllt sein will. Aber es ist zu trostlos und erbärmlich, zu hören und zu sehen, wie diese Frau sich zugrunde richtet.

»Ich konnte nicht mehr los von Jane – ich kann nie mehr ohne ihn sein, ich gehöre doch zu ihm, wir Artisten halten zusammen wie die Kletten, verstehen Sie das? Ich war doch zuerst nur ein Chorgirl, und das bin ich heute noch – Bluff ist alles andere, Bluff! Bluff!«

Sie sehen beide wie auf Kommando auf den Mann zwischen ihnen, er ist erwacht, er stiert röchelnd gradeaus. Sie hat nur noch Sinn für ihn und beobachtet gespannt jede seiner Bewegungen, zärtlich legt sie seinen Kopf an ihre Brust und streicht sanft über das graue, lederne Gesicht.

Das Auto hat bereits die Mündung der New Oxford erreicht und bremst scharf, sie schwenken in Holborn Viaduct ein, diese phantastische Konstruktion von Eisenstreben, Betonmauern und ansteigenden Häusern.

»Haben Sie eine Ahnung, einen Verdacht, wo Pall jetzt sein könnte?« fragt Holl sehr vorsichtig, um nicht durch eine kleine Unbedachtsamkeit ihr Mißtrauen wachzurufen.

Sie antwortet nicht gleich. Erst nach einiger Zeit meint sie resigniert: »Er ist überall zugleich – er ist hier – und in Paris – in Hamburg und in Berlin, überall!« Sie wickelt sich fester in ihren Mantel ein.

»Ja, aber wann haben Sie ihn denn das letztemal gesehen?« »Ich sah ihn überhaupt nur ein einzigesmal ganz flüchtig, sonst hat Jane alles mit ihm erledigt – aber seit diesem Zeitpunkt geht Pall darauf aus, Jane zu vernichten, er verfolgt dieses Ziel auch heute noch – er hat Jane überfallen und kein anderer!«

»Und aus welchem Grund will er ihn los sein?«

Sie sieht Holl mit ihren großen unruhevollen Augen an, er kann darin die Antwort lesen, bevor sie sie ausspricht: »Pall will mich besitzen! Aber er wird es niemals!« fügt sie hinzu. Sie schüttelt sich. »Er will die Beute und mich!«

»Wann war es, als Sie Pall begegneten? Können Sie sich an den Zeitpunkt ungefähr erinnern?«

»Ach, es ist lange her – ein halbes Jahr vielleicht. Seitdem erhielt Jane seine Befehle schriftlich oder durch Annonce, man sieht Pall überhaupt nicht mehr!«

Der Assistent schüttelt verwundert den Kopf; eine ganz seltsame Ahnung beschleicht ihn, er ist sich noch nicht sicher, noch lange nicht – aber er hat nun die Spur gefunden, die Spur eines Verbrechers, den die Polizeibehörden der ganzen Welt bisher vergeblich gesucht haben.

»Jane sagte schon oft«, fährt sie fort: »›Der Kerl heckt was gegen mich aus.‹ – Wir hatten beschlossen, jetzt nach Südamerika zu fliehen, Jane hat heute noch einen Vertrag mit einem Agenten abgeschlossen.« Sie fährt zusammen, denn der Mann stöhnt tief auf. Das Bewußtsein kehrt zurück, er fühlt wahrscheinlich erst jetzt die Schmerzen; er dreht mühsam den Kopf nach rechts und nach links.

Holl beugt sich schnell zu ihm: »Wer hat Sie überfallen – können Sie sich daran erinnern?«

Jane schließt die Augen, er versucht nachzudenken. »Plötzlich – ein Mann – kleiner als ich – aber kräftig!« stößt er abgerissen hervor. Ora Lee neigt sich zu ihm und küßt ihn auf die Augen, auf den Mund, auf die Haarsträhnen, die ihm über die Stirn fallen.

Sie flüstern miteinander, so schnell und so leise, daß Holl das Englisch nicht verstehen kann. »Er sagt«, richtet sich die Frau wieder auf, »ein fremder Mann, der ihn irgendwie an Pall erinnert, habe ihn in unserer Pension aufgesucht und plötzlich zu Boden geschlagen.«

»Womit hat er ihn niedergeschlagen?«

Die beiden sprechen wieder leise miteinander. »Mit einer stumpfen, ganz harten Waffe; Jane glaubt, daß irgendein Geräusch den andern vertrieben hat.«

Sie streichelt das feuchte Haar.

Der Wagen rollt mit ihnen über den glänzenden Asphalt des Trafalgar Square, grade an den beiden Springbrunnen vorüber, Nelsons regenfeuchtes Bronzebild rückt heran.

Der Assistent liest wieder den stolzen, zuversichtlichen Ausspruch:

›England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht tut!‹

Es ist manchmal sehr, sehr schwer, seine Pflicht zu tun.

»Mrs. Lee«, sagt er tonlos – »ich muß Sie nun nach Scotland Yard bringen – ich muß es tun!« Sie sieht ihn fassungslos an, in ihrem Blick drückt sich eine wahnsinnige Verzweiflung aus. »Bitte – schonen Sie uns – bis er wieder gesund ist – bitte, nicht zur Polizei, bitte – lassen Sie uns ein paar Stunden in einem Hotel Zeit – ich muß es ihm erst beibringen – wir laufen Ihnen nicht weg, bestimmt nicht, ich verspreche es Ihnen!«

Sie hat die Hände gefaltet, jeder Tropfen Blut ist aus ihrem Gesicht entwichen, es ist unerträglich. Holl kann es nicht. Er bringt sie in einem kleinen vertrauenswürdigen Hotel unter, dem Portier gibt er heimlich einen Wink, darauf zu achten, daß weder Ora Lee noch der Mann das Haus verläßt, bevor er wieder zurückgekehrt ist. Dann begibt er sich unverzüglich zu Phil Nicholas.

*

»Gratuliere, mein Sohn!« begrüßt ihn eine wohlbekannte, aber gänzlich unerwartete Stimme bei seinem Eintritt in das Arbeitszimmer des Sachverständigen. Dr. Voß sitzt schmunzelnd in einem der tiefen Sessel und raucht eine große dunkle Zigarre.

»Herr Doktor?!« ruft Holl erstaunt aus.

»Jawohl, mein Lieber – trotz meiner offenen Anerkennung für deine tüchtige Arbeit mußt du mir doch gestatten, jetzt ein bißchen mitzumachen – denn jetzt wird's brenzlig, was?«

Der Assistent lächelt, er ist noch ganz verwirrt. Wenn sein Chef ihn duzt, dann muß er ganz außerordentlich zufrieden mit ihm sein. Nicholas schiebt ihm stillvergnügt einen Stuhl hin.

»Die Idee mit der fingierten Annonce war großartig!« lobt der Doktor, wieder ernst werdend. »Aber Sie hätten die beiden nicht allein lassen dürfen, das war wieder ihre verdammte Gutmütigkeit, die müssen Sie sich jetzt abgewöhnen!«

»Sie wissen schon?« fragt Holl betroffen.

Nicholas stößt einen kleinen Lacher aus.

Der Doktor spreizt behaglich die Beine. »Na, ich habe Sie doch hier und da ein bißchen beobachtet – aber ich muß sagen, alle Achtung! Nur eben der Fehler zum Schluß!«

»Ich habe den Portier beauftragt, keinen von beiden hinauszulassen – und die Frau hat es mir hoch und heilig versprochen, nicht zu fliehen.«

»Man kann von einer Frau, die sich in dieser Situation befindet, kein Versprechen annehmen!« sagt der Kommissar ernst. »Merken Sie sich, eine Frau, die so lieben kann wie diese hier, die wird bedenkenlos für den Mann, dem sie schließlich ihr ganzes Leben geopfert hat, auch ein armseliges Versprechen brechen – und von ihrem Standpunkt hat sie auch das Recht dazu, es wäre ganz unmenschlich, von ihr zu verlangen, daß sie jetzt wartet, bis die Polizei sie abholt!«

»Sie glauben also, daß sie entflohen sind, Herr Doktor?«

»Vor einer Viertelstunde über die Feuertreppe!«

»Und?«

»Ich fürchte, sie werden nicht allzuweit kommen, vielleicht bis zum Schiff, es interessiert mich, zu wissen, ob sie noch andere Komplizen haben, die uns unbekannt sind – ich lerne gern neue Menschen kennen, das ist immer interessant!«

Eine Pause entsteht, in der jeder seinen Gedanken nachhängt. »Wenn ich nur wüßte«, unterbricht Doktor Voß endlich das Schweigen, »wo ich diesen mysteriösen Mister Pall finden werde – Sie sind doch anscheinend ganz tüchtig, Holl, wenn Sie uns das verraten können, dann schlage ich Sie persönlich zum Chef des Fahndungsdienstes vor!«

»14, Corfieldstreet!« antwortet sein Assistent lakonisch.

Der Kommissar fährt in die Höhe: »Was ist das wieder für eine Überraschung, mein Junge, los, heraus damit!«

Holl berichtet ihm von dem geheimnisvollen Drohbrief, der Brown in so außerordentliche Unruhe versetzt hat – er hätte ohnehin heute mit Nicholas darüber gesprochen.

»250 000 Pfund!« überlegt der Doktor. »Es ist ganz klar, sie wollen ihm die Versicherungssumme abjagen – vielleicht ist er wirklich unschuldig, vielleicht ist es nur ein Trick, wir werden sehen!« Er kaut nachdenklich an seiner Zigarre.

»Und wo glauben Sie den geheimnisvollen Drahtzieher all dieser Affären suchen zu müssen, Holl?«

Statt seiner wendet sich Nicholas vergnügt an Dr. Voß. »Er hat mir schon mal eine Andeutung gemacht – gleich am ersten Abend! Er sieht in unserem guten Edgar Morris ...«

»Verzeihen Sie, Herr Nicholas, wenn ich Sie unterbreche«, sagt Holl erregt, »wo ist im Augenblick Herr Morris, Herr Doktor?« Merkwürdigerweise lacht der Doktor nicht, sondern beantwortet die seltsame Frage völlig ernsthaft: »Kommissar Morris ist auf Urlaub gegangen – ein paar Wochen, soviel ich weiß.«

»Halten Sie mich jetzt immerhin für verrückt, meine Herren«, platzt Holl heraus, »ich glaube – ich glaube – daß sich hinter Herrn Kommissar Morris Pall verbirgt!«

Ein betretenes Schweigen entsteht.

»Wie gedenken Sie diese ungeheuerliche Behauptung zu beweisen?« fragt ihn der Sachverständige sehr gemessen; sein Gesichtsausdruck ist mehr als skeptisch, fast beleidigt.

Der Doktor macht eine Handbewegung. »Ach was, beweisen auch noch!« Er zwinkert seinem Freund Nicholas bedeutsam zu: »Der junge Mann ist ein Irrer – aber ganz harmlos sonst!« Dazu lacht er, als sei er doch irgendwie stolz auf diesen harmlosen Irren.

*

»Den wievielten haben wir heute, Holl?«

»22. Oktober!«

»Hm. Erzählten Sie mir nicht von diesem Liebesbrief, der unsern Freund Brown so schrecklich aufgeregt hat – wann sollte Brown die Moneten abliefern?«

»Am 23. Oktober, morgens 6 Uhr, im Hause Corfieldstreet Nummer 14.«

Der Kommissar steht langsam auf. Er sieht seinen Assistenten prüfend an, dann klopft er ihm wohlwollend auf die Schulter: »Also gehen wir – Sie werden leider auf Ihr Abendessen mit Ihrer reizenden kleinen Freundin verzichten müssen; aber ich möchte zu gern, daß Sie dabei sind, wenn Herr Pall sich die Ehre gibt!«

*

Es gibt keinen Verbrecher, der sich auf die Dauer im Kampf gegen das Gesetz behaupten kann, es gibt keinen Schlupfwinkel der Erde, der für die Macht, die dem Gesetz Geltung verschafft, unerreichbar wäre. Gesetz und Ordnung sind immer die Stärkeren!

Unauffällig umzingelt ein großes Aufgebot von Geheimpolizisten das Haus Corfieldstreet Nummer 14, ein düsteres Gebäude auf der Rückseite eines großen Speichers, zu gleicher Zeit werden Corfield Ecke Green Road und Beethnal Green Junction abgeriegelt. Seit langer Zeit scheint das verdächtige Haus unbewohnt und verschlossen zu sein, Dr. Voß läßt es in einem günstigen Augenblick öffnen, er begibt sich mit dem Assistenten vom Speicher her hinein, von niemand gesehen, von keinem unerwünschten Späher beobachtet.

Um gar keinen Verdacht zu erregen, lassen sich die beiden Beamten in dem Verbrechernest einschließen, nur für den Notfall wird ein Signal – drei Schüsse, die das Morsezeichen SOS ergeben, vereinbart. Aber wer den Doktor kennt, weiß, daß es nun kaum noch dazu kommen wird.

Im Innern des Hauses herrscht eine erstickende Atmosphäre, es riecht modrig, seit Monaten scheint hier kein Fenster geöffnet zu sein, alle Fenster sind durch Rolläden dicht verrammelt, nur die Taschenlampen der beiden ziehen einen matten, weißen Strich. »Anscheinend haben wir Glück«, flüstert der Doktor, »es ist noch niemand hier – jetzt wollen wir schnell alles durchsuchen.« In den alten Möbelstücken, in den Truhen, Schränken und Kommoden können sie zunächst nichts Verdächtiges finden; bis plötzlich der Kommissar den jungen Mann heranruft: »Holl, mein Junge, komm her – sieh dir das an, hier!« Er hält ihm einige Fotos hin, die er in einem Behälter aufgestöbert hat, es sind Fotografien, wie sie heutzutage bei sogenannten kosmetischen Operationen von dem Patienten gemacht werden, bei irgendwelchen äußeren Veränderungen des Gesichts, der Nasenpartie, der Haut, des Kinns, der Ohren. In solchem Fall fotografiert man den Patienten vor und nach der Operation, und zwar von vorn, von rechts und von links. »Genau wie bei den Fingerabdrücken«, triumphiert der Doktor. Sein Triumph ist allerdings berechtigt, denn die Fotografien, die man hier sicherlich für alle Zeiten sicher glaubte, stellen einerseits den Patienten Pall vor der Operation dar, das Gesicht zeigt die markante Hakennase, die in allen seinen Steckbriefen eine so überaus wichtige Rolle spielt, die andere zeigt ihn nach der Operation, die Hakennase ist einer völlig normalen gewichen, das ganze Gesicht ist verändert – es ist für den Uneingeweihten nicht mehr möglich, in dem neuentstandenen Gesicht das alte wiederzuerkennen.

Dieses neue Gesicht zeigt, durch Haartracht, Augenbrauen und Bartlosigkeit unterstützt, eine sehr starke Ähnlichkeit mit dem des Kriminalkommissars Edgar Morris.

»Ich glaube, mir wird jetzt manches klar«, meint der Doktor. Holl ist nun, da sein vager Verdacht reale Tatsache geworden, wie benommen, das Mysterium Pall findet eine zu phantastische Lösung.

»Angenommen, Pall und Morris sind eine Person, was ich jetzt für fast erwiesen halte«, überlegt der Doktor, »was ergibt sich daraus?« Er sieht auf die Fotos in seinen Händen, als erwarte er von ihnen eine Antwort, er lächelt dabei eigentümlich. Er spricht leise weiter. Holl weiß, daß man ihn jetzt nicht unterbrechen darf, der Doktor pflegt bei diesen Überlegungen ganz konzentriert zu denken. »Wenn Kommissar und Verbrecher eine Person sind«, rekonstruiert Dr. Voß, »dann verfolgt er als Beamter die Bande, die er als Verbrecherchef führt – daraus ergeben sich ohne weiteres die Tatsachen, daß er seit einem halben Jahr, seit der Operation, von keinem seiner Komplizen mehr gesehen wurde, daß er sich bei uns einschmuggeln konnte, daß er, der auf irgendeine Weise mit den Leuten, die wir suchten, in Verbindung stand, mit Leichtigkeit für uns unlösbare Dinge, wie die Annonce der Ora Lee und dergleichen enträtseln konnte.«

»Ach, und deshalb war er auch so ärgerlich, als er erfuhr, daß der Rembrandt, den seine Leute bei van Hees erbeutet hatten, unecht war – er hatte ja sicherlich selbst den ganzen Überfall auf die Nationalgalerie fingiert, um Zeit zu gewinnen – die Idee, den Verbrechern eine Falle zu stellen, stammt ja auch von ihm«, vervollständigt Holl eifrig die Untersuchungen seines Chefs.

»Ja«, fährt der Doktor fort, »damit kommen wir nun zum zweiten Punkt dieser eigentümlichen Angelegenheit, warum tat er das alles, was hatte er für einen Grund, seine eigene Bande vernichten zu wollen? Ich glaube, daß wir hier das treibende Moment in einer Frau zu suchen haben – Sie kennen sie ja recht gut, Holl, sie hat Ihnen heute abend selbst ihre ganze Leidensgeschichte erzählt –, er wollte Ora Lee besitzen. Zu diesem Zweck mußte er Jane (siehe den Artisten James Lane) loszuwerden suchen – und da auch ein Bandenchef wie Pall die furchtbare Rache der Zunft zu fürchten hat, wählte er diesen raffinierten Ausweg. Sie sehen, Holl, jeder Mensch hat irgendeine Passion, an der er zugrunde geht, und sei es der raffinierteste, brutalste und skrupelloseste Charakter!« Er erhebt sich und bedeutet dem Assistenten, ihm zu folgen, sie dürfen keine Zeit mehr verlieren.

»Wahrscheinlich dachte er sich das so«, flüstert Dr. Voß seinem Gehilfen zu, »daß er den geschickten Jane so lange benutzt, bis er ihn nicht mehr braucht, dann lenkt er als Kommissar den Verdacht auf ihn und bringt ihn hinter Schloß und Riegel – die Frau konnte er ruhig verhaften und verhören, sie hatte ihn ja nur einmal flüchtig gesehen, außerdem wußte er von Paris her, wo er ihr die verräterischen Briefe Janes gestohlen hatte, daß sie ihn nicht erkannte; wahrscheinlich hätte Ora Lee nur eine ganz geringfügige Strafe bekommen, nach ihrer Freilassung hätte er sich ihr dann unter der Maske des Helfers und Anteilnehmenden genähert – und wäre vielleicht tatsächlich auf diese Weise am sichersten zum Ziel gekommen.«

»Ah, jetzt verstehe ich auch verschiedene Kleinigkeiten, die mir auffielen«, erinnert sich Holl, »zum Beispiel, daß er bei der Vernehmung der Lee eine Zigarette rauchte – sicher wußte er, daß sie von der Eigenart Palls, niemals zu rauchen, gehört hatte; und jetzt kann ich mir auch sein merkwürdiges Verhalten bei dem Sturm auf das Haus in Hamburg erklären – so erregt habe ich ihn niemals zuvor gesehen!«

»Jaha«, lacht der Doktor, »damals waren nämlich seine beiden Opfer drauf und dran, mitsamt der Beute zu entkommen – er hat sie natürlich bald in London aufgespürt und Jane überfallen; das ist ihm ja, wie Sie wissen, nicht ganz gelungen.«

Sie durchsuchen jetzt den Keller.

Auf den schwankenden, morschen Dielen wecken ihre Schritte tönendes, knisterndes Echo, immer beizender und beklemmender wird der modrige Qualm, er steigt empor wie eine geheimnisvolle, erstickende Wolke, es ist kaum noch möglich zu atmen.

Plötzlich bleibt der Doktor auf dem Fleck stehen und holt tief Luft – er macht eine Bewegung, halt! ruhig!

Es ist so still, man hört die Ratten raschelnd hin und her laufen, ihre Füße trappeln und schleifen überall. Die Lampe brennt einen kleinen runden gelben Kreis in das aufgerissene Holz der Dielen, ein Stück Treppe wird sichtbar, anscheinend liegen hier zwei Keller übereinander.

Tiefer wandert die Lampe, tiefer hinunter, dort wo ein Schrank zur Seite gestürzt ist.

In dem Lichtkreis dort liegt etwas, der Schatten der Hand des Kommissars fährt schon darüber hin – es ist ein kleiner, plattgedrückter Ring, irgendein schweres Gewicht hat ihn zerbrochen, jemand muß ihn hier verloren haben, vielleicht in dem Moment, als das schwere Gewicht die Hand, an der der Besitzer diesen Ring trug, zerschmetterte.

Auf der einen Hälfte des Siegelringes steht ein feines Monogramm, das im Licht deutlich lesbar ist:

WILBOURN MORRIS

Es ist der Siegelring der Familie Morris.

»Jetzt gibt es für mich kein Rätsel mehr«, sagt der Kommissar nach langem Schweigen, »hier in der Nähe ist vor einem halben Jahr ein Mord geschehen, hier hat Pall den wirklichen Kommissar Morris ermordet!«

Ohne sich nach seinem Begleiter umzusehen, tappt der Doktor in den zweiten Keller hinunter, der Assistent windet sich schnell zwischen Schrank und Mauer hindurch, so schnell, daß er sich den Handrücken aufreißt. Er wickelt ein Tuch um den Riß und geht hinter dem andern her durch das kühle Kellergewölbe hindurch. Je weiter sie gehen, desto kühler wird es, eigentümlich süßlich riecht es.

Das Grundwasser steht in Lachen am Boden.

Dr. Voß sieht plötzlich seinen Assistenten an – mit seltsamen Augen, der junge Mann bemerkt jetzt die Veränderung, die mit dem Doktor vor sich geht, er erschrickt.

»Was denn, was ist denn?« fragt er gepreßt. Ein nicht niederzuzwingendes Furchtgefühl hat ihn gepackt, er bildet sich ein, in die Augen Palls zu sehen oder in die Morris' – alle Gedanken verwirren sich in seinem Hirn in der grauenhaften Stille des Kellergewölbes.

Der Doktor kneift die Mundwinkel ein.

Er antwortet nicht.

Er geht hin und her und beklopft mit ganz schnellen aufhallenden Schlägen den Steinboden, die Wände, die Decke. Dann verschwindet er um eine Biegung des Ganges, nur der Schein der Lampe flimmert, die er auf die Erde gelegt hat.

»Hallo – hallo!« hört der Assistent etwas später die ganz entstellte Stimme seines Vorgesetzten.

Er weiß zuerst nicht, ob er dem Befehl folgen oder ob er versuchen soll, zu flüchten. Die Nervenprobe ist zu unerträglich, er ist ja erst ein junger Anfänger, der noch nicht durch die hundert Schreckenskammern des Begriffes »Mord« gegangen ist.

»Hallo – hallo, hierher!«

Er läuft mit zitternden Gliedern um die Biegung zu dem fernen Punkt, der am Ende der Kellertreppe glühend lauert, wie einer, dem man das Sprungtuch hinhält: Spring ins Nichts!

Der Kommissar hockt schweißbedeckt auf dem Boden und stemmt Bretter hoch. »Das Süßliche hier in der Luft ist nämlich bestimmt Verwesung!« sagt er rücksichtslos, vollkommen auf seine Pflicht konzentriert. Anscheinend fühlt er gar nichts von den Schrecken dieser Kellergruft, er bricht und tritt auf das krachende modernde Holz.

Und plötzlich hebt er eine längliche Vertiefung aus. Sie finden die durch den mineralienhaltigen Erdboden des Kellers noch gut erhaltene Leiche des ermordeten Kommissars Edgar Morris, seinerzeitigen Leiters der Mord-Abteilung in Scotland Yard, eines der vielen Opfer, die das Gesetz im Kampf gegen das Verbrechen bringen muß.

Endlich deckt der Doktor die aufgebrochenen Bretter wieder sorgfältig über die Gruft, er verwischt jede Spur, die sie verraten könnte.

»Was geschieht jetzt?« fragt Holl fiebrig vor Erregung.

Dr. Voß sieht auf seine Uhr, sie zeigt gegen drei.

»Wir werden uns jetzt ein geeignetes Versteck aussuchen und auf Pall und Brown warten – gegen sechs wird ja Brown kommen, sei es mit einem Scheck, auf den Pall wirklich Geld erhält – wahrscheinlich wohl mit einem, bei dessen Einlösung der Überbringer eine kleine Überraschung erleben dürfte, denn Brown ist ja auch nicht von gestern; kommen wird er wohl, denn er wird Pall gern überführen wollen, er hat ihm genug geschadet!«

Sie verstecken sich im Erdgeschoß, in der Nähe der Eingangstür; vorher hat sich der Kommissar noch einmal vergewissert, daß noch niemand außer ihnen im Hause ist.

Aus weiter Ferne dringen die Geräusche der erwachenden Stadt heran.

»Ob Brown der Hehler Palls ist?« überlegt Holl; es hängt so viel davon für ihn ab, wenn Brown unschuldig ist, dann sind vermutlich auch alle seine Verdachtsmomente gegen die Sekretärin hinfällig – wo mag sie jetzt sein, die kleine süße Eddie Marchaud? Der Doktor setzt sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, wie ein Türke.

»Ich glaube fast, daß Brown gar nichts mit all diesen scheußlichen Dingen hier zu tun hat, er hat ganz einfach Pech mit seiner Madonna. Übrigens wird zurzeit bereits das Gepäck auf allen Londoner Bahnstationen nach dem Madonnenbild abgesucht, denn ich glaube bestimmt, daß Pall dir den Koffer gestohlen hat, mein Sohn, er und kein anderer – wer wußte sonst von dem Transport außer uns – niemand, da hast du ganz recht vermutet, man soll sich niemals von den Sachverständigen ins Bockshorn jagen lassen, sie wissen immer alles besser!« Er macht ein ingrimmiges Gesicht, über das Holl lächeln muß; der Doktor schimpft seit jeher auf die Sachverständigen, trotzdem er weiß, daß ohne ihre Mitarbeit die Polizei hilflos wäre – aber er schimpft auf sie wie ein Rohrspatz; was ihn wiederum nicht hindert, daß Phil Nicholas, der berühmteste aller englischen Sachverständigen, sein bester Freund ist, mit dem er über jeden Fall korrespondiert.

»Dann hätte Pall absichtlich auf Brown Verdachtsmomente gehäuft, um auf diese bequeme Weise von sich abzulenken?« fragt er nachdenklich. Dr. Voß nickt. »Sicherlich. An und für sich war der Kunsthändler durch sein nervöses, oft rätselhaftes, aber schließlich durchaus erklärliches Verhalten den Behörden von vornherein verdächtig. Um diesen Verdacht noch mehr zu erhöhen, traue ich nach allem, was wir bis jetzt festgestellt haben, Pall durchaus zu, daß er skrupellos genug war, um nur zu eben diesem infamen Zweck das Leben vieler Menschen zu gefährden – damals, als er das Hausboot in Brand steckte – nur um seine eigenen Machinationen noch mehr zu verschleiern, war er bereit, an die hundert Menschenleben zu vernichten! Und grade damals hatte ich so was wie einen ganz leisen Verdacht gegen ihn, den ich allerdings bald wieder verwarf – ich besuchte ihn nämlich in der Nacht nach dem Brand in seinem Hotel, um ihn gleich aus erster Quelle über alles zu unterrichten – er kam erst nach mir nach Haus und hatte merkwürdigerweise verbundene Hände. Er sagte mir, er hätte sie sich bei einer Autoreparatur verletzt, zerschnitten! Da ich aber schon gewohnheitsmäßig nachspüre, fand ich im Papierkorb Reste von Brandpflaster, das er achtlos weggeworfen hatte – damals wunderte ich mich ein bißchen über diesen Widerspruch, warum belog mich mein eigener Kollege – na, heute kann ich mir das alles erklären!«

»Glauben Sie denn bestimmt«, fragt Holl nach einer Pause leise, »daß wir ihn hier fassen werden? Wenn er doch etwas gemerkt hat, wenn er nicht kommt?«

»Aber Brown kommt!« widerspricht der Doktor überzeugt. »Es ist eigentümlich, diese Leute scheuen die Hilfe der Polizei wie's Feuer und rennen lieber blind in ihr Verderben – und weil Brown sich hier einfinden wird, bekommen wir auch den andern zu sehen. Denn es ist doch eine hübsche Summe, um die es geht!«

Er schmunzelt.

»Aber wenn Brown aus irgendeinem Grunde nicht kommen kann oder will – wenn er Angst bekommt?« grübelt der Assistent hartnäckig. Er muß wieder an Eddie Marchaud denken.

»Er wird kommen!« sagt der Doktor noch einmal. »Auf jeden Fall werden wir hier bis ein Viertel sieben warten – dann allerdings hätten Sie recht gehabt!«

»Und was wäre dann das Zweckmäßigste?« fragt Holl. Er setzt selbst die Antwort hinzu: »Vielleicht ins Hotel zurück und Brown aufsuchen?«

»Sicher«, nickt sein Chef, »aber dann werden wir uns ziemlich beeilen müssen, glaube ich!«

Die Uhr zeigt gegen vier, langsam wandern die Zeiger.

Durch die Rolläden blinzelt der Morgen des 23. Oktober

*

Kurz vor sechs Uhr läutet Brown nach seiner Sekretärin. Als Fräulein Marchaud das Appartement ihres Chefs betritt, winkt er sie hastig zu sich heran, er sitzt vollkommen angekleidet hinter seinem Schreibtisch, auf der Tischplatte liegt eine dunkelglänzende amerikanische Schnelladepistole.

»Sie wissen, Fräulein Marchaud, was heute für ein Tag ist, es ist der 23. Oktober, für 6 Uhr ist ein Attentat auf mich geplant. Nun – ich bitte Sie, bei mir zu bleiben, ich habe begreiflicherweise keine große Lust, allein zu sein; ich werde heute den ganzen Tag über keinen Schritt vor die Tür setzen, ich verlasse diese Räume überhaupt nicht. Morgen reisen wir unbemerkt nach New York zurück – ich habe mich so sehr an Sie gewöhnt, daß ich Sie mit mir nehmen möchte, Sie sollen die Aufsicht über mein New Yorker Stadtbüro übernehmen – haben Sie Lust? Es ist eine glänzende Position, ich zahle Ihnen hundert Dollar die Woche, abgemacht?«

Sie zögert.

»Nanu – ist Ihnen das Gehalt zu niedrig, schön, Sie haben so viel mit mir durchgemacht, ich bin bereit, Ihnen schon jetzt 25 Dollar wöchentlich zuzulegen – davon können Sie sich bequem ein eigenes Auto halten, Fräulein Marchaud, und eine elegante Wohnung – im übrigen stehen Ihnen natürlich meine Wagen und meine Villa am Hudsonriver jederzeit offen!« Sie lächelt versonnen.

Trotz dieser verlockenden Angebote denkt sie an einen jungen Polizeibeamten, an einen gewissen Herrn Holl – ein lieber Junge, was mag er um diese Zeit machen?

Es läutet.

Sie nimmt das Telefon ab, der Portier meldet, unten sei ein Herr Kommissar Morris, er müßte sofort Herrn Brown persönlich sprechen – ob er hinaufkommen dürfte?

»Morris?« überlegt Brown – »warten Sie mal, ist das nicht einer von den Kommissaren, die mich damals in Berlin im Sanatorium aufgesucht haben, lassen Sie ihn ruhig herauf!«

Als Kommissar Morris eintritt, zeigt die kleine Konsoluhr gerade zwölf Minuten nach sechs.

Va banque!

Er geht langsam auf Brown zu, die Sekretärin begrüßt er mit einem verbindlichen Kopfnicken. »Wozu machen Sie solche Scherze, Herr Brown«, fragt er lächelnd und steckt den Revolver ein, den er vom Tisch nimmt, »mit solchen Dingern können Sie doch nicht umgehen!«

»Ach Gott«, meint der Kunsthändler etwas verlegen, »man schützt sich wie man kann, Herr Kommissar.«

Er ist innerlich ganz zufrieden, daß er nun doch polizeilichen Schutz bei sich hat. »Nein, nein, Herr Brown, das ist nicht das Richtige für Sie«, entgegnet der vermeintliche Kommissar beharrlich, »für Sie nicht – sehen Sie mal – in meiner Hand macht sich das viel hübscher!«

Er hält dem verdutzten Mann den Revolver plötzlich vors Gesicht: »Geben Sie mir schnell den Scheck, Sie wissen schon – schnell – und verhalten Sie sich ruhig – halt, mein kleines Fräulein, wohin wollen Sie denn?« Er springt auf und rennt hinter der Sekretärin her, die zum Fenster stürzt und es aufreißt. Er rutscht während des Laufes aus, so daß er vorwärtstaumelnd seine nervige Hand mit voller Gewalt in die Kehle des tapferen Mädchens schlägt. Unter dem furchtbaren Würgegriff knickt sie mit einem ächzenden Wehlaut zusammen, Brown springt aschfahl hoch, seine Hände zittern, ein heftiger Nervenkrampf befällt ihn, er ist wie gelähmt. Schon röchelt die Sekretärin schwer auf.

*

Doch in diesem Augenblick wird die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen, der erste, der hereinstürzt, ist der Assistent, er fällt den falschen Kommissar an wie ein Jagdhund ein gestelltes Wild. Pall-Morris blickt wild um sich, seine Hand läßt den Hals des Opfers los, er muß seinen Griff lockern, um sich des neuen Angreifers zu erwehren – aber es ist zu spät.

Der letzte große Coup des Verbrechers Pall ist mißglückt. Er stößt den Assistenten heftig vor die Brust und versucht, ins Treppenhaus zu entkommen, aber inzwischen haben Beamte alle Etagen besetzt.

»Ergeben Sie sich, Pall«, ruft der Doktor, der mit entsicherter Waffe auf ihn zukommt. Pall lacht höhnisch auf. »Guten Tag, Herr Kollege!« ruft er heiser, im selben Augenblick schießt er auf den Herankommenden; die Hand mag in der Erregung gezittert haben, die Kugel schlägt krachend in das Bronzeblech eines Treppenleuchters, mit zwei Riesensprüngen ist Dr. Voß heran. »Halt, Verflu..., jetzt wirst du nicht noch einmal schießen!« Der Gestellte weicht zurück bis an das äußerste Ende des Treppenabsatzes, er steht jetzt am Geländer, keine Möglichkeit mehr, zu entkommen!

Da springt der Verbrecher in einem verzweifelten Entschluß über das Geländer, mit beiden Händen stützt er sich fest auf, dann gibt er sich einen wahnwitzigen Schwung – sein Körper wirbelt quer durch den zwei Stockwerke tiefen Schacht hinunter, schlägt ein-, zweimal heftig gegen die Gitter des Fahrstuhls, vergeblich greifen die zuckenden Hände nach einem Halt.

Dann stürzt er mit einem dumpfen, furchtbaren Knall auf die Marmorquadern des Erdgeschosses nieder, sein Kopf wird mit aller Gewalt gegen eine riesige chinesische Prunkvase geschleudert, die polternd zerbirst – zwischen fein gepinselten Zweigen und zierlichen chinesischen Tanzabbildungen blicken noch die Augen des Zerschmetterten, bis sie in letzter Starre brechen.

*

Von allen Treppenabsätzen sehen entsetzte Gesichter herab, alles ist so schnell und unerwartet gekommen, daß es wie eine hypnotische Lähmung über allen, die dabei waren, liegt.

Im zweiten Stock lehnt Eddie Marchaud an Holls Schulter, an ihrem Hals sind noch die roten Streifen des Würgemals sichtbar.

Browns Stimme lärmt hinter ihnen auf. »Hallo, kommen Sie schleunigst, Fräulein Marchaud – nicht eine halbe Stunde bleiben wir in diesem verd... Europa, kommen Sie, worauf warten Sie?« Sie blickt hilfesuchend zu Holl auf – der Doktor in ihrer Nähe lächelt ihr wohlwollend zu; er hat soeben die Nachricht erhalten, daß Ora Lee und Jane doch noch den Hafenbehörden entschlüpft sind – er kann es sich leisten, ihnen ein neues Leben in Südamerika zu gönnen, denn inzwischen hat man in der Gepäckabgabe der Victoria Station die Cowper-Madonna und den unechten Rembrandt gefunden, Pall hatte bereits alles zur Flucht vorbereitet.

Nur eben der letzte, ganz große Coup, mit dem er noch Browns Geld und mit einem Schlag auch die Frau, Ora Lee, die die große Passion seines Lebens bedeuten mochte, erringen wollte – dieser Coup hatte ihn selbst vernichtet. Und es ist seltsam, immer ist es dieser letzte, dieser Endschlag, der den meisten Verbrechern zum Verhängnis wird, unzählige Beispiele hat die Geschichte der Kriminalistik dafür.

»Kommen Sie, wir wollen keine Zeit verlieren!« mahnt ihr Chef noch einmal. Die kleine Sekretärin scheint erst jetzt zu bemerken, daß sie sich auf Holl stützt, mit einer zaghaften Bewegung tritt sie etwas zurück: »Ich hätte noch einige Kleinigkeiten zu erledigen, Herr Brown – ich müßte – könnte ich noch auf einige Tage nach Paris fahren – vielleicht kann ich dann nachkommen?« Sie bemüht sich krampfhaft, an Holl vorbeizublicken, der junge Mann steht immer noch auf demselben Fleck und starrt düster in das Treppenhaus hinunter.

»Was – wozu?« poltert der Kunsthändler unzufrieden. Er beißt sich auf die Lippen und denkt nach. »Wenn Sie durchaus noch einmal nach Paris fahren wollen, Fräulein Marchaud, fahren Sie – aber ohne mich! Ich gehe sofort an Bord, ich erwarte Sie auf dem Dampfer. Sie können in drei Tagen in Cherbourg einsteigen. Soviel ich erfahren habe, legt er noch einmal an der französischen Küste an. Sie sind Sonnabendnachmittag in Cherbourg? Allright?!« Er nickt ihr freundlich zu und geht schnell in sein Zimmer zurück, man kann noch eine Zeitlang die beschwörende Stimme des Hoteldirektors hören, der Brown zu bewegen versucht, nicht so überstürzt abzureisen – der Eindruck in der Öffentlichkeit – der Ruf des Hotels, überhaupt ein noch nie dagewesener Vorfall!

Al Brown ist nicht zu beruhigen, er begibt sich an Bord.

Dr. Voß und sein Assistent beschließen, Fräulein Marchaud bis nach Calais zu begleiten, es ist zwar ein kleiner Umweg für sie, aber die junge Dame ist noch zu verstört, man kann sie unmöglich die ganze Reise allein machen lassen.

*

Die Häusermassen Londons fallen zurück, der Zug fährt Dover entgegen. Die kleine Reisegesellschaft, die sich in einem reservierten Abteil befindet, ist recht einsilbig, niemand verspürt große Lust zu langen Debatten. Eddie Marchaud scheint von den Aufregungen der letzten Zeit stark mitgenommen, sie kauert wie ein verängstigtes Kind in ihrer Ecke, Holl versucht mehrere Male ein Gespräch mit ihr zu beginnen, aber, hol's der Teufel, er findet nicht die rechten Worte. Der Doktor hat die letzten Zeitungsausgaben eingehend gelesen, jetzt faltet er den Packen Blätter befriedigt zusammen. »Das war wieder mal ein Stück Arbeit!« meint er behaglich zu seinem Assistenten hinüber.

Holl nickt grüblerisch.

»Wenn man bedenkt«, fährt der Kommissar fort, »wie uns dieser Kerl, der Pall-Morris, getäuscht hat – man kann's ja ruhig zugeben, eine Zeitlang sind wir alle auf ihn reingefallen – wie er das alles ausgeklügelt und berechnet hat, wie das alles arrangiert war bis ins kleinste – es ist erstaunlich!«

»Sicherlich einer der größten und gerissensten Verbrecher der letzten Jahre«, bemerkt Holl, »ein gefährlicher Bursche!«

Die kleine Französin neben ihm zuckt nervös zusammen, noch die Erinnerung erfüllt sie mit Schrecken.

»Schade um solche Menschen«, sagt der Kommissar nachdenklich, »sie sind in mehr als einer Hinsicht beachtenswert, sie sind genial, sie könnten ein durchaus nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein – wenn sie nicht aus irgendeinem unerklärlichen Zwang heraus ihre Naturgaben gegen die anderen verwenden und zu Schädlingen würden.« Es ist eins der Lieblingsthemen des Doktors. Seit er Kriminalist ist, hat er über die rätselvollen Beziehungen zwischen Genie und Verbrechen nachgedacht, er fühlt innerlich mehr mit denen, die er verfolgen muß, als man es von einem »Verbrecherschreck« gemeinhin anzunehmen gewohnt ist.

»Was nützt alle Genialität und aller Scheinerfolg«, meint Holl lebhaft, »wenn dann das Ende so ist, wie Palls zum Beispiel?«

Niemand antwortet.

Der Doktor blickt hinaus, die Konturen von Feld und Wald jagen dunstig vorüber, Fräulein Marchaud sucht hastig etwas in ihrem Handtäschchen – nur nicht mehr erinnern an diese Dinge! Allen ist, als sähen sie noch einmal das verfallene Gesicht Palls unten auf den Marmorquadern der Hotelhalle. Dr. Voß wirft dem jungen Mann einen verstohlenen Blick zu und deutet auf Eddie, die vor Erregung blaß geworden ist; man darf vor ihr nicht mehr über die trübe Vergangenheit sprechen. »Mir tun die anderen beiden leid«, sagt er, um abzulenken, »hoffentlich gelingt ihnen ihr guter Vorsatz – schließlich haben wir kein zwingendes Interesse, zwei Menschen, die durch unglückliche Umstände auf die schiefe Bahn geraten sind, den letzten Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, zu vereiteln.«

»Ich verstehe die Frau nicht!« widerspricht Holl mit aller Unbekümmertheit der Jugend. »Warum läßt sich eine Ora Lee auf solche Geschichten ein?«

»Aber ich verstehe sie sehr gut und hoffe, daß sie noch einmal recht viel Glück im Leben hat«, läßt sich plötzlich die kleine Marchaud vernehmen. »Eine Frau, die liebt, wirklich liebt, kennt keine Hindernisse und Gefahren, sie tut alles für den einen Mann eben, zu dem sie sich gehörig fühlt, und – –!« Sie bricht mitten im Satz ab, denn ein belustigter Blick des Doktors hat sie getroffen, sie wird verlegen und weicht ihm aus.

»Kinder«, sagt Dr. Voß sehr gemütlich zu Holl und dem verwirrten Fräulein Marchaud, »ich glaube, ich gehe jetzt mal ein wenig hinaus, eine Zigarre rauchen – hm, hier ist ja Nichtraucher!« Ohne sich um die sehr matten Proteste der beiden jungen Leute zu kümmern, verläßt er das Abteil.

»Wir sind jetzt bald in Dover!« beginnt die kleine Marchaud endlich und sieht aus dem Fenster.

»Sie wollen – du willst ja ohnehin nach Amerika, es kann dir doch nur lieb sein, je eher die Reise zu Ende ist«, sagt Holl anzüglich.

Sie blinzelt ihn an: »Allerdings werde ich mit Brown nach Amerika fahren!«

»Eigentlich weiß ich nicht, warum?« brummt er gereizt.

»Nun, wenn mich niemand einlädt, hierzubleiben?« Sie macht jetzt die Augen ganz zu – bis auf einen schmalen, winzigen Schlitz jedenfalls.

»Sicherlich wird sich jemand finden!« antwortet er überzeugt; um keinen Preis vermag er ihr jetzt zu sagen, was er ihr sagen will. Er räuspert sich verlegen.

Wenn der Zug sich Dover nähert, klagen die Reisenden oft darüber, daß sie in den langen Tunnels fürchterlich durcheinandergeschüttelt werden – die kleine Eddie lehnt auf einmal an dem jungen Mann; das sind die Tunnels!

»Ich finde es in Europa auch ganz schön, Fred«, flüstert sie.

»Ah, findest du – dann bleibe doch hier – wir könnten ja versuchen – ich wollte dich schon lange fragen, Eddie –?«

»Ja, ja!« lacht sie glücklich. Ihr verführerischer Mund nähert sich gefährlich dem seinen.

Der Zug braust wieder durch einen langen, langen Tunnel. In der ungewissen Helle des Tages erscheint der Doktor, er ist äußerst überrascht. Aber er schmunzelt doch ein bißchen:

»Na also, Kinder – ich gratuliere!«

 

*

 


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