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Das Haus, in dem sie wohnten, lag ganz weit draußen, über die Wien-Brücke hinüber und dann den Heumarkt entlang. Es war eine stille Gegend, die sich nach und nach aus dem regen Treiben der Großstadt gesondert und geschieden hatte. Darüber lag es damals wie ein Hauch von Müdigkeit. Das Leben hatte ernste Züge dort, und das Ganze war wie ein absterbender Teil am lebenden Körper der Stadt, ein Teil, durch den nur sickernd leise das Blut noch floß.

Da wohnten sie; in einer engen Gasse, deren alte Häuser helle, verblaßte Farben hatten, wie Seidenstoffe alter Möbel, die die Sonne bleichte und die Zeit. Das breite, doppelflügelige Haustor ging es hinein, dann hinweg unter dem hohen, angeräucherten Schwibbogen der Einfahrt und über den stillen großen Hof, in dem die beiden alten Kastanienbäume standen. Und weiter die zweite Stiege hinauf, vier Treppen hoch.

Hier also hatten der Postkassensekretär Tobias Bang und seine Frau Marie ihren Haushalt aufgeschlagen, einen gar bescheidenen kleinen Haushalt, in dem alles ruhig dahinlief ohne Hast und lärmende Erregung, gleichwie als hätte das alte Haus auch diese Leutchen in seinen ernsten Bann genommen.

Als junger Adjunkt hatte Tobias Bang Marien auf einer Landpartie kennen gelernt, die sie mit ihrer Mutter machte, und sich in sie verliebt. Geld hatte keins von ihnen, aber lieb hatten sich die beiden jungen Menschen – sehr lieb. So wollten sie denn aufeinander warten, bis sie sich heiraten könnten. Sie sehnten sich nach diesem Ziele, mit vollem Herzen, und wenn sie Sonntags miteinander im Wienerwald gewesen waren oder hoch oben auf dem höchsten Range des alten Burgtheaters, und wenn sie dann vor ihrer Tür Abschied nahmen, dann stand neben der Sehnsucht auch der Trost in ihren Augen: bald wird es sein, daß wir uns nicht mehr trennen müssen.

So vergingen Jahre; aber es war, als ob das Ziel sich mit der Zeit verrückte, denn es blieb immer noch in gleicher Ferne. Nur eins hatte sich gemach geändert: die Kraft, mit der sie nach ihm strebten. Erst hatten sie stets davon gesprochen, sie hatten Pläne entworfen, wie sie die Zimmer einrichten wollten und wie sie die Ausgaben einteilen würden. Und immer wieder hatten sie es sich dabei gesagt, wie glücklich sie sein wollten, trotz der bescheidenen Enge.

Dann waren sie stiller geworden und klüger. Da waren Bedenken vor ihnen erstanden, an die sie früher gar nicht gedacht hatten, sie hatten immer mehr gefunden, was sie brauchten, um zusammen leben zu können und auszukommen, und so kam es, daß das Ziel zu weichen schien. Doch sie ließen nicht nach, sie strebten zueinander, jetzt bedächtig und überlegend.

Zu einer wirklichen Verlobung mit all der Form von Festlichkeit und Freude war es eigentlich nie gekommen. Aber sie wußten, daß sie einander angehörten, und sie warteten. Freud und Leid trugen sie zusammen, wohl ein Jahrzehnt. Und auch Mariens Mutter trugen sie in dieser Zeit gemeinsam zur letzten Ruhe. Als ihm dann endlich sein Gehalt erlaubte, sie zu heiraten, da war Marie nahe an den dreißig, und sie hatten beide die großen Leidenschaften hinter sich gelassen. Sie nahmen nun das Langersehnte wie einen selbstverständlichen und wohlverdienten Lohn – weil's ja so ausgemacht war und weil's ja gar nicht anders sein konnte. Die leuchtenden Farben aber, mit denen sie sich einst die junge Ehe ausgemalt hatten, die waren abgeblaßt. Nicht, daß sie fühlten, wie sie sich früher anders geliebt hatten: sie lebten gut miteinander, beinahe glücklich. In jenem Frieden lebten sie, der wie der Nachglanz eines dahingegangenen Glückes ist, der sich bescheidet mit kleinen Freuden, und der mehr zage ist bei dem Gedanken an ein Schlimmerwerden als sehnsuchtsvoll nach einer Besserung.

Nur sie – sie ahnte es manchmal, daß es ein anderes Ziel gewesen, nach dem sie ausgezogen waren. Dann kam es über sie wie ein Suchen nach etwas Verlorenem – sie wußte nicht wonach. Gleichwie als müßten sie sich auf den Inhalt eines fernen Traumes besinnen, war es ihr dann; eines Traumes, von dem ihr nur ein Ahnen geblieben war, aber kein Erinnern. Aber das alles war unklar in ihr, und sie hing ihm nicht nach. Das Leben forderte sein Recht, die Alltagspflichten zogen sie an sich.

Tobias Bangs stete und zähe Sorge war es in der ersten Zeit immer gewesen, daß ein Kind kommen könnte. Er, der soviel gestrebt hatte, um sich sein kleines Heim zu schaffen, hütete nun beinahe ängstlich dessen Ruhe. Ihm war so wohl, daß er es nun zu einem Plätzchen gebracht hatte im Leben, wo er zufrieden seine schmale Freiheit genießen konnte, und er fürchtete das Geschrei des Kindes, die neuen Sorgen und Pflichten.

Dann aber war das Kind gekommen, und sie fanden sich beide darein und waren sogar recht herzlich froh darüber; namentlich die Marie, die bisher immer so allein gewesen den ganzen Tag, während ihr Mann im Amte war.

Es war ein Junge, ein schwächliches, blasses Kind, das nicht so recht gedeihen wollte, dessen kränklich kleiner Körper die Eltern in steter Sorge hielt und ihnen damit an die Seele wuchs. Es war ein stilles Kind, das wenig schrie, ein Kind, das manchmal dalag mit gar seltsam alten, sorgenvollen Zügen um den Mund und die großen, furchtsam ins Leben schauenden Augen. Und das Kind paßte so recht in dieses alte stille Haus und in die beiden peinlich reinen Zimmer da oben im vierten Stock, zwischen die glatt polierten, altmodischen Möbel, von denen ein mattes Duften ging wie von getrocknetem Lavendel.

Hier wuchs der kleine Georg heran, ganz ohne Anschluß an andere Kinder, allein die Eltern als Gefährten, und, da die Mutter fleißig in der Küche und in dem kleinen Haushalt schuf, meist auf sich selbst gewiesen in seinem Spielen. Er baute hohe und weite Schlösser, Häuser und Burgen aus hölzernen Bausteinen auf, und wenn sie einstürzten, dann baute er sie wieder und wieder – bis er müde war und das aufgab. Er erzählte sich selbst, im Tone, wie wenn er zu anderen spräche, die Märchen, die ihm die Mutter schon so oft erzählt und vorgelesen hatte, oder er kommandierte seine abgenutzten Bleisoldaten, von denen der blaue Lack längst abgesprungen war, und ließ sie auf dem Tische aufmarschieren in langen Kolonnen. Manchmal führte er auch Gefechte und Schlachten mit ihnen auf und schoß nach ihnen mit Tonkugeln und Dominosteinen.

Oft auch mußte ihm die Mutter die alten schwarzen Stahlstiche erklären, die in den schmalen Goldleistenrahmen an den Wänden hingen. Historische Bilder in der nüchtern heroischen Auffassung der frühen Romantik, die Figuren wie erstarrt in weiten, theatralischen Gebärden. »Maria Stuart auf dem Schafott«, »Heinrich VIII., der Katharina Howard verstößt« und »Der Tod des Sängers Rizzio«.

Oder er kniete auf dem harten Lederstuhle vor dem Fenster, drückte die Nase platt gegen die Scheiben und sah hinüber nach dem Dach des Vorderhauses, in dessen Rinne die Tauben gurrend hintereinander herliefen, oder hinunter in die breiten Kronen der beiden Kastanienbäume im Hofe. Das war die Welt seiner ersten Kindheit. –

Und dann starb der Vater.

Plötzlich kam er eines Vormittags aus dem Bureau nach Hause – außer der gewohnten Zeit, so daß die Mutter heftig erschrak – und klagte über Stechen in der Brust und über Hitze.

Georg saß dann neben seines Vaters Bett und spielte. Er war still, und seine Bewegungen waren behutsam und leise. Manchmal schielte er hinüber nach dem Kranken; der hatte ein ganz heißes, rotes Gesicht und atmete schwer. Die Mutter hatte ein Glas mit Limonade auf das Nachttischchen neben dem Bett gestellt, von der trank er gierig.

Mittags kam der Arzt, und abends kam er noch einmal. Aber das half nichts. Das Fieber wurde immer ärger, das Phantasieren immer dringender. Und da war es, als ob in diesen schweren Stunden tief in der Seele von Tobias Bang vergangene Zeiten erwacht wären, und gleich als ob der Inhalt entschwundener Bilder ihn wiederum mit starker Kraft ergriffen hielte, so sprach der Kranke in Blicken und in Worten zu seiner Frau. Ein Sehnen lag in seinen fieberheißen Zügen und eine Fülle tiefer Zärtlichkeit, wie schon seit Jahren nicht. Die kleinen Alltagssorgen, die ihn sonst erfüllten, waren von ihm gefallen, wie befreit war sein ganzes Wesen. Marie aber hielt seine unruhvollen Hände und dachte jener Zeiten, da er vor ihrer Tür Abschied genommen – damals, als ihre Liebe in so heller Blüte stand. So hatten seine Augen sie auch in jenen Tagen angesehen. Ihr war es einen Augenblick, als wären Jahre in ein Nichts entschwunden, als hätte sich erfüllt und erschlossen, was sie einstens geträumt hatten und was dann ihrem Leben entrückt gewesen war. Tränen standen in ihren Augen, und doch hielt sie bei allem Schmerz des Augenblickes ein tiefes Glücksgefühl ergriffen. Ganz versunken saß sie am Bette des Kranken in stiller, wortloser Zwiesprache mit seiner Seele – bis ein leises Zerren an ihrem Kleide sie wieder zu sich selber brachte. Der kleine Georg schmiegte sich an sie.

Zwei Tage nur währte Tobias Bangs Leiden, dann schlief er still hinüber in die Ewigkeit.

Nun folgten tränenvolle, schmerzerfüllte Tage für Marie Bang und ihren kleinen Buben. Und gerade diese schwere Zeit prägte sich dem Knaben mit Schärfe ein, daß er sich später oft selbst darüber wunderte, wie er das alles, was an Vorgängen in diesen Tagen sich ereignete, bis in das Kleinste behalten hatte. Wie er sich jedes Kranzes erinnerte, der da gekommen war, wie er noch genau wußte, welches Kleid die Mutter getragen hatte, und wie er sich noch so klar auf das Gesicht des Vaters entsann, das so spitzig, kalt und gelb auf den weißen Kissen geruht hatte, ganz anders, als es im Leben gewesen war.

Anfangs war die Mutter ziemlich erschöpft und ratlos gewesen. Sie weinte viel und wußte nicht, was beginnen. Kam der kleine Georg zu ihr, um sie mit seinen zagen Kinderworten zu trösten, oder sah er sie auch nur still und bittend mit den großen, ängstlichen Augen an, so küßte sie ihn unter immer neuen Tränen. »Mein armer, armer Bub!« sagte sie dann. »Wie soll's nur werden mit uns beiden – was können wir nur auf der Welt beginnen –?« Dann aber, als der Tote aus dem Hause und in der Erde war – da draußen auf dem stillen Friedhofe in Nußdorf, wo der Verstorbene noch von seinen Eltern her ein eigenes Grab besessen hatte – als ein Tag wieder gleich dem anderen verging, als die Bedürfnisse des Lebens nach Erfüllung riefen und die Gewohnheit jene Lücke allmählich überwuchs, die der Tote hinter sich gelassen hatte, da fand auch Frau Marie Bang ganz nach und nach sich selber wieder.

Geleitet von der Sorge um ihres Kindes und um ihre Zukunft, schritt sie, von deren Zügen in diesen schweren Tagen der Rest von Jugend abgefallen war, ins Leben wieder ein. Erst wollte sie die Wohnung kündigen und eine neue, kleinere suchen. Die spärliche Pension reichte dann wohl zusammen mit dem wenigen, was sie von ihrer Mutter noch besaß und was sie sonst durch Sticken feiner Wäsche verdienen konnte, zu einem stillen, anspruchslosen Dasein aus. Dann aber, wie sie durch die beiden Zimmer und die kleine Küche ging, wie sie hinuntersah auf den weiten Hof, aus dem die beiden alten Bäume ihr ihren vollen Blütenschmuck von tausend rosarot geflammten Kerzen entgegenstreckten, da war es ihr, als sollte sie mit ihrem Kinde nun ganz entwurzelt werden, wenn sie von hier schiede. Wie ein Stück Heimat schien ihr dieses alte, stille Haus, wie eine Zuflucht vor dem Treiben draußen, in dem sie niemand wußte, der ihr nahegestanden hätte.

So beschloß sie zu bleiben und das eine Zimmer zu vermieten. Der Mieter brachte ihr dann wohl soviel, daß sie den Zins bezahlen konnte. Nun wurden die Möbel umgestellt, der große Schrank vor die Türe gerückt und eine Anzeige in die Zeitung gegeben. Frau Marie atmete auf, als das geschehen war. Sie fühlte es: das Schlimmste war nun überstanden, sie hatte ihren Weg vor sich, den mußte sie mit ihrem Kinde gehen.

Eines Tages kam dann ein Mieter und zog ein.

Er war ein älterer Mann, ein Buchhändler, der seit vielen Jahren in einem wissenschaftlichen Antiquariat angestellt war. Morgens ging er schon zeitig vom Hause weg, und erst am Abend kam er stets pünktlich um halb acht wieder. Er hatte einen dünnen, gelblichgrauen Bart, trug scharfe Augengläser, die seinem Blicke etwas Schillerndes, Unsicheres gaben, und antwortete auf Fragen, die man an ihn stellte, oder auf Reden, die an ihn gerichtet waren, meist nur recht wenig und in unverbindlicher, beinahe mürrischer Art.

Trotzdem hielt die Mutter große Stücke auf Herrn Franz Schneeberger, denn er zahlte pünktlich, war sehr solide in seiner ganzen Lebensführung, schonte die Möbel seiner Stube, wie wenn sie ihm gehörten, und zeigte bei all seiner Verpupptheit bald einen Zug, der ihn Frau Bang und ihrem Kinde näher brachte.

Denn manchmal abends kam es seltsam über ihn. Da fand er keine Ruhe, rumorte in den Schiebkästen und unter seinen Büchern, schritt auf und ab und klopfte endlich, wie nach langem Kampfe, bescheiden an die Tür zum Zimmer von Frau Bang.

»Darf ich mich hier ein bisserl niederlassen?« fragte er dann jedesmal, und sein Gesicht hatte dabei einen ganz anderen Ausdruck. Es lag etwas Bedrücktes, Ängstliches darin und ein zauderndes Bitten zugleich. Und wenn Frau Bang ihn freundlich einlud, Platz zu nehmen, dann verschwand er schnell auf ein paar Augenblicke, holte sich seine Wurst, sein Brot und sein Glas Bier herüber, brachte seine Pfeife und seine Zeitung angeschleppt und schien ein anderer zu sein für ein paar Stunden. Er ließ sich dann bequemlich in den großen Sessel nieder, in dem der Vater früher stets gesessen hatte, verzehrte da sein Abendbrot mit einer Art von freudigem Behagen, rauchte dann schmunzelnd seine Pfeife und wurde gesprächig. Er scherzte mit dem kleinen Georg, für den er sonst kaum einen Blick übrig hatte, in seiner ein wenig schroffen, aber gut gemeinten Art, er sprach von seinen Erlebnissen in Leipzig, in Prag und in Stuttgart, wo er in jungen Jahren als Gehilfe gewesen war, und eine Sucht, ein Drang, sich auszusprechen, eine Befriedigung, jemand zu haben, der seinen Worten lauschte, schien jene Redekargheit, die sein Wesen sonst verschloß, wett zu machen. Manchmal las er auch Frau Marie Bang aus der Zeitung vor, oder er entwickelte ihr seine Ansichten über die Fehler der hohen Politik. Ziemlich plötzlich brach er dann meistens mit einem Blicke auf die Uhr sein Thema ab, griff seine Habseligkeiten, die er herübergebracht hatte, zusammen, murmelte eine Art Entschuldigung, weil er die Stube vollgeräuchert hätte, und verschwand mit kurzem Gruß. In seinem Rückzuge lag stets eine unbeholfene Hast, es war, als schämte er sich, daß er Frau Bang einen so tiefen Blick in sich gegeben hatte.

Tage- und wochenlang war er dann stets wieder völlig unnahbar, bis ihn der Drang nach einer Menschenseele, die Furcht vor seiner Einsamkeit aufs neue erfaßten. Frau Bang aber fühlte, daß er bei all dem ihr und ihres kleinen Buben Freund geworden war, daß Franz Schneeberger, dessen Lebensschifflein kein rechtes Ziel gefunden hatte, ihr dankbar war dafür, daß sie ihm manchmal ein paar Stunden lang ein Surrogat bot für ein Heim und daß sie seine besondere Art mit launenloser Ruhe ertrug.

So verging wohl ein Jahr – ein Jahr, das voll von Arbeit und von Sorgen war für die Frau Bang und das sie doch fester als all die Zeit vorher ins Leben stellte. Denn seltsam war das, und sie selbst verstand es kaum. Was sie früher, als noch ihr Mann gelebt, niemals so klar gesehen hatte, das stand nun unverrückbar vor ihr: ein Ziel – ihr Kind! Dem fühlte sie sich nun so nah wie nie vorher, und ihr war's oft, als weckte diese Nähe ein neues hingebendes Fühlen, das tiefer war als alles, was sie bisher empfunden hatte.

Es kam die Zeit, da Georg Bang zur Schule sollte. Lange vorher hatte Frau Marie mit ihrem Buben schon davon gesprochen. Sie hatte ihm die Schule als etwas Schönes dargestellt und hatte es versucht, Freude für sie in diesem Kinderherzen zu erwecken. Nun aber, als der erste Tag des Schulbesuchs gekommen war, als sie den Kleinen zum ersten Male nach der Schule führte, wo sie ihn dann für Stunden allein bei fremden Leuten lassen sollte, da legte sich ein Druck ihr ums Herz, und auch der kleine Georg hatte Angst. Frau Marie trug in dem einen Arme ein Paket mit Wäsche, die sie gestickt hatte und nun in dem Geschäfte wiederum abliefern wollte, an die freie Hand hatte der Bub sich geklammert, und so zog sie ihn sanft nach sich. Sie brachte ihn bis an das Zimmer der Klasse und blieb bei ihm und beruhigte ihn, bis der Lehrer kam.

Dann ging sie.

Er aber war jetzt so allein – ganz allein. Um ihn die vielen, vielen fremden Knaben, das war dem menschenfremden kleinen Buben alles so ernst und ungewohnt. Es schwindelte ihm, und plötzlich kam ein Einsamkeitsgefühl inmitten all der Vielen über ihn, so stark und unbezwinglich, daß er laut zu weinen begann und unter Tränen nach seiner Mutter rief.

Die Köpfe der andern Knaben wandten sich nach ihm um, einige Jungen kicherten dabei. Der Lehrer aber klopfte hell mit dem Bleistift auf seinen Tisch und sagte: »Du, Kleiner, wein' nicht, hier wird dir niemand etwas tun. – Sieh, wie die anderen vernünftig sind, und laß dich nicht beschämen. Sei also ruhig jetzt und störe nicht!«

Da war Georg Bang gleich still und hörte auf zu weinen. Mit ängstlichem Blicke sah er zwischen den anderen durch starr nach vorn, wo nun der Lehrer wieder zu der ganzen Klasse sprach. Aber die großen, dunklen Augen des Buben, die noch in überquellenden Tränen standen, gaben dem Kindergesicht einen unsicheren, verschüchterten Ausdruck, und mühsam unterdrückte Georg das Schluchzen, das ihn schütteln wollte. Leise liefen die runden Tränen über die Wimpern, rollten die Wangen herunter und tropften auf den glatten, braun gestrichenen Tisch. Er aber wischte sie nicht ab, saß ganz stille und blickte tapfer weiter nach vorn, bis er nach und nach ruhiger wurde und bis die Tränen aus seinen Augen verschwanden.

Es lag jetzt ein unsicheres Etwas in seinen Zügen, das diese jungen Augen versorgt und ängstlich zage und ergeben scheinen ließ. Und dieser Ausdruck, der auch später in dem Leben Georg Bangs noch oft aus seinen Zügen mit herben Zeichen sprach, prägte sich leise, aber stetig tiefer in das Kindergesichtchen. Das Leben setzte seine Schrift auf einen neuen Menschen.

Von da ab war der kleine Georg still in der Schule und weinte nicht mehr. Aber die Schule behielt etwas Beengendes für ihn, und das legte sich stets wie ein scheuer, beängstigender Hauch über ihn und sein Fühlen, so oft er das große Haus mit den hallenden Treppen, den langen Gängen und den vielen Türen, und so oft er das weißgetünchte Zimmer mit den hohen kahlen Wänden betrat. Er war befangen in der Schule und verschüchtert.

Mit den anderen Schülern verkehrte er nur wenig. Die hielten ihn, da er im ersten Jahre von der Mutter stets zur Schule hinbegleitet und ebenso abgeholt wurde, für weichlich und verzärtelt. Sie neckten ihn auch gern damit; aus dem Kichern über seine Tränen am ersten Schultage war ein zäher Spott geworden, mit dem quälten sie ihn, und den gossen sie immer wieder über ihn mit der ganzen naiven Gefühllosigkeit ihrer Kinderherzen. Ein paarmal war er in den ersten beiden Jahren wohl auch einem oder dem anderen von den Mitschülern nähergetreten, denn er sehnte sich nach einem Freunde. Aber niemals war es zu einem warmen Sichverstehen gekommen, denn der Spott der anderen erstreckte sich alsbald auch auf jene »Freunde« Georgs, und sie, die gleich den meisten Knaben nirgends empfindlicher und leichter zu verletzen waren als in dem Bubenstolze, sie wurden allzubald dem schüchtern sich erschließenden Herzen Georg Bangs ungetreu. Sie zogen sich zurück von ihm, sie stimmten laut und skrupellos in das Geschrei der anderen ein und dachten nicht, wie weh sie damit dem verratenen Knaben taten.

So schied sich Georg immer mehr von seinen Schulgenossen. Er fühlte, daß er nicht zu ihnen paßte, und trug sein Freundschaftssehnen still im jungen Herzen.

Im dritten Jahre seiner Schulzeit aber fand er einen echten Freund – an den er sich in tiefer Liebe schloß. Der war ein lebhafter, beweglicher und blühend frischer Junge, der Sohn eines Bankbeamten. Er hieß Gerold und mit dem Rufnamen Hans. Während der ersten beiden Schuljahre hatte er zu Hause gelernt – sein Vater hatte ihn selbst unterrichtet – so war er gleich in die dritte Klasse eingetreten. Mit diesem also plauderte Georg Bang in den Zwischenstunden, und da sie etwa in der gleichen Gegend wohnten, so gingen sie auch meist zusammen von der Schule. Und seltsam war es, an Hans getraute sich der Spott der anderen Buben nicht heran.

Der kleine Gerold wurde gewöhnlich von seinem Vater abgeholt, einem schlanken, noch jungen Manne, der immer sehr lieb und zärtlich war zu seinem Buben und ihn meist an der Hand führte. Er ließ sich von den beiden Knaben dann oft erzählen, was der Lehrer in der Schule gesagt hatte, und ging auf alle ihre Fragen ein. Auch nach Georgs Mutter und ihrem Befinden erkundigte er sich jedesmal. Der kleine Georg Bang verehrte Hansens Vater bald von ganzem Herzen.

Manchmal auch wurde Hans von seiner Mutter und von seiner kleinen Schwester aus der Schule abgeholt. Die Mutter war eine sehr schöne Frau mit außerordentlich feinem Teint und die Schwester ein kaum fünfjähriges Kind mit schmalem, zartem Gesichtchen, um das blonde Locken zu beiden Seiten niederfielen. Zierlich und voll zerbrechlicher Anmut war Sephi. Sie und die Mutter gingen stets sehr schön und meistens hell gekleidet. Für Georg Bang waren sie bald der Inbegriff der Vornehmheit, und er war immer ganz stolz, wenn er mit seinem Freunde Hans und dessen Mutter und Schwester gehen durfte. Freilich, große Gespräche wie ihr Mann führte Frau Gerold mit den beiden Freunden nicht. Sie nahm die beiden Jungen vor der Schule in Empfang, zupfte ihrem Hans die Halsbinde zurecht, schob ihm seine Mütze aus der Stirn und ging mit Sephi dann voraus, während Hans und Georg, sich selber überlassen, folgten. Mit einer Art von andächtiger Scheu sah Georg Bang dann auf die beiden, die da vor ihm schritten: auf Frau Gerold, die mit langsamer Bewegung den Spitzenschirm ein wenig hob und dann zurücksah nach den beiden Buben, und auf Sephi, die mit kleinen Kinderschrittchen neben der Mutter herging und von deren fragendem Geplauder manchmal einige Worte ihm verständlich wurden.

An der Ecke der Reisnerstraße trennten sie sich meist, denn Gerolds wohnten da, und Georg Bang mußte noch weiter hinaus, nach seinem alten Hause mit den zwei würdigen Kastanienbäumen im stillen Hofe. Da gab er denn zum Abschied jedem die Hand und sah ihnen noch nach, wenn sie im Flur und auf der Treppe verschwanden. Erst die Mama, die an ihren Handschuhen nestelte, dann Hans und zum Schluß Sephi, die mit den trippelnden Kinderfüßchen zu jeder Stufe zwei Schritte brauchte.

Es war ein schönes, neues Haus, mit breiter läuferbespannter Treppe, in dem die Gerolds wohnten. Auf dem ersten Absatz der Treppe war eine Tafel angeheftet, auf der stand »Mezzanin« – das konnte man noch sehen, wenn man unten am Fuß des Stiegenhauses stand. Und jedes Wort schallte da so sonderbar wider. »Mezzanin« – Georg Bang konnte sich den Sinn dieses Wortes nicht deuten; er hatte es niemals vorher gehört. Das alles ließ ihm das Haus geheimnisvoll erscheinen und wob ihm um die Gestalten der Mutter und der Schwester seines Freundes seltsam märchenhafte Züge. Sie wurden ihm zum Inhalt seiner Träume.

Sein sehnsüchtiger Wunsch war es, einmal mit hinauf kommen zu dürfen in das schöne Haus.

Er dachte sich die Dinge und das Leben dort ganz wunderbar – er meinte, es müßte da oben sein, so daß man gar nie weinen könnte. Er sah es förmlich vor sich, wie da die schöne Frau so ernst und langsam und mit halbgeschlossenen Augen – so wie sie immer auf der Straße ging – durch all die vielen Zimmer rauschte. Sie trug lange, gelbe Handschuhe dabei aus weichem Leder, und die Zimmer waren so feierlich und wunderbar wie jenes auf dem Stahlstich, auf dem »Der Tod des Sängers Rizzio« zu sehen war. Auch Sephi sah er so im Geiste. Sie trug ein zartes Spitzenkleidchen und saß in einem großen Seidensessel …

Und in all dieser Herrlichkeit durfte sein Freund Hans Gerold immer leben – das alles war ihm tägliche Umgebung, er war ja selbst ein Stück davon!

So kam es, daß sich die ganze scheue Verehrung, die Georg Bang vor diesem Hause und vor seinen Bewohnern empfand, als Liebe auf seinen Freund Hans übertrug. Er wurde ihm zum Inbegriff des Guten, Hohen und dessen, was er selbst so gerne gewesen wäre.

Zu Hause sprach er zu seiner Mutter von dem Freunde und den Seinen. Die Wangen wurden ihm dann rot vom Reden, und Frau Marie Bang nickte ihm zu und strich ihm übers Haar. »Halt' dich nur an diesen kleinen Gerold,« sagte sie dann, »das muß nach allem, was du sagst, ein guter, lieber Bub' sein!« Im stillen aber ging ihr dabei wohl ein wehmütiges Sinnen durch den Kopf. Sie fürchtete für ihren armen Buben den Augenblick, da ihn das Leben hart und schonungslos erkennen lassen würde, daß Freundschaft zwischen arm und reich nicht mit hinauswächst über die Knabenjahre. Und wie Frau Marie Bang, so dachte auch Herr Franz Schneeberger, nur daß er seine Meinung nicht still für sich behielt wie jene. Denn als er an einem jener Abende, an denen es ihn hinübergetrieben hatte zu den beiden, die so gut zuzuhören verstanden, von dem Freunde Georgs hörte und als er dabei das begeisterte Gesicht des Kleinen sah, da lachte er so spöttisch und so überlegen, daß Georg mit dem Weinen kämpfen mußte.

»Ja, ja – Freunde!« sagte dann Herr Schneeberger, »haben wir auch g'habt – haben wir alles auch g'habt! Sogar mehrfach, junger Herr! Eine ganze Hetze! Aber jetzt? Du lieber Gott! Sind alle stolz an mir vorbeig'wachsen – ja! Der eine is a großer Verleger heut, und der andere handelt mit unverdorbenem Papier, der dritte macht Bankgeschäfte, und der vierte sitzt scho' im Zuchthaus – aber – kannst's glauben, Bua – nicht einmal der möcht' mich, den titellosen Antiquar, als seinen Freund von damals kennen wollen! Freunde, die in guter Lage leben, sind nichts für uns – wir hängen, wenn wir noch so jung und dumm sein, wie auch ich es einmal war – einen guten Teil von unserem Besten an sie, und können sie damit doch nicht an uns halten, wenn's Leben sie höher tragt als uns!«

Mit verkniffenem Gesicht zog er dann dicke Wolken aus seiner Pfeife. Frau Marie Bang aber nickte ihrem Buben, dessen Augen so ängstlich fragten, mit beruhigendem, leisem Lächeln zu, streichelte die kleinen braunen Hände, die auf dem Tische lagen und gab dem Gespräch eine andere Wendung.

Und als Herr Franz Schneeberger dann gegangen war und die Mutter das Zimmer noch ein wenig aufgeräumt und sich dann zur Ruhe begeben hatte, daß nur ihre gleichmäßig tiefen Atemzüge hörbar waren, da lag Georg noch lange wach mit offenen Augen in seinem Bette. Die Worte, die Herr Schneeberger in seiner eindrucksvollen Art gesprochen und die dem Knaben doch nur halb verständlich waren, die hatten in ihm mit dem Gedanken an eine Trennung von dem Freunde und von den Seinen ein nur noch tieferes Gefühl für diese alle erweckt. Ihm schien allein die Möglichkeit einer solchen Trennung verknüpft mit einem Schmerze sondergleichen. Ihm war's, als ob er nicht genug zum Ausdruck bringen könnte, was jene seinem Dasein waren. Seine Augen suchten in dem Dämmerdunkel des Raumes, sie gingen über das Bett der Mutter hin und blieben haften an dem schwarzen Flecken an der Wand, von dessen schmalem Goldrahmen ein leiser, falber Schimmer ging. Er wußte, das war »Maria Stuart auf dem Schafott«. Er sah die schlanke, schwarzgekleidete Gestalt mit den in Schmerz erhobenen Händen im Geist förmlich vor sich, er sah die rohen Henkersfäuste, die sich drohend ihr entgegenstreckten – und seine erregten Gedanken trieben weiter, weit hinaus über den fahlen Rahmen des alten Stiches. Er träumte sich hinein in alle möglichen, phantastischen Geschichten, in denen stets sein Freund oder Sephi und die schöne Frau in irgendeine große, schreckliche Gefahr gekommen waren, und wo dann im letzten Augenblick er auftrat und sie retten konnte. In seinem Kinderherzen war der kleine Held erwacht, die Liebe zu dem Freunde und den Seinen hatte die Phantasie des Knaben aufgeweckt …

Seit diesem Abend wurde die Hingebung, mit der Georg Bang an seinem Freunde Gerold hing, noch inniger und tiefer. Es wurde jene stille und beinahe feierliche Liebe, wie sie nur Knaben kennen mit reinem, unverdorbenem Gemüte, bei denen sich das ganze Fühlen, sinnig und sinnlich ungesondert, dem Freunde gibt. –

Und dann sollte sich eines Tages sein stiller Wunsch erfüllen.

Es war kurze Zeit vor dem Geburtstage Hans Gerolds, als dieser ihm gleich morgens in der Schule mit der frohen Nachricht kam: »Papa läßt deine liebe Mama schön grüßen und fragen, ob du am Sonntag nach dem Essen zur Schokolade zu uns kommen darfst!«

Georg war ganz glücklich und hatte doch ein wenig Angst zugleich. Er konnte es kaum fassen, daß er nun in das schöne Haus sollte gehen dürfen, über die Teppiche auf der Treppe hinauf und in die große Wohnung, von der er schon soviel geträumt hatte.

Er war zerstreut während der folgenden Stunden, und als ihn der Lehrer plötzlich beim Namen rief und nach etwas fragte, da konnte er nicht einmal die Frage wiederholen, so daß ihn der Lehrer unaufmerksam schalt und eine ganze Weile stehen ließ. Da stand er nun, sah auf die Platte des niederen Tisches hinunter und gab sich alle Mühe, aufzumerken. Dennoch trieben ihm die Gedanken immer wieder fort; wie leerer Schall klangen die Worte des Lehrers an sein Ohr, und auch das Bewußtsein des Schändlichen der Strafe, die er eben erhalten hatte und die ihn an jedem anderen Tag empfindlich getroffen hätte, drang nicht zur Tiefe in dem sonst so leicht verletzten Knaben.

Und als dann gar, nach der Schule, beim Nachhausegehen Herr Gerold, der seinen Sohn abholte, dem Georg Bang noch einmal sagte, daß er am Sonntag um drei Uhr kommen sollte, wenn seine Mutter es erlaubte, da konnte er kaum Worte und Stimme finden, um Antwort zu geben … Nur den Arm seines Freundes Hans, mit dem er Hand in Hand gegangen war, zog er fester an sich, und seine Augen strahlten vor Dank und Freude …

Es wurde Sonntag. Gleich beim Erwachen früh am Morgen ging Georgs erster Gedanke zu seinem Freunde. Und was er später auch noch tat an diesem Vormittage, während er Schulaufgaben schrieb und während er zur Kirche ging, in der er wie an jedem Sonn- und Feiertage mit seiner Mutter eine stille Messe hörte, sein Denken war nur halb bei allen diesen Dingen. Aber keine kleinliche Zerstreutheit war es, die ihn umfing, nein, sein Gemüt war erfüllt von einer stillen, erwartenden Andacht, wie er sie nie vorher empfunden hatte.

Durch den weiten, weihrauchduftenden Raum der Kirche schallte die Glocke des Ministranten. Ihr Klang war fein und zog ein zitterndes Vibrieren hinter sich. Da ging ein Scharren durch die Bänke und durch die Reihen, und all die Menschen beugten ihre Knie und schlugen an die Brust und sahen vor sich nieder. Und wieder klang der Ton der kleinen Glocke durch den weiten, von Dämmerlicht erfüllten Raum. Georg sah auf. Da stand der Priester, von dessen Schultern es in golddurchwirkten Falten floß, und hielt mit beiden Händen die strahlende Monstranz hoch empor. Weihrauch stieg duftend auf, und viele kleine Lichter stachen mit warmem Schimmer in den Nebel.

Wie schön ist das! dachte der Knabe. Zum erstenmal, seit er zur Kirche ging, verband sich ihm, halb unbewußt, ein tiefer Sinn mit dieser Schönheit. Er dachte nicht an jene Lehre, die der Katechet ihm in der Schule vorgetragen hatte, und sah auch nicht den Leib des Herrn in der Monstranz. Aber ein Gefühl ergriff ihn, als wäre es das Leben selber, das sich da offenbarte, als spräche aus dem allen eine milde ernste Stimme: Siehe, ich komme zu dir.

Still und schweigsam ging Georg Bang mit seiner Mutter aus der Kirche und durch die Straßen. Die Menschen fluteten vorbei an ihnen, und ihm war es, als läge heute ein neuer Ausdruck über allen. Zu Hause setzten sich die beiden bald an den Tisch zu dem bescheidenen Mittagsbrot. Georg blieb seltsam ruhig, er aß nur wenig und blickte wie im Traum vor sich hin. Zweimal fragte die Mutter, ob ihm etwas fehle; er schüttelte den Kopf: Nichts.

Dann, bald nach Tisch, machte sie den Sohn zurecht für den Besuch. Sie gab ihm Lehren, nicht zuviel zu fragen und der Mama von Hans beim Kommen und beim Gehen die Hand zu küssen, sie band ihm die Krawatte zu einer schönen breiten Schleife und mahnte ihn, sie nicht mit Schokolade zu betropfen. Und gegen sieben Uhr am Abend wollte sie ihn wieder holen – das sollte er sagen, wenn man fragte.

Als sie dann eben gehen wollten, begegneten sie Herrn Schneeberger im Vorzimmer. Er kam aus dem Kaffeehaus, in dem er sich an jedem Sonntagnachmittag bei einem Berg von Zeitungsblättern seinen »Schwarzen« gönnte, und wollte nun zu Hause seine Pfeife rauchen und auf dem Sofa eine Stunde schlafen. Auch das gehörte mit zu seinen Sonntagsfreuden. Nicht eben freundlich sah er Georgs Aufputz an; und als Frau Bang nun von dem stillen Wesen des Knaben sprach, da zuckte er die Achseln. »Der Bub wird Würmer haben!« sagte er. »Würmer sind sehr beliebt in diesem Alter.« Ein kurzer Gruß, und dann verschwand Herr Franz Schneeberger hinter seiner Tür.

Frau Marie Bang und Georg gingen zusammen nach der Reisnerstraße. – Würmer? dachte sie, und sah besorgt auf ihren blassen Jungen – vielleicht. Sie konnte ja auf alle Fälle für ein paar Kreuzer Wurmsamen aus der Apotheke mitnehmen. Half's nicht – schaden konnte es ja auch nicht viel. –

Mit klopfendem Herzen stieg Georg neben seiner Mutter über die teppichbelegte Treppe hinauf. Sie gingen vorbei an der Tafel mit dem Worte »Mezzanin« und stiegen höher bis zum dritten Stocke, wo der Name »Heinrich Gerold« auf dem blanken Messingschilde einer Doppeltüre stand.

Hier küßte Frau Marie Bang den Buben zum Abschied auf die Wange, und während er die Glocke zog und nun klopfenden Herzens wartete, ging sie die Treppe hinunter.

* * *

»Und meine Käfersammlung müssen wir ihm auch noch zeigen! Und dann die Spannbretter, damit er sieht, wie mühsam du mir meine Käfer hergerichtet hast! Du … nicht wahr, Pappa … und von unseren Doppelten kann er 'was haben?!«

Der kleine Hans Gerold war ganz aufgeregt, während er alle die Schätze seines Knabenherzens vor dem Freunde ausbreitete. Immer mehr schleppte er herbei auf den runden, mit einem grünen Wachstuch bespannten Tisch der Kinderstube; seine Bücher, die große Naturgeschichte, das Modellierspiel, die Lupe, die neueste Geburtstagsgabe: die Elektrisiermaschine, kurz alles, was dem Freunde gefallen mochte. Und neben dem Vergnügen über Georgs strahlendes Staunen stand auch die jugendliche Freude über den Besitz, der Stolz, das alles sein zu nennen, auf Hansens Zügen.

Nun, nach den letzten Worten seines Sohnes, nickte Herr Heinrich Gerold den beiden Knaben zu und griff lächelnd mit beiden Händen in ihre Schöpfe. In Hansens kurz geschnittenes Strubbelhaar und in Georgs schlichten Scheitel. »Ja, Buben, jetzt kommen die Käfer!«

Und er ging, um die mit Filzblättern ausgelegten und mit Glasdeckeln versehenen Kasten zu holen, in denen sich die Käfersammlung befand, die er zusammen mit Hans angelegt hatte. Auch die Spannbretter brachte er, helle Bretter aus weichem Holz, auf denen die Käfer durch viele kleine Nadeln in ihrer natürlichen Lage festgehalten wurden, um so zu trocknen und nicht mit eingezogenen Beinen zu verschrumpfen.

Hans selbst aber konnte nicht genug erklären.

»Siehst du, und hier ist unser Streifnetz, das nehmen wir auf unsere Ausflüge immer mit. Und was wir fangen und noch nicht in der Sammlung haben, das nehmen wir dann mit nach Hause; das spannt Papa dann mit mir auf, und wir bestimmen die Namen dafür.«

Georgs Gesicht strahlte beim Anblick aller dieser Herrlichkeit.

Das war wie eine neue Welt, was sich da vor den Augen des einsam Aufgewachsenen erschloß. Mit scheuer Bewunderung sah er zu Hansens Vater auf, zu dem gütigen Manne, der so mit seinem Buben lebte, daß er die Spiele und die Ziele des Sohnes zu den eigenen machte. Und eine beglückende Antwort auf all das, was aus den Blicken des kleinen Georg Bang aufleuchtete, war es nun, als Heinrich Gerold den Buben leise an sich zog.

»Du mußt nun öfter zu uns kommen,« sagte er, »wir wollen alle recht gute Freunde werden.«

Georg Bang sah gerade vor sich hin und nickte; er wußte, daß sein Freund Hans, der dort am Tische stand, vergnügt zu ihm herüberlächelte, aber er blieb ernst und rührte sich nicht. Ein nie gekanntes Gefühl ergriff ihn unter dem sanften Druck des Männerarmes, der um seine Schultern lag. Und erst, als nun die Hände der kleinen Sephi nach seinen Fingern griffen, und als das Kind ihm eine Puppe entgegenhielt, die er bewundern sollte, löste sich dieser Bann. Mit einem Glücksempfinden aus Stolz und Scheu, aus Sehnsucht und Erfüllungsfreude wandte er sich den Schätzen auf dem Tische wieder zu. Dabei fühlte er, wie Herrn Gerolds Augen mit mildem Lächeln auf ihm und den beiden eigenen Kindern ruhten.

Wenige Minuten später blieben die drei sich selber überlassen, denn in der halbgeöffneten Tür erschien Frau Gerold und wandte sich zu ihrem Manne: »Heinrich, dein Freund, Herr Crispi, ist gekommen und möchte dich begrüßen – du kommst wohl mit hinüber?«

»Herr Crispi?« Herr Heinrich Gerold nickte, warf einen Blick noch auf die Gruppe um den Tisch und schritt nach der Tür.

Georg Bang aber hatte es geschienen, als wäre in dem Augenblicke, da sich der Vater seines Freundes zum Gehen wendete, all jene frohe, hingebende Innigkeit, die bisher auf den feinen Zügen gestanden hatte, von ihm gefallen, als schritte ein gequälter, sorgenvoller Mann dem Ausgang zu …

Als später die Kinder zur Schokolade ins Speisezimmer gerufen wurden, fand Georg Bang dort in dem schön getäfelten, ein wenig düsteren Raume noch einen Herrn als Gast. Es war ein schlanker, sehr brünetter Mann mit schwarzem Spitzbart und auffallend dunkelen Augen. Er trug sehr elegante graue Kleider, die aussahen, als wären sie soeben erst gebügelt worden. Gleich beim Eintritt der drei Kinder wies Frau Gerold, die eben mit dem fremden Herrn gesprochen hatte, auf Georg hin.

»Das ist der kleine Georg Bang, der Freund von unserem Hans!«

Der fremde Herr trat näher zu dem Buben. Er lächelte, daß seine schönen weißen Zähne blitzten, und streckte ihm die schmale, leichtgebräunte Hand entgegen.

»Also Georg heißt du? Und du willst a Weaner sein? Ich werd' dich Schorschel nennen! Einverstanden?«

Er hielt ein und sah den Buben lachend an.

Der aber sagte nichts. Er hatte zögernd seine Hand in die des fremden Mannes gelegt und blickte nun wie hilfesuchend nach Herrn Gerold.

»Na, Schorschel, also hör', was ich dir sag'!« begann der fremde Herr aufs neue. »Also, ich bin der Onkel Crispi, frag nur den Hansl nach mir, der kennt mich schon! Oder die Sepherl – was, Kleines, wir zwei sind gute Freunde?«

Zögernd sah Georg auf die beiden, denen die letzten Worte gegolten hatten. Sie standen neben ihm und nickten ein wenig befangen.

»Guten Tag, Herr Crispi,« sagte Hans dann plötzlich.

»Nun, Sephi, willst du nicht auch grüßen?« fragte Frau Gerold, während sie näher trat.

»Guten Tag, Herr Crispi,« klang jetzt auch die zarte Stimme des kleinen Mädels.

Auch später, als man an dem reich besetzten Tisch saß, dessen schönes Gedeck und dessen feines Eßzeug auf Georg starken Eindruck machten, war es in erster Linie Herr Crispi, der die Unterhaltung führte.

In seiner lebhaften Weise und mit einer absichtlichen Betonung des Wienerischen in Dialekt und Inhalt seiner Reden, wandte er sich bald an Hansens Eltern, bald an die Kinder, hier ein kleines lustiges Erlebnis erzählend, dort eine Scherzfrage stellend. Und dabei blitzten seine Zähne unter dem schmalen, aufgedrehten Schnurrbärtchen, und seine Augen, die so dunkel waren, daß man die Pupille nicht unterscheiden konnte, stachen mit ihrem feuchten Glanze bald hierhin, bald dorthin.

Aber seltsam war es: bei all dieser beweglichen Lustigkeit, die von dem Manne ausging, blieb es doch wie ein drückendes Gefühl auf allen anderen. Meist klang sein Lachen allein durch das Zimmer. Schweigsam und mit einem wehen, gequälten Zug um den Mund, der sich von Zeit zu Zeit verschärfte, daß man ihn füglich für ein Lächeln nehmen konnte, saß Herr Gerold neben dem kleinen Bang, und auch zu den Herzen der drei Kinder drang die Art von Herrn Crispis Scherzen nicht hin. Nur Frau Gerold lachte manchmal ein wenig, aber auch dieses Lachen schien Georg so seltsam fremd, und einmal war es ihm, als hätte sie gleich darauf verstohlen nach ihrem Manne hingesehen.

So kam es, daß die ausgezeichnet gute Schokolade und der wundervolle Gugelhupf den dreien nicht so schmecken wollte und daß sich Georg Bang aus diesem Zimmer sehnte, hinüber in die freundliche Kinderstube. Langsam gingen seine großen, stillen Augen von Herrn Heinrich Gerold zu Herrn Crispi. Die Worte, die Frau Gerold drüben gesprochen hatte, als sie ihren Mann herüberrief, fielen ihm ein: »Heinrich, dein Freund, Herr Crispi, ist gekommen.« Das also war der Freund von Hansens Vater? Und warum war denn dieser so verstimmt und traurig, während der andere immer wieder lachte? Wie kam es, daß sie nicht zusammen lustig waren, wenn sie doch Freunde waren? Georg Bang konnte sich darüber keine Klarheit geben, aber als er nun wieder auf Herrn Gerold sah, dessen Hand nervös am Tischtuch nestelte, da griff er vor nach dieser Hand und hielt sie fest.

Als es geschehen war, erschrak er selbst. Fragend traf Herrn Gerolds Blick in Georgs Augen. Dann aber ging über das Gesicht von Hansens Vater ein leises, mildes Lächeln.

»Du bist ein lieber Bub, mein kleiner Georg!« sagte er. Und er legte seine beiden kühlen Hände um diese Kinderhand und hielt sie fest, bis man sich bald darauf vom Tisch erhob. Dann gab er jedem von den Kindern noch eine Schnitte Gugelhupf und schickte sie hinüber in die Kinderstube.

Wieder begann nun das Spiel der drei. Der Ernst, der eben noch auf diesen jungen Seelen gelastet hatte, verflog gleich einer Nebeldecke, die entschwindet. Nur in dem Wesen Georgs blieb ein Rest davon. Und unvermittelt, während er mit Hans die Bilder der Naturgeschichte ansah, und während Sephi, die bei ihnen auf einem Sessel kniete, bald hier, bald dort mit ihren kleinen Fingern auf eines von den Tieren wies: »Das ist das Reh! – Das ist der Fuchs!« entrang sich ihm die Frage:

»Wer ist der Herr Crispi, Hans? Ist der wirklich ein Onkel von dir?«

Hans schüttelte wegwerfend den Kopf. »Der! Ich glaub', er war früher auch bei der Bank, drum kennt ihn der Papa. Ich mag ihn gar nicht!«

Und Sephi setzte leise, wie wenn es ein geheimnisvolles Wissen wäre, das sie da aussprach, hinzu: »Du, Georg, der Papa hat einmal g'sagt – ich hab's ganz genau gehört: Herr Crispi ist ein Levantiner!«

Nun sahen die Geschwister beide auf ihren Gast, als wollten sie aus seinen Mienen die Erklärung des seltsamen Wortes lesen. Aber auch der wußte nicht mehr als sie. »Ein Levantiner?« wiederholte er nur. Langsam schüttelte er den Kopf, aber das seltsam fremde Wort prägte sich ihm ein mit einem leisen Schauer. So also sah ein Levantiner aus. Ob die Mutter zu Hause ihm wohl sagen könnte, was das war? Oder ob der Herr Franz Schneeberger es vielleicht wüßte?

Zerstreut nur blickte er auf die bunten Bilder, die Hans vor ihm aufschlug. Erst nach einer Weile, und erst als Sephi ihn scherzhaft am Ohre zog: »Du, Georg, sag' was hast denn?!« wurde er wieder aufmerksam und munterer. Mehr und mehr nahm ihn die ungewohnte Herrlichkeit all dieser Dinge, die sein Freund Hans besaß, nun wieder in ihren Bann. –

Später kam auch Herr Gerold wieder zu den Kindern, und auch Frau Gerold ließ sich für ein paar Minuten sehen. Herr Crispi war fortgegangen – von den Kindern hatte sich »der Onkel« nicht empfohlen.

In seinem Arbeitszimmer am Piano spielte Herr Gerold den drei Kindern Lieder, und die drei jungen Stimmchen schlossen sich zusammen und sangen jene munteren Gesänge, die sie aus der Schule kannten.

Um sechs Uhr ging es wieder in die Kinderstube, da wurden die Vorhänge der Fenster zugezogen und die Hängelampe über dem runden Tische angezündet. Dann holte Herr Gerold ein Buch herbei, und während die drei Kinder still um den Tisch saßen, auf den das Licht der Lampe milde herunterstrahlte, las er die schönen Lieder und Gedichte des Buches, auf dessen braunem Deckel als Titel in Goldbuchstaben stand: »Des Knaben Wunderhorn«.

Mit glänzenden Augen und geröteten, heißen Wangen lauschte der kleine Kreis der Stimme des Vorlesers, als gegen sieben Uhr der Klang der Flurglocke von draußen herein in das Zimmer drang und gleich darauf das Mädchen meldete, daß Frau Bang gekommen wäre, um ihren Georg abzuholen.

Herr Gerold schloß das Buch und erhob sich.

»Sie haben Frau Bang ins Wohnzimmer geführt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, gnä' Herr, sie hat gar nicht hereinkommen woll'n. Sie is' noch im Vorzimmer draußen.«

Im Nu war Herr Gerold aus dem Zimmer, und gleich darauf erschien er wieder mit Georgs Mutter, die sich noch immer ein wenig sträubte und beteuerte, daß sie ja nur gekommen wäre, um ihren Buben abzuholen, um alles aber nicht stören wollte.

Georg war gleich beim Eintritt seiner Mutter auf sie zugeeilt. Er schmiegte sich an sie und schlang, da sie sich zu ihm niederbeugte, die Arme fest um ihren Hals.

Sie fühlte die Glut der heißen Wangen des Buben und sah, wie seine Augen strahlten. Und bei all der jähen Freude, die sie ergriff, wie sie den sonst so blassen Buben nun wie erblüht und weit erschlossen vor sich sah, beschlich sie doch zugleich ein leises Bangen. Zögernd ging ihr Blick durch das Zimmer von ihrem Georg zu Hans und weiter zu Sephi und Herrn Gerold und wieder zurück in die Augen ihres Einzigen.

»Ist's schön hier?« fragte sie dann, und in ihrer Stimme zitterte noch immer die Sorge, es könnte dieser helle, frohe Kreis ihr von der Liebe ihres Buben, ihres Alles, das Beste nehmen und entfremden.

Georg aber zog sie noch fester an sich.

»Mutter …!« sagte er nur, und in der Art, wie seine Augen schauten, wie er sie nun zum Tische zog, um ihr zu zeigen, was dort von Hansens Herrlichkeiten noch zu sehen war, lag bei der Freude so viel heiße Liebe, daß ihre Sorge schwand und daß sie tiefen Dank empfand gegen die Menschen, die ihren Georg so glücklich machten.

Obwohl nun Frau Bang zum Aufbruch drängte, ließ Herr Gerold sie nicht so rasch ziehen. Sie mußte sich ein wenig setzen, dann ging er, um seine Frau herüberzuholen.

Georg aber und die beiden anderen Kinder, die Georgs Mutter auch schon oft gesehen hatten, wenn sie gelegentlich noch ihren Buben von der Schule holte, standen um sie. Die beiden Knaben bemühten sich, die kleine Leydener Flasche an der Elektrisiermaschine mit winzigen bläulichgelben Funken zu füllen, damit Frau Bang dann den »Schlag« versuche, die kleine Sephi aber drängte sich an sie und plauderte auf sie ein: »Du mußt oft zu uns kommen und Georg auch. Ich hab dich lieb, und wenn's die Mama erlaubt, so besuch ich dich auch einmal. Willst du?«

Frau Bang nickte und strich dem kleinen Mädel lächelnd über das goldig blonde Haar. Im stillen aber dachte sie mit leiser Bitterkeit, wie sich das schöne, feine Kind wohl ausnehmen würde bei ihr in den zwei einfachen, bescheidenen Stuben.

Da haschte die Kleine nach der Hand auf ihrem Scheitel. Ganz verwundert strich sie nun mit ihren kleinen Fingern darüber hin.

»Was du für rauhe, harte Hände hast – meine Mama hat so ganz weiche!«

Wieder lächelte Frau Bang so seltsam sinnend.

»Deine Mama …« Sie sprach nicht weiter.

Und da trat Sephis schöne Mama ins Zimmer. Sie war in ein duftiges, weites Hausgewand aus leichter cremefarbiger Seide und vielen Spitzen gekleidet. Freundlich und mit vorgestreckter Hand schritt sie auf Georgs Mutter zu, die sich rasch erhoben hatte. Aber so liebenswürdig und ungezwungen Frau Gerold sprach, so zustimmend sie Georgs bravem Verhalten während des ganzen Nachmittags ihr Lob erteilte – Frau Bang konnte sich eines erkältenden Gefühls von Befangenheit in Gegenwart der eleganten Frau doch nicht erwehren. Ihr war's bei all dieser geflissentlichen Freundlichkeit, als suchte Frau Gerold mit sicherer Überlegenheit die Kluft von sich zu ihr zu überbrücken und als empfände sie zugleich eine selbstzufriedene Genugtuung darüber, wie gut es ihr gelang, so ohne jeden Hochmut und ohne Herablassung zu sprechen. Erst als Herr Gerold dann wiederkam und in seiner herzlichen, warmen Art Frau Bang noch nötigte, ein Glas Wein zu nehmen, als er ein Buch einpackte, das er Georg leihen wollte, und in schlichten aber gefühlten Worten über die schöne Freundschaft der beiden Buben sprach, die mit verlegenen roten Köpfen nun Hand in Hand an seiner Seite standen, da wurde auch sie wieder freier.

Dann war der Abschied gekommen. Zärtlich und erregt trennten sich Hans und Sephi von ihrem Gaste, freundlich und mit herzlichen Worten küßte Herr Gerold den Buben auf die Stirne, und nachsichtig lächelnd über all den Lärm und Trubel stand Frau Gerold in ihrem hellen fließenden Gewande da und nickte den Scheidenden zu.

»Adieu, liebe Frau Bang, und wenn Sie einmal nichts Besseres vorhaben – ich bin jeden Donnerstag nachmittag sicher zu Hause.«

Ihre Hand griff dabei aufwärts nach dem schweren Knoten von reichem blonden Haar, der sich vielleicht auf ihrem Kopfe ein wenig gelockert hatte. Sie drückte mit gespreizten Fingern die Nadeln fester. Von ihrem weißen Arm aber fiel der weite Spitzenärmel zurück, daß man die wunderschöne Linie sah.

Als einen letzten Eindruck nahmen die Scheidenden noch dieses Bild mit sich. Dann schlossen sie die Tür.

Schweigend schritten Frau Bang und Georg die teppichbelegte Treppe hinunter. Der Bub hatte den Arm der Mutter fest umschlungen. Aber so sehr erfüllt war er von allem dem, was sich wie eine neue Welt ihm in den letzten Stunden erschlossen hatte, daß er zunächst kein Wort über die Lippen brachte. Auch auf der Straße blieb er schweigsam, nur als Frau Bang sich einmal niederbeugte und ihm in die Augen lächelte, da sagte er: »Mutter, so gut ist Herr Gerold … so gut, daß man es gar nicht sagen kann.« –

Von da ab kam Georg öfter zu seinem Freunde Hans und dessen kleiner Schwester, zu Sephi. Immer inniger wuchs das Leben der drei Kinder zusammen, immer näher schlossen sie sich aneinander, Herr Gerold aber pflegte diese heiße Kinderfreundschaft, indem er alle drei in seine Sorge einschloß.

Häufig kam es nun vor, daß des Sonntags früh um neun Uhr die helle Klingel an der Tür von Frau Bang ertönte. Und wenn sie öffnete und schaute, was es gäbe, dann stand der kleine Gerold in seinem schmucken Matrosenanzug da und hielt den breiten Strohhut in der Hand.

»Guten Morgen, Frau Bang – ist der Georg schon auf?«

Aber da war Georg, der die Stimme des Freundes gehört hatte, auch schon bei diesem an der Tür.

»Papa ist unten und die Sephi. Sie warten im Hof – wir wollen nach Korneuburg – und der Papa läßt sich auch schön empfehlen und fragen, ob der Georg mit uns kommen darf.«

Und da gingen die Augen der beiden Buben so bittend und so hoffend in die von Frau Marie Bang, daß sie, die zaudernd noch und unruhig die Hände an der Schürze wischte, schließlich die kleine Sünde auf sich nahm und ihren Georg von dem Kirchgang freigab. Für seine blassen Wangen war es sicher besser, wenn er ins Grüne kam, so würde es wohl der liebe Herrgott verzeihen, zumal, wenn sie dann nach der Messe noch ein wenig länger blieb und noch ein paar Gebete für den Buben sprach!

Und nun begann ein Eilen und Hasten in der Stube. Hans stand am Fenster und sah hinunter in den Hof, wo neben den zwei in tiefem Sommergrün aufragenden Kastanienbäumen sein Vater und die kleine Sephi standen. Jubelnd rief er die beiden an. Wie klein sie ihm erschienen, da unten in der Tiefe! Und Sephi schlug die Hände zusammen: So hoch da oben war der Bruder – beinahe unter dem Dach!

Georg aber schnürte in aller Eile seine Schuhe zu und suchte so schnell wie möglich fertig zu werden, damit Herr Gerold nicht so lange warten mußte. Ein herzlicher Abschied von der Mutter, noch auf der Treppe einige Ermahnungen mit auf den Weg, und dann ging es hinunter zu den beiden bei den Kastanienbäumen.

Hinter den Vorhang gedrückt, sah Frau Marie Bang vorsichtig hinunter. Sie sah, wie die beiden Knaben aus dem Hause traten und wie sie froh von Hansens Vater und von Sephi ausgenommen wurden. Sie sah, wie aus dem Wesen ihres Georg bei allem dem die Freude feierlich und festlich strahlte, und wußte, daß für ihren Buben nun ein paar Stunden kamen, so froh und reich, wie sie ihm die nicht geben konnte. Und als der Hof schon lange leer geworden war von Menschen, stand sie noch immer still am Fenster und sah hinab ins satte Grün der beiden Bäume. Ihre Gedanken gingen mit dem Buben.

Erst als von nebenan das trompetenhelle Schneuzen des Herrn Franz Schneeberger erscholl – das mittels eines großen roten Taschentuches und der Nase vollführte, untrügerische Signal, daß der ausgedehnte Sonntagsschlummer ihres Zimmerherrn beendet sei – schrak sie auf. Nun galt es, den Kaffee für Herrn Schneeberger zu wärmen – und dann die Stube – lieber Gott, wie sah es da schon wieder aus! Hier standen noch die Hausschuhe des Buben und dort auf dem Stuhl lag noch seine Alltagsjacke an der die beiden Knöpfe anzunähen waren.

Still, daß sie es kaum merkte, nahm so die kleine Alltagssorge Frau Bang nun wieder an der Hand und führte sie durch die nächsten einsamen Stunden. Aber während Frau Marie Bang die hundert kleinen Handgriffe tat, die ihrem stillen Haushalt sein Leben gaben, während sie hier säuberte, dort rückte, dann wieder in der Küche schaffte und den bescheidenen Staat zum Kirchgang aus dem Schrank holte, trat auch das Bild des Buben und der anderen, mit denen er gegangen war, für Augenblicke immer wieder vor sie hin. Und das blieb so – auch in der Kirche während der Gebete, daß sie mit leisem Vorwurf den Kopf schüttelte, und daß sie später wie zur Buße für ihre Zerstreutheit dem Mesner, der im scharlachroten Mantel mit seinem Klingelbeutel hallenden Schrittes durch die Ruhe schritt, den doppelten Betrag als sonst zum Kirchenopfer gab.

Nach ein Uhr kam dann Georg von der Landpartie nach Hause. Strahlend glücklich, mit leuchtenden Augen. Für die Mutter brachte er Blumen mit, die er draußen in den Donauauen oder im Wienerwald gefunden hatte, rote Steinnelken und blaue Glockenblumen, Kornraden und als Prunkstück eine gelbe Königskerze oder einen purpurfarbenen Türkenbund. Und was gab's da nun nicht alles zu erzählen! Von jedem Kleinsten konnte er berichten. Von den Eidechsen, die sie im sonnenwarmen Geröll des alten Strombettes gesehen, und deren eine ihnen Herr Gerold auch gefangen hatte, daß das kleine, grünschillernde Tierchen dann ein paar Augenblicke lang mit hochatmendem Körperchen auf Sephis Hand gesessen hatte, bis sie ihm die Freiheit wieder geschenkt hatten. Von dem dicken alten Hasen, der kaum drei Schritte weit von ihnen ganz plötzlich aus der Wiese aufgesprungen war, von der schönen Fahrt auf dem Dampfschiff, die Donau herunter, und von all dem, was Herr Gerold ihnen erklärte und was Hans und Sephi erzählt und gesagt hatten.

Frau Bang hörte auf die Worte ihres Georg und nickte leise vor sich hin. Gewiß, das konnte sie dem Buben nicht geben. Wenn sie mit ihm hinausgefahren wäre – es würde doch bei allem ihrem Willen, jung zu sein mit ihm, die rechte Freude nicht für ihn geworden sein. Das war ja richtig – was wußte sie von all den Tieren, von denen Herr Gerold so viel zu erzählen wußte, und von all den Pflanzen, die er bestimmen konnte! Und dann – wie teuer kam nicht solch eine Partie! Der Stellwagen, das Schiff – und essen mußte man doch schließlich auch etwas; gar nicht zu rechnen, wie man sich die Sonntagskleider noch verderben konnte. Gewiß, das waren alles kleine Summen, aber das wuchs und gab am Ende manchen Gulden. Sie aber mußte oftmals mit dem Kreuzer rechnen.

So war Frau Bang im stillen Herrn Gerold herzlich dankbar, daß er den Buben so viel Schönes mitgenießen ließ; was eine Kinderfreundschaft erst gewesen war, das ließ gar bald auch eine innige Teilnahme in den Herzen dieser Großen erstehen. –

Und Sommer war es noch immer, wenn auch schon sinkender Sommer, als in dies schöne Jugendglück von Georg Bang das Leben seine erste tiefe Wunde riß. –

Vom Turm der Kirche hatte es zwölf Uhr geschlagen.

Frau Bang stand am Fenster und sah hinunter in den Hof, durch den jetzt bald ihr Georg kommen mußte. Ihr Blick war tränenschwer und trübe, ihr Mund so traurig und so seltsam herbe, wie sie ins ernste Grün der beiden Bäume sah. Tiefdunkel war es nun, beinahe schwarz. Nur, wie auf einem Haupte, das in reifen Mannesjahren steht, sich leise hier und da ein weißes Haar ins dunkelere Gelocke stiehlt, so blinkte bei den schwellenden Kastanien schon hier und da ein welkes Blatt, ein stiller Mahner, daß der Herbst nicht fern war. Seltsam ergriff Frau Bang dies erste Zeichen von Werden und Vergehen, und eine Sehnsucht nach dein Anblick ihres Buben kam über sie, daß sie sein Kommen kaum erwarten konnte.

Gestern hatte Hans Gerold zum ersten Male in der Schule gefehlt.

Auf Georgs Bitte war sie dann nachmittags hingegangen und hatte sich danach erkundigt, was dem Buben fehlte. Herr Gerold, der des Kindes wegen von seinem Amte zu Hause geblieben war, war selbst zu ihr in das Speisezimmer gekommen. Und lächelnd, wenn auch selbst nicht frei von aller Sorge, hatte er sie beruhigt: eine leichtes Fieber, wohl eine Erkältung, weiter nichts. Der Arzt wäre schon dagewesen, er meinte, daß es glatt vorübergehen würde. Und Hans sei munter und ließe den Freund schön grüßen.

Ja – das war gestern. Und heute – vor knapp zwei Stunden – war Gerolds Stubenmädchen dagewesen und hatte ihr den furchtbaren Bericht gebracht, daß Hans heute früh dem Scharlachfieber erlegen war.

Sprachlos, starr und unvermögend, es zu fassen, hatte Frau Bang das Mädchen, das die Wohnung nicht betreten wollte, angesehen.

Hans sollte tot sein?! Hans, der hier an dieser Stelle, wo sie nun standen, so oft gestanden hatte in dem Matrosenanzug mit dem breiten Strohhut? Hans, der doch gestern seinen Freund noch grüßen ließ?

Dann aber, wie ihr Auge auf die Unglücksbotin fiel, da kam ihr die Erkenntnis des Geschehenen, und auf der Treppe brachen beide Frauen, Frau Bang und Gerolds Mädchen, in heiße Tränen aus.

»Der arme Hans – nein, Gott – wie ist das möglich! Und der arme Herr – wie ist das furchtbar für den armen Vater!«

Zwei Stunden war das her. So lange schon? Wie doch die Zeit dahingegangen war!

In ihrer Küche lag noch alles unberührt, noch war kein Feuer in dem Herde, kein Bissen für den Mittagstisch gerichtet.

Da plötzlich schreckte Frau Marie Bang am Fenster auf, und ein Zittern befiel sie, als stünde sie vor einer wichtigen Entscheidung. Der kleine Bub, der jetzt da unten aus der Einfahrt des Vorderhauses trat, über das Pflaster trollte, sich niederbückte, um die unreife, vor der Zeit gefallene Kastanie aufzunehmen, war Georg! Jetzt blickte er herauf – jetzt sah er sie – und nickte, lächelte und eilte in das Haus.

Frau Bang aber ergriff die Angst davor, daß sie dem Buben, der sie eben noch so munter angesehen hatte, nun diese Schmerzensbotschaft geben sollte. Und ehe sie noch selbst im klaren war, was sie beginnen sollte, hauchte sie schon auf ihr festgeballtes Taschentuch und drückte dann das warme Tuch an ihre Augen. Er sollte ihre Tränen nicht gleich sehen, er sollte nach und nach erfahren, was geschehen war!

Im Vorzimmer draußen, gleich nachdem sie ihm die Tür geöffnet und seinen Gruß und Kuß empfangen hatte, fing er schon von Hans zu sprechen an. Daß der auch heute noch nicht in der Schule gewesen wäre und ob die Mutter nicht nach Tisch noch einmal hingehen wollte, um nach ihm zu fragen.

Und wie der Bub dann bettelnd, daß sie das doch tue, die beiden Hände von Frau Bang ergriffen hielt, da war sie herzlich froh in ihrem Schmerze, daß es so dämmerdunkel im Vorzimmer war und daß ihr Georg ihr nicht in die Augen sehen konnte. Schon dachte sie, es wäre überwunden, da stieg unter dem Drucke dieser unruhig flehenden Knabenhände das Wehgefühl so mächtig und überquellend heiß in ihr empor, daß sie sich zu dem Buben niederbeugte und ihn mit Leidenschaft in ihre Arme schloß.

»Mein Georg – du mein Einziger – –!«

Verwirrt und hastig riß sie sich dann los.

»Jetzt geh' ins Zimmer – ich hab' noch zu tun. Ich glaub', mein armer Bub', mit Hans steht's gar nicht gut –«

»Du weißt 'was, Mutter …?!«

Seine Hände waren plötzlich kalt und fielen schlaff von ihr. Und über sie kam wieder jene Angst. Ganz ratlos war sie vor dieser erregten Knabenstimme.

»Was soll ich wissen – er ist eben krank – sehr krank –«

Sie beugte sich wieder nieder. Schon wollte sie dem Drange folgen, der sie mit kaum bezähmbarer Gewalt ergriff, und ihrem Georg sagen, was geschehen war, da sah sie dieses in Entsetzen schier vergehende Gesicht – und zwang sich mit der ganzen Kraft der Liebe zu einer Lüge.

Ein Lächeln schob sich starr um ihren Mund, und ihre Finger streichelten mit Zittern des Buben Wange.

»Es wird schon wieder werden, Georg – schau – Gott wird schon helfen –«

Und mit dem Reste ihrer Selbstbeherrschung schob sie den Buben in das Zimmer und schritt dann selber nach der Küche, wo sie vor dem noch kalten Herde weinend auf einen Küchenstuhl niedersank.

Georg stand unterdessen still im Zimmer an jener gleichen Stelle, dahin die Hand der Mutter ihn geschoben hatte. Und wie wenn ihm die Hand noch immer leise auf der Schulter läge, war es ihm zumute. Der Nachhall des Geräusches, mit dem die Tür sich geschlossen hatte, lag ihm im Ohr, und eine bange, träumerische Angst erfüllte ihn.

»Es wird schon wieder werden, Georg – schau – Gott wird schon helfen –«

Und dazu jenes seltsam starre Lächeln.

Das alles hatte sich – ihm unbewußt – um sein Gefühl gelegt, gleich einem Banne.

Er konnte nicht erfassen, was geschehen war, und dennoch wuchs in ihm ein Fürchten ohne Ziel. So sah er zag und ängstlich vor sich hin, die Lippen aufgezogen wie in tränenlosem Weinen.

Und plötzlich schlangen sich dann seine Finger ineinander, er kniete nieder auf der Stelle, wo er stand, und durch das stille Zimmer drangen deutlich seine Worte:

»Lieber Gott – nur dem Hans soll nichts geschehen – lieber Gott, mach's, daß nur dem Hans nichts geschieht!«

Als Georg wieder aufstand, war ihm freier zumute. Aber ein beengendes Gefühl hatte er jetzt – gleichwie, als wäre er nicht allein im Zimmer, als ruhten jemandes Augen unverwandt auf ihm.

Er sah um sich – aber da war niemand.

Eine Weile stand er noch still vor dem Tisch – doch dieses beklemmende Gefühl ging nicht von ihm. Es hatte ihn ergriffen wie Gespensterfurcht am hellen Tage. Und plötzlich, ohne daß er wußte, was ihn trieb, wandte sich Georg um, riß die Tür auf und eilte nach der Küche.

»Mutter …!«

Die lehnte an dem Herde, und während sie ein Streichholz an das Papier und die Holzspäne hielt, die zu dem Mittagsessen Feuer geben sollten, liefen ihr helle Tränen über das Gesicht. Nun wandte sie sich um … da stand ihr Bub vor ihr – da sah er ihre Augen und verstand.

Und Frau Marie Bang, die gerne ihr Bestes hingegeben hätte, um ihrem Buben diesen Schmerz zu ersparen, konnte nur nicken und die Hände ihm entgegenstrecken. Nun war's heraus, nun wußte er, daß er den Freund nie wieder sehen würde. Fest zog sie ihren armen Buben zu sich heran, und sein Körper, den das Schluchzen wie mit Fäusten schüttelte, schmiegte sich an ihren …

Neben den beiden knisterte das Feuer im Herde. Es brannte heller und rauschte lauter, als die trockenen Späne in flackernden Brand gerieten. Aber Frau Bang achtete nicht darauf. Auch als die Flamme wieder kleiner wurde, schob sie ihr keinen neuen Brennstoff zur Nahrung zu. Knisternd und leise raschelnd erlosch das Feuer … sie dachten beide nicht ans Mittagsessen.

Später, als zitternde Reden an Stelle des willenlosen Schluchzens getreten waren, als Georg ein wenig ruhiger geworden war, bestand Frau Bang darauf, daß sich der Bub für eine Stunde niederlegte. Und so erschöpft war er von all dem Schmerz, daß ihn der Schlaf umfing, obwohl ihm die Augen naß von Tränen waren und sein Atem noch zitternd auf und nieder ging. –

Abends kam Herr Franz Schneeberger. Als er ins Zimmer trat, da wußte er schon, was geschehen war. Frau Bang hatte ihm gleich, als er nach Hause gekommen war, im Vorzimmer die schlimme Nachricht mitgeteilt. Still und ernst drückte er sich nun herüber. Schon gleich sein Klopfen an der Tür war leiser, zaghafter gewesen als sonst. Und wortlos sinnend saß er dann lange mit Frau Marie Bang und Georg an dem Tische. Das leise Schmatzen, wie er an der Pfeife sog, war wohl das einzige Geräusch. Verstohlen blickte er manchmal nach Georg, aber er sagte nichts, nur um die Augen ging's ihm wie ein Zucken.

Und als er, früher noch als sonst, sich dann erhob, strich er, der jeder zärtlichen Regung doch sonst so ferne stand, mit einer ungelenken Geste dem Buben übers Haar.

»So kommt's, mein Bub – sei gut – das geht vorbei. Besser noch, so seine Freunde verlieren – als anders. Und früher oder später wär's ja doch gekommen. Jetzt is' der ganze Kladderadatsch vorbei – vielleicht is' das am besten so für dich!«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging Herr Schneeberger still hinaus in seine Stube …

* * *

Auf dem kleinen Hügel, der das Grab bedeckte, darin Hans Gerold, der liebe, frische Bub, den ewigen Schlummer schlief, blühten die Astern und helle herbstliche Rosen. Gras hatte nicht mehr wachsen wollen auf der frisch geschaufelten, tiefbraunen Erde. Nur hier und da sah ein dünnes Hälmchen zage und schüchtern hervor, und es blieb unscheinbar und welkte ab, als ginge es zugrunde vor Furcht ob seiner Einsamkeit. So sah man gleich, daß es ein frisches Grab war, das hier lag, wenn auch die Astern und die Rosen blühten. Die hellen Blumen, die, von Menschenhand gepflanzt, hier prangten, die taten's nicht; noch hatte die Natur die Wunde, die ihr dieses kleine Grab gerissen, nicht vernarben können.

Zweimal war Georg Bang nun schon hier auf dem Zentralfriedhof gewesen, am Grabe seines Freundes. Das erstemal damals, mit der ganzen Klasse, als der Sarg an den Tragbändern hinuntergesenkt wurde in die Tiefe, und als die Knaben alle unter der Führung ihres Lehrers dann vorüberschritten an der schmalen Grube und jeder eine Hand voll Erde hinunterfallen ließ. Wie ein Traumbild, deutlich, und doch so, als wäre sie nicht Wirklichkeit, stand die Erinnerung an jene Stunde vor Georgs Seele. Er glaubte noch den Ton zu hören, der von den Blättern all der Kränze aufwärts raschelte, als sich die braune Erde deckend über sie herniedergoß. Er sah noch all die Kameraden aus der Schule, die sich mit ernsten wichtigen Gesichtern vorwärts schoben, und den Lehrer, dessen Augen prüfend und streng überwachten, daß alles in der rechten Ordnung sich erfülle. Schärfer als alles andere aber sah Georg Bang eine gebeugte, ganz gebrochene Gestalt. Bewegungslos stand Heinrich Gerold, und starr, wie leblos hingen seine heiß entzündeten Augen an seines Buben Grab, bis der kleine Sarg und bis die Kränze immer mehr verschüttet wurden von den Schollen und bis sie endlich unter ihnen ganz verschwanden. – –

Und dann das andere Mal.

Ein Sonntag vormittag war es, mild trotz des Herbstes, ein Tag wie jene, an denen Heinrich Gerold mit seinen Kindern und mit Georg so gern hinausgezogen war ins Freie. Heute saß Georg still bei seinen Schulaufgaben – die sollten vor dem Kirchgang noch beendet werden – vielleicht, daß seine Mutter dann nachmittags mit ihm ein wenig in den Stadtpark oder den Schwarzenberggarten ging.

Da schellte es draußen. Georg fuhr auf und mußte plötzlich an Hans denken. Um diese Zeit hatte der ihn meist abgeholt. Er hörte seiner Mutter Schritte aus der Küche kommen und hörte, wie sie öffnete und redete. Und neben ihrer Stimme war da eine andere, die er erkannte. Ihm schlug das Herz, daß er das Pochen fühlte: mit vorgestrecktem Kopf, die Feder noch zwischen den Fingern, hielt er still und lauschte, ob es denn wirklich möglich wäre.

Da öffnete Frau Bang auch schon die Tür des Zimmers, und mit gepreßter Stimme, die ruhig bleiben sollte, und die sich trotz aller Mühe kaum beherrschen ließ, rief sie den Buben.

»Georg … so komme doch, schau, wer da ist. Herr Gerold und die kleine Sephi … Herr Gerold fragt, ob du mitkommen willst … hinaus … zu …«

Frau Bang brauchte nicht zu vollenden.

Herr Gerold stand nun neben ihr im Rahmen der Zimmertür, und neben ihm stand Sephi. In ihren Kinderhänden hielt sie mit zager Vorsicht einen frischen Kranz.

»Georg …«

Der aber rührte sich nicht. Er sah nur die Gestalt von Hansens Vater, ganz schwarz gekleidet, abgemagert und das Gesicht so bleich und eingefallen.

Da hob Herr Gerold seine Hand. Mit unsicheren Schritten trat Georg näher – jetzt griff er vor und hielt die Hand, die Georg in ihrem schwarzen Trauerhandschuh erschien, als litte sie, als wäre sie ein selbständiges, tiefunglückliches Wesen. Und wie er nun den zitternden Druck dieser Finger fühlte und in die müden, entzündeten Augen über sich sah, da konnte er sich länger nicht bezwingen. Wie wenn der Tod des Freundes ihn noch einmal träfe, so packte ihn nun, in dem Augenblicke, da er Herrn Gerold seit der Leichenfeier zum ersten Male wiedersah, die schmerzvolle Erinnerung. Er wußte nicht zu sagen, was es war, und es verband sich keine Vorstellung mit seinem Schmerz. Nur daß er weinen mußte, fühlte er. Und plötzlich machte er sich los und flüchtete sich aufschluchzend nach dem Sofa. Tief grub er dort sein Gesicht in die Hände.

Nun war es wieder still bis auf sein Schluchzen.

Ratlos sah Frau Marie Bang auf ihren Buben und dann auf ihre beiden Gäste.

»Mein Gott – der Bub – daß er's halt auch so gar nicht überwinden kann –«

Und dabei zerrte es ihr selbst um Mund und Kehle.

Herr Gerold nickte nur; er sprach kein Wort. Und zu dem Buben trat er hin und legte seine Hand auf dessen Kopf.

Schüchtern war nun auch Sephi herangetreten. Der Kranz, den sie noch immer sorgsam hielt, hemmte das Kind und machte seine Bewegungen zaghaft und unfrei. Nur mit der einen Hand konnte sie nach dem Arm des Freundes greifen, sie wollte, daß Georg sein Gesicht freigäbe, daß er aufhörte zu weinen. Und wie sie seinen Arm nicht lösen konnte und sein Schluchzen so ungemindert klang, da schob sie plötzlich die von Mitleid heißen Wangen ganz knapp an seine, da drängte sie ihm mit dem blonden Kinderköpfchen die Hände weg und küßte ihn auf die verweinten Augen.

»Georg – nicht weinen! – Schau, der Papa sagt, daß er jetzt im Himmel ist –!«

Und diese kleine, warme Stimme, die trösten wollte, klang selbst so rührend hilflos.

Da nahm sich Georg mit ganzer Kraft zusammen. Er trocknete die Tränen und wurde nach und nach auch ruhiger, daß ihn das Schluchzen nicht mehr stieß. Und als Herr Gerold ihn nach einer Weile leise fragte: »Willst du mit uns gehen – ihn besuchen?« da nickte er nur stumm und machte sich in Eile fertig. Fast schämte er sich nun, daß er das Weinen früher nicht mit Gewalt bezwungen hatte.

Unten, wenige Schritte von dem Hause, nahm Herr Gerold einen Fiaker. In seinem ganzen Leben hatte Georg Bang noch nicht in einem solchen Wagen gesessen. Wie ein schöner, ferner Traum war es ihm früher oft geschienen, daß er in einem eleganten Wagen fahren könnte – nun, da er die Erfüllung dieses Traumes genoß, war ihm das Herz schwer zum Zerspringen. Aber er hielt tapfer aus.

Herr Gerold saß im Fond des Wagens an der rechten Seite. Links saß der kleine Bang und zwischen ihnen Sephi. Der Kranz lag auf dem Rücksitz vor den Augen der drei, die schweigend durch das helle Sonntagstreiben der Stadt hinaus zum Totenacker fuhren. Sie sprachen wenig. Hier und da warf Sephi ein paar Worte hin, wenn draußen auf der Straße ein Vorgang ihre Aufmerksamkeit fesselte. Wie scheues Vogelzwitschern war ihr Stimmchen, und es verstummte immer wieder, wenn es nur ein gar stilles, müdes Lächeln, ein Nicken, einen leisen Händedruck und höchstens ein paar zustimmende Worte von ihrem Vater als Antwort fand. Hand in Hand mit Georg saß sie da.

Herr Gerold aber schien versunken in träumerisches Denken. Die Augen sahen wie nach einem fernen Ziele, und bei der Schmerzlichkeit und Wehmut war's manchmal wie ein heller Schimmer in den zerquälten Zügen: gewiß – er fuhr ja nun hinaus zu seinem Buben, er sollte ihm ja nun wieder ein wenig nahe sein. – Manchmal auch, wenn ihm das Bewußtsein des Augenblickes sein Sinnen unterbrach, beugte er sich wohl vor und nestelte liebkosend an den Blumen des Kranzes, oder er sah auf die beiden Kinder und versuchte zu lächeln. Einmal aber schob er auch seinen linken Arm hinter dem Rücken Sephis durch, griff Georg um die Schulter und zog die beiden so für einen Augenblick an sich.

»Wir drei,« sagte er dabei nur, »nicht wahr, wir drei …«

So kamen sie hinaus vor den Zentralfriedhof. Der Wagen fuhr nun längs der kahlen vom Grün der Trauerweiden und der Silberpappeln überragten Mauer hin und hielt vor dem breiten Tore. Viele andere Wagen standen schon hier, auch viele solche, deren dunkele Pferde schwarz geschirrt waren und deren Kutscher Trauerkleidung trugen. Und drinnen, auf dem breiten Platz, wo man einst auch den kleinen Sarg Hans Gerolds von dem kranzgeschmückten Wagen gehoben hatte, da hob man eben, trotz der frühen Stunde, einen anderen nach seiner letzten Fahrt zum letzten Gange nieder, da schluchzten andere Menschen in neuem Trennungsleid.

Still war Herr Gerold stehen geblieben, und die Kinder, die er nun an beiden Seiten führte, hielten sich scheu bei ihm.

Nun trug man dort die Kränze von dem Wagen. Und wie die schwarz gekleideten, in ihrem Schmerz gebrochenen Gestalten in einem jener friedenvoll ernsten Gänge verschwanden, die von Zypressen überschattet und von den weißen Steinen ernster Totenmäler geleitet waren, da fuhr auch schon ein neuer Wagen durch das Tor. Er brachte wieder einen Menschen, der von den Tränen seiner Lieben hergeleitet, in dieses letzten Gartens Ruhe zog.

Da nickte Herr Gerold leise und führte die beiden Kinder mit sich fort. Und zu Georg sagte er im Gehen: »So löst einer den anderen ab. Kein Schmerz ist ewig – jeder findet Ruhe. Ist einer jung, so läßt das Leben ihn vergessen – ist einer dafür nicht mehr jung genug, so findet er die Ruhe hier. Denk daran, wenn du mich einmal auch so herausbegleitest.«

Mit trüben Augen, die ziellos in die dunkle Ferne der Gräberreihen sahen, lächelte er ein wenig zu den letzten Worten. Georg jedoch vermochte nichts zu sagen. Nur seine Finger griffen fester um Herrn Gerolds Hand, wie sie nun weiter nach dem kleinen Hügel schritten, auf dem das Gras nicht mehr gewachsen war und nur die Astern und die hellen Rosen blühten …

Als Heinrich Gerold und Sephi nach dieser stillen Fahrt zu Hansens Grab sich vor dem Tor des alten Hauses von Georg trennten, standen sie da noch ein paar Augenblicke still. Den Hut in Händen hielt sich der Bub zum Abschied bereit; aber Herr Gerold drückte ihm mit leiser Gewalt den schwarzen Filz wieder aufs Haar.

»Du bist immer viel zu artig, Georg – mit meines armen Hans einzigem Freund will ich nicht auf so gar höflichem Fuß verkehren.«

Er lächelte ein wenig, sah gütig in die großen Augen, die da mit stillem Fragen zu ihm aufschauten, und strich dem Buben nun über die Wange.

»Und meinst du nicht – wir wollen's machen, als sei Hans bei uns, so wie er ja auch heut' bei uns gewesen ist. Du kommst zu uns, so oft du magst, auch Sephi braucht dich ja, und jetzt noch mehr als früher, denn ich bin ein recht schlechter Spielkamerad geworden in dieser Zeit … Willst du?«

Georg nickte nur und griff aufs neue nach dem Hute.

»Dann komm gleich heut' nachmittag, wenn deine liebe Mutter dir's erlaubt, und wenn sie mir nicht böse ist, daß ich dich ihr so für den ganzen Sonntag nehme. Sag' ihr, mir wär' es leichter, wenn ich den Freund von meinem Buben bei mir hätte. Und grüße sie mir sehr!«

So gingen sie dann auseinander.

Des Nachmittags jedoch war Georg Bang aufs neue in Herrn Gerolds Haus. –

Von da ab kam er wieder regelmäßig zu den Menschen, die er so tief verehrte und liebte, und immer fester wurde das Band, das ihn an Heinrich Gerold und an Sephi fesselte …

»Wir wollen's machen, als sei Hans bei uns –«

Das Wort, das Heinrich Gerold zu Georg vor dem Tore gesprochen hatte, klang leise nach an allen diesen Tagen, die der Bub bei dem Vater seines toten Freundes verbringen konnte.

Denn es war gar still geworden in Herrn Gerolds Haus. Leise spielten die beiden Kinder, mit gedämpften Stimmen sprachen sie miteinander, und immer wieder gingen ihre Blicke dabei zu Herrn Gerold hinüber, der an den Tagen, wenn Georg da war, sich beinahe ausschließlich mit den Kindern beschäftigte. Es war, als sollte dieser Mann den Schmerz, den ihm der Tod des Söhnchens verursacht hatte, gar nicht verwinden können.

Eine tiefe, träumerische Traurigkeit lag über ihm. In sie versenkte er sich, ohne ihr zu widerstehen, dem heimgegangenen Kinde galt ein Kult, den er in stiller, liebevoller Wehmut trieb. Auf seinem Schreibtisch standen immer frische Blumen bei dem Bilde Hansens. Ein anderes Porträt des Kindes hatte er sich vergrößern lassen. Es hing im breiten Trauerrahmen im Speisezimmer. Und es hing so, daß Herr Gerold es von seinem Platze aus gerade vor Augen hatte. Und nicht nur Hansens Bilder, auch viele Kleinigkeiten, die dem Kinde einst nahegestanden, die ihm lieb gewesen waren, mit denen es gespielt hatte, stellte er sich nun so vor Augen, daß sie ihn immer wieder an das Söhnchen mahnten.

Und wie gern sprach er nicht von ihm!

»Schau, Georg, hier in meinem Schreibtisch hab' ich seine Schulhefte. Willst du sie sehen? Wie nett er war, nicht ein Fleckerl, und er war sonst doch so vergnügt und sorglos! Und da – schau! Kennst du das noch? Das ist die kleine Mundharmonika, auf der er sich die Melodien zu euren Schulliedern zusammengesucht hat. Erinnerst du dich noch? ›Ich hatt' einen Kameraden …‹«

Seltsam weiche Stimmungen kamen in solchen Stunden manchmal über ihn.

Er war allein mit Georg, die kleine Sephi war von der Mama ins Nebenzimmer geholt worden, denn eine Dame war dort zu Besuch. Und er saß verträumt sinnend auf dem Sofa und hielt die Hand des Buben, mit dem er früher von Hans gesprochen hatte und der nun dastand andächtig und bewegungslos. Dämmerung lag über dem Zimmer, und die senkte sich tiefer und hüllte die Dinge ringsum in ihre Schatten. Plötzlich regte sich Herr Gerold. Er zog Georg leise näher zu sich heran und schlang den Arm um ihn. Und so, während seine Augen weit hin ins Dunkle sahen, sprach er mit leiser und doch tief eindringlicher Stimme:

»Du hast deinen Vater kaum gekannt – du warst ein kleines Kind, wie er gestorben ist – du weißt kaum, was es heißt, zu jemand Vater sagen … Und ich, schau – mir ist mein Bub weggestorben … Mir kommt's jetzt vor, als seien wir zwei – du und ich – durch diese Fügung förmlich aufeinander hingewiesen. Georg – hörst du – ich will dir wie ein Vater sein – und wenn im Leben jemals etwas an dich kommt, daß du den Vater brauchst – so denk' daran …« Er schwieg.

Georg bewegte die Lippen. Aber das Ja, das er sprechen wollte, kam nur als Hauch aus seinem Munde. Eine weihevolle Rührung hatte sein Knabenherz ergriffen, und ein Gefühl erfüllte ihn, als wäre er ein Mann und spräche einen heiligen Treueid.

Und tiefer sank die Dämmerung herein, während die beiden Menschen still in ihrem Fühlen schwelgten.

Erst als die kleine Sephi aus dem Nebenzimmer kam, »Mama läßt fragen, ob sie die Lampe schicken soll, oder ob du hinüberkommst mit Georg?« verflogen diese Träume.

Georg aber war den ganzen Abend so stolz zumute, er fühlte sich so tief beglückt durch seines väterlichen Freundes Worte, daß er kaum Sinn für alles andere fand im Drang dieser Gefühle. –

Der Winter war hereingebrochen, früher denn in den jüngsten Jahren. Ganz plötzlich war er über Nacht gekommen und hatte heimlich und im Dunkeln die ersten schlank aufschießenden Eisblumen an die Fenster gemalt. Heimlich hatte er auch mit der kalten Hand über die Donauauen und die Wiesen vor der Stadt und über die Gärten hingestrichen, daß all ihr Grün unter der silberweißen Decke des ersten Frostes verschwand. Auch an die beiden alten Kastanien im Hofe des stillen Hauses hatte er gerührt in jener Nacht. Da waren die großen falben Blätter mit den bräunlich verfärbten Stielen wie tote Falter zu viel Tausenden hinabgesunken auf die Erde.

Und als Frau Bang des Morgens die weißen glitzernden Palmetten an den Scheiben und später dann die kahlen Zweige der Kastanien und drunter all die abgefallenen Blätter sah, da nickte sie nachdenklich vor sich hin. Nun war der Winter wieder da für sie und ihren Buben. Wie rasch die Zeit vergangen war! Wieder ein Jahr herum. Nun galt es bald, die Stuben tüchtig zu heizen, und für Georg, der in diesem letzten Jahre so schnell gewachsen war, mußte nun auch so manches neu beschafft werden. Nun kam die Zeit, in der sie wieder mit jedem Kreuzer ängstlich rechnen mußte, damit der kleine Haushalt nicht ins Schwanken käme.

Am Bette Georgs setzte sie sich einen Augenblick auf einen Stuhl. Sorgsam schob sie die Kleider ihres Buben, die da lagen, zurück, eh' sie sich niederließ. Nun sah sie auf ihn nieder, der da in stillem Schlummer noch in den Kissen ruhte. Und plötzlich dachte sie: Nun kommt auch wieder diese böse Zeit, wo ihm das Aufstehen des Morgens so schwer wurde, wo sie sich selber kaum entschließen konnte, ihn schon so früh, wenn es kaum tagte, um halb sieben, aufzuwecken, damit er rechtzeitig zur Schule kam. Sie dachte, wie sie oft, wenn es im Zimmer noch so frostig war und dunkel, daß sie die Lampe brennen mußte, mit sich gegeizt hatte um einzelne Minuten, die sie dem Knaben noch zum Schlafe gönnen wollte. Ein Kampf mit ihrem Mitleid war es stets gewesen, wenn sie ihn wecken mußte.

Und dieses Mitleid kam, wie sie nun auf ihn niederblickte, mit jähem Ausbruch über sie. Sie sah den kleinen, mageren Knabenkörper in diesem dünnen Nachthemdchen, die schmale Decke, der er schon entwuchs, und es ergriff die Frau der Schmerz des Lebens. Sie hätte weinen können, so war ihr zumute. Sie hätte ihren Kopf zu ihrem Georg da in die schmale Decke niederdrücken mögen; doch sie saß still und sah nur sterbenstraurig vor sich hin.

Was es nur war? Der Frost an ihren Scheiben, die kahlen Äste und die kleinen Sorgen?

Sie wiegte in müdem Lächeln den Kopf.

Vielleicht ein schwerer Traum, den sie vergessen hatte, und dessen Weh ihr noch im Herzen lag. Und wieder dachte sie: Nun ist der Winter wieder da – wie doch das Leben flieht – wieder ein Jahr vorbei!

Was hatte es gebracht? Sorge und Arbeit – und doch, mußte sie nicht zufrieden sein? Außer dem Tod des kleinen Gerold keine große Bitternis, nur kleines Leid sonst, kleine Sorgen, doch keinen heißen Schmerz und keinen herben Mangel. Fehlte ihr etwas? Suchend und zage ging ihr Blick durch den von Morgenlicht erhellten Raum. Es fröstelte sie. Und gleich, als wollte sie das ziellos suchende Gefühl aus ihrem Innern bannen, so strich sie sich über die Stirn. Dann griff sie leise nach des Buben Hand.

Nein, nein, das alles war ein törichtes Sichgehenlassen, ihr fehlte nichts.

Doch wie sie Georgs Finger nun zwischen ihren Händen zucken fühlte, da dachte sie voll heißer Inbrunst: Wenn nur für ihn das Leben reicher wird! Wenn nur der Bub nicht welkt, eh' er geblüht hat!

Wie wenn sie betete, so war ihr nun zumute, und als sie niederblickte, sah sie, daß ihre Hände sich um Georgs Finger wie im Gebet gefaltet hatten. Da ward ihr freier, und sie machte leise ihre Rechte los, schlug über Stirn, Mund und Brust das Kreuz und beugte sich dann nieder zu ihrem Kinde.

Behutsam küßte sie ihn auf die Wange.

»Georg – 's ist Zeit – komm', du mußt aufsteh'n. Und schau, wie wunderschön die Eisblumen am Fenster sind! Freust du dich nicht? Jetzt gibt's bald neuen Schnee.«

Und munter ob der fröhlichen Verheißung begann für ihren Buben dieser Morgen. – –

Als Georg an dem Tage nach der Schule auf die Straße trat, fand er Herrn Gerold vor dem Tor stehen. Seit Hans gestorben, war Herr Gerold nie mehr vor die Schule hingekommen. Nun winkte er Georg zu sich.

»Grüß Gott, mein Bub – ich hab' heut nach dir sehen wollen.« Er sah den Jungen musternd an und nickte. »Heut' Nacht ist's kalt geworden – sag: ist das, was du da trägst, dein wärmstes Röckchen?«

Georg war rot geworden, erst aus Freude, den väterlichen Freund zu sehen, dann aus Verlegenheit. Er wußte nicht, was diese letzte Frage sollte.

Herr Gerold aber, der des Buben fragendem Blick die rechte Deutung gab, nahm Georg bei der Hand.

»Wir wollen deine liebe Mutter überraschen. Da unten ist ein Schneider, der mir für den armen Hans immer alles geliefert hat. Heut soll er uns einen recht warmen Winterrock für meines armen Hans einzigen Freund ablassen!«

Wortlos schritt Georg neben Herrn Gerold.

Auch in dem schönen Kleiderladen, in den sie traten und wo dem Buben nun die Winterröcke anprobiert wurden, bis sich dann einer fand, der paßte, getraute er sich kaum zu reden.

Erst vor dem Tor des stillen Hauses fand er die Sprache. Er wollte seines Freundes Hand an seine Lippen ziehen; der aber wehrte sich, beugte den Kopf und küßte Georg auf den Mund.

»Du dummer Bub – was ich getan habe, das freut mich mehr als dich – denn meinen Hans hätte es auch gefreut. Und sag' der Mutter, sie soll mir nicht böse darum sein. Und noch 'was, Georg – hörst du – meiner lieben Frau, – vor der brauchst du ja nicht davon zu sprechen. Weißt du, – sie würde es vielleicht nicht so verstehen.«

Ein leiser Zug von Bitterkeit ging als verlegenes Lächeln über seine bleichen Züge. Noch einmal nickte er dem Buben zu, dann wandte er sich ab und schritt die Straße hin. –

Als Weihnachten gekommen war, gab's wieder eine Überraschung für Georg Bang und seine Mutter.

Vormittags, um die Zeit, in der Georg in der Schule war und als Frau Bang sich in der Stube eben mühte, den kleinen Tannenbaum, den sie gekauft hatte, im Holzkreuz zu befestigen, daß er recht fest und sicher stand, kam das Dienstmädchen von Gerolds mit einem ganzen Korb voll Sachen und einem Brief an Frau Bang. Vorsichtig leerte das Mädchen den Inhalt des Korbes auf den Tisch. Da war Hans Gerolds Elektrisiermaschine und das Mikroskop, die Käfersammlung, Spannbretter und Fangnetz. Auch Bücher waren da: Reisebeschreibungen und die Naturgeschichte.

Der Brief Herrn Gerolds aber lautete:

 

»Liebe Frau Bang, was ich Ihnen da für Ihren Georg – beinahe hätte ich geschrieben für unseren Georg – sende, sind Dinge, die einmal dem armen Hans gehörten. Georg, dem sie nun Freude machen sollen, wird sie in Ehren halten. Bauen Sie ihm die Sachen heute abend unter den Weihnachtsbaum. Ich hätte das gern selbst getan, aber ich fühl's, das ginge über meine Kraft; auch will ich heute draußen sein bei meinem Hans. – Aber morgen, am ersten Feiertage schicken Sie uns den Buben, und kommen Sie auch selbst ein Stündchen, um unseren Baum zu sehen. Inzwischen frohes Fest Ihnen und Ihrem lieben Georg, von Ihrem treu ergebenen

Heinrich Gerold.«

 

Lange schon war das Mädchen wieder fortgegangen, als Frau Bang mit still herunterhängenden Armen noch immer vor dem Tische mit seiner reichen Last von Dingen stand, die sie heut alle ihrem Georg bescheren sollte. Vor ihren Augen ward das Bild wieder lebendig, wie sie an jenem Abend, da Georg am Geburtstage seines Freundes zum ersten Male bei Gerolds eingeladen war, den Buben holen kam. Wortlos in seinem Glück, mit heißen Wangen, hatte er sie damals zu jenem Tische hingezogen, der dieses selbe Knabenspielzeug trug.

Ob ihm die Dinge heute Freude bringen mochten?

Mit scheuen Fingern griff sie manches Stück heraus; vorsichtig stellte sie es wieder hin. Mein Gott – wie viel war das nicht alles, was Georg da bekam! Ein ganzer Laden voll – mehr als er je besessen hatte!

Und wie verschwand daneben das, was sie selbst ihm bescheren wollte! Was sie sich abgesorgt hatte – die Handschuhe, Krawatten, »Das Buch vom Kaiser Joseph« und das kleine Modellierspiel. Ob er die armen Sachen, die sie da für ihn mit so viel Freude eingekauft hatte, auch nur bemerken würde neben diesen schönen Dingen?!

Eine leise Bitterkeit kam, wie sie daran dachte, über sie, und beinahe ratlos stand sie all dem seltsamen Geräte gegenüber.

Erst nach einer Weile fand dann ihr Sinnen eine neue Richtung.

Wie gut das wieder ist von dem Herrn Gerold! dachte sie. Wie Georg ihm danken muß! Und daß er sich doch trennen konnte von diesen Stücken.

Da drang der Schlag der Pendeluhr hell aus der Küche über den Gang herüber. Frau Bang raffte sich auf. Gewiß, sie durfte nicht länger müßig bleiben; in einer halben Stunde kam ihr Bub nach Hause, und heute gab's noch viel zu tun. –

Als Georg aus der Schule gekommen war, hatte er das Zimmer nicht mehr betreten dürfen. In der Küche, am weiß gescheuerten Ahorntische hatten die beiden ihr bescheidenes Mittagsessen eingenommen, zu dessen Schluß es heute als Vorfeier des Festes ein paar Lebzelten gegeben hatte. Dann, während Georg beim warmen Herde Nüsse vergolden und die Wachskerzen an kleine Drahtspangen festmachen durfte, schmückte Frau Bang im Zimmer drin den Weihnachtsbaum und den Tisch mit den Geschenken für ihren Buben. Auch die kleinen Gaben, die sie Herrn Franz Schneeberger geben wollte, wenn er am Abend nach Hause kam, legte sie zurecht – die warmen, wollenen Wintersocken, den Teller voll mit Äpfeln und Nüssen und die gestickte Brieftasche, die noch von ihrem seligen Manne rührte.

Frau Bang war selbst ganz heiß erregt, als sie die bunten Lichter an dem Bäumchen angezündet hatte und nun, da schon die Stube hell im Kerzenglanze strahlte, rasch in die Küche eilte, um Georg zu holen. Unruhig und drängend hatte sich der Bub schon während der letzten Stunde immer wieder rufend und klopfend im Vorzimmer vor der Tür der Stube gemeldet. Nur auf die wiederholten Ermahnungen war er schließlich in der Küche geblieben. Daß etwas ganz Besonderes im Werke war, wußte er schon. Frau Bang hatte es ihm verraten, daß auch Herr Gerold sich am Weihnachtstische eingestellt hätte.

Mit erwartungsvollem Gesicht und glänzenden Augen stürmte er nun vor der Mutter her in die Stube, und wie geblendet stand er dann wenige Schritte vor der weißgedeckten Tafel, auf der die kleine Tanne leuchtend im Weihnachtsschmucke stand und alle die Geschenke lagen, die er bekommen sollte.

Sein Blick ging wie im Traume über den Tisch und über all die Dinge, die er trug.

»Mutter, das ist zuviel, das ist …«

Nun trat er näher. Seine Hände griffen vor. Sie faßten in leisem Zittern über die Geschenke. Über das Mikroskop und über die Elektrisiermaschine –

Und seine Augen wurden dabei unsicher und groß, ein Ziehen kam ihm um den Mund, ein Zucken.

»Mutter – das ist – das sind ja dem Hans seine Sachen – –?!«

Frau Bang stand neben ihm und nickte. »Herr Gerold hat sie dir geschenkt – du sollst sie in Ehren halten. Freust du dich recht?«

Und während sie mit ihrer Linken dem Buben übers Haar strich und sich vorbeugte, um ihm ins Gesicht zu sehen, schob sie ihm mit der Rechten, die seltsam zitterte, das kleine Modellierspiel und »Das Buch vom Kaiser Joseph« zage näher.

Und Georg sah die Dinge, die er seiner Mutter dankte, und schlang ihr seine Arme um den Hals. Eng drückte er den Kopf an ihren. Sie fühlte, daß ihm ein paar Tränen über die Backen liefen und daß die Tränen des Buben nun auch ihre Wangen netzten.

Sie schwiegen beide und hielten sich so still umschlungen.

Dann, als am Baume ein paar Tannennadeln, die einem Lichtlein wohl zu nahe standen, ein wenig knisterten und sprühten, drehte Frau Bang mit sanftem Drängen das Gesicht Georgs dem Baume und der Weihnachtsherrlichkeit aufs neue zu. Eng drückte sie den Buben an sich.

So sahen sie beide in stiller Andacht, wie die Kerzchen sich gemach verzehrten und ihr Licht niedergossen auf die Geschenke alle auf dem Tische, auf die schlichten Gaben der Mutter und auf das Knabenspielzeug, das einstmals dem kleinen Hans gehörte, der nun so lange schon da draußen unter der weißen Decke schlief. –

Das erste Kerzchen war erloschen. Zischend und prasselnd hatte es ein paar Nadeln des Zweiges angesengt, an dem es befestigt gewesen, dann war das kleine Flämmchen bläulich aufgeflackert und entschwunden. Nur der dünne Docht kohlte noch, und ein graues Rauchfähnlein ringelte sich mit leisem Duft von Wachs und Tannennadeln auf. Weihnachtsgeruch ging durch das Zimmer.

»Wie schön das ist!« sagte Georg. Seine Stimme zitterte ein wenig, aber seine Augen waren wieder klar. »Du und Herr Gerold, ihr beide … und Sephi …«

Frau Marie Bang küßte den Buben auf die Stirn. Sie verstand ihn, wenn er auch nicht den letzten Satz zu Ende sprach. Sie wußte, es war seine Welt, der Inhalt seines jungen Lebens, der ihm in dieser stillen Weihestunde auf die Lippen getreten war. – –

Das Weihnachtsgeschenk, das Herr Gerold sich selbst geschenkt hatte, war ein Harmonium. Er hatte das Pianino, das er bisher besessen hatte, mit einer Aufzahlung im Tausche dafür hingegeben. Als Georg am ersten Weihnachtsfeiertage zu ihm kam, hörte er schon im Vorzimmer die orgelartig tiefen Töne des Instrumentes, die sich zu schwermütigen Melodien fanden und die die Räume weihevoll durchfluteten.

Und dieses ernste Instrument schien von da ab für des Herrn Gerold ungebrochenen Schmerz Ableitung und Beruhigung zu bieten. Er liebte es, und es schien Leben zu finden unter seinen Händen.

Oft, oft in der Dämmerstunde saß er nun davor und spielte. Wie wenn er Zwiesprache pflegte mit dem toten Söhnchen, war sein Spiel. Ein trauervolles, sehnend mildes Phantasieren, in dem der Schmerz zu heißer Sehnsucht wuchs, bis er sich still verklingend, tränenmüde löste.

Die Dämmerung brach herein, es dunkelte. Man konnte die Gestalt auf ihrem hohen Stuhle nicht mehr erkennen.

Aber die Töne strömten durch das nächtige Gemach, und was der Spieler nicht in Worte kleiden konnte, das gab er ihnen mit, das sagten sie und trugen es empor.

Auch die Kinderlieder alle, die Herr Gerold den Seinen auf dem Klavier gespielt hatte, spielte er nun auf dem Harmonium.

Mit wehmütiger Freude sah er auf die beiden, auf Georg Bang und auf die kleine Sephi, wenn sie dann Hand in Hand an seiner Seite standen und wenn die beiden jungen Stimmen sich zusammenfanden.

Weniger war Frau Gerold mit dem neuen Instrumente einverstanden.

»Es ist nicht gut für ihn,« klagte sie wohl zu Georgs Mutter, wenn diese kam, den Buben abzuholen. »Er sollte sehen, sich von seiner Trauer zu befreien – so aber ist's ein ›immer tiefer sich Verbohren‹ in den Schmerz. Gewiß ist es ein furchtbarer Schlag, der uns getroffen hat – aber habe ich denn weniger drunter zu leiden als er? Weiß ich als Mutter nicht, was uns der Hans gewesen ist? Der arme Hans …«

Die schöne Frau drückte das feine Taschentuch ein paarmal an die Augen und schluckte.

»Mein Gott – aber darf man sich so gehen lassen? Stark ist mein Mann ja nie gewesen – aber, wie er jetzt aussieht, so schlecht hat er nie ausgesehen. Und wie das alles seinem Herzen schaden muß – der Arzt hat ihn von je vor Aufregungen gewarnt. Er sollte mehr ins Freie gehen, nicht immer wieder daran denken. Aber was ich auch rede, alles ist umsonst.«

Frau Bang seufzte und schwieg … Gewiß, die schöne Frau da vor ihr hatte recht: man sollte sich die Dinge nicht zu tief zu Herzen nehmen. Man sollte sich mit Kraft von dem befreien, was einen zu der Erde niederzog. Man sollte … ja, wenn man es könnte!

Sie sah im Geist das müde Angesicht des armen Mannes. Wie bitter und verquält sah es nicht aus!

Doch da begann die schöne Frau vor ihr wieder zu sprechen:

»Auch der Herr Crispi – ein guter Freund von ihm, der manchmal zu uns kommt – Ihr Georg kennt ihn – auch der sagt, daß es so nicht weiter gehen könnte. Und der meint doch gewiß auch nur sein Bestes!«

Die Tür aus dem Nebenzimmer wurde geöffnet, und mit den Kindern kam Herr Gerold herüber.

Er mochte die letzten Worte noch gehört haben, denn er sah fragend auf seine Frau, und diese nahm den Blick mit leisem Erröten auf und wandte sich zu ihrem Manne.

»Ich sagte eben zu Frau Bang, daß du mehr für deine Gesundheit tun solltest – daß auch dein Freund gesagt hat …«

»Welcher Freund?« Ein dünnes Flimmern lag in den Augen Heinrich Gerolds.

»Nun ja – dein Freund – der Herr Crispi –«

Jetzt lächelte Herr Gerold, ein ganz leises bittertrübes Lächeln.

»Das also ist mein Freund?« sagte er dann.

Und über Georg, der an seiner Seite stand, zog es gleich einem Schauer hin. Er blickte zu Sephi hinüber. Wie hatte doch Herr Gerold einst zu ihr gesagt? – »Er ist ein Levantiner.« Und den Buben ergriff es wie damals, da er, ohne es zu verstehen, das Wort zum ersten Male gehört hatte, wieder mit unabweisbarer, geheimnisvoller Kraft.

Frau Gerold aber lachte kurz für einen Augenblick.

»Hm – du bist komisch!« sagte sie dann nur. Und wie sie sich erhob, griff sie in jener steilen schönen Geste, die ihr eigen war, mit ihrer linken Hand empor und drückte sich mit ausgespreizten Fingern die Nadeln in dem Knoten des leuchtend blonden Haares fest.

Ein paar Herzschläge lang war es nun völlig still.

Frau Bang lag's wie ein Würgen um die Kehle. – Mein Gott – mein Gott – das auch noch! dachte sie. Sie wollte lächeln, tun, als hätte sie das nicht verstanden, was aus den Fragen da gesprochen hatte. Sie wollte zu ihm gehen und von anderen Dingen reden, aber sie brachte kein Wort hervor und wagte nicht, sich zu erheben.

Herr Gerold selber brach schließlich das Schweigen.

Er sprach mit stiller Stimme vor sich hin: »Ja es ist wahr, ich bin recht angegriffen, ich habe wenig Schlaf und bin ermattet. Im Frühjahr wird das alles vielleicht besser werden.« Und dann kam er auf gleichgültige Dinge, so daß es Frau Marie Bang für einen Augenblick beinahe war, als hätte sie geträumt, sich eine Torheit eingebildet, wie ihr die Worte früher so hart ans Herz gegangen waren.

Dann aber, als sie mit dem Buben schweigend durch stille, winterliche Gassen nach Hause ging, und als ihr jenes Bild und jene Worte aufs neue in der Erinnerung lebendig wurden, da wußte sie, daß Heinrich Gerold auch noch an einem anderen Schmerze trug: an einem Zweifel.

»Mutter …«

Sie schreckte auf.

»Mutter – was ist ein Levantiner?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt – zu Hause, Georg.«

Dann aber, als sie eine Weile still gegangen waren, fragte sie selbst den Buben:

»Sag', Georg, kommt der Herr, von dem sie da gesprochen haben, öfter hin, ich meine, hast du ihn schon oft gesehen?«

»Ja, erst – und dann in der letzten Zeit.«

Sie schwiegen wieder beide.

Und Frau Marie Bang dachte im Gehen: Der arme Mann! Wenn er doch Klarheit fände!

* * *

Langsam schien es nun doch auch in Herrn Gerolds Wesen neu auszuschlagen, ruhiger und friedlicher zu werden, als der Frühling ins Land gezogen kam.

Nicht daß er seinen Schmerz vergessen und begraben hätte. Der Leidenszug, den ihm der Tod des Buben ins Angesicht gegraben hatte, der blieb und wich von ihm für keinen Augenblick. Er stand auch dann um Mund und Augen, wenn das Gesicht zu lächeln suchte. Gleich einem Schleier, der die Linien mildert und sanft verschwimmen läßt, was sonst wohl Schärfe ist, lag dieses Lächeln dann über der Trauer. Aber es kam doch manchmal.

Und auch sein Interesse für alles Schöne schien wieder zu erwachen. Es war so lange ganz zurückgeschoben und verborgen worden von den Gedanken, die ihn völlig eingenommen hatten.

Er ging mit Georg, der in diesem Frühjahr sein zwölftes Lebensjahr begann, und mit Sephi, die, drei Jahre jünger als der Freund, doch für ihr Alter seltsam vorgeschritten war in ihrem ganzen zarten Wesen, oft in die Museen und öffentlichen Sammlungen. Er zeigte ihnen die Schatzkammer des Kaiserhauses, die Belvederegalerie und das Naturalienkabinett auf dem Josephsplatz und legte durch seine schlichten Erklärungen den Grund zu mancherlei Erkenntnis in ihren Herzen.

Einmal war auch Frau Gerold an einem solchen Sonntagvormittag mitgewesen. Da ging er Arm in Arm mit ihr und suchte immer wieder auch ihr das, was sie sahen, möglichst fesselnd zu machen. Er blickte voll fürsorglicher Zartheit fortwährend nach ihr hin und las ihr zu den Bildernummern, die sie nannte, die Angaben des Kataloges vor.

Bei diesem einem Male blieb's jedoch. Frau Gerold hatte damals bald über recht starken Kopfschmerz geklagt, sie konnte, wie sie meinte, das viele Stehen vor den Bildern, das angestrengte Schauen nicht vertragen.

Die beiden Kinder waren über diesen Umstand nur wenig betrübt, so konnten sie Herrn Gerold nun wieder ganz für sich in Beschlag nehmen, und das schien ihnen doch am schönsten. Auch zu Hause gab sich Frau Gerold in dieser Zeit bedeutend mehr als früher mit Sephi ab. Sie saß bisweilen im Kinderzimmer, sah zu, wenn Georg und das kleine Mädchen zusammen spielten, und spielte wohl auch selbst für ein paar Augenblicke mit den Kindern.

Ein Spielen freilich, wie es der Herr Gerold kannte, war das nicht. Die beiden Kinder blieben ungeschickt dabei, sie gaben sich nicht frei und ungezwungen.

Herrn Crispi sah Georg während aller dieser Wochen nicht. Ein einziges Mal noch war er dort gewesen nach jenem Abend, da Herr Gerold mit seiner Frau vor Georgs Mutter von ihm gesprochen hatte. Dann blieb er weg, und auch sein Name wurde nicht genannt.

Enger denn je vorher wurde in dieser Zeit, die nun kam, der Anschluß der beiden Kinder aneinander.

Das kleine, zierliche Ding, die zarte Sephi, die Georg früher immer wie ein feines Elfenwesen, als etwas so weit über ihm Stehendes erschienen war, erschloß sich ihrem Freunde wie niemand sonst. Was sie dem Vater, der nun seit Hansens Tod doch so viel ernster, stiller und wortkarger war als früher, nicht sagen konnte und der Mama nicht sagen mochte, weil diese doch nur lächelnd oder mit einem raschen Wort darüber hinging, das wurde nun dem Georg anvertraut. Altklug und wichtig suchten sie zusammen die Lösung für so manchen unverstandenen Vorgang, den das Leben ihnen zeigte, die Antwort auf so manche Frage, die sie nicht zu enträtseln wußten.

Sephi ging nicht zur Schule. Ursprünglich hatte sie gleich ihrem Bruder nur die zwei unteren Schulklassen zu Hause durchmachen sollen, und so wie den kleinen Hans, so hatte Herr Gerold selbst auch sie in die ersten Schwierigkeiten des Lernens eingeführt – bis zu der Zeit von Hansens Tod. Dann hatte er die Ruhe, die Sammlung dazu nicht mehr finden können. Es hatte ihn nicht mehr gelitten vor diesem Tische, diesen Heften und Lesebüchern. Die Dinge alle, die ihm die Erinnerung an Stunden, die er in gleicher Tätigkeit mit seinem toten Buben hingebracht hatte, fortwährend in lebendiger Frische wachriefen, ließen ihn fühlen, daß er hier nicht mehr zum Lehrer taugte. So wurde eine Lehrerin für Sephi angestellt, ein Fräulein, das alle Tage vormittags für zwei Stunden kam. Auch von dem Vorsatze, das Kind nach den zwei ersten Jahren zur Schule zu schicken, war Herr Gerold nun abgekommen. Er fürchtete nach all dem Leid, das ihm an seinem Buben widerfahren war, die Schulkrankheiten allzusehr. So sollte Sephi auch für später der Schule ferngehalten werden, er wollte ihr ihre ganze Ausbildung zu Hause geben lassen.

Dadurch kam es, daß das kleine Mädchen auch kaum mit Altersgenossinnen in Berührung kam. Georg, der einzige Kamerad, den sie hatte, war ihr Ersatz für allen Umgang sonst. Er war ihr Freund, Freundin und Bruder. Mit ihm konnte sie über alles sprechen, was ihr gerade durch das Köpfchen lief, mit ihm konnte sie alles spielen, und er verstand auch alles, was sie tat und dachte. Er war nicht so wie andere Buben, die immer nur herumhetzten, die nur im Raufen, Boxen und Schreien Vergnügen fanden. Er war auch sicher viel gescheiter als alle diese anderen dummen Buben! Wenn er auch das den Lehrern nicht so zeigte. Er war eben ein stiller Bub – aber mehr wert als diese anderen alle; das hatte ihr auch der Papa einmal gesagt. Und ihr war es damals gewesen, als hätte er das von ihr selbst behauptet. Ganz verlegen war sie geworden in ihrer stolzen Freude.

Für Georg aber war Sephi ein Kindeswesen, das er still und abgöttisch verehrte. In weißen Spitzenkleidchen hatte er sie einst in seinen Träumereien vor sich gesehen, auf feinen Seidensesseln, so zart und kostbar, wie sie seine sehnsuchtsvolle Knabenphantasie sich damals nur ausmalen konnte. Jetzt wußte er, daß sie nicht immer Spitzenkleidchen trug und daß bei Gerolds wohl viel schöne und kostbare Dinge waren, wenn auch nicht Seidensessel, wie er einst geträumt. Aber die Wirklichkeit hatte, wenngleich sie ihm also ein wenig Alltag in den Wein seiner Träume gegossen hatte, sein Herz doch nicht enttäuscht. Was in des Knaben Phantasien so hoch gestanden hatte, so weit und fern, daß er nicht gewagt hätte, sich ihm zu nahen, das stand ihm in der Wirklichkeit nun näher, als er es jemals sich erträumen konnte. Die kleine Sephi war, so wie nur je zuvor, der Inhalt seiner Träume – doch sie war mehr jetzt, sie erfüllte auch sein Leben. Dem Buben, dem aus all den Dingen, die er gemeinsam mit Sephi unter der Führung des Herrn Gerold sah und kennenlernte, der beste Zuwachs seines jungen Lebens wurde, der in den Feierstunden seines Daseins die Kleine stets an seiner Seite sah, verband sich das Gefühl der Andacht, das er dann stets empfand vor dem, was ihm erschlossen wurde, mit dem Bilde des zarten Kindes. So war sie ihm die Kameradin, die Freundin und doch mehr. Ein Hauch des Höheren blieb stets an ihr, mochte das zierliche Gestaltchen auch noch so harmlos, zwanglos sich bewegen. Und wenn die kleinen Hände manchmal – als müßten sie nachholen, was sie in trauervollen Zeiten und in einsamen Stunden versäumt hatten – kindische Spiele trieben und der zarte, blasse Mund auch manche kleine Torheit schwatzte – was Georg Bang an ihr verehrend liebte, ward dadurch nicht berührt. Für ihn lag um das blonde Köpfchen allzeit gleich einer Heiligenkrone der Abglanz seiner eigenen Dankbarkeit. Was in den vielen Tagen jeder Woche an stillem Sehnen nach der kleinen Freundin in ihm wuchs, das löste sich dann sonntäglich in Glücksgefühl.

Manchmal im Spiele war es, als fühlte Sephi, daß sie die Übermacht über den Freund in Händen hatte. Er war der ältere und fügte sich doch jedem ihrer Wünsche. Da war es dann, als ob sie sich an diesem Gegensatze freute. Doch wenn sie ihn so eine Weile nach ihren Launen hatte quälen können, dann brach die Reue über dieses Tun ganz jäh aus ihr hervor. Dann konnte sie sich kaum genug tun, ihm zu zeigen, daß sie auch unter seiner Führung sich seinen Wünschen unterordnen könnte. –

Als der Sommer gekommen war, nahm Herr Gerold die gemeinsamen Ausflüge in die Umgebung Wiens mit den beiden Kindern wieder auf. Und bei einem solchen Ausflug geschah es, daß ein heftiger Regen die kleine Gesellschaft überraschte.

Wenn sie auch gleich nach Hause eilten und wenn der Sephi dann auch dort sofort trockene Kleider angezogen wurden – die Erkältung, die ihr Vater für das Kind gefürchtet hatte, ließ sich dadurch doch nicht mehr bannen. Schon tags darauf bekam Sephi leichtes Fieber, mußte ins Bett, und obgleich die Erscheinungen der Krankheit nach wenig Tagen wieder ganz behoben waren, so traf Georg, als er am nächsten Sonntag des Nachmittags zu Gerolds kam, die Freundin doch noch in den Kissen. Im Bett sollte sie auch noch in den nächsten Tagen bleiben. Zu ihrem Bette aber war ein Tisch geschoben, und dort saß nun Georg, plauderte mit ihr und las ihr aus dem neuen Buche vor, das sie aus Anlaß der Erkrankung von dem Papa bekommen hatte.

Manchmal blickte er auf und sah zu ihr hinüber; das zarte Köpfchen, das von blondem Haar umrahmt, still in den Kissen ruhte, war ihm zugewendet. Die Augen sahen träumend in die Ferne, ein lieblich ernstes Sinnen lag in ihnen.

Wie seine Stimme schließlich schwieg, schien Sephi aus dem wachen Träumen erst zu sich zu kommen.

Nun lächelten ihn ihre Augen an.

»Schon aus?« fragte sie.

Er nickte. »Hübsch – nicht?«

Sie blickte vor sich nieder, und in die Wangen stieg ihr ein feines helles Rot. Die zarten Händchen aber fuhren in leisem Streicheln zwei-, dreimal über die Decke hin.

Und Georg, der dem Spiele dieser Finger mit den Augen folgte, fragte: »Hast du nicht zugehört?«

Jetzt schüttelte sie ihren Kopf.

»Du, Georg …«

»Ja?«

»Weißt du, was ich mir gedacht hab' jetzt?« Sie lächelte und sah ihn an.

Er sagte nichts. Nur seine Augen fragten. Aber das Herz begann ihm plötzlich so stark zu schlagen, wie er in das Gesichtchen blickte, das ihm, von hellem Rot ganz übergossen, so scheu und heimlich entgegensah.

Und jetzt bewegte Sephi wieder ihre Lippen. »Ich hab' gedacht, daß, wenn ich einmal groß bin und wenn ich heirat', ich keinen anderen Mann haben möcht' als dich!«

Georg sah immer noch auf sie. Seine Hände fuhren zitternd über den Einband des Buches, das er in Händen hielt. Ein Gefühl weihevoller Freude erfüllte ihn. Und doch zuckte es ihm um die Augen, und seine Züge blieben ganz ernst. Nur blässer waren sie geworden, und seine Augen strahlten.

Und ganz ernst, unfähig auch nur ein Wort zu sprechen, nickte er mit dem Kopfe.

Von Georgs jungem Herzen, der, so gefällig allen Wünschen Sephis, früher so manches Mal im Spiel als Vater ihrer Puppen und als ihr Mann hatte mittun müssen, war in dem Augenblicke ein Reif gesprungen. Ein Samenkorn in seiner Brust hatte die Hülle aufgesprengt, in der es bisher schlief – die Liebe wollte werden.

Wie Glück und Schmerz zugleich war es in ihm.

Das heiligste Mysterium des Lebens zitterte zum ersten Male durch das Dasein des Knaben …

Von dieser Zeit ab ging ein Wandel vor sich in Georg Bangs Gefühlen.

Die neue Welt in seinem Innern, die durch das kindlich keusche Werde-Wort der kleinen Sephi erstanden war, erhellte nun sein ganzes Wesen mit neuem Lichte.

Gedanken kamen ihm, die ihm bisher ganz fremd geblieben waren, und Fragen tauchten in ihm auf, zu denen er sich keine Antwort wußte. Was bisher Träume waren, das wurde ihm zu Sehnsucht und zu Wünschen, das stieg nun nieder aus dem Reich der Phantasie und faßte Wurzeln in dem Reich der Erde.

Nicht, daß sich Georg Bang bewußt geworden wäre, wie sehr das Erlebnis sein ganzes Sein durchdrang. Er spürte nur, wie tief ihn das liebende Vertrauen der Freundin mit Glück erfüllte, daß er ihr näher war als früher. Und auch das war kein Vorgang, über den er sich klar war, sich Rechenschaft gab. Was er sah und was ihn glücklich machte, das war nur immer wieder das Bild des Augenblickes: das zarte, scheu und froh zugleich ihm zugewendete Gesichtchen, der Blick der Augen und das feine Rot, das über Wangen, Stirn und Schläfen lag, bis zu dem hellen blonden Haar. Dazu noch ein Paar Lippen, weich wie zwei Rosenblätter, die sich im Sprechen sacht bewegten.

Und dieses neue Glück nahm ihn so völlig ein, daß er die Dinge um sich nun auch in seinem Scheine heller und froher sah. Ihm war's, als hätten die Kastanien im Hof des alten Hauses noch nie so voll belaubt, so reich geschmückt mit großen Früchten die dunklen Häupter in die Sommerluft gehoben, ihm war's, als wäre ihm die Schule nicht mehr so drückend und beklemmend wie wohl sonst, als wären die Räume weniger kahl, die Lehrer freundlicher und weniger streng in ihrer ganzen Art. Das Menschliche in ihnen trat ihm näher, und sie, die fühlten, daß sich jene Scheu und Zagheit lüftete, die ihn bisher gleich wie mit Schleiern umschlossen hatte, kamen dem Buben in der Tat entgegen. Besonders einer nahm sich gern seiner an und fand in dieser Zeit zuerst den Weg zu Georgs Seele, der Lehrer der Geschichte, Doktor Rieger.

Mit dieser Freude, die Georg so erfüllte und mit den kleinen Erfolgen, die er in der Schule errang, wuchs sein ganzes Wesen. Ziele erstanden vor seiner Seele, die weiter draußen lagen, als sein Blick bisher gesehen hatte. Er wollte alles tun, um sich im Leben fortzubringen, er wollte arbeiten, soviel er konnte, Sephi sollte sich seiner einmal nicht schämen müssen.

Gesprochen hatte er niemals zu jemand über sein Erlebnis. Auch im Gespräch mit Sephi kam er nie darauf zurück. Und selbst der Mutter, der er bisher noch nie im Leben etwas verborgen hatte, konnte er das nicht sagen.

Nur einer war's, dem er es anvertraute, des Abends, wenn er, die Hände auf der Bettdecke gefaltet, im Dunkel lag: Gott.

Heiß war es ihm an jenem ersten Tage herangedrängt, als er sein Nachtgebet beendet hatte: Herr, gib, daß wir uns bekommen, die Sephi und ich!

Und von da ab kam es täglich und war die letzte Bitte jedes seiner Tage.

Wohl merkte Frau Marie Bang das zarte Blühen ihres Buben, wohl sah sie, daß die blassen Wangen röter waren und daß die Augen oft in träumerischem Glanz erstrahlten. Allein sie fragte nicht und dachte nicht ans Fragen. Sie fühlte es nur als ein Glück, daß Georg jetzt besser gedieh; in ihrem schlichten Mutterherzen aber, das in dem Buben immer noch das Sorgenkind von einst erblickte, regte sich niemals ein Gedanke an das, was diese Knabenseele heiß erfüllte.

Mit Stolz hatte sie einmal auch Herrn Franz Schneeberger davon gesprochen, wie Georgs Wesen und Gesundheit sich nun kräftigten.

Und der hatte zu ihren Worten hastig und mit väterlicher Fürsorge genickt. »Dös war auch nötig, war auch dringend nötig! Denken S' doch selbst, Frau Bang, zwei Jahr noch, und der Bua kommt aus der Schul'. Zwei Jahr noch, und er muß ins Leben! Bis dahin muß er Kräfte haben … und überhaupt, man wird doch nächstens schon dran denken müssen, sich klar zu werden, was der Bua dann werden soll … Na, wissen S' Frau Bang, ich hab' da so meine Gedanken –. Ich … na …,« er räusperte sich laut, drehte dann aufmerksam an seiner Pfeife herum und lächelte ein wenig vor sich hin.

Frau Marie Bang aber sah zu Georg hin, der still über ein Buch gebeugt saß, und dachte mit Schrecken: Zwei Jahre noch – nur noch zwei Jahre … Ihr war's in diesem Augenblicke, als wäre die Zeit noch gar nicht so sehr ferne, da sie das Kind in schlummerlosen Nächten auf ihren Armen leise singend stundenlang getragen hatte. Und nun sollte das Leben draußen schon bald ein Recht an ihn gewinnen, ihn von ihr nehmen?

Sie merkte nicht, wie Herrn Schneebergers Lippen ein paarmal um das Mundstück seiner Pfeife zuckten, als wollte er zu dem, was er gesprochen hatte, noch mehr hinzufügen, sie sah nur ihren Georg drüben über seinem Buche und konnte nur das eine denken: Zwei Jahre nur, – nur noch zwei Jahre – –

Als der Herbst ins Land kam und die Blätter sich verfärbten, ging's wieder schlechter mit Herrn Gerold. Als hätte sich das große Welken in der Natur auch ihm auf das Gemüt gelegt, daß all die zage Freude wieder starb, die im Sommer schon erstehen wollte, so war es nun um ihn. Die Augen lagen wieder matt und tief in ihren Höhlen, die Falten um den Mund waren voll Qual und Bitterkeit, und öfter wieder als sonst in der letzten Zeit trieb es den armen Mann hinaus auf den Zentralfriedhof zum Grabe seines Buben.

Auch das Harmonium, das in den Sommermonaten nur wenig benutzt worden war, zog ihn jetzt wieder an, und seine Phantasien flossen nun wieder durch die Räume und sprachen von den Leiden einer müden Seele. Sehnsucht und Schmerz waren in ihnen, doch nicht wie früher klangen sie in tränenmüden Akkorden aus. Jetzt klagten sie mit wehen Stimmen, jetzt rangen sie nach Ruhe und Befreiung und brachen oft in Tönen der Verzweiflung ab.

Und Frau Malwine Gerold, die im Nebenzimmer saß und stickte oder in einem Buche blätterte, die stand dann wohl in unruhvoller Hast vom Tische auf und ging ans Fenster oder in die Kinderstube, damit sie diese Melodien nicht mehr hörte. Sie haßte dieses Instrument; das Klagen seiner Töne griff sie an, daß sie sich ganz nervös und krank von ihnen fühlte. Drüben bei den zwei Kindern aber, bei Sephi und bei Georg, sprach sie dann laut und lebhaft. Sie fragte Georg nach der Mutter und nach seinem Lernen – nach Dingen, die ihr sonst doch so ganz fern zu liegen schienen – sie nestelte an Sephis Kleidern und suchte alles mögliche hervor, um länger in der Kinderstube zu verweilen, zu der die Töne des Harmoniums nur leiser mit ihren letzten Wellen drangen.

Eins fühlte Georg Bang aus all dem Treiben: es lag zwischen Herrn Gerold und der schönen Frau ein dumpfes Schweigen. Herr Gerold hatte aufgehört ihr so zu dienen, so alles von den Augen abzulesen, wie es im Frühjahr und auch noch während der Sommerzeit gewesen war.

Und als Sephi einmal zu ihm sagte: »Du, Georg, gestern war Herr Crispi auch schon wieder da – der kommt jetzt wieder alle Augenblick!«, da mußte er an all die Trauer denken, wie sie im Antlitz seiner Mutter stand, damals, als sie durch stille winterliche Gassen von hier nach Hause schritten. Da kam ein heißes Mitleid mit Herrn Gerold über ihn, ein Mitleid, dessen letzten Grund er nicht erfaßte, doch das ihn trieb, sich doppelt liebevoll dem Vater Sephis anzuschließen.

In einer solchen Stunde, da der Bub still an der Seite seines väterlichen Freundes saß, da war es auch, daß dieser das lange Schweigen unterbrach und aufsah zu dem Bilde Hansens an der Wand. Er nickte, und dann sprach er leise vor sich hin – für Georg – doch nicht zu ihm, sondern in den Raum:

»Ich hab' heut' nacht wieder von meinem Hans geträumt. Ich träume jetzt so oft von ihm, und es ist seltsam – ich träum' dabei jedesmal den gleichen Traum. Er steht vor mir – so wie er hier im Leben war – du weißt es ja, in dem Matrosenanzug mit dem hellen Strohhut in der Hand. Er schaut mich freundlich an und lächelt. Ich selbst empfinde dabei nur ein Glücksgefühl, daß ich ihn sehe – nichts von Erschrecken oder Angst. Als ob das ganz natürlich wäre, ist es mir. Und ich will ihm die Hand hinstrecken und sage dabei: ›Komm – so komm doch, Hans!‹ da schüttelt er den Kopf – dreimal – und lächelt immer noch zu mir herunter. Und dann sagt er mit seiner lieben Stimme, ganz deutlich, daß ich noch den Klang im Ohr hab': ›Bald – bald werden wir wieder ganz beisammen sein!‹ Und dann ist an der Stelle, wo er noch eben stand, ein heller Fleck. So ist er heute nacht zum drittenmal im Traum zu mir gekommen …«

Herr Gerold schwieg und schaute auf das Bild.

Und Georg, den bei diesen Worten die Macht des Übersinnlichen, die Seltsamkeit des Traumes als Schauer fest ergriffen hielt, fand nun erst, da Herr Gerold geendet hatte, sich selber wieder.

Zum ersten Male stieg in ihm ein Ahnen auf, was alles er verlieren würde, wenn dieser Mann, den er wie einen Vater liebte und verehrte, von ihm gerissen würde. Er schmiegte sich an ihn und faßte mit den beiden Händen nach seiner Hand. Er wollte etwas sagen, das seinen väterlichen Freund auf andere Gedanken bringen sollte, er wollte sich die eigene Angst verscheuchen, die plötzlich über ihn gekommen war, so jäh und heiß, daß sie ihn überwältigte. Wie eine Lähmung lag es über ihm. Er dachte nur: das kann nicht sein – – das darf nicht sein! Und hastig, zitternd stieß er ein paar Worte hervor, die sich ihm auf die Lippen drängten:

»Das sind Träume, Herr Gerold – nein, Sie dürfen das nicht denken – Sie müssen bei uns bleiben – – –!«

Dann aber kam es, daß er selbst erschrak über das, was er sagte, und so verstummte er.

Herr Gerold aber strich ihm über die erglühten Wangen und sah ihm lange in die Augen.

»Ich muß? Mein lieber Bub, ich werde bleiben, so lang' mich mein Schicksal bleiben heißt. Und wenn's mich abberuft, dann muß ich eben gehen. Einsam bin ich auch dorten nicht, wohin's dann geht – –«

Er lächelte traumhaft vor sich hin. Es war, als ruhte sein Schmerz auf dem Gedanken, der vor ihm stand. Und ohne daß sein Blick ein neues Ziel gefunden hätte, gütig und still, sprach er dann weiter:

»Ich lasse, wenn ich gehen muß, zwei gute junge Seelen hier – die kleine Sephi und dich. Vergessen wird mich keines von euch beiden, und mit euch wird auch das erwachsen und erstarken, was ich euch habe geben können … was ich von mir in euch gepflanzt habe. Wahrhaftig scheidet nur der Mensch, der keine Kinder hat – oder der selbst so arm ist in der eigenen Seele, daß er den Kindern nichts von ihr hat geben können. Ein solcher kann noch leben – und doch schon tot für seine Kinder sein. Ich, Georg« – und er griff die Hand des Buben fester – »schau, ich glaube, daß ich bei euch bleiben werde, in Sephi und in dir – auch wenn ich nicht mehr lebend auf der Erde bin …« –

Wochen waren dahingegangen, seitdem Herr Gerold diese Worte zu Georg Bang gesprochen hatte. Und das Gemüt des Buben, das damals aufgewühlt war bis ins Tiefste, war wieder ruhiger geworden. Die Nächte, da er stundenlang sinnend und grübelnd über das, was er vernommen hatte, im Dunkel lag, waren vorüber. Die Mutter hatte, als er sie wenige Tage nach dem Vorfall fragte, ob es das gäbe, daß man des Nachts Gestorbene erscheinen sehe und daß man auch mit ihnen spreche, den Kopf geschüttelt. Dann hatte sie gefragt, woher er nur solche Gedanken habe. Und als sie mit Herrn Schneeberger am Abend von des Buben Frage sprach, da hatte der des langen hin und her geredet, von Einbildungen und lebhaften Träumen.

Still hörte Georg zu, bis Herr Schneeberger, der bisher in leisem Brummeln vor sich hin gesprochen hatte, nun auf ihn blickte.

»Hast du denn so etwas geträumt?«

Der Georg schüttelte den Kopf und wurde rot.

»Ich nicht – ich hab' nur so gefragt. Weil's Leute gibt, die doch auf Träume etwas halten.«

»Eh – Unsinn!« Und er sah den Buben mit sichtlichem Mißtrauen an. Es war, als zweifelte er an der Wahrheit von Georgs Antwort und mochte ihn doch nicht der Lüge zeihen.

Und Georg fühlte diesen Zweifel. Er kränkte sich darob und schwieg doch still. Er wußte, daß Herr Gerold dem Traum doch tiefere Bedeutung beigemessen hatte, und hätte nun, nach diesem schroffen »Unsinn!« den so verehrten Mann um alles in der Welt nicht preisgegeben …

Er selbst suchte sich seitdem zu beruhigen. Was konnte auch ein Traum Bedeutungsvolles haben! Herr Gerold war leidend und trauerte um Hans so tief – das mußte es gewesen sein, was ihn an diesem Traum so sehr ergriff.

So suchte Georg über jenes Gespräch, das ihn so nachhaltig erschüttert hatte, hinwegzukommen. Und doch, die lebhafte Erinnerung daran wich nicht von ihm, und sie ward stets aufs neue lebendig und nahm sein Fühlen ein, wenn er Herrn Gerold sah. Gleich einem heimlichen Verstehen war es seitdem zwischen diesem und dem Knaben, als hätten sie gemeinsam ein Geheimnis, ein stilles Wissen, das sie hüteten und pflegten. Bisweilen kam es vor, daß im Gespräche ein Wort fiel, das an ihr geheimes Wissen mahnte. Dann lächelte Herr Gerold leise, daß sich die bleichen Züge um den Mund bis in das spärlicher gewordene Haar des Bartes verschärften. Sein Lächeln erschien müde und teilnahmlos; wenn aber seine Augen dann über Georg streiften, dann las der Bub in ihnen die Gedanken, die ihm Herr Gerold damals ausgesprochen hatte.

Sie wußten, daß sie beide jener Stunde dachten. – –

Und wieder war es ein Sonntag, und Georg war bei Gerolds.

Bis zur Jause hatte er mit Sephi im Kinderzimmer gesessen, ihr aus ihren Büchern Geschichten vorgelesen und auf die kleinen Berichte gelauscht, die sie mit großer Wichtigkeit verkündete. Herrn Gerold hatte er zuerst nur einen Augenblick gesehen, als er bei ihm im Arbeitszimmer war, um ihn zu begrüßen. Freundlich wie immer hatte Sephis Vater ihn auch heute empfangen. Er saß, als Georg eintrat, vor seinem Schreibtisch über eine Menge vollbeschriebener Blätter gebückt und wies auf die, während er sprach:

»Grüß Gott, Georg! Das ist schön, daß du kommst. Schau, ich hab' leider noch zu tun jetzt –« Er sah nach der Uhr. »Aber nach dem Kaffee bleib' ich dann bei euch. Weißt d', für uns ist jetzt in der Bank die strenge Zeit – der Jahresabschluß steht bevor. Na – geh nur. Und auf Wiedersehen!«

Den Kindern war die Zeit bis zum »Kaffee« heut ganz besonders lang erschienen. Zweimal war Sephi zwischen Georgs Vorlesung hinausgeschlüpft und hatte die Mama gefragt, ob's denn noch nicht bald Zeit sei zur Jause. Und beide Male war sie zurückgekommen mit dem Bescheid:

»Die Mama hat g'sagt, sie wird's schon sagen, wenn's Zeit is'.«

Dann war es so weit. Frau Gerold rief die Kinder.

Als sie hinüberkamen in das Speisezimmer, war auch Herr Gerold schon da. Man war im Begriff, sich um den Tisch zu setzen, als draußen die Flurglocke tönte und gleich darauf die lebhafte und laute Stimme des Herrn Crispi im Vorzimmer hörbar wurde.

Erst hatten alle einen Augenblick lang aufgehorcht.

Dann war Frau Gerold die erste, die sprach.

»Der – –!« sagte sie, und eine Ungeduld, als wäre ihr der Kommende ein lästiger Gast, ein allzu eifriger Besucher, klang dabei aus dem Ton ihrer Stimme.

Herr Gerold sah auf seine Frau, und nur ein leises Zittern ging um seinen Mund.

Da öffnete sich schon die Tür, und lächelnd, Blumen in der Hand, trat der Herr Crispi ein.

»Stör' ich? G'rad beim Kaffee? O weh! Na – vor allem küss' die Hand, gnä' Frau! Servus, lieber Freund! – Ah, da is' ja der Schorschel – und die Sepherl – –! Nur ein paar Blümerln, gnä' Frau, weil Sonntag is' – – wie? – In's Wasser stecken, sagen S'? – Is' ja gar net der Müh' wert!«

Seine Stimme und seine laute Art erfüllten den Raum. Lächelnd und lachend wandte er sich bald zu den Kindern, bald Herrn und Frau Gerold zu und dabei war sein Wesen so sicher und lebhaft, daß es kaum auffiel, wie die andern alle ruhig blieben.

Frau Gerold war die einzige, die diese Stille neben des Herrn Crispi Stimme zu merken, peinlich zu empfinden schien. Eine nervöse Gespanntheit lag über ihren Zügen und prägte sich in ihren Gesten aus, wie sie jetzt, geflissentlich ruhig, den Gast einlud, den Kaffee mitzutrinken, und wie sie dann zu dem schweren Büfett hinüberschritt und dort, wie sich besinnend, einen Augenblick in Gedanken verloren stand, ehe sie aufwärts in den Schrank des Aufsatzes griff, um noch eine Tasse für den Gast herauszuholen.

Ihre Gestalt in dem losen, eleganten Hausgewande hob sich dabei in wunderschöner Linie von dem dunkelen Holze. Und die Augen des Herrn Gerold ruhten auf ihr und glitten an ihr nieder, von der weißen Hand vorbei an der üppigen Krone des goldblonden Haares, über den anmutigen Ansatz des Halses und die frauenhafte Grazie des Rückens. Aber die Augen Heinrich Gerolds wurden all dieser Schönheit nicht froh. Sie sahen seltsam traurig drein, und Georg, der in das Gesicht von Sephis Vater sah, der mußte plötzlich an ein Bild denken, das ihnen, im zweiten Jahre ihrer Schulzeit, der Katechet einmal von dem Katheder aus gezeigt hatte. Es war eine Illustration zu der Leidensgeschichte des Herrn, und der Spruch des Evangeliums stand darunter: »Ehe denn der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verleugnen.«

So wie der Herr auf jenem Bilde nach Petrus blickte, so sahen nun Herrn Gerolds Augen auf seine Frau.

Aber da klang wieder die Stimme des Herrn Crispi:

»Gnädigste – ich mach' Ihnen Umständ' – das is' mir schrecklich – schau'n S' …«

Sie kam zum Tisch zurück und ordnete mit ruhiger Sicherheit sein Gedeck.

»Aber gar nicht. Was für Umstände macht denn das? Daß ich noch eine Tasse hole? Kaffee ist genug da – wenn wir auch nicht auf Sie gerechnet haben. Und Kuchen auch. Also beruhigen Sie sich!«

Sie lächelte verbindlich und begann die Tassen zu füllen, während die anderen sich nun auf ihre Plätze setzten.

Das Gespräch blieb sprunghaft und äußerlich, so sehr auch Herr Crispi dafür sorgte, daß keine allzu großen Pausen eintraten. Er erzählte von der neuen Operette, in deren Première er tags zuvor im »Theater an der Wien« gewesen war, kopierte den Girardi, der die Hauptrolle gegeben hatte, und schimpfte auf die »Böhmaken und Slowaken, die ei'm nächstens noch das Leben in Wien ganz verleiden möchten!«

Herr Gerold nickte nur hier und da, wenn sich sein Gast direkt an ihn wendete. Sonst blieb er ruhig, höchstens daß er ein paar Worte an die Kinder richtete, die seltsam ernst dasaßen, als fühlten auch sie die Schwere, die auf dem Kreise lastete.

Als Herr Crispi sich nach dem Kaffee die Zigarette anzündete, wandte er sich noch einmal an Frau Gerold:

»Seh'n S', gnä' Frau – das is' das Wunderbare in Ihrem Haus! Jedesmal denk' ich mir's wieder! – daß man sich so wirklich wohl fühlen kann bei Ihnen! Sie wissen ja gar nit, was das für unsereinen is'! So a armer Jungg'sell am Sonntagnachmittag, wenn alle Kaffeehäuser voll sind … das is' ja was Schrecklich's!«

Herr Gerold sah ihn mit einem dünnen Lächeln an.

»Sind die Kaffeehäuser jetzt so voll?« fragte er. Er sah noch den verdutzten Blick seines Gastes, dann aber wandte er sich zu Sephi, die seine Hand ergriffen hatte und ihn an dieser zu sich zog. »Was denn? Was, mein Kind?«

»Papa – du hast nach der Jausen mit uns spielen wollen …«

Er nickte ihr zu. »Ja, das will ich.« Und dann zu seiner Frau gewendet. »Ich will mit den Kindern ein wenig musizieren – es stört dich doch nicht?«

»Nein …«

Die Augen der beiden hafteten aneinander.

Dann wandte sich Herr Gerold um und winkte den Kindern, mit ihm nach dem Nebenzimmer zu gehen, in dem das Harmonium stand. Die Flügeltüren waren weit geöffnet, nur eine schwere Portière, ein Kelim, der an einer im Türrahmen angebrachten Messingstange lief, trennte die Räume. Herr Gerold schob ihn ein wenig beiseite und trat dann mit den Kindern in sein Arbeitszimmer. Ruhig stand er dort einen Augenblick und sah vor sich hin ins Leere. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte den Kindern zu. »Wir wollen 'was recht schönes singen! …«

Aus dem Speisezimmer drang noch die Stimme des Herrn Crispi herüber, auffallend laut und lebhaft: »Nein, gnä' Frau, also wenn ich ihnen sag: der Girardi, und dann die Toilette von der Collin …« Und ihre Frage: »Was hat sie ang'habt?« …

Herr Gerold war an das Harmonium getreten und hatte den Deckel geöffnet.

Schon wollte er sich setzen, da sah er die Kinder, die Hand in Hand neben der Bank des Instrumentes standen.

Der Anblick ergriff ihn tief. Er war sich selbst vielleicht nicht klar darüber, was es war, es zog ihn nieder zu den beiden; wie wenn sie Eines wären, schloß er sie in seine Arme und küßte erst Sephi und dann Georg auf den Mund.

Und die Kinder küßten seine Lippen wieder. Eine seltsam heiße Erregung war über sie gekommen. Sie konnten dann die Augen von ihm nicht wenden, und wie nun die orgeltiefen Töne des Harmoniums den Raum durchzitterten und nach dem kurzen Vorspiel sich zur Melodie des Liedes fanden, da setzten ihre jungen Stimmen ein und trugen alles, was an heißem Fühlen ihr Herz bewegte, in zitternder Andacht empor:

»Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Daß man vom Liebsten, was man hat,
Muß scheiden … muß scheiden …«

Wie wenn drei Seelen hier zusammenflössen im Gebet, erklang das Lied.

Als die letzte Strophe geendet war und es so seltsam still im Zimmer war, daß man nur noch das leise Tönen der nachklingenden Akkorde hörte, sah Herr Gerold wieder auf die Kinder. Seine Augen waren gerötet, Tränen standen ihm an den Lidern.

Georg sah es. Ein Krampf legte sich ihm um die Kehle. Er mußte schlucken, die Lippen waren ihm wie zugepreßt.

Von nebenan, wo es bisher ruhig gewesen war, erklang wieder so tragend laut Herrn Crispis Stimme:

»Nein, wie ich Ihnen sag', gnä' Frau: sie hat ein Verhältnis mit dem Erzherzog Johann –«

Herr Gerold sah starr auf die Tasten. Seine Finger zitterten seltsam. Einen Blick warf er noch auf das Bild seines toten Buben, das über dem Harmonium hing. »Noch einmal …« sagte er dann. Die Stimme war heiser, beinahe tonlos, sein Gesicht bleich, als wäre jede Spur von Blut aus ihm gewichen.

Und wieder sangen die Kinder.

Aber da sprang Herr Gerold, wie von raschem Entschluß getrieben, plötzlich von seinem Sitz auf. Ein Tönen noch der Tasten – dann stand er an der Portière und griff in den Kelim, den er zur Seite riß.

Voll Schrecken hatten sich die Kinder nach ihm umgewendet. Nun starrten sie einander an – da klang ein jäher leiser Schrei von drüben.

Und wie sie wieder nach Herrn Gerold blickten, da hing sein Körper zerrend schwer an jener Hand, die sich mager und weiß im Stoff des Kelims hielt, und gleich darauf sank er in sich zusammen. Dumpf schlug er nieder auf die Erde, und über ihn fielen auch der Kelim und die Messingstange.

Starr vor Entsetzen, wortlos, tränenlos standen die beiden Kinder Hand in Hand.

Drüben lösten sich zwei Gestalten voneinander und eilten zu der Tür.

Da stand Frau Gerold dann, am ganzen Leibe zitternd, bleich, mit verzerrten Zügen. Sie starrte nieder auf den toten Mann, der halb bedeckt von dem schweren Stoffe auf der Schwelle lag.

* * *

Drei Tage und drei Nächte waren hingegangen. Herr Heinrich Gerold ruhte draußen neben seinem Buben. Drei Tage waren es voll tiefer Schmerzen, Tage, in denen Georg Bang und seine Mutter mit dem Gedanken rangen, daß sie den edlen Mann, der da geschieden war, nie wieder sehen sollten.

Am Montagmorgen hatte Frau Marie Bang Frau Gerold aufgesucht.

Im Vorzimmer kam ihr Sephi, bleich und schon im schwarzen Trauerkleidchen, entgegen. Wie das Kind die Mutter seines Freundes sah, mit dem es jenen schrecklichen Augenblick durchlebt hatte, brach es in lautes Schluchzen aus. Frau Bang aber, der selbst die hellen Tränen niederliefen, und der die Stimme kaum gehorchen wollte, zog Sephi eng an sich. »Mein Kind – mein liebes – liebes, armes Kind – –!«

Dann kam Frau Gerold, bleich, mit rotgeweinten Augen, in ihrem ganzen Wesen die Zeichen einer qualvollen, durchwachten Nacht.

Als sie Frau Bang im Zwielicht des Vorzimmers erkannte, hielt sie erst einen Augenblick wie zaudernd still, dann trat sie näher.

»Sie sind's. Frau Bang – oh – das tut gut, wenn man im Unglück nicht allein gelassen wird …«

Sie trocknete mit ihrem Taschentuche an den Augen und öffnete die Tür nach dem Kinderzimmer.

»Kommen Sie doch nur einen Augenblick …«

Frau Bang, die immer noch die kleine Sephi umschlungen hielt, trat mit dem Kinde ein.

Nun sah sie zu Frau Gerold hin und sah im hellen Licht des Raumes das ganze Leiden und die ganze Qual in diesen Zügen. Das schöne Blondhaar hing ihr wirr um eingefallene Wangen, die Lippen zitterten, und um den Mund, der sonst so stolz gelächelt hatte, lagen entstellend in zwei tiefen Falten alle die quälenden Gedanken dieser Nacht.

Und seltsam, Frau Marie Bang griff es bei all dem Schmerz, der sie erfüllte, doch wehmütig ans Herz, als sie die schöne Frau so welk und elend sah.

»Wollen Sie sich nicht setzen, Frau Bang …?«

Die Stimme zitterte. Ängstliche Spannung lag in hellem Beiklang neben der schmerzvollen Erschütterung. Und die weiße Hand umgriff eine Stuhllehne und rückte den Stuhl zurecht.

Frau Bang blieb stehen. Die beiden abgearbeiteten, arbeitsschweren Hände strichen noch immer über Sephis Haar und Wangen.

»Ich bin gekommen, weil ich fragen hab' wollen, ob ich das Kind, die Sephi, nicht für ein paar Stunden zu mir hinüber nehmen soll – heut' und in den nächsten Tagen – bis alles hier vorüber is' …«

»Wie gut Sie sind, Frau Bang …«

Die Mutter Sephis blickte auf, und wohl sekundenlang ruhten die Augen der beiden Frauen ineinander. Da war's, als ob es im Innern der Frau Gerold übermächtig würde. Die Schultern zogen sich zusammen wie im Krampfe, die Brust hob sich, und um die Lippen ging ein Zucken. Und plötzlich warf sie sich mit jäher Bewegung auf den Stuhl, den sie gehalten hatte, und drückte das Gesicht in beide Hände. Heiß klang ihr Schluchzen, und ihr ganzer Körper ward davon geschüttelt.

Und Frau Marie Bang sah nieder auf Frau Gerold, und ihr herbes Urteil über diese Frau, das sie erkältend immer mehr ergriffen und erfüllt hatte, schmolz dahin. Sie sah nieder auf diese leuchtenden und schweren Strähnen des goldenen Haares, auf diese weißen, wohlgepflegten Hände und konnte die Empörung, den Abscheu nicht mehr in sich finden, die sie so lange in sich getragen hatte.

Wie ein Verstehen und ein Schlüssel zu allem, was geschehen war, kam ihr nur der eine Gedanke: Die beiden Menschen haben nicht zueinander gepaßt – nicht, weil er gut war und sie schlecht, nicht weil er tief war und sie nicht – nur weil sie so verschieden waren, weil sie die große Brücke zueinander nicht hatten schlagen können. Sie waren beide einsam, als der Schmerz ins Haus gezogen war. Herr Gerold hatte sich in seinem Kult des toten Kindes die Zuflucht seiner Einsamkeit geschaffen, und sie – sie hatte sich an die Lebendigen gehalten …

»Frau Gerold …«

Sie schüttelte den Kopf und schluchzte weiter.

»Liebe Frau Gerold …«

In Frau Marie Bang stieg heiß das Mitleid auf. Wie furchtbar hatte doch das Schicksal die Sünde dieser Frau gestraft! Wie schrecklich mußte sie doch leiden unter dem Schlage, der nun über sie hereingebrochen war! Ob sie noch leben – ob sie sich noch je des Lebens wieder freuen konnte, sie, die sich derart gegen jenen guten Mann vergangen hatte, daß er die Gewißheit ihrer Schuld nicht überleben konnte …

Da klang die Stimme der Frau Gerold. Sie sprach zwischen Tränen, das feine Tuch noch vor den Augen. Und ihre Stimme zitterte erregt, erschüttert.

»Furchtbar ist es für mich … Frau Bang … ganz unsagbar furchtbar … Sie wissen ja nicht, wie es kam … der arme Mann …« Ein neues Schluchzen ging durch ihren Körper.

Frau Bang aber legte ihr leise die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, Frau Gerold … nein, Sie sollen nicht darüber sprechen – Georg hat mir's erzählt. Sie sollen ruhig werden …«

Ein leises Zucken ging über ihre Schultern, und ihre Haltung straffte sich. Sie gab die Augen frei und sah mit raschem Blick zu Frau Marie Bang empor. Der aber war es, als hätte sie aus diesem Blick ein Strahl von scheu aufblitzender Angst getroffen. Doch das war nur einen Herzschlag lang. Dann irrten Frau Gerolds Augen unruhig im Zimmer hin und her, während sie rasch und in jähen Sätzen sprach. Ein Zug von herber Verschlossenheit lag nun auf ihrem blassen Gesicht und ein heller fremder Klang in ihrer zitternden Stimme.

»Georg hat Ihnen erzählt …? Ja, es war schrecklich. Er spielte gerade Harmonium – die Kinder sangen. Die Tür zum Eßzimmer war offen – wie ja immer – da saß ich mit einem Bekannten – Herrn Crispi – wir sprachen vom Theater. Da muß es ihn – Sie wissen ja, daß er herzleidend war – da muß es ihn plötzlich ergriffen haben – es muß ihm auf einmal schlecht geworden sein. Sein Spiel bricht plötzlich ab – und ich, ich höre das und sage noch: ›Um Gottes Willen!‹ und springe auf und will nach der Tür … Und da, Frau Bang – bis zu der Tür ist er noch gekommen – am Vorhang hat er sich dann halten wollen – und ist zusammengesunken … tot …!«

Frau Bang hatte die Hand, die sie vorher leise und tröstend auf die Schulter der Frau Gerold gelegt hatte, schwer sinken lassen. Die Worte drangen wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, und unter jedem neuen Laute dieser Stimme, unter dem Sinne dieser Rede krampfte sich ihr das Herz, das sich schon mitleidsvoll für diese Frau erschlossen hatte, aufs neue fest zusammen.

Und als Frau Gerold schwieg, nickte Frau Bang nur sinnend vor sich hin. Sie fühlte es, es lag gleich einer Kluft zwischen der schönen Frau und ihr, sie ahnte nun, daß auch sie, gleich dem Toten, die Brücke über dieser Kluft nie würde schlagen können. Sie sprachen nicht die gleiche Sprache, wie wollten sie sich je verstehen können!

So war es eine ganze Weile still im Zimmer. Mechanisch strich Frau Bang über das Haar der kleinen Sephi. Erst als das Kind sich ein wenig bewegte, schüttelte sie ihr Sinnen von sich.

»Soll ich also das Kind heut' und an den nächsten Tagen für ein paar Stunden zu mir nehmen? Ich glaube, es ist besser, wenn ihm die Eindrücke, die alles das Traurige noch bringen muß, erspart bleiben.«

Frau Gerold dankte und gab ihre Zustimmung.

Und da in diesem Augenblick das Mädchen eintrat und ihr sagte, daß ein Vertreter der Bestattungsgesellschaft sie zu sprechen wünschte, so suchte Frau Marie Bang, nach kurzem Abschied von der Mutter Sephis, selber das Mäntelchen und die Mütze des Kindes heraus, zog die Kleine an und ging mit ihr hinunter, durch die Straßen und über den stillen Hof mit seinen einsamen Kastanienbäumen, die Treppe hinauf in die kleine Wohnung.

Da sprach sie mit dem Kinde und blieb bei ihm, bis Georg aus der Schule kam. Dann aber blieben diese beiden zusammen bis zum Abend. Sie sprachen von Herrn Gerold und wiederholten sich Erlebnisse, die sie zusammen mit ihm gehabt hatten. Oft waren ihre Augen feucht dabei. Dann wieder saßen sie lange schweigend Hand in Hand.

»Ob der Papa jetzt schon beim Hans ist?« fragte die Sephi einmal.

Und Georg nickte und dachte jenes Traumes, den Herr Gerold ihm erzählt, und der Worte, die das Traumbild Hansens da gesprochen hatte: »Bald – bald werden wir wieder ganz zusammen sein.«

Später aber, als es dämmerte, da war es seltsam.

Die Mutter war gegangen, den Kranz zu holen, den sie bestellt hatte. Sie wollte ihn mitnehmen, wenn sie Sephi dann nach Hause brachte.

Die Kinder waren allein. Sie saßen zu beiden Seiten des Tisches und sahen auf die Bücher nieder, die einstmals Hans gehört hatten. Dann streckte Sephi, die müde war vom vielen Weinen und müde war von der langen Nacht, in der sie so viele Stunden wach gelegen und so wenig nur geschlafen hatte, die Ärmchen vor sich hin auf den Tisch und legte den Kopf darauf. Georg ergriff die eine von den beiden kleinen Händen, und diese schloß sich fest um seine Hand. So sah die Sephi eine ganze Weile hinauf zu ihrem Freund.

Dann schloß sie die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, ruhiger, sie schlief ein.

Georg saß still und wagte es nicht sich zu rühren. Er hielt die zarten Finger in den seinen und sah auf das blonde Köpfchen, das im Dämmerlicht erschimmerte. Durch seine Seele aber zogen die Gedanken, die ihm Herr Gerold gleich einem Vermächtnis in jener weihevollen Stunde erschlossen hatte. Er sah vor sich die gütigen, schmerzvollen Augen und hörte wieder diese liebe Stimme die leis verschleiert und doch eindringlich die Worte sprach: »Ich glaube, daß ich bei euch bleiben werde, in Sephi und in dir – auch wenn ich nicht mehr lebend auf der Erde bin.« – Wie ein Gelöbnis, inbrünstig und heiß, entrang es sich da seiner jungen Seele. Ein Drang, sich hinzugeben an ein Ziel, erfüllte ihn. Er hätte sein Gefühl nicht in Worte fassen, nicht zu Gedanken formen können. Aber er wußte, daß alles das, was in ihm wallte, ein heiliges Versprechen an den Toten war. Sein Leben sollte all der Liebe würdig werden, die jener ihm gegeben hatte! – –

Auch noch am zweiten und am dritten Tage nach dem Tode des Herrn Gerold war Sephi stundenlang bei Georg und Frau Bang.

Am Nachmittag des dritten Tages aber schritt das Kind im schwarzen Trauerkleidchen an der Hand seiner von dichten Schleiern ganz verhüllten Mama durch die verschneiten Gräberstraßen des Friedhofs hinter dem blumenübersäten Sarge seines Vaters.

Schwankend auf den Schultern der ernsten, dunkel gekleideten Männer, zog der Sarg, der das Sterbliche von Heinrich Gerold barg, gleich einem mahnenden Symbol, langsam und feierlich dem langen Zug der Menschen voran, der ihm folgte.

Und da schritten sie alle, die in den letzten Jahren dem Heimgegangenen im Leben nahegestanden hatten. Seine und seiner Frau Verwandten, die Freunde und Bekannten, seine Kollegen aus der Bank, und da war kaum ein Gesicht, auf dem nicht wahrhaft tiefes Leid geschrieben stand.

Eng an seine Mutter gedrückt, ging auch Georg in diesem Zug. Er war bleich und zitterte. Seine Augen tränten immer wieder.

Georg kannte diesen Weg, den sie da schritten, er war ihn Hand in Hand mit dem Manne, der ihn jetzt zum letzten Male nahm, so oft gegangen. Damals, als sie zum ersten Male durch die Gräberreihen schritten, da war noch alle Blumenpracht des Herbstes offen. Auch auf dem Grabe, das ihr Ziel gewesen war, hatten die Astern und die hellen Rosen voll geblüht.

Über ein Jahr war seitdem hingegangen. Nun war die weiße Decke wieder über all dem Todesleid.

Schnee lag auf all den Gräbern, und die Bäume zu beiden Seiten des gefegten Weges bogen die Äste unter ihrer weißen Last wie demütige Beter zur Erde. Grabsteine aus schwarzem Marmor standen in feierlich friedvoller Ruhe zwischen ihnen. Nur aus den dichten Zweigen der Zypressen scholl hier und da ein helles Vogelzwitschern.

Nun bog der Zug in einen Seitengang.

Leise nickten die langen Garben der Trauerweiden im sanften Wehen des Windes, als der Sarg mit seiner Blumendecke vorüberkam. Es war, als grüßten sie den stillen Mann, den sie so oft gesehen hatten und der nun noch einmal zu ihnen kam, um hier zu bleiben.

Dann war man an der Stelle, wo die blühweiße Decke des Schnees durchbrochen war, wo man, dicht neben Hansens Grab, das letzte Bett für Heinrich Gerold gerüstet hatte. – Der Zug der Trauernden hatte sich hier zu einem weiten Halbkreis aufgelöst.

Georg stand mit entblößtem Haupte da. In dichter Reihe drängten sich die Herren vor ihm und seiner Mutter, kaum daß er für Augenblicke die Gestalt Frau Gerolds und die kleine Sephi vorne sehen konnte.

Nun sprach der Priester – gegen die sonstige Gepflogenheit sprach er an diesem offenen Grabe. Er redete schlicht und einfach von dem kurzen, pflichtgetreuen Leben des Dahingegangenen, von einem unerforschlichen Geschick, das ihn so frühe von der Seite einer verzweifelten Gattin, die ihm stets die treueste Gefährtin gewesen sei, von der Seite eines geliebten Kindes gerissen.

Aus der Reihe vorne tönte das laute, fassungslose Schluchzen der Frau Gerold.

Ein alter Herr mit weißem Vollbart und gütigem Gesicht stand neben ihr. Auf seinen Arm gestützt, drohte die arme Frau beinah zusammenzubrechen.

Als sie ruhiger geworden war, sprach der Priester weiter.

Georg hörte nur den Schall der Worte, die von dem offenen Grabe herüberdrangen – er vermochte dem Sinne nicht mehr zu folgen in seinem Schmerz.

In wirren Bildern sah er die Dinge an sich vorüberziehen: Sephis angstvolles Kindergesichtchen, tränenheiß und suchend – Herrn Crispi, seltsam bleich mit verkniffenem Mund und einem starren Blick, der über Frau Gerold hinwegsah, wie über jemand, den er nur ganz flüchtig kannte. Beinahe fremd war die Verbeugung, mit der er sie begrüßte.

Als der Priester dann sein Gebet beendet hatte, der Sarg der Erde übergeben und das Grab gesegnet war, brachten mehrere Herren Kränze, die sie an der Stätte niederlegten. Auch sie sprachen an Heinrich Gerolds letzter Ruhestätte.

Schon während dieser Reden hatte es leise zu schneien begonnen.

Als die Worte verklungen waren, erhob sich in ergreifender Schönheit ein Chorgesang von Männerstimmen.

»Mendelssohn!« flüsterte ein Herr vor Georg seinem Nebenmanne zu. Der nickte nur.

Und brausend und erschütternd zog durch die Todesruhe der Natur die Kavatine aus »Paulus«:

»Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir
die Krone des Lebens geben. Fürchte dich nicht,
ich bin bei dir. Sei getreu bis in den Tod.« –

Immer dichter fielen die schweren Flocken. Sie legten sich auf die Kränze von Palmenblättern und blühenden Blumen und auf die braunen Schollen der Erde. Sie setzten sich auf den Pelzen und den hohen Hüten all der ernsten Männer fest, die nun, nachdem die Sänger geendet hatten, am Grabe Heinrich Gerolds vorüberschritten, um ihm den letzten Liebesdienst zu leisten.

Still und schweigsam gingen die Herren dann in kleinen Gruppen weiter, dem Ausgange des Friedhofes zu.

Frau Marie Bang hatte den Arm um die Schultern ihres Buben gelegt. So standen sie in wortlosem Gebete, bis es leer geworden war vor ihnen.

Nur zwei Friedhofsgärtner waren noch geblieben. Sie trugen die großen Topfpflanzen beiseite, die bisher im Hintergrunde des Grabes gestanden hatten, und lehnten ein paar Schaufeln an den Grabstein, unter dem Hans Gerold ruhte.

Als letzte warfen Frau Marie Bang und Georg schneebedeckte Erde in die Grube.

Erst als der eine von den beiden Männern die Schaufel in den aufgeworfenen Hügel stach, gingen auch sie.

Auf den breiten Wegen, die der Zug nach dem Grabe geschritten war, und die früher frisch gefegt gewesen, lag weiß die Decke des neuen Schnees.

Immer weiter noch sanken die Flocken. Sie wiegten sich wie schwere müde Falter und flogen kühlend gegen Georgs heiß verweinte Augen. Sie streichelten ihm sanft die Wangen und deckten jedes Fleckchen Erde zu. Die Tritte all' der Männer, die erst vor wenigen Minuten den Weg zum Ausgange des Friedhofes gegangen waren, wischten sie aus. Hier schritt das Leid, sie löschten seine Spur. Sie würden mild und schützend auch das Grab verdecken, in dem Herr Heinrich Gerold nun bei seinem Söhnchen ruhte.

Und wie Georg neben seiner Mutter zwischen den ernsten Trauerweiden, zwischen den ragenden Zypressen und all' der weißen Ruhe im Dämmerlicht durch den Fall der Flocken schritt, ergriff ihn ein Gefühl, als klänge aus dem Leben all' dieser schweigsamen Natur mit leiser Schwingung noch ein Nachhall des Gesanges, als spräche eine ewige Stimme, die so voll tiefster Güte und beruhigenden Ernstes war, zu diesem neuen Grab und seinem Schläfer: »Fürchte dich nicht ich bin bei dir …« –

Das waren die drei ersten Tage nach Herrn Heinrich Gerolds Tod gewesen.

Nur noch ein einziges Mal war Georg dann mit Sephi für ein paar Augenblicke zusammengetroffen, etwa eine Woche nach dem Begräbnis, als er mit seiner Mutter einen Besuch bei Frau Gerold machte.

Aber wie fremd, wie anders sah es da in den Räumen aus, an die sich so viele unvergeßliche Erinnerungen für ihn knüpften! Schon im Vorzimmer sah er die Veränderung. Da standen Körbe und Koffer, Kleider aller Art lagen auf einigen Stühlen, und aus dem halbgeöffneten breiten Garderobenschrank drang ein Geruch von Kampfer und Naphthalin. Und auch in den Zimmern war es so. Die Vorhänge waren abgenommen, die Teppiche zusammengerollt.

Frau Gerold, die in einem schwarzen Schlafrock nach einer Weile, während deren Frau Bang und Georg in dem Speisezimmer warteten, herüberkam, empfing die beiden, mit einer ein wenig unsicheren Herzlichkeit.

Sie bot ihnen Platz an und bat um Entschuldigung wegen des Zustandes, in dem sie die Wohnung träfen. Aber sie wäre im Begriffe zu packen und abzureisen. Sie hielte es hier nach all' dem Unglück gar nicht aus – sie würde krank und elend in den Räumen, wo ihr ein jedes Stück und jedes Möbel immer wieder die Erinnerung wachriefe an all' das Unglück, das sie hier durchlebt hatte.

Sie zog ein feines Batisttüchlein mit dunklem Rande hervor und tupfte an die wie von einem jäh aufsteigenden Tränenflor geröteten Augen.

»Natürlich wäre ich noch vorher zu Ihnen gekommen, liebe Frau Bang, mit Sephi, die sich ja auch von Ihnen und von Georg verabschieden muß. Aber diese ersten Tage nach dem Unglück – Sie können ja nicht wissen, wie furchtbar mich das getroffen hat – ich bin in diesen Tagen zu gar nichts gekommen. Der Arzt sagte auch, ich solle fort mit dem Kind – wenigstens auf vier Wochen. Und ich will ja so froh sein, wenn wir aus diesem Unglückshaus hinaus sind. Denken Sie nur, zwei Liebe, die es uns schon genommen hat, Hans und meinen Mann!«

Sie weinte nun mit leisem Schluchzen vor sich hin.

»Ich kann gar nicht davon sprechen,« sagte sie dann. Und darauf mit einem Versuch, ein wenig zu lächeln: »Als ob es dadurch bester würde, Frau Bang …!«

Georgs Mutter sah zu Boden. Das helle Licht, das durch die verhangenen Fenster fiel und sich leuchtend über die goldene Haarkrone der Frau Gerold goß, blendete ihre Augen.

»Wir haben ihn ja auch so lieb gehabt,« sagte sie nur. »Und Georg hat doch so viel verloren – das, was Herr Gerold meinem Buben war, das wird ja nie wieder ein Mann für ihn sein …«

Frau Gerold nickte, aber eine leise, nervöse Unruhe lag dabei in ihren Zügen. »Ja, er war gut …« sagte sie.

Dann erhob sie sich schnell.

»Wart', Georg, du sollst ein Andenken an ihn haben – ein Bild von ihm. Willst du?« Und da war sie auch schon aufgestanden und durch die Tür in das frühere Arbeitszimmer ihres Mannes geschritten.

Nun fiel es Georg auf, daß die Portière, die früher im Rahmen dieser Türe gehangen und an die Herr Gerold sterbend sich geklammert hatte, beseitigt war. Nur oben sah man noch die beiden Ösen, an denen die Messingstange befestigt gewesen war. Und wie der Bub durch die offen gebliebene Tür der Frau Gerold nachblickte, da sah er auch, daß das Harmonium nicht mehr im Zimmer stand. Ein helles Viereck in der dunkleren Farbe des Parketts zeigte die Stelle, von der man es genommen hatte, und die Wand darüber war leer und kahl.

Als Frau Gerold nach einem Augenblick wiederkam, hielt sie eine Photographie ihres Mannes, die in einem schmalen Holzrähmchen stak, in Händen.

»Hier, Georg, nimm, ich habe noch ein paar Bilder von dieser Aufnahme. Auch die ist schon über drei Jahre alt – aber es ist die letzte.«

Georg dankte und sah lange auf das Bild.

So hatte Herr Gerold ausgesehen, als er ihn kennenlernte. Nun erst fiel es Georg wieder auf, wie sehr sich der Arme in dieser Spanne Zeit verändert hatte.

Vom Vorzimmer drangen Stimmen herein.

»Das wird Sephi sein,« sagte Frau Gerold. »Ich habe sie mit der Lehrerin ein wenig spazieren geschickt. An Lernen war ja jetzt doch nicht zu denken, und ich komme nicht dazu, mit dem Kind auszugehen.«

Und da ging auch schon die Türe auf, und Sephi kam herein.

Blaß und schmal war das liebe Kindergesichtchen, ergreifend die zarte Gestalt in dem ernsten Trauerkleidchen.

»Georg – Frau Bang …« Dann ging sie auf ihre Mama zu, küßte ihr die Hand und reichte dem Freunde und seiner Mutter das Händchen. Verlegen stand sie nun an Georgs Seite.

Peinliche Stille war zwischen den vier Menschen, und Frau Bang, die mit der einen Hand immer wieder über den Griff ihres Schirmes hinstrich, dachte: Wie anders das nun alles ist, seit der Herr Gerold nicht mehr lebt. Er war das Glied, das uns verbunden hat – jetzt, wo er weg ist, bleibt nur noch die kleine Sephi. Sie sah auf das zarte Kind mit dem beinah durchsichtigen Teint, dem feinen Näschen und den blassen Lippen, und schüttelte leise den Kopf.

Das Kind würde sie nicht zusammenhalten können, nun galt hier ganz allein die schöne Frau, der aber waren sie und Georg fremd.

»War's schön draußen?« fragte Frau Gerold.

Sephi nickte. »Das Fräulein hat mich wieder hergebracht, dann ist sie gegangen.«

Jetzt wandte sich Frau Bang an Sephis Mutter: »Wollen Sie uns die Kleine nicht noch einmal schicken?«

Frau Gerold sah unschlüssig auf das Kind.

»Wir werden wohl schon in den allernächsten Tagen fahren. Ich warte nur noch auf die Erledigung von ein paar Sachen. Sie glauben nicht, was da für Scherereien und für Dinge an einen herantreten, wenn so ein Unglück geschieht. Wenn ich irgend kann, so komme ich mit der Sephi noch einen Sprung zu Ihnen.«

Frau Bang erhob sich und reichte Frau Gerold die Hand. »Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor Ihrer Reise – ich wünsche Ihnen und der Sephi alles Gute!«

Dann bog sie sich zu dem Kinde nieder und küßte es auf den Mund und auf die Stirn.

»Wenn du mit deiner lieben Mama wieder hier bist, so vergiß uns beide nicht ganz, den Georg und mich.«

Der Kleinen standen plötzlich Tränen in den Augen, aber sie schluchzte nicht.

Beinahe verlegen und scheu war auch der Abschied von Georg. Die Hände der beiden Kinder lagen ineinander. In der freien Hand hielt Georg das Bild des Herrn Gerold.

»Vielleicht kannst du doch noch kommen,« sagte er.

Und sie warf einen unsicheren Blick zu ihrer Mutter hin und nickte. »Vielleicht …«

Dann schritt Frau Bang mit ihrem Buben wieder zwischen den Koffern und Körben des Vorzimmers hindurch.

Als sie eben die Tür öffneten, um in das Treppenhaus zu treten, stießen sie auf einen alten Mann mit krummem Rücken und abfallenden Schultern, der das Schildchen an der Tür studierte und nun eilig den Hut zog.

»Ich bitt' – werden entschuldigen« – fragte er – »Sie kennen mir vialaicht sogen, is' dos hier, wo die abgelegte Herrenklaider zü verkaufen sind?«

Frau Marie Bang sah den alten Juden mit dem klugen, unterwürfigen Patriarchenkopf an, als verstände sie seine Frage nicht.

»No wegen das Inserat – ich hob' doch gelesen …«

Jetzt zuckte sie die Achseln.

»Ich bin hier fremd …« stieß sie hervor und wußte selbst nicht, wie ihr diese Worte auf die Lippen kamen. Dann drückte sie die Tür hinter sich zu und schritt mit dem Buben eilig über den Treppenflur und die Treppen hinunter. Ein Gefühl, gleichwie als fliehe sie dabei vor etwas Peinlichem und Schmerzlichem, hielt sie umfangen.

Kopfschüttelnd sah ihr der Alte oben nach.

»Nüü … nix für ungüt …« sagte der langsam, strich sich mit der flachen Hand das spärliche Haar des Schädels an beiden Schläfen nach vorne, reckte sich ein wenig auf, als ginge er zum Angriff vor, und drückte auf den Knopf des Läutwerks.

Frau Bang und Georg konnten den Ton der Klingel noch hören. Sie hörten auch noch das Aufgehen der Tür und die devote näselnde Stimme: »Ich bitt' – werden entschuldigen – Sie kennen mir vialaicht sogen …«

Dann klappte die Tür wieder, und es war ruhig im Treppenhause.

Georg hing an dem Arm seiner Mutter. Fest drückte die den großen Buben an sich. Und dabei mußte sie im Rhythmus die letzten Worte immer wieder denken: Ich bin hier fremd … ich bin hier fremd.

* * *

In den nächsten Tagen war es immer ganz besonders nett und sauber in dem einfachen Zimmer der Frau Marie Bang. Sie selbst hatte, wenn sie auch in der Küche an der Arbeit war, immer eine Schürze bereit liegen, um sie rasch vorzubinden, wenn Frau Gerold mit Sephi kommen sollte. Und jedesmal, wenn es draußen schellte, warf sie, ehe sie öffnete, rasch einen Blick in den kleinen Spiegel im Vorzimmer und sah, ob ihr Haar auch glatt war und ob das Kleid auch ordentlich saß.

Aber einmal war es der Briefträger gewesen, der geläutet hatte und eine Drucksache für Herrn Franz Schneeberger brachte, und das andere Mal ein Bettler, der mit einem wehmütigen Blick auf sein elendes Schuhwerk und mit eindringlichen Klagen über das schlechte Wetter draußen um ein Paar abgelegte Stiefel bat.

Jeden Morgen, ehe er in die Schule ging, sagte Georg in diesen Tagen: »Heut werden sie kommen, Mutter. Und nicht wahr, wenn es geht, so sag der Sephi, daß sie warten möchten, bis ich wieder zu Hause bin.«

Und jedesmal des Mittags, wenn er noch pünktlicher als sonst, noch atemlos vom raschen Treppensteigen, wieder ankam, war seine erste Frage an die Mutter: »Waren sie da?«

Aber sie kamen nicht.

Frau Bang hörte nun wieder auf, erst in den Spiegel zu sehen, ehe sie die Tür öffnete, wenn es draußen schellte, und aus Georgs hastigen Worten, wenn er aus der Schule kam, wurde ein scheuer Blick nach der Mutter, in dem mehr das Wissen der Verneinung als die zaghafte Frage stand.

Sie kamen nicht.

Nur ein kleiner Brief kam – ein Brief aus Arco, in dem Sephi Georg und seiner Mutter mit lieben warmen Worten viele Grüße sandte und sagte, daß sie oft an beide dächte.

Frau Gerold aber hatte hinter die großen, noch kindlichen und unausgeglichenen Buchstaben Sephis mit ihrer zierlich verschnörkelten weit ausgezogenen Schrift geschrieben:

 

»Liebe Frau Bang!

In dem Trubel all der Dinge, die noch in den letzten Tagen in Wien auf mich eindrängten, war es mir leider nicht mehr möglich, Sie und Ihren Georg noch einmal aufzusuchen. Sie wissen, daß mein Fernbleiben nicht Mangel an Herzlichkeit und Interesse für Sie bedeutet – ich habe nirgends Abschiedbesuche machen können. Hier ist es sehr schön, und wer nicht, wie ich, hergekommen ist, um für einen großen Schmerz Ruhe und Genesung zu suchen, der könnte sich in all dem blühenden Leben wohlfühlen. Wir denken oft an Sie. Sephi namentlich spricht viel von Ihrem Georg. Leider ist das Kind in der letzten Zeit ein wenig kränklich und nimmt mich sehr in Anspruch. Wir werden noch etwa vier Wochen wegbleiben. Da ich aber nicht die ganze Zeit in Arco sein werde, so kann ich Ihnen auch leider keine Adresse angeben. In Wien hoffe ich, Sie nach unserer Rückkehr wiederzusehen. Bis dahin sende ich Ihnen viele Grüße.

Ihre ergebene
Malwine Gerold.«

 

Immer wieder lasen Georg und Frau Marie Bang diesen Brief.

In vier Wochen kommt Sephi wieder! dachte Georg stets aufs neue. Der Gedanke erfüllte ihn und drängte alles andere zurück. Dennoch war Georg ziemlich still und hielt die Freude über diesen Brief in sich. Doch als dann die Mutter wieder in der Küche war und er das Klappern der Töpfe und Geräte wie ein fernes Geräusch herüberklingen hörte, da holte er mit einem leisen Herzklopfen den Schulatlas herbei, suchte Arco auf und maß auf dem Papier mit den gespreizten Fingern die Strecke, die ihn von Sephi trennte.

Als die Mutter dann plötzlich eintrat, um ein Messer aus der Tischlade zu holen, schob er das Buch mit einer raschen Bewegung von sich unter die anderen Bücher. Den Buben, der bisher mit seiner Mutter über alle Dinge stets mit Offenheit gesprochen hatte, hielt ein Gefühl von heißer Scham umfangen. Ihm war es nun, als könnte er's der Mutter nicht mehr sagen und nicht zeigen, wie sehr er sich nach Sephi sehnte, als müßte er das still für sich bewahren. Und dabei ergriff ihn zugleich eine zage Angst, die Mutter könnte sehen, was ihn beschäftigte, sie könnte es aus seinen Augen lesen, aus seiner Stimme hören. Er sah nicht auf von den Büchern, über die seine Finger nun leise zitternd strichen.

Frau Bang hatte das Tun des Knaben schweigend mit angesehen, nun ging sie wieder, ohne ein Wort zu sagen. Nur ihr Blick war sorgend. Sie fühlte, daß in Georgs Wesen etwas rang und litt, und dachte: Der arme Bub, er fühlt es eben auch, daß diese schöne Zeit, wie er sie dort genossen hat, als der Herr Gerold noch am Leben war, für ihn nie wiederkommen wird.

Und wie sie alsdann wieder in der sauberen kleinen Küche an ihrer Arbeit stand, mußte sie noch immer an diesen Brief und an Frau Gerold denken. Es hatte sie aus den liebenswürdig klingenden Zeilen befremdend und kühl angeweht. Sie sah, als sie sich diese Worte nun wieder durch die Gedanken gehen ließ, die schöne blonde Frau, die ihre Witwentracht gleich einem neuen Reiz durchs Leben trug, förmlich vor sich.

»Hier ist es sehr schön, und wer nicht, wie ich – –,« die Worte des Briefes ließen Frau Marie Bang nicht los, während sie da in einer Pfanne auf dem Herde rührte und dort ein Glas mit dem Tuche abtrocknete. Sie sah die Mutter der kleinen Sephi, wie sie inmitten einer südlichen, blühenden Landschaft stand – in einer Landschaft, wie Frau Marie Bang sie in dem illustrierten Familienblatt abgebildet gesehen hatte, das sie früher gehalten hatte, als ihr Mann noch lebte. Und sie wußte, daß diese Frau trotz ihrer ernsten Trauerkleidung, und wenngleich es auch erst nach Wochen zählte, daß man ihren Mann begraben hatte, in sich die heiße Lust am Leben trug und die Sehnsucht nach seinen Huldigungen.

Wie das nun alles werden wird? dachte sie weiter. Sephi war kränklich – das arme Kind. Wenn die Frau nur immer recht lieb und gut zu ihr ist.

Auch Herr Franz Schneeberger bekam, als er des Abends bei Frau Bang und Georg im Zimmer saß, den Brief aus Arco zu sehen. Er rückte sich die Augengläser umständlich zurecht, las ihn und schob ihn dann leise brummend beiseite. Er war der Mutter Sephis nicht besonders grün und hatte seine Abneigung schon oft geäußert. Und als Frau Bang nun wieder nach dem Briefe griff und dabei meinte: »In vier Wochen also sind sie wieder hier …,« da legte Herr Schneeberger seine Hand auf die ihre und schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen.

»Hier – in Wien – ja vielleicht; das is' möglich. Aber bei Ihnen und beim Georg – nein. Das is' der Schluß, liebe Frau Bang, das laß' ich mir nicht ausreden. Die Frau kenn' ich, nach allem, was ich schon von ihr gehört hab' – die laßt sich da heroben nicht mehr seh'n.« –

Es war, als sollte Herr Schneeberger mit seiner Prophezeiung recht behalten. Die ersten vier Wochen vergingen, und wieder vier Wochen zogen dahin, aber von Frau Gerold und von Sephi kam keine Nachricht mehr.

Wie nach einem beglückenden Ziele hatte sich Georg nach dem Ablauf der Frist gesehnt, während Frau Gerold im Süden bleiben wollte. Er hatte es die Mutter nicht merken lassen, wie sehr er immer mit dem Gedanken an Sephis Rückkehr beschäftigt war. Beinahe wortkarg war er, wenn darauf die Rede kam; und doch war er stets im Innersten erregt, und jedes Wort, das fiel, prägte sich ihm tief in die Erinnerung. Dann waren für Georg wieder Tage gekommen, an denen er bei jedem Läuten der Flurglocke erwartungsvoll aufhorchte und, wenn er mittags aus der Schule kam, forschend und mit unterdrückter Erregung nach seiner Mutter blickte. Auch diese Zeit ging vorüber.

Einmal, als er mit verträumtem Gesicht über einem Schulbuche saß und mit den Gedanken überall eher, nur nicht bei den »Bergen und Flüssen der Bukowina« war, sprach ihn die Mutter an. Er zuckte zusammen, denn er hatte kaum gemerkt, daß sie ins Zimmer getreten war. Sie fragte ihn, ob ihm denn etwas fehlte? Er wäre blaß, zerstreut, verträumt.

Er schüttelte den Kopf – ihm fehle nichts.

Und Herr Schneeberger, dem Frau Bang nun abends ihre Sorge klagte, sah sich mit vorgeneigtem Kopf unter seiner Brille hervor den Buben eine Weile an und schnob dann mächtig dröhnend in sein rotes Taschentuch.

»Unsinn – was soll ihm fehlen! Im Wachsen ist der Jüngling. Schaun S' doch nur, was der jetzt in die Höh' schießt! Das sind so Sachen, die in diesen Jahren kommen wie die berühmten Wimmerln auf der Stirn und wie der Stimmbruch. Bei ei'm kommt's früher und beim andern später. Der eine wird a Flegel in der Zeit und der andere a Schlafhauben. Der Georg schlagt in dieses letztere Fach, und ich muß sag'n, daß er mir so lieber is'. Das geht vorüber, liebe Frau Bang – kei' Sorg deswegen!«

So gab sich denn Frau Bang zufrieden. Wenn Herr Schneeberger, dem doch täglich so viele Bücher durch die Hände gingen, der in ihren Augen selbst ein halber Gelehrter war, das so bestimmt behauptete, dann mußte wohl 'was Wahres daran sein. Und als besorgte Mutter ging sie nun dem Übel, so weit sie das vermochte, mit den kompakten Mitteln der Küche an den Leib.

»Iß, Georg, iß – du mußt besser ausschau'n! Du ißt zu wenig, das macht blutarm und kopfhängerig.«

Herr Franz Schneeberger aber nickte dazu und brummte Beifall, wenn Georg mit Müh und Not noch ein Stück Butterbrot und noch ein »Frankfurter Würstel« bezwang.

Dicker und viel vergnügter wurde er nicht trotz dieser Kur, so daß der Zimmerherr einmal mit ernster Miene und grübelndem Staunen meinte: »Wo er's nur hintut, all' die Sach', der Bua, förmlich die Zweifel könnten einem kommen an dem Gesetz von der Erhaltung der Materie. Grad' wie, als ob er irgendwo ein' doppelten Boden hätt' – –.« Und mißtrauisch, als ob er sehen wollte, ob er den doppelten Boden an Georg nicht irgendwo entdecken könnte, sah er mit vorgeneigtem Kopf, hervor unter der alten Brille, den Buben von oben bis unten an.

Oft morgens, wenn er schon wach war, blickte Georg in dieser Zeit lange auf die Photographie des Herrn Gerold, die in dem schmalen Holzrähmchen über dem Bett hing. Wie ähnlich manche von den Zügen mit denen von Sephi waren! Wo Sephi jetzt sein mochte? – Hier? – – Aber dann würde sie doch mit ihrer Mutter gekommen sein. Sie waren vielleicht noch gar nicht in Wien! Vielleicht waren sie noch im Süden oder Sephi war krank geworden, und sie konnten darum nicht zurück. Aber daß so gar keine Nachricht kam! – Wenn ihnen am Ende ein Unglück zugestoßen wäre? Die Angst der Ungewißheit kam über ihn.

Nein nur das nicht! Nur kein Unglück –

Unwillkürlich falteten sich seine Hände. Aber er betete nicht, und doch war ihm zumute wie im Gebet. Er sah auf das Bild über dem Bett, in die gütigen, milden Züge des Toten. –

An einem solchen Morgen war es auch, daß Georg, der diese Worte schon lange in sich getragen und sie aus Scham und Scheu doch immer wieder unterdrückt hatte, die Mutter zögernd fragte, ob sie nicht doch einmal nach der Wohnung der Frau Gerold hingehen wollten.

Seine Hände, die eben ein paar Bücher für den Schulgang ordneten, zitterten, während er sprach.

Aber Frau Bang schüttelte leise den Kopf.

»Nein, Georg, wenn sie uns weiter haben wollen, dann müssen sie uns dafür schon ein Zeichen geben. Schau, wir sind arm, und sie sind doch wohl ziemlich wohlhabend – aufdrängen dürfen wir uns nicht.«

Und der große Bub, der dem Mädchen schon so nahe gestanden, daß er die Kluft dieses Abstandes nicht mehr gesehen hatte, wurde rot bis in die Stirn, nickte zu den Worten der Mutter und drückte die Lippen fest aufeinander. Gewiß, aufdrängen dürfen wir uns nicht, dachte er, und er vermied es wieder durch Wochen, von Sephi und ihrer Mutter zu reden. Er hoffte auf das Zeichen, das sie geben sollten. Er hoffte und begrub sein Hoffen schweigend und lautlos erst an jenem Tage, da ihm die Mutter, als er mittags nach Hause kam, die Nachricht gab:

»Georg, ich war heute im Haus von Gerolds. Ich bin doch hingegangen, schon der Sephi wegen. Die Tafel mit dem Namen Heinrich Gerold ist nicht mehr an der Tür. Ich hab' geläutet, eine alte Dame hat mir aufgemacht. Sie sagt, daß sie mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter schon seit sechs Wochen da wohnt. Sie haben die Wohnung auf ein Inserat gefunden. Wohin Frau Gerold gezogen ist, kann sie nicht sagen.«

* * *

Gleichmäßig und still ging die Zeit dahin. Tag reihte sich an Tag zu Wochen und zu Monaten. Die beiden mächtigen Kastanienbäume im Hof des alten Hauses tief unter den Fenstern der Frau Bang setzten wieder dickköpfige Knospen mit glänzendbraunen klebrigen Schuppen an. Und diese Schuppenköpfchen platzten, kleine zierliche Blättchen drängten daraus hervor und wurden größer und breiteten sich aus. Zage und schüchtern wagten sich dann die Blütenkerzen zwischen ihnen ans Licht. Ganz hellgrün und unscheinbar waren sie erst; dann aber reckten sie sich kraftvoll auf und setzten hundert Blütenköpfchen an, daß die zwei Bäume, wenn Frau Bang und Georg von oben aus dem Fenster niedersahen, gleich zwei großmächtigen Blütendolden im Hofe standen.

Es war wieder Frühling.

Georg schien es, als wäre die Zeit noch nie so langsam und träge hingegangen.

In all den letzten Jahren hatte er stets kleine Ziele vor sich gesehen, die ihm große Feste für seine Sehnsucht waren. Bald war's das Wiedersehen mit dem armen Hans, der sonntägliche Besuch bei dem Freunde, dann ein Zusammensein mit Sephi und Herrn Gerold – zuletzt die Hoffnung auf Sephis Wiederkunft. Und tausend heimliche Gedanken, tausend phantastische Wünsche hatten sich für ihn stets mit diesen kleinen Zielen verknüpft und hatten sie bedeutungsvoll gemacht für sein ganzes Fühlen und Dasein. Was er Erhebendes und Großes gesehen und erlebt hatte in all dieser Zeit, das wuchs aus ihnen auf – was er an Zukunftsträumen in seinen Knabengedanken aufgebaut hatte, das kam aus ihnen, und das mußte verblühen und verdorren, wenn die Wurzeln keine neue Nahrung mehr bekamen.

Und nun war's aus. Nun stand er einsam und mit leeren Händen da. Das alles lag jetzt weit hinter ihm, und nur in der Erinnerung konnte er es wieder aufleben lassen – ein blasses Leben sehnsüchtiger Träume und hoffnungsarmer Wünsche.

Die Zeit vor ihm erschien Georg ziellos leer, ein Heimweh nach den Menschen fraß in ihm, die ihm durch so viele Jahre all' das ersetzt hatten, was anderen Knaben seines Lebensganges die Freundschaft gleichalteriger Kameraden ist, was ihnen Vaterliebe und Geschwisterliebe geben.

Jetzt erst erkannte er so ganz, was ihm Herr Gerold und Sephi gewesen waren.

Gewiß, ihm blieb die Mutter, und sie war ihm das Höchste, war ihm teuer über alles. Er kam sich beinahe schlecht vor, daß er sich damit nicht zufrieden geben konnte. Sie war so gut, und wenn sie ihm einen Wunsch nur an den Augen absah, dann war er sicher, sie erfüllte ihn, wenn sie es irgend konnte. Er fühlte, wie aus ihrer Zärtlichkeit, die ihm so wohltat und die er jetzt doch so ganz anders, so ganz neu empfand, der Wunsch sprach, daß er nichts entbehren möge. Still und mit steifer Unbehilflichkeit ließ er, der früher so ganz aufgegangen war in seiner Mutter, deren Liebkosungen über sich ergehen. Schweigsam und ungelenk blieb er auch, wenn er mit der Mutter des Sonntags spazieren ging, in den Stadtpark, in den Volksgarten und ein paarmal sogar in den Prater.

Öfter in dieser letzten Zeit schloß sich Herr Franz Schneeberger der Frau Marie Bang und Georg auf solchen nachmittägigen Spaziergängen an. Er hatte an diesen Tagen sogar die regelmäßige Sonntagssitzung im Kaffeehause, wo er nach Tisch seinen »Schwarzen« trank und die Zeitungen las, abgekürzt und auf die Siesta zu Hause, auf dem bequemen Ripssofa, ganz verzichtet. Würdig und feierlich anzusehen in seinen schwarzen Sonntagshosen, stieg er dann neben Georgs Mutter einher und sprach mit Bestimmtheit und Ausdauer auf sie ein. Herr Franz Schneeberger war in Hinsicht auf seine gesellschaftliche Gewandtheit im Lauf des nun so viel Jahre langen Verkehrs mit Frau Bang entschieden umgänglicher und sicherer geworden. Die wortkarge Art, die ihm erst angehaftet und die nur zeitweilig von Ausbrüchen seines Bedürfnisses, sich mitzuteilen, durchstoßen worden war, von Ausbrüchen, auf die dann stets ein Rückschlag, ein neuer Zeitraum schweigsamer Verpuppung folgte, hatte er abgestreift. Nur manchmal kam ein Rückfall in dieses alte Wesen. Im ganzen aber war er ihm entwachsen; der enge Anschluß an Frau Bang, die mit Georg nun in seinem Lebenskreise eine in gleicher Weise große Rolle spielte wie er in ihrem, hatte ihm jene einsiedlerische Scheu genommen. Die Frau, die ihm sein häuslich stilles Dasein mit so viel Sorgfalt behaglich zu gestalten wußte, die seine Stube, seine Wäsche und Kleider peinlich in Ordnung hielt, seine kleinen Schwächen so genau kannte und respektierte, hatte nun sein Vertrauen im vollen Maße. So kam es denn, daß er auch all die kleinen Vorgänge in der Antiquariatsbuchhandlung J. Tiburtius ihr mitteilte, daß sie von allem wußte, was er im Geschäft erlebte. Sie kannte seinen Chef und dessen Sohn und alle die Kollegen in ihren Eigenarten aus diesen Schilderungen so genau, wie wenn sie selbst sie kennte: den Herrn Felix, »den jungen Schnüffel, der immer wie ein Gigerl umeinanderrennt«, und den alten Herrn Tiburtius, »der für einen Chef eigentlich ein ganz anständiger Mensch is'«. Sogar die beiden Hausknechte – den Joseph, der eine verheiratete Tochter in Paris hatte, und den Schackerl – hätte Frau Bang, nach dem, was sie von ihnen wußte, aus Tausenden herausgefunden. Und daß sie fürsorglich und teilnahmsvoll auf alle Wünsche und Klagen des Herrn Schneeberger einging, daß sie auf seinen Rat in allen Fragen hörte und sich an ihn um seine Meinung wendete, wenn ihr das Leben neue Sorgen auf den Weg gesäet hatte, das tat ihm ganz besonders wohl. Hier war ein Mensch, der ihn gebrauchen konnte und der ihn schätzte – ihn, den Entwurzelten und Unbeachteten. Mit einem Ausdruck, wie wenn er sich ärgerte über die Störung, und doch mit mühsam nur verhaltener Spannung hörte er in solchen Fällen ihre Fragen an. Und mürrisch, doch gut gemeint kamen dann seine lapidaren Antworten, gegen die es keinen Widerspruch gab, die, als der Extrakt seiner bald fünfzig arbeitsschweren Jahre, für Frau Marie Bang die Kraft von Entscheidungen hatten.

Manchmal auch, wenn er trotz allem noch etwas wie leises Fragen, ein Sinnen in den Augen von Frau Bang zu sehen glaubte, oder wenn sie ihm gar mit einer Sache kam, in der er selber nicht recht sicher war, dann konnte Herr Schneeberger seiner Partnerin auch wohl einmal eine kleine Rede herunterpoltern, in der er meist mit kurzen philosophischen Betrachtungen über die Grenzen des weiblichen Fassungsvermögens begann und dann bald voll Empfindlichkeit in selbstironisierenden, wegwerfenden Worten auf sich selbst zu sprechen kam.

Frau Bang aber, die wußte, daß aus all der verbitterten Empfindlichkeit ein Mensch sprach, der ihr Gutes geben wollte, ließ seine Redensarten dann mit leisem Kopfschütteln über sich ergehen. Und wenn er zum Schluß allzuschlimm gegen sich selbst wütete, dann lenkte sie beruhigend und schützend ein. Mitleid, das sich ihr unbewußt im Herzen regte, vermengte sich ihr mit dem Drange, ihm zu sagen, daß er ihr und dem Georg wirklich wert und lieb geworden war. So kam dann stets ein Ende voll von Frieden nach solchen Auseinandersetzungen.

»Passen S' auf, Frau Bang, i' wer' Ihna was sagen! Wann i' sag', daß der Georg für den Buchhandel passen tät', so weiß i' sehr genau, warum daß i' das sag'! Und ekschpliziert hab' i's Ihnen jetzt langmächtig. Aber das is' wieder amal echt! Da sicht ma' wieder amal, was das für an Wert hat, wann ma' mit einer Frau über sowas red't. – Ich bitt' – nehmen S' das nicht persönlich, Frau Bang – das is' halt amal so – Naturgesetz. › Ultra posse und so weiter, sagt der Lateiner. Frauenzimmer und a ernster Dischkursch – das is', wie wann S' dem Guschelbauer sagen täten, er soll den Hamlet spül'n im Burgtheater – kann er halt net! Wissen S', Frau Bang – kann er net – gibt's net – wann er noch so schwitzen tät' dabei – es tät' doch wieder ›der alte Drahrer‹ werd'n! Akkurat so geht's bei die Frauenzimmer a. – Und dann, natürlich – wenn i' was sag, das hat kein' Wert. Was i' red', das is' Unsinn! Geh'n S', i' weiß ja eh, was S' Ihna denken! – Was woll'n S' sagen? – 's wär' net wahr? – Aber i' bitt', hör'n S' mir auf, Frau Bang! Weil i's net weiter 'bracht hab' im Buchhandel, meinen S', dem Buben tät's amal g'rad so geh'n. Natürlich – ha'm scho' recht! Wann's a anderer g'sagt hätt' – vielleicht der Herr Gerold, wenn er noch leben tät' – dann wär's gut g'wesen – aber so – wann's bloß i' sag' …«

»Aber Herr Schneeberger – so hab' ich das doch gar nicht g'meint. Ich hab' doch nur g'sagt, daß' heutzutag furchtbar schwer is' für jeden, der nicht selber wenigstens so viel hat, daß er sich einmal selbständig machen könnt'.«

»Ja, ja, Frau Bang – plagen S' Ihna net, – i' weiß scho' was' g'sagt haben. Sie möchten nicht, daß der Georg amal auch so a armer Teufel wird, wie i' einer bin – geln's? Na ja, – is' ja recht – i' weiß ja eh, was S' von mir denken – –«

»Jetzt Herr Schneeberger, – Sie wissen doch, was ich auf Sie halt – –.«

»Was tun S'? Halten tun S' auf mi'? Wär' mir neu.«

»Na, käm' ich denn mit jeder Sorg' zu Ihnen, wenn mir nicht an Ihrer Meinung was liegen tät'? Nein, Herr Schneeberger, daß Sie mir in Wahrheit mit Ihrem Rat immer wieder ganz unentbehrlich sind, das müssen Sie wissen. Das hab' ich Ihnen auch schon oft g'sagt. – Ein Mann wie Sie, der so viel schon herumgekommen ist, so viel gelesen hat …«

Herr Franz Schneeberger pflegte sich, wenn das Gespräch dann bis zu einem solchen Stadium gediehen war, nach und nach zu beruhigen. Die Röte seines Gesichtes verblaßte wieder, und während Frau Bang so sprach, stieß er mit noch halb mürrischem Gesicht mit dem Kinn ein paarmal vorwärts nach oben, oder er bohrte sich den Zeigefinger vorne zwischen Hals und Hemdkragen und riß an diesem, wie wenn er ihn weiter machen wollte. Nach einer Weile schwanden dann auch diese Zeichen der verfliegenden Erregung, und leise brummelnd zu den beschwichtigenden Worten der Frau Bang schien er sich zu beruhigen. Wie wenn ein Kater, dem man leis' das Fell des Rückens streichelt, vor Wohlsein schnurrt, klang dieses Brummeln. Es tat dem Herrn Franz Schneeberger auch so wohl, es immer wieder anzuhören, daß er hier in dem kleinen Kreise etwas galt. Und dann – wie hatte Frau Marie Bang gesagt? »Ein Mann wie Sie, der so viel schon herumgekommen ist, so viel gelesen hat …«

Mit einer Wendung, die ironisch klingen sollte, und aus der doch die Freude seines Herzens sprach, durchbrach er dann in solchen Fällen die Rede von Frau Bang und wendete sich einem neuen Stoffgebiet zu, auf dem er das Licht seines Wissens hell leuchten lassen konnte. Die Weisheit antiquarischer Scharteken, die ihm in seinem Beruf durch die Hand gelaufen waren, und deren geistigen Gehalt er blätternd durchstöbert hatte, kam dann hervor und prägte sich in kurzen axiomatisch hingeworfenen Sätzen aus. Kritik der Dinge, die er so als geistigen Besitz erworben hatte, war seine starke Seite nicht – und was ihm an der Fähigkeit, die Sätze zu begründen, fehlte, ersetzte er durch unnahbare Sicherheit des Vortrags.

Dem Georg war es längst nicht mehr verschlossen, daß diese Art von Herrn Schneebergers Wissen nicht in die Tiefe griff. Der Umgang mit Herrn Gerold und die Zucht der Schule hatten ihm jenen Sinn gegeben, der feinhörig jedweden falschen Ton erkennt und der es fühlt, ob Worte auf dem sicheren, gewachsenen Boden der Erkenntnis standen oder nicht. Ihm, der Herrn Gerolds Bild unwandelbar in seiner Seele trug, konnte Herr Franz Schneeberger niemals ein Mentor werden, und sprach er auch noch so überzeugt über die seltsamsten und wissenswertesten Dinge. All diese Reden blieben Schall und Rauch, sie gaben Wissenskram wie kleine Münze, die dort genommen wurde und nun hier mit würdiger Gebärde weitergegeben wird, aber sie gaben nichts von dem, was in Herrn Gerolds Worten lebte – sie gaben keine Seele.

Und doch hatte Georg Achtung vor der Art des Herrn Schneeberger, denn er verstand, daß sich mit aller dieser kleinen Eitelkeit ein Mensch drapierte, der sehnsüchtig und bitter war zugleich, der alterte und tief in den verborgenen Winkeln seines Herzens krampfhaft bejahte, was er laut und mürrisch, unnahbar und höhnisch verneinte.

Was Georg aber in Herrn Schneebergers Worten nicht finden konnte, das fand der große Junge in dem schweren Jahre durch einen seiner Lehrer, durch Doktor Rieger, den seltsamen Gelehrten, der an der Schule Geschichte vortrug und der Georg Bang vor vielen anderen Schülern ins Herz geschlossen hatte. Schon immer hatte dieser Lehrer auf Georg tiefen Eindruck gemacht, aber nicht nur auf ihn, auf die ganze Klasse hatte sich die besondere Wirkung seines Wesens stets erstreckt. In diesem letzten Jahre aber war die Beziehung zwischen ihm und Georg noch inniger geworden, wenngleich sie kaum jemals aus jenem Rahmen trat, der ihr durch die Schule gegeben war.

Es war ein seltsamer Mann, alles an ihm war anders als an den anderen Lehrern, und doch war es gerade dieser Lehrer, der durch sein ganzes Wesen den tiefsten Eindruck, die machtvollste Wirkung auf die Knaben ausübte. Still und beinahe andächtig saßen sie in den Bänken des hellen Klassenzimmers. Die Übermütigsten und Wildesten horchten gespannt und schienen wie ausgewechselt. Zwischen den Bankreihen aber schritt der kleine, zarte Mann mit dem dichten, tiefschwarzen Lockenhaar, der tief brünetten Hautfarbe und den großen lebhaften Augen auf und nieder. In kleinen wiegenden und doch ein wenig hastigen Schritten ging er hin und her, die Hände auf dem Rücken, den mächtigen und ausdrucksvollen Kopf leicht in den Nacken gebogen, so daß, während er sprach, sein Blick nur hier und da über die Schüler ging. So lehrte er Geschichte ohne Lehrbuch, ohne viel Daten.

Er behandelte seinen Stoff, wie ein Bildhauer den weichen Ton behandelt. Plastisch baute er ihn auf vor all den staunenden Knabenaugen und gab ihm Leben. Jedes Wort, das diese weiche, modulationsfähige Stimme sprach, hatte tiefen, bildenden Wert; mit einer kurzen Geste, einem leisen Nachdruck der Betonung wußte er dieser jungen Schar um sich oft ganze Weltlagen klar und anschaulich zu machen. Wie ein Künstler, der sich klar bewußt ist, daß er Ewiges zu schaffen hat, so griff er in das Leben der Vergangenheit und zwang es zur eindrucksvollsten Auferstehung. Doch nicht im strengen Rahmen der Geschichte blieb sein Wort. Was jetzt noch als ein Zeitbild aus dem fernen Griechentum erstanden war, das reckte nun mit starken Trieben ein Heer von weiten Fragen auf, das gab den Ausgangspunkt für tiefer greifende Ideen, die in das Wesen allgemeiner Menschlichkeit hinüberwuchsen und deren Besprechung mit Kraft und Klarheit bisher verschlossene Pforten vor den jungen Hörern öffnete. Und so begeisternd für die Buben war diese Art, für sie das Beste aus der eigenen Seele hinzugeben, daß sie ihn alle tief verehrten, vergötterten, und daß sie im Wetteifer strebten, ihm ihren Dank zu zeigen. Es war wohl keiner unter ihnen, der nicht vor Glück errötete, wenn ihm Doktor Rieger, wie er das manchmal tat, streichelnd übers Haar fuhr, oder wenn er ihm beide Hände auf die Schultern legte und ihm dann so auf Armeslänge tief in die Augen blickte. Es lag dann eine wunderbare befangende Kraft in der Wirkung seines weichen Blickes, es war, als drängen seine Augen in ihrer leuchtend schönen Traurigkeit durch alles das, was Hülle ist und äußere Form, nach innen tief in die stillsten Tiefen, wo sich die ungesprochenen und heimlichen Mysterien der Knabenseelen bargen.

Was anderen verschlossen blieb, tat sich vor ihnen auf, und keine scheue Schönheit, keine Sehnsucht, aber auch keine Sünde, keine Unreinheit im Herzen konnte sich vor ihnen verstecken. Seltsam vibrierten manchmal diese Knabenstimmen, wenn sie in solchen Augenblicken auf seine Fragen Antwort gaben. –

Auch Georg, den der Doktor Rieger besonders gern sprechen hörte, empfand das überwältigend Bezwingende in dem ganzen Wesen dieses Mannes, der vor ihm stand und sinnend, mit verträumt in eine Ferne schauenden Augen den Ausführungen des Buben lauschte.

Manchmal war es, als ließe sich der Doktor Rieger vom Tonfalle dieser Knabenstimme befangen, als hörte er kaum auf die Worte und ihren Sinn, als triebe er nur mit dem Klang. Und wenn Georg schwieg, dann strich sich der Lehrer wohl hastig über die Stirn und nickte dem Buben mit einem stillen, gütigen und doch so seltsam trüben Lächeln zu. Und hastig, gleichwie als risse er sich los von Dingen, die sein Innerstes beschäftigten, wendete er sich dann ab, einem der anderen Schüler zu. Er konnte dann den Georg, mit dem er sich doch eben noch so sehr beschäftigt hatte, geflissentlich durch Stunden völlig übersehen; sein Blick, der eben noch so gütig und vertraut gewesen, war nun gemessen kühl, es sah beinahe aus, als fürchtete er, sich etwas vergeben zu haben in seinem Verhalten. Immer wieder kam diese seltsame Zwiespältigkeit in Doktor Riegers Wesen zum Ausdruck. Er liebte seine Schüler wie kein anderer Lehrer und hielt sie dann doch wieder ganz unnahbar von sich fern.

Zwischen Doktor Rieger und Georg Bang waren kaum einmal ein paar Worte gewechselt worden, die sich auf Georgs Leben außerhalb der Schule bezogen, und doch hatte der das Gefühl, als wüßte er nun, seit Herr Gerold ihm gestorben war, niemand, zu dem er so ohne jeden Rückhalt über alles sprechen könnte, was ihn erfüllte, als diesen Mann. Ihm war es, als müßte Doktor Rieger so vieles, das ihn durchwogte und worüber er sich nicht klar werden konnte, verstehen, er fühlte, daß in diesem Lehrer eine ganz andere Liebe zu den Schülern war als in den übrigen.

Von ein paar halbwüchsigen Burschen in der Klasse, die über ihre Jahre lüstern und auf den Gebieten ihrer Neugier unterrichtet waren, hatte auch Georg schamvoll manches hören müssen, das ihn empörte und doch immer wieder quälte, das seine reine Phantasie gleich einem Tropfen Gift durchfloß und nicht zur Ruhe kommen ließ. Er sehnte sich nach einem Menschen, der ihm die Wahrheit über diese Dinge hätte sagen können, nach jemand, der nicht heimlich und erregt wispernd, wie jene Burschen, der klar und ruhig zu ihm geredet und ihm Klarheit gegeben hätte. Aber er hatte niemand.

Herr Gerold, ja – wenn der noch gelebt hätte …

Georg konnte sich denken, daß er dann mit dem gesprochen hätte. Er sah das dämmernde Zimmer, in dem sie so oft zusammengewesen, wieder vor sich. Er hörte im Geist die sanfte väterliche Stimme des Toten, die Stimme, vor deren klarem, gütigem Klang jeder Zweifel weichen mußte und jedes häßliche Gefühl. Gewiß, er konnte sich denken, daß Herr Gerold mit ihm auch über alles das gesprochen hätte, ernst und würdig und so groß und edel, daß alles Trübe geschwunden wäre und er sein neues Wissen empfangen hätte wie eine neue Weihe des Lebens.

Und Doktor Rieger …? Nein, der sprach von diesen Dingen nicht. Auf tausend Pfaden schritten seine Worte, auf zahllose Gebiete führte ihn die Lehre der Geschichte – von solchen Dingen aber sprach er nie zu seinen Schülern. Mehr noch; wie Scheu ergriff es ihn bisweilen, wenn seine Rede solchen Fragen nahte. Und hastig drängte er, der sonst mit so viel Klarheit durch alle Dunkelheiten drang, hinweg auf andere Gebiete. Und Georg nahm ein jedes Wort, das jener sprach, mit aufhorchendem Geiste in sich auf; das junge Gemüt, das so durstig und sehnsüchtig war nach allen Offenbarungen des Lebens, stillte hier sein Verlangen nach vielem und dürstete weiter nach mehr.

Zu Hause vor seiner Mutter und vor Herrn Franz Schneeberger sprach Georg viel von dem verehrten Lehrer und von alle dem, was er lehrte. Frau Bang hörte ihrem Buben dann mit Spannung zu, nickte und strich ihm in liebevollem Stolz übers Haar. Was doch die Buben heutzutage alles lernen! dachte sie dabei.

Herr Schneeberger aber rückte an seiner Brille hin und her, paffte den Rauch von sich und meinte: »Dieser Herr Doktor, das muß ja ein ganz wunderbarer Heiliger sein!« Wiederum Paffen und ein kurzes Räuspern. »Überhaupt scheint sich der Herr nicht ganz klar zu sein, was ma' unter ›Geschichte‹ versteht. Das muß ja a guter Salat sein, den er euch da vortragt! Da wundern sich die Leut' nach'er, wenn die Herren Buben den Kopf voll Kraut und Rüben haben! Wenn ich Direktor wär' an der Schul' …«, er räusperte sich jetzt geräuschvoll und tat das Thema mit einer ausdrucksvollen Handbewegung ab.

Nun schwieg Georg, seine Mutter aber schüttelte leise den Kopf. Daß er dem Buben jede Freud' verekeln muß! dachte sie dabei, und sie griff nach der Hand Georgs und tätschelte sie hastig und begütigend mit ihren arbeitsharten Fingern …

Als das Pfingstfest kam, wurde Georg gefirmt.

Früher, wenn er an seine Firmung gedacht hatte, war sie ihm wie ein Fest voll Freude und Schönheit erschienen, dem er entgegenging, und immer hatten sich die Gestalten des Herrn Gerold und Sephis für ihn mit diesem Fest verknüpft. Schon vor einem Jahr, als er mit den beiden am Pfingstsonntag ins Freie hinausgeflogen war und als sie da zusammen am Stephansplatz durch das Drängen all der Firmlinge mit ihren Paten, durch die Reihen von sauber aufgeputzten, blumengeschmückten Fiakern und Equipagen und durch die Lebzeltenstandeln kamen, als das Schreien der Dienstmänner, die vor dem Portal der Kirche die Wagennummern ausriefen, das Antworten der Kutscher, das Rufen all der Weiber, die sich mit »Firmbandeln«, »Geweihten Kerzen«, »Sträußerln« und »Veigerln« wortreich an jede neu ankommende Firmlingsgesellschaft drängten, das Feilschen, Lachen, Treiben, Räsonieren und Drängen zu einem einzigen Laut des Festjubels zusammenklangen, da hatte Herr Gerold den Arm des Buben fester an sich gezogen.

»Nächstes Jahr, Georg – wenn's mir beschieden ist – da wollen wir das auch mitmachen. Dann führ' ich dich auch da hinein in unsern alten Steffel – auch deine Mutter muß dabei sein, meine Frau und die Sephi – und wenn du deinen Backenstreich erst weg hast, dann suchen wir uns den feschesten Fiaker aus …«

Das war vor einem Jahr gewesen – in der Zeit, da Herr Gerold und seine Frau sich wieder näher gefunden zu haben schienen.

Wie anders war die Wirklichkeit gekommen.

Nun schritt statt Heinrich Gerold Herr Franz Schneeberger neben Georg Bang zur Stephanskirche. Wieder wie damals wogte der Platz im tausendfältigen Treiben des Festes. Aber Georg ging es wie einem, der mit zugehaltenen Ohren in einen Tanzsaal sieht, in dem die Paare sich in zügelloser Lust zum Klingen der Musik im Tanze drehen. Er sah all die Bewegung und all diese Farben und hörte auch dieses Gewirr der Stimmen. Und doch, es drang nicht in sein Inneres ein. Als ob ihm seine Seele taub geworden wäre für alle Freude dieses Treibens, war ihm zumute. Nur die Erkenntnis, wie anders als das sehnsuchtsvolle Träumen das Leben die Erfüllung alles Wünschens so oft formt, durchwogte ihn als unklares und drückendes Gefühl. Das war kein Fest des Glückes, dem er nun mit seiner Mutter und Herrn Franz Schneeberger entgegenschritt.

Ganz unwillkürlich griff er nach der Hand der Mutter.

Sie lächelte ihm zu, und dabei merkte er in ihrem ganzen Wesen die festliche Erregung. Beinahe unruhig war sie, die sonst die klare Ruhe selber war. Und seltsam war es, wie mit dieser Festtagsfreude die Alltagssorgen in dem gütigen Gesicht stritten. Die Wangen waren leicht gerötet – das ließ die müden Züge um den Mund noch mehr erkennen, die Augen aber hatten einen Schimmer angenommen, der von Erwartungsfreude und von Sorge sprach zugleich.

»Sag', freust' dich, Georg?«

Er faßte ihre Hand fester und sagte nichts.

Sie aber sah ihn lange an, wie er nun in seinem neuen schwarzen Anzug mit den ersten langen Hosen neben ihr herschritt. Größer noch als sonst und schmäler kam er ihr vor. Und so etwas Gesetztes hatte er dabei – gar nicht den Jubel wie die meisten anderen Firmlinge.

Ein Stäubchen saß ihm auf dem Ärmel. Da machte Frau Marie Bang ihre Hand sachte frei und streifte über den schwarzen Stoff. Ein Streicheln lag in der Bewegung, und Georg fühlte ihre Liebe. Herr Franz Schneeberger aber sah nur Fürsorge für Georgs neue Kleider, und diese hob sein Selbstbewußtsein, denn Georgs Anzug war sein Firmengeschenk, das er nach reiflicher Beratung mit Frau Bang dem Buben gespendet hatte.

Erst hatte er ihm eine Uhr kaufen wollen, aber da hatte Frau Marie Bang eingeworfen, daß ja die Uhr von ihrem seligen Manne noch da wäre, die doch dem Bub ohnehin bestimmt sei. Also hatte man beschlossen, daß Herr Schneeberger einen Anzug schenken sollte, und Herr Schneeberger hatte den gemeinsamen Entschluß mit Gründlichkeit und Gediegenheit durchgeführt. Förmlich stolz sah er nun auf Georg, der diesen Anzug trug. Das war doch noch ein »G'wand«, das man anschauen konnte! Kein fertig gekauftes Klüfterl, das schon in Fransen ging, wenn einer drinnen einmal niesen mußte! Das war ein Stoff – wenn der nicht an Altersschwäche starb, dann war er überhaupt nicht umzubringen. Und »aufs Wachsen« eingerichtet war der Anzug auch, den mußte so ein Bub noch nach fünf oder sechs Jahren tragen können! –

»A Firmbandl für den jungen Herrn, Herr Göd?! Gengan S', kommen S' her, Herr Göd – aber a so a feiner junger Herr!«

Ein »Bandlweib« schwenkte ein ganzes Bündel von weißen Firmbändern vor Herrn Schneeberger, und der blieb stehen, um ihr eines davon abzunehmen. Keins von den schmalen … »Na – dös is nix für Ihna, Herr Göd – wissen S', koans von die lumpigen und zauserten« – das Bandelweib verstand sich auf die Kundschaft.

Und Herr Schneeberger, der sich nicht lumpen ließ als Pate, wählte ein breites, festes Band.

Georg und Frau Marie Bang waren unterdessen einige Schritte weiter fortgeschoben worden im Gedräng. Nun, während Herr Schneeberger sich von der Bandverkäuferin auf einen Gulden, den er ihr gegeben hatte, herausgeben ließ, und die dicke, gemütlich lachende Frau gerade die letzten zwanzig Kreuzer in keiner Tasche mehr auftreiben konnte, standen die beiden vor dem Hauptportal des Domes. Das innere Tor war geöffnet, und nur das äußere Gittertor wehrte den Eingang. Aber man sah weit hinein in das feierliche Gewölbe der Kirche, aus der Tausende von rötlich schimmernden Kerzenlichtern strahlten und mit dem hellen Tageslicht draußen kämpften. Und man hörte auch den tiefen Klang der Orgel und, in abgerissenen Sätzen – wenn all das laute helle Treiben der Straße auf Augenblicke ebbte – den Klang einer Frauenstimme, die in hochaufjubelnden Tönen sang:

»Wohin soll ich mich wenden,
Wenn Gram und Schmerz mich drücken –
Wem künd' ich mein Entzücken,
Wenn freudig pocht mein Herz – –?
Zu dir, zu dir, o Vater!
Komm ich in Freud und Leiden.
Du spendest ja die Freuden,
Du heilest jeden Schmerz – –!«

Georg starrte durch das Gittertor in das lichterflimmernde Halbdunkel der Kirche.

Da drang die Botschaft wieder heraus, die der Katechet in der Schule ihnen stets verkündet hatte, die Botschaft, die der Mutter ihren Halt und ihre Stärke gab in all dem Leid des Lebens. Und Georg sah und hörte, aber er fühlte nicht. All jene Zweifel, die in ihm erwachsen waren, wurden hier im Angesicht der Kirche wieder qualvoll wach. Er dachte an den Katecheten: wie hatte der gesagt? »Firmung – das Wort kommt aus dem Lateinischen. Confirmo heißt: ich festige dich, ich gebe dir neue Kraft. Und eine Festigung im Glauben soll also die Firmung sein – –«

»Georg, fehlt dir was?« Die Mutter sah ihm besorgt in die Augen.

Aber da klang gerade die Stimme des Herrn Schneeberger: »Ah, da sind Sie! Ich hab' schon g'meint, wir hätten uns verloren! Jetzt, die is' gut, das Bandlweib! Zwanzig Kreuzer zu wenig hat's mir herausg'eben, und wissen S', was' sagt? ›Aber gengan S', Herr Göd! – wegen zwanz'g Kreuzer – auf dös kommt's Ihna heut a nimmer an!‹«

Frau Bang nickte mit einem zerstreuten Lächeln.

»Ja, an so an' Tag, da will halt alles verdienen! Aber jetzt vorwärts – –«

Und eilig schritt er den beiden anderen voran dem Seiteneingange der Stephanskirche zu …

In langen Doppelreihen standen sie in dem gewaltigen Mittelschiff des Domes. Vorn die Firmlinge, auf der einen Seite die Buben, auf der anderen die Mädchen und hinter jedem, die rechte Hand auf der Schulter des Schützlings, die Paten und Patinnen. Dann kam ein Geistlicher die Reihe herunter. Er fragte jeden von den Paten nach dem Namen, den der Firmling bekommen sollte, notierte die Angaben, ordnete hier und da noch ein paar in der Reihe und schob dann dem einen oder anderen das Firmband an der Stirn besser zurecht.

Als Herr Schneeberger, auf die Frage nach dem Firmnamen laut und deutlich »Franz« sagte, kam es Georg wieder zum Bewußtsein, wie anders diese Stunde wohl für ihn gewesen wäre, wenn Heinrich Gerolds Hand auf seiner Schulter läge. Der hätte ihm auf seine Fragen Rede stehen können, der hätte seine Zweifel alle mit seinen Worten zur Ruhe gebracht. » Confirmo heißt: ich festige dich« – der hätte ihn gefestigt und ihm neue Kraft gegeben – vielleicht ganz anders, als der Katechet das meinte, aber doch sicherlich auf die rechte Art …

Nun ging eine Bewegung durch die Reihen, und oben auf dem Chor setzte die mächtige Orgel in schwellenden Akkorden wieder ein, daß ihre schwerblütigen Melodien das Riesenschiff des Domes durchfluteten.

Georg sah die Reihe der Firmlinge entlang. Unten, am Ende der Erwartenden, war im prunkenden Ornat, den Bischofsstab in der Linken, die Mitra auf dem greisen Haupt, der Erzbischof erschienen. Zu seinen Seiten schritten Priester, deren kirchliche Gewänder gleichfalls von golddurchwirkten Stoffen waren, und eine ganze Schar von weiteren Priestern folgte ihnen. So schritt er, während von dem Chor nun aufs neue der Gesang herniederströmte, an der Reihe der Firmlinge hin.

Jedem salbte er die Stirn mit dem heiligen Chrisam, das ihm der eine der Priester in goldener Schale vorantrug, über jeden sprach er die Worte des Segens, während seine schmale bleiche Hand, an der der schwere Bischofsring gleich einer Last zu sitzen schien, in seltsam ergreifender Geste das Kreuzeszeichen in der Luft beschrieb. Ein leises Berühren dann der linken Backe des Firmlings – » Pax tecum –« – und er schritt weiter und wandte sich dem nächsten zu.

Näher und näher kam er zu Georg, den eine tiefe Erregung ergriffen hatte. Ein Fühlen, so, als müßte er etwas empfangen, als müßten ihm die kommenden Minuten etwas offenbaren, hatte von ihm Besitz genommen. Und dabei fühlte er die Hand des Herrn Schneeberger auf seiner Schulter als etwas Fremdes, das ihn niederhielt.

Jetzt waren nur noch drei Firmlinge vor ihm an der Reihe. Ein Bub in seinen Jahren, der eine glänzend neue Uhrkette über die Weste laufend trug und seinen schwarzen Hut zwischen den Fingern drehte, ein junger Bauer, der vom Land hereingekommen war, um hier in Wien vom Erzbischof den Segen zu erhalten, und neben Georg ein Soldat, ein Böhme, der nun mit seinen einundzwanzig Jahren das heilige Sakrament, das zu empfangen er seinerzeit versäumt hatte, nachträglich genießen wollte. Stumpfsinnig, wie wenn er zum Appell gerufen wäre, stand er da.

Und auch von diesen dreien ward einer nach dem anderen gefirmt. Gleichmäßig wie ein Uhrwerk geht, bewegte sich die Gruppe um den Bischof weiter.

Schon stand der Priester mit der goldenen Schale vor Georg – und nun der greise Erzbischof selbst.

Und Georg fühlte den Finger mit dem heiligen Chrisam an der Stirn, sah den Krummstab vor sich funkeln, hörte die Segensworte des Bischofs, aus denen das Wort › Franciscus‹ ihm entgegenschlug, und wußte, daß er jetzt mit dieser hageren Hand das Kreuz beschrieb und leise seine Wange berührte.

» Pax tecum –«, das klang ihm noch in den Ohren.

Aber da war der Erzbischof schon wieder bei dem Nächsten und dem Übernächsten. Ihm aber wischte einer von den Priestern das Chrisam von der Stirn, ein anderer sammelte das Band zu jenem Bund von Bändern, den er schon in Händen trug, die Firmung war vorüber.

Georg hörte die Stimme des Herrn Schneeberger, der sich ein wenig räusperte, er hörte ein Schnarren und Wispern aus der Reihe derer, die nun gleich ihm gefirmt waren, und hatte ein Gefühl des Wehs und der Leere. Vom Chore sanken die vollen Töne der Orgel in den Raum hernieder. Prunkvolle Meßgewänder bewegten sich vor seinen Augen, und ganz von fern drang der helle Ton des Klingelbeutels zu ihm, mit dem der Mesner freiwillige Gaben bei den Paten sammelte.

Wie ein Traum war alles das für ihn.

Und plötzlich mußte er an jenen Sonntag denken, da er mit seiner Mutter vormittags in der Kirche war – an jenen Sonntag, an dem er dann zum ersten Male bei Gerolds eingeladen gewesen. Wie wenn das Höchste zu ihm käme, so hatte er damals empfunden … und nun, da doch ein Heiliges der Kirche zu ihm gekommen war, nun war's an seinem Fühlen vorbeigegangen und hatte nichts gebracht für all sein Hoffen und sein Fragen.

Nach und nach lösten sich die Reihen der Gefirmten auf. Hier schlug der eine noch ein Kreuz über Stirn, Mund und Brust und wendete sich dann zögernd dem Paten zu; dort beugten Pate und Firmling gemeinsam ihr Knie, erhoben sich dann wieder und schritten nach dem Ausgang. Und neue Firmlinge mit ihren Göden schoben sich an die Stellen der ausgeschiedenen und standen nun, das Firmband um die Stirn, wartend wie früher jene, die nun die Weihe schon empfangen hatten.

Und auch Georg machte das Zeichen des Kreuzes über sich, aber ein Gefühl wie schamvolle Verlegenheit hielt ihn dabei umfangen. Er machte es, weil es die anderen machten, und eine Sehnsucht, weg zu sein aus diesem Menschendrängen, kam über ihn.

Als er sich umwendete, da nickte ihm Herr Franz Schneeberger mit einem gutmütig stolzen Lächeln zu.

»Na sixt' es, Georg – jetzt bist g'firmt auch!«

Zwischen dem Paten und Frau Marie Bang, die während der heiligen Handlung still hinter Herrn Schneeberger gestanden hatte, schritt er dann nach dem Ausgang der Kirche.

Er hörte, wie Herr Schneeberger leise zu Frau Bang hinüber sprach:

»Ang'riffen hat's ihn, den Buben – mein Gott – is' ja auch kei' Wunder. Wenn ma' denkt: die Pracht von die Meßg'wänder – und dann der Erzbischof und die Orgel … und wenn ma' jung is' dazu …«

Wie eine Erlösung war es für Georg, als er durch das breite Portal das volle Sonnenlicht des Pfingsttages wieder hereinströmen sah, als er von draußen das Ausrufen der Wagennummern, das Antworten der Fiakerkutscher, das Rattern der Räder und all das wogende Stimmengewirr des Lebens wieder hörte.

An ihnen vorbei drängten in freudiger Hast die jungen und alten Menschen. Mädchen in weißen Firmkleidchen, Blumen im offenen Haar, Buben, denen die Lust am kommenden Vergnügen aus den Augen sprühte, und Paten und Patinnen, auf denen es lag wie der Abglanz der eigenen fernen Jugendfreude.

Die drei Menschen schritten durch die drängende Menge vor der Kirche und in den Straßen, in denen alles wie im Rausch des Festes wogte. Überall Sonne und helle Gesichter, überall Lachen und munteres Rufen, Blumen und helle Kleider.

Sie schritten die Rotenturmstraße hinunter nach dem Franz-Josephskai. Das kleine Dampfschiff sollte sie nach dem Prater bringen.

»Freust' dich aufs Schiff?« fragte der Herr Schneeberger.

Und Georg sagte: »So lang' schon bin ich nicht mehr auf der Donau gewesen.« Er dachte wieder an vergangene Zeiten, an Heinrich Gerold und an Sephi, mit denen er denselben Weg zum Kai hinunter so oft gegangen war, wenn sie zusammen in die Donauauen, nach Nußdorf oder Klosterneuburg fuhren.

Eine Beklommenheit blieb über ihm den ganzen Tag. Es lag auf ihm wie das Weh der Enttäuschung. Ein unbewußtes Sehnen in seinem Herzen hatte von diesem Tage so viel erwartet – Dinge, über die er sich nicht Klarheit geben konnte und danach er sich doch zerquälte. Nun ging der Tag und was er brachte, gleich einem kühlen Wort an ihm vorüber. Nur daß die Mutter doch in seiner Nähe war, tat Georg wohl. Wenn ihre Hand ihn streifte, war es ihm wie ein Verstehen, und wenn ihr Blick ihn traf, empfand er das als einen Trost; er fühlte, daß er eine Heimat hatte und jemand, der ihn über alles liebte.

Ein Wandelbild mit tausend bunten Szenen, floß dieser Tag an Georg dahin: die Donaufahrt, das Treiben auf dem Schiff, der Gang im Prater und das Mittagsessen im dichtbesetzten Garten des »Eisvogel«, dann wieder das Drängen vor den Buden, der Besuch beim »Taucher«, wo Herr Franz Schneeberger ein Privatissimum über die Kunst des Tauchens hielt, das Aquarium mit all den seltsam geformten Meerestieren, und endlich das stille Abendessen an dem entlegenen Plätzchen beim »Braunen Hirschen«. Wie ein Dunst lag es da über allem, eine schwere sinnende Müdigkeit nach all dem Drängen und dem Lärm des Tages. Kaum daß sie sprechen wollten. Nur Herr Schneeberger pries nach jedem Zuge, wenn er das Glas hinsetzte und mit einem schlürfenden Ton das Naß des Bieres aus den Schnurrbarthaaren sog, die Frische und die Güte des »Schwechaters«. Und Frau Marie Bang sah lächelnd und verträumt nach ihrem Buben.

Wie eine kleine Familie saßen die drei Menschen um den runden Tisch, auf dem noch auf weißen Papierblättern die Hautreste der Salami und die Rindenstücke des Emmentalers lagen. Aus den Kronen der Bäume fiel hier und da ein Blütenblättchen nieder, oder ein kleiner Käfer machte auf dem Tisch kurze Rast in seinem Flug. Und aus dem dicht besetzten Mittelteil des Gartens klangen in verwehten Wellen die Walzermelodien der Damenkapelle und die Rufe der Kellner und Verkäufer: »Brot! Schani – Brot!« … »Bier g'fällig? Bier!« … »Salamucci – Salamini! Da bin i'!«

Das war der Firmtag Georg Bangs.

* * *

Herr Franz Schneeberger hatte eine kleine Erbschaft gemacht – nicht ein Vermögen, aber doch immerhin eine Summe, die ihm wie ein Vermögen erschien. Ein Onkel von ihm, ein alter Herr, der als Pfarrer im Mährischen gelebt hatte und an den er kaum jemals gedacht hatte, war gestorben.

Als er der Frau Marie Bang von diesem Todesfall, der ihn nicht weiter tief berührte, sprach, da meinte sie:

»Vielleicht erben Sie etwas von dem Hochwürdigen Herrn.«

Aber er hatte nur hastig den Kopf geschüttelt.

»Erben? Nein, nein, Frau Bang, so gut meint's das Leben mit unsereinem net. Und dann, ich glaub' net, daß mei' seliger Onkel überhaupt 'was hinterlassen hat außer seine paar Möbel und Bücher. Wenn er sich aber vielleicht was derspart hätt', dann hat er das jetzt sicher irgend einer frommen Stiftung vermacht. Vielleicht, daß er sich ein paar Messen für sei' Seel' im Fegefeuer ang'ordent hat – obwohl er ja net g'rad' von die Frömmsten einer war. Is' auch schon bald wieder zwanz'g Jahr' her, daß ich ihn damals g'seh'n hab'; wie ich als Gehilf' in Prag war, bin ich amal zu Ostern auf zwei Täg bei ihm g'wesen. War a lieber und a guter Herr sonst, der Hochwürden – ja. Zwanz'g Jahr – –«

Herr Franz Schneeberger schüttelte sinnend den Kopf, und damit war damals für ihn und Frau Marie Bang das Gespräch über den seligen Hochwürdigen Herrn beendet. Dann wurde zwischen ihnen sein Name kaum noch ein- oder zweimal genannt, bis etwa acht Tage darauf ein Brief von dem k. k. privilegierten Notar Doktor Wenzel Jadlizek in Brünn an Herrn Schneeberger kam, in dem diesem in geschraubtem Juristendeutsch angekündigt wurde, daß sein verstorbener Verwandter ihm den Betrag von zehntausend Gulden sowie einen Teil der Einrichtung der Pfarrwohnung testamentarisch vermacht hatte.

Mit rotem Kopf und steigender Erregung las Herr Schneeberger dieses Schreiben, als er mittags auf einen Sprung nach Hause kam, und er hatte es noch nicht zu Ende gelesen, als er auch schon damit in das Zimmer der Frau Bang hinüberstürzte. Dort aber, wie er Georg und dessen Mutter am Tisch vor den Tellern mit der Suppe sah, da lachte er nur ein wenig und trat zum Fenster und versuchte wieder, sich in dem Brief des Doktor Wenzel Jadlizek zurechtzufinden.

Mit beiden Händen hielt er das Papier vor sich, und dennoch zitterte der Bogen vor seinen Augen. Und ein erregtes, bebendes Lachen wollte ihm in die Kehle steigen – er konnte wieder nicht zu Ende lesen. Er sah nur auf, zu der Frau Bang hinüber, und mit einer Stimme, in der ein tief glückliches Lachen, wie ein Streicheln und wie Rührung und Zärtlichkeit, bebte, sagte er:

»Jadlizek – der Böhm, der blöde! Wann ma's nur verstehn könnt', das Krawatendeutsch! Frau Bang wissen S', was der Kerl will? A Geld hat er mir vermacht, der selige Hochwürden – zehntausend Gulden – und schreiben tut er's so auf'blaht, der Tepp – dieser Jadlizek, mein i' – daß i' erst net g'wußt hab, soll i' zehntausend Gulden Straf' zahl'n, weil der alte Herr g'storben is', oder krieg i' das Geld –«

Und nun lasen sie den Brief zusammen, und lasen ihn immer wieder. Die Suppe auf dem Tisch wurde kalt darüber, und Herr Schneeberger, der nach dem Mittagsessen nur auf einen Sprung nach Hause gekommen war, dachte in der Erregung über dieses Glück, das ihm da zugefallen war, gar nicht daran, daß es doch eigentlich höchste Zeit für ihn war, wieder ins Geschäft zu gehen. Wie ausgewechselt war er, lebhafter, zuversichtlicher machte ihn diese frohe Botschaft.

»Jetzt so was, Frau Bang! Zehntausend Gulden! Wann ma' denkt: seit zwanz'g Jahr spar i' jeden Gulden, den i' net notwendig brauch, und kaum a bissel über tausend Gulden hab i' z'ammenkriegt – und jetzt zehntausend Gulden auf einmal! Ob i' hinfahr'n muß zu dem Jadlizek, was meinen S', Frau Bang? Und sicher wird's doch derweil sein, dort, das Geld?!«

Und Frau Marie Bang mußte auf hundert Fragen Antwort geben; Herr Franz Schneeberger, der sonst alles so unbedingt genau und sicher wußte, der brummige und überlegene Herr Franz Schneeberger war in der einen Welle des Glücks, die über ihn gegangen war, ein anderer geworden. Die starre Weisheit all seiner Scharteken war wie weggeschwemmt, und ungezählte Fächer seines Herzens, die sonst immer verschlossen waren, sprangen auf. Sie aber freute sich mit ihm, und ihre Augen waren feucht vor Freude.

Mein Gott, was so ein Glück den Menschen gleich ganz anders macht! dachte sie. Um Jahre jünger kam ihr der Herr Schneeberger jetzt auf einmal vor – die Augen hatten einen frischen Glanz, die Wangen Farbe, und auch das Haar schien ihr jetzt nicht so grau wie sonst. Ein beinah' mütterliches Fühlen kam über sie.

»Aber verdient haben Sie's, das Glück! Das muß ma' sagen. Wo's doch so oft den Unrechten trifft – bei Ihnen hat's den Rechten 'troffen!« – Und sie nickte ihm mit Rührung und Zuversicht zu und warf dann rasch und erschrocken einen Blick auf die Uhr, denn draußen von der Küche schlug es eben ein viertel Drei, und seit zwei Uhr sollte Herr Schneeberger eigentlich schon hinter seinem Pult stehen.

Diesmal aber beunruhigte den sonst so Pünktlichen diese Verspätung nicht. Beinahe übermütig meinte er im Gehen:

»Wer weiß, wie lang' ich jetzt noch Gehilf' bin!« Mit leisem behutsamen Klopfen schlug er an seine Brust, dort wo er in der inneren Rocktasche den Brief des Doktors Wenzel Jadlizek aus Brünn geborgen hatte. »Wer das hat, liebe Frau Bang, der braucht nicht mehr gar so ängstlich sein! Mit dem da laßt sich allerhand versuchen!« –

Daß er an diesem schönen Sommernachmittag an seinem Pult in der Antiquariatsbuchhandlung von J. Tiburtius besonders viel gearbeitet hätte, hat Herr Schneeberger auch in späteren Jahren nie behauptet. Einen Brief an den Notar in Brünn hatte er geschrieben und einen mehrtägigen Urlaub erbeten – dann hatte er den »Kondukteur« studiert und sich den besten Frühzug nach Brünn notiert – das war so ziemlich seine ganze Tätigkeit im Dienst der Firma gewesen.

Und am Abend, als er wieder mit Georg und seiner Mutter in dem Zimmer der Frau Bang zusammen saß, entwarf er Pläne für die Zukunft.

Er hatte zu der Feier des Ereignisses eine Flasche Rotwein mitgebracht, und vor einem jeden stand das gefüllte Glas. Manchmal griff Herr Schneeberger nach dem seinen und hob es hoch, daß der Wein im durchfallenden Licht der Lampe leuchtete.

»Soll'n leben, Frau Bang!«

Und er trank mit kleinen Zügen wie ein ausgemachter Kenner. Er brauchte dann seinen Schnurrbart nicht auszusaugen, das war nicht wie beim Bier. Nur ganz leise, beinahe zärtlich strich er mit der Zungenspitze darüber hin. Dann baute er wieder an seinen Luftschlössern und Zukunftsträumen.

»Wissen S', Frau Bang, a eigenes G'schäfterl haben, das wär' schon was ander's. Und für das Geld – – die Hauptsach' wär eben, daß ma' die Konzession kriegert. Das beste wär', ma' kaufert a klein's G'schäft, aus dem sich noch 'was machen laßt … Sorgen – natürlich müßt' ma' im Anfang fest dahinter sein … aber ma' hätt' doch 'was davon, es wär' doch auch 'was ander's als so!«

Frau Bang nickte. »Freilich, freilich …« Und als sie sah, daß Herr Schneeberger mit einem fast verträumten Lächeln an seinen Plänen weiterspann, schwieg sie, um ihn nicht zu stören.

»Und der Georg – wenn der Bub erst den Buchhandel g'lernt hat – und lernen müßt' er 'n in Leipzig, wo ich auch meine Lehrzeit g'habt hab' – das wär doch auch was ander's, wenn er sich dann gleich so ins warme Nest setzen könnt' …?! Na, was meinen S', Frau Bang? … Na, prost! derweil!«

Er hob wieder sein Glas und trank und phantasierte weiter. Ein ganz verschmitztes, wohliges Lächeln hatte er manchmal dabei, und hier und da warf er eine nur halb verständliche Andeutung hin, aufmunternd und zurückhaltend zugleich, als wüßte er Dinge, von denen er noch nicht so reden wollte, als hielte er noch hinterm Berge mit manchem Gedanken und manchem Plan – vielleicht mit dem besten von allem.

Frau Bang tat ihm Bescheid mit ihrem Glase, wenn er ihr zutrank, und gab ihm Antwort auf seine Fragen. Eine stille, versonnene Freude war auch in ihr, sie fühlte dieses Glück mit ihrem Zimmerherrn und wußte, daß bei diesen Zukunftsplänen auch sie und Georg nicht vergessen waren. Aber bei all dem hatte sie doch zugleich ein seltsam unsicheres Gefühl, und das wuchs, je mehr der Inhalt in der Rotweinflasche sich zu Ende neigte und je öfter Herr Franz Schneeberger, als Abschluß seiner Pläne spinnenden Gedankenketten, das Glas erhob und, eh' er trank, nickend zu ihr und Georg hinüberblickte. Eine Unruhe kam über sie, daß sie ein paarmal von der Näharbeit sich zurückbeugte, tief atmen mußte und dann, ehe sie fortfuhr, an dem zerschlissenen Futter von Herrn Schneebergers schwarzem Bratenrock ihre Kunst zu üben, lange auf ihren großen Buben sah, der still verträumt auf seinem Stuhl saß.

Nicht nur, was Herr Schneeberger von Georg gesagt hatte, daß er dann fort nach Leipzig in die Lehre sollte, ging ihr im Kopf herum und brachte ihr schon heute ein Vorgefühl der Bitterkeit von Trennungsleid und Sehnsucht, auch noch ein anderes, worüber sie nicht denken wollte, und das sie doch näher kommen fühlte, lag wie ein leiser Druck auf ihr.

Das Fenster der Stube war weit geöffnet, nur der dünne Vorhang war vorgezogen, damit man aus der Küche des Vorderhauses nicht so hineinsehen könnte in die Stube. Von draußen strich ein leiser Wind zeitweilig gegen diesen Vorhang. Dann blähte er sich weich nach innen und rieb sich leise raschelnd an den Scheiben. Aber Frau Marie Bang war es so beengend heiß bei alledem. Zweimal stand sie auf und legte den Rock des Herrn Schneeberger, der doch auf jeden Fall noch heute fertig werden mußte, damit ihn sein Besitzer am Tage darauf auf die Fahrt nach Brünn mitnehmen konnte, auf den Tisch und ging für Augenblicke in die Küche. Und beide Male strich sie im Vorbeigehen dem Georg mit der Hand über die Schultern und über den Rücken hin, seltsam innig, als versteckte sich eine tiefe, beruhigende Zärtlichkeit in diesem Streicheln.

Am nächsten Tage fuhr Herr Franz Schneeberger nach Brünn zum Doktor Wenzel Jadlizek, und nach zwei weiteren Tagen kam er wieder zurück nach Wien. Er brachte das geerbte Geld gleich mit und hatte auch die Nachsendung des Hausrats angeordnet.

Und nun begann er seine Zukunftspläne in die Wirklichkeit umzusetzen.

Daß er seine Stellung aufgeben und sich selbstständig machen wollte, stand fest in ihm. Lange und ausführlich hatte er diesen Plan an einem Abend mit Frau Bang erörtert, und aus den vielen Gründen, die er da in seiner kurzen abgerissenen Art hinwarf, hatte sie immer wieder eines herausgehört, dem er nicht Worte gab: er wollte in seinen alten Tagen noch einen Wirkungskreis besitzen, der sein war; Herr Franz Schneeberger, der als Gehilfe in fremdem Dienst und als Zimmerherr grau geworden war, sehnte sich nun, da das Geschick ihm dieses kleine Kapital gegeben hatte, nach einem eigenen Plätzchen an der Sonne, man sollte ihn nicht länger übersehen, mit einem Achselzucken übergehen dürfen. Auch darüber, daß er aus seiner Vaterstadt, aus Wien, nicht fortgehen wollte, war er sich klar.

»Und wenn ich auswärts auch a G'schäfterl finden tät', das mir passen könnt' – schaun S', Frau Bang, wegzieh'n von Wien, das könnt' i' net. Da bin i' halt doch schon a viel zu alter Baum dazu, als daß i' so a Umpflanzen noch vertragen könnt'. Und dann, Frau Bang, wir bleiben beisammen, wir drei, Sie und der Georg und ich – wir bleiben beisammen – gelns? – und überhaupt –«

Er schwieg und schüttelte dann rasch den Kopf, als ob er für jetzt schon zuviel gesprochen hatte.

Und als es dann ganz still im Zimmer war, lachte er plötzlich kurz ein wenig auf, schnob sich mit dröhnendem Posaunenstoß die Nase und schlug dann, als er sein großes rotes Taschentuch umständlich wieder versorgt hatte, dem Georg derb und aufmunternd auf die Schulter.

»Ja, Bürscherl! Nur Zeit lassen! Wird schon noch alles werden!«

Es war das erstemal, daß er für den Buben ein solches Schmeichelwort gebrauchte, und der ward ganz verlegen unter dieser rauhen Zärtlichkeit. Er wurde rot bis in die Haare, und seine Augen blickten beinahe ängstlich zu der Mutter hin.

Die aber sah nicht auf von ihrer kleinen Näharbeit.

Erst als Georg später, nachdem Herr Franz Schneeberger sich in sein Zimmer begeben hatte, die Mutter plötzlich fragte, ob sie wohl manchmal noch an den Herrn Heinrich Gerold dächte, da rief sie ihn zu sich. Und wie er nun vor ihrem Stuhl stand, schlang sie die beiden Arme um ihn und sah so zu ihm auf in seine Augen.

»Dummer Bub!« sagte sie nur.

Er aber drückte seinen Kopf an ihren Hals. Tief barg er ihn zwischen ihrer Wange und ihrer Schulter, und eine heiße Scham erfüllte ihn. –

Ein paar Wochen später hatte Herr Schneeberger sein »G'schäfterl« richtig gefunden.

Es war keine große und erste Buchhandlung, um deren Erwerb er da in Unterhandlung trat und die er nach langem Hin- und Widerreden, nach vielen Tagen des Überlegens und nach einer ganz kritischen Periode, in der sich der ganze Plan beinahe wieder zerschlagen hätte, endlich erwarb. Nein, es war ein kleines, aber solides Geschäft, ziemlich weit draußen in Mariahilf, eine Buchhandlung, die der Besitzer, der sie nun aufgab, um sich an einem Fabrikunternehmen zu beteiligen, vor einem Dutzend Jahren gegründet hatte, und die ihren Mann, wenn er tüchtig arbeiten wollte, bescheiden ernährte. Die Firma J. Tiburtius legte Herrn Franz Schneeberger keine Schwierigkeiten in den Weg, als er dort, nun da er seiner Sache sicher war, um seine Entlassung bat.

»Ich hab' mir ja so gedacht, daß irgend 'was derartiges am Schluß dabei herauskommt, mein lieber Herr Schneeberger!« sagte ihm der alte Herr Tiburtius. »Die Sache mit dem Urlaub, mit Ihren geheimnisvollen Ausgängen in dieser letzten Zeit – das alles war mir nicht ganz geheuer … Nun, mich freut's vom Herzen, daß Ihnen die Sache bisher geglückt ist, und ich wünsche Ihnen allen Erfolg und Segen für Ihr Geschäft! Die kleine Handlung ist gut und solid, Sie werden sie bei Ihrem Fleiß sicher bald noch weiter ausbauen. Mir waren Sie in all der Zeit ein lieber Mitarbeiter, mir tut es leid, daß wir uns trennen müssen, aber ich würde an Ihrer Stelle ebenso gehandelt haben. Ich war ja wohl niemals ein unangenehmer Chef, aber die Unabhängigkeit ist halt doch was anderes!«

Und als dann Herr Schneeberger mit seiner anderen Bitte kam, ihm die Kündigungsfrist, die beinahe ein Vierteljahr betrug, zu erlassen, da zog Herr Tiburtius senior die Augenbrauen hoch, daß seine Stirn sich wie eine Ziehharmonika in Falten legte, sah seinen lieben Mitarbeiter mit einem sinnenden Blick an, als ob er sagen wollte: Du bist mir ein Kerl! Möcht'st mich jetzt sitzen lassen! und griff dann plötzlich zwei alte Bände aus dem Regal neben sich. Herr Franz Schneeberger dachte noch: es sind des » Hippocrates medicorum omnium longe principis opera« und Eckhardtshausens »Reden zum Wohl der Menschheit« – aber da schlug Herr Tiburtius senior die beiden Bände, den alten schweinsledernen Mediziner von 1595 und den Münchener Pappband von 1788, schon gegeneinander, daß die Staubwolken stoben.

Als die Luft wieder klar geworden war, stellte er die Bände befriedigt an ihren Platz zurück, streichelte mit der Hand über die Rücken der Bücher hin und wendete sich mit geglätteter Stirn und freundlichen Augen an Herrn Schneeberger.

»Wie lang' haben wir zusammen gearbeitet? Ein Dutzend Jahre – sicher. Und viel Urlaub haben Sie in dieser Zeit ja nicht gehabt. Also wissen S' was, Herr Schneeberger, ich geb' Ihnen nachträglich die rückständigen Urlaube. Sie können geh'n – heute noch – ich zahle Ihnen das Vierteljahr – Sie betrachten sich als auf Urlaub.«

Dagegen hatte der Herr Franz Schneeberger nichts einzuwenden, und als er das Gespräch mit dem »Alten« am Abend der Frau Bang erzählte, da konnte er nicht umhin, wie einen Nekrolog zu seinem Verhältnis zu Herrn Tiburtius senior, noch einmal das eine gründlich festzustellen:

»Nein – lumpen laßt er si' net, der Alte – und das muß ma' überhaupt sagen: für an' Chef is' er immer ein ganz anständiger Mensch g'wesen.«

Auch der Abschied vom jungen Herrn Felix und den beiden Hausknechten war zur Zufriedenheit ausgefallen. Der junge Herr war sogar viel »anständiger« gewesen, als der Herr Schneeberger vermutet hatte, denn am Nachmittag dieses letzten Tages, den er in der Firma J. Tiburtius verbrachte, war Herr Felix noch einmal zu dem Pult des Herrn Schneeberger gekommen und hatte »dem neuen Herrn Kollegen« zur Erinnerung an die gemeinsame Tätigkeit ein Etui mit einem Paar goldener Manschettenknöpfe übergeben. Und wie Herr Schneeberger nun beim Abendessen an diesen Augenblick zurückdachte, da fand er, daß »der junge Schnüffel« doch eigentlich schon gereift und männlich aussah, und es wollte ihn fast bedünken, als ob er gar nicht mehr so gigerlmäßig angezogen ginge wie früher.

Laut aber sagte er nur: »Der junge Herr, mein Gott – gar so jung is' er auch nimmer – und wann er so weitermacht, dann kann er no' a' ganz or'ntlicher Buchhändler werden – ja.« –

Am nächsten Morgen schon übernahm der neue Chef dann sein Geschäft in Mariahilf, und zwei Tage später am Nachmittag gingen Frau Bang und Georg auf Herrn Schneebergers besondere Einladung zusammen hinaus, um das neue Besitztum und den neuen Wirkungskreis des alten Freundes zu sehen. Und Herr Schneeberger führte seine Gäste durch sein Reich, er stellte ihnen den jungen Gehilfen vor, den er beschäftigte, zeigte ihnen den Ladenraum vorn und das Zimmer dahinter, das er für ein kleines Antiquariat einrichten wollte, ließ sie dann, als Leute eintraten, auf zwei mit verschossenem grünen Plüsch bezogene Hocker niedersetzen und verkaufte vor den Augen seiner Gäste ein »Davidis' Kochbuch« an eine Kundin, während sein Gehilfe auf die Leiter kletterte und »Schillers Räuber in der Reclamschen Ausgabe« für zwölf Kreuzer aus dem obersten Fach des Regals herunterholte. Mit staunenden Blicken sah Georg auf den Käufer, einen jungen Menschen mit fliegender Krawatte, langem Lockenhaar und bleichem Gesicht.

Als die beiden Kunden gegangen waren, kam Herr Schneeberger mit vergnügtem Brummeln wieder hinter dem Ladentisch hervor.

»Ja, liebe Frau Bang, es wird schon geh'n – ich glaub', ich kann mit meinem Kauf zufrieden sein.«

Auch am Abend, als sie wiederum beisammen saßen, kam er noch einmal auf seine neue Stellung im Leben zurück. Dann aber schwieg er bald und paffte in einer seltsamen Stimmung, die erregt schien und verträumt zugleich, den blauen Rauch der Pfeife vor sich hin. Es war, als ob er etwas auf dem Herzen hätte, das er nun doch nicht sagen konnte. Ein paarmal blickte er ein wenig ungeduldig auf Georg, der noch, verspätet wegen des nachmittägigen Ausganges, über einer französischen Schularbeit saß. Und zu Frau Bang warf er hier und da versonnen eine Bemerkung hin, ohne aufzusehen:

»Heut is' der Avis 'kommen vom Spediteur, daß die Möbel von mein' Onkel jetzt ein'troffen sein. Wann i' nur wüßt', wohin i' s' derweil stell' – sind doch schöne Mahagonisachen –«

Aber Frau Bang schwieg oder nickte nur auf solche Worte, und so brach der Herr Schneeberger dann bald auf.

»Wissen S', der Weg da hinaus nach Mariahilf – es is' halt doch weit – das spürt ma' schon – förmlich müd bin i' heut' –.«

Drüben in seiner Stube rumorte er noch lange herum, bis endlich ein dröhnendes Schnauben und Schneuzen, mit dem er, schon im Bett, sein Tagewerk alltäglich wie mit einem Nachtgebet beschloß, Frau Bang erkennen ließ, daß Herr Schneeberger sich zur Ruhe begeben hatte.

Am nächsten Tage aber kam für Frau Marie Bang die peinvoll schwere Stunde, die sie, ohne sich selbst ganz volle Klarheit über ihr Empfinden zu geben, in all der Zeit ahnend hatte näher und näher kommen sehen.

Herr Schneeberger hatte bei seinem Frühstück, das er wie immer in seinem Zimmer nahm, länger als sonst verweilt, so daß Georg, als er zur Schule ging und den Hut des Zimmerherrn noch auf dem Kleiderhaken im Vorzimmer hängen sah, die Mutter ganz erstaunt fragte, ob Herrn Schneeberger etwas fehle.

Dem aber fehlte nichts. Nur eine nervöse Unruhe war in ihm, wie er an seinem Tisch vor der geleerten Kaffeetasse saß, die Semmelbrösel auf dem Tischtuch mit den Fingern hin- und herschob und dabei zwischen all den anderen Gedanken, die er nun so oft schon erwogen, geprüft und in Ordnung gefunden hatte, immer wieder das eine denken mußte: Wenn nur der Bua erst fort wär'! So a Herumlandlerei umanand, wia dös heut is'! Was er nur gar so lang' braucht?! …

Daß dann, wann der Bub erst fort war, zwischen ihm und Frau Bang alles glatt abgehen würde, darüber bestand für ihn kein Zweifel, nur das Warten machte ihn nervös, die Zeitversäumnis – denn eigentlich sollte er ja jetzt schon bald in seinem Geschäft stehen und mit der Arbeit beginnen.

Sein Geschäft –. Bei dem Gedanken wurde er ruhiger und rückte sich aufrecht auf dem Stuhl. – Als ob er jetzt nicht sein eigener Herr wäre! Als ob ihm jemand etwas zu sagen hätte! Als ob er nicht kommen und gehen könnte, wie ihm das paßte!

Ja, das war doch ein anderes Gefühl als früher, wo man so ganz abhing von der Gnade des Herrn Tiburtius senior und des jungen Herrn Felix. Daß ihm das noch so geglückt war, dafür mußte er schon dem Schicksal dankbar sein.

Und jetzt – jetzt fehlte ihm, damit er sich, bevor's zu spät war, die feste sichere Ruhestelle schaffte, eben nur noch das eine …

Von draußen hörte Herr Schneeberger Georgs fragende Stimme. Ihm war es, als wäre sein Name genannt worden. Dann klang unverständlich die Stimme der Frau Bang – ein Gruß noch hin und wider, und die Tür nach der Treppe fiel leise klappend in das Schloß.

Herr Schneeberger nickte und stand auf vom Tisch. So – jetzt war der Georg fort. Zur Vorsicht trat er dann noch ans Fenster und wartete hinter der Gardine verborgen, bis er den Buben unten über den Hof schreiten sah. Dann aber – wie er sich wieder umwendete und wieder nach der Mitte des Zimmers schritt, da hatte er doch ein so ganz seltsames, beinah' beklommenes Gefühl. Das Herz klopfte ihm heftig, und auch seine Hände zitterten ein wenig.

Wie a junger Bua! dachte er mit einem Anflug von brummiger Verächtlichkeit. Aber da war doch etwas in ihm, das sich zugleich über den Gedanken freute – und Herr Schneeberger, der vielleicht durch Jahre, außer zu seiner wenig umständlichen Toilette des Morgens, den Spiegel über seinem Waschtisch keines Blickes gewürdigt hatte, sah nun ganz unwillkürlich einen Augenblick nach seinem Spiegelbild. – Dann aber nahm er sich zusammen, schritt auf die Tür zu, klinkte auf und trat hinaus. Im Nebenzimmer hörte er Frau Bang hantieren. So klopfte er dort an und schritt auf ihr »Herein« zu ihr ins Zimmer.

Frau Bang hatte soeben den Staub von den Möbeln gewischt und legte nun, als sie den Zimmerherrn erblickte, das Tuch rasch beiseite.

»Herr Schneeberger …?«

Er nickte und versuchte zu lächeln, und dabei merkte er, daß ihm diese Gedanken alle, die er sich doch so sauber zurechtgelegt hatte und die so gut in Ordnung gewesen – ja – daß diese Gedanken ihm glatt entfallen waren. Und in der Anstrengung, wenigstens irgendwo den Faden dieser Überlegungen doch wieder aufzugreifen, wurde sein verlegenes Lächeln ganz grimmig, und er sah unzufrieden drein, als käme er, sich über irgend ein Versehen bitter zu beschweren.

Als er dann endlich ein paar Worte fand: »Na – scho' wieder fleißig, Frau Bang – scho' wieder bei der Arbeit …!« da klang das beinahe mürrisch, daß ihn der Ton seiner Stimme selbst befremdete.

Erst als Frau Bang mit einem leisen Ausdruck der Sorge auf ihn zukam. »Fehlt 'was drüben, Herr Schneeberger? Is' irgend 'was nicht in Ordnung?«, da fand er seine Ruhe einigermaßen wieder.

Er schüttelte den Kopf, und obwohl er selbst den Buben doch hatte über den Hof gehen sehen, fragte er: »Sagen S', is' der Georg schon fort?«

»Ja – haben Sie 'was von ihm wollen, Herr Schneeberger?« Die Stimme der Frau Bang zitterte leise, während sie sprach.

»Nein – nein. Mir is' recht, daß er fort is' – – i' hab' mit Ihnen reden woll'n, Frau Bang – – ja. Das heißt, wann S' Zeit hab'n – wissen S', aufhalten möcht i' Ihna net weiter – –.« Wieder waren ihm die Worte kurz, stoßweise, brummelig herausgekommen.

Frau Marie Bang, der das Blut plötzlich in drängenden Stößen nach dem Herzen trieb, nickte nur. Mit der Schürze wischte sie rasch über den ohnehin blitzblanken Tisch und zeigte dann auf den bequemen Ledersessel, in dem Herr Schneeberger des Abends immer thronte.

»Wenn S' sich setzen wollen – – Herr Schneeberger – –«

Und sie selber setzte sich auf einen von den glatten Stühlen. Sie fühlte, was kommen würde, und dachte: Mein Gott! Mein Gott! – wenn das nur erst vorüber wäre – –! Ihre Hände zitterten auf der Tischplatte. Da faltete sie die Finger fest ineinander, daß er das Zittern nicht sehen sollte. So erregt war sie, daß sie die ersten Worte, die Herr Franz Schneeberger dann zu ihr sprach, kaum hörte, daß es nur wie ein allgemeiner Schall auf sie eindrang, bis sie nach einer Weile den Sinn seiner Rede dann deutlich unterschied.

»– – und schaun S', Frau Bang, s' is' halt do' was ganz ander's, ob ma' jetzt sei' eigen's Hauswesen hat – oder ob ma' so sein Lebtag lang a' Zimmerherr is': A wirklich's ordentlich's Z'haus haben, das is' jetzt mei' Sehnsucht g'west die ganzen Jahr' hindurch. Jetzt endlich könnt' ich mir's schaffen – –. Und daß wir zwei zuanander passen – jetzt, i' mein', das hätten wir in all' die Jahr' g'seh'n. Ja – – na, und g'sorgt – – wär' ja dann auch für Sie – und für den Georg – – gelns? Also mein' i', es wird Ihnen der Entschluß net schwer fall'n – und – na ja – daß i' dem Georg immer a sorgsamer Vater sein werd', das können Sie sich doch auch denken – –«

Frau Marie Bang saß still und nickte nur ein wenig kurz und hastig mit dem Kopf.

Was ihr der Herr Schneeberger jetzt da sagte, das war ihr in den letzten Tagen, wenn sie allein in der Wohnung umherging, wenn sie still bei der Arbeit am Fenster saß und Stich um Stich in die feinen Tücher und Leinenstücke stickte, und nachts, wenn sie wach lag und die gleichmäßigen Atemzüge Georgs in dem stillen Zimmer hörte, oft und oft durch die Gedanken gezogen. Sie hatte gefühlt, daß dieser Augenblick der Aussprache kommen werde, und hatte gemeint, ihn ruhig bestehen zu können; nun aber, da er da war, ergriff er sie doch über alle Maßen.

Da sprach ein Mann, der so viele Jahre still neben ihr gelebt hatte, den sie bis in die fernsten Winkel seines Wesens kannte, von seiner Sehnsucht. In seiner seltsam rauhen, spröden Art, die gütig war und die sich doch zu schämen schien, ein weiches Wort zu sprechen und immer nur das Praktische als Maske vorhielt, sprach er auf sie ein. Und was er sagte, war alles so richtig. Es wäre eine Ruhestelle auch für sie, die ohne Rückhalt vor dem Alter voll Arbeit und voll Sorge stand und deren Leben eine Kette von kleinen Leiden und Verzichten bleiben mußte, bis – bis vielleicht der Bub einmal als Mann sich seinen Platz errang. Es wäre wie ein Schutz und eine Heimat – – Liebe? Nein, das war es ja freilich nicht – aber doch eine große Achtung – – ein gläubiges Vertrauen.

Sie mußte daran denken, wie sie ihn gestern in seinem Geschäft gesehen hatte, freudig und mit einer würdigen Sicherheit – – und sie kam sich auf einmal müde vor und zermürbt von all der rastlos schaffenden Arbeit, von all dem sorgenden Bangen, die ihr Leben erfüllt hatten seit ihres Mannes Tod ohne Unterlaß. Eine Sehnsucht, die Hände nur ein wenig ruhen lassen zu dürfen, stieg in ihr auf. Ihr Blick ging nach der Kommode, auf der ein Stoß von weißer Wäsche lag – und sie dachte: die Augen nicht mehr so damit quälen müssen – – ein bißchen sich besinnen können auf das Leben – – wie ein schöner Traum müßte das sein!

Ganz versunken war sie für einen Augenblick.

Aber da kam ihr plötzlich der Sinn seiner letzten Worte erst zum Bewußtsein.

»– und – na ja – daß i' dem Georg immer a sorgsamer Vater sein werd', das können Sie sich doch auch denken – –«

Und sie sah, wie an jenem Abend die großen Augen des Buben in ängstlichem Fragen auf sich gerichtet, und die Sorge, die in diesen Augen stand, griff ihr ans Herz und löschte all das andere aus. Sie fühlte klar und völlig sicher, daß sich Georg in das Wesen des Herrn Schneeberger niemals so würde finden können, daß es nicht trennend zwischen sie und ihren Buben getreten wäre, wenn sie ihm diesen Mann zum neuen Vater geben wollte.

Ein Schlucken ging durch ihre Kehle, dann griff sie über den Tisch nach der Hand des Herrn Schneeberger und stand auf.

»Nein, lieber Herr Schneeberger – ich kann nicht. Nicht etwa, weil ich Sie nicht höher achten tät' als irgendeinen anderen Menschen – aber – das kann ich nicht. Ich bin zu alt geworden – – und dann der Bub' – denken S' doch selbst – –«

Herr Schneeberger war gleichfalls aufgestanden. Seine Stirn zog sich zusammen – er schien erst gar nicht zu verstehen.

»Was is'? – Also was is' – –?«

»Lassen woll'n wir alles, wie's bisher war – – schau'n S', Herr Schneeberger, ich kenn' ja kein' Menschen, dem ich so dankbar wär' für alles, und der mir so viel wär' wie Sie – – aber – – net wahr? – davon sprechen wir nimmer – –?«

Er hatte seine Hand freigemacht und rückte und zerrte an seinem Hemdkragen und der Krawatte, als wäre ihm das alles mit einemmal zu eng geworden.

»So –! so –!« sagte er nur. »Na ja! – Na – wie S' woll'n – – –!« Und dann schob er plötzlich den schweren Lehnstuhl ein wenig beiseite, eilte zur Tür und ging ohne Gruß rasch aus dem Zimmer und hinüber in seine Stube.

Als Frau Bang ihm unruhvoll nach seinem Zimmer folgte, hörte sie, wie er die Tür von innen mit Geräusch verschloß.

Sie trat vor die Tür und klopfte leise an.

»Herr Schneeberger – –!«

Keine Antwort.

»Herr Schneeberger – –! So hören Sie doch –!«

Alles ruhig, wie vorher.

Da ging Frau Marie Bang mit einem leisen Seufzer wieder in ihr Zimmer.

Mein Gott, daß das noch hat kommen müssen! dachte sie. Ihr war weh ums Herz, sie hätte weinen mögen. Vor Georgs Bett stand sie lange und sah mit schlaff herniederhängenden Armen in gedankenlosem Weh auf die gehäkelte Bettdecke hinunter.

Plötzlich schreckte sie auf. Das Türschloß nebenan war aufgesperrt worden. Aber ehe sie sich selbst noch recht besann, klappte auch schon die Flurtür draußen. Und als sie in das Vorzimmer trat, hörte sie nur noch die eiligen Schritte des Herrn Schneeberger, der fluchtartig schnell die Treppe hinunterlief.

Kopfschüttelnd kam Frau Bang zurück in ihr Zimmer.

Nun war er fortgestürmt, ohne Gruß, ohne ein Wort. Sie mußte unwillkürlich an jene erste Zeit zurückdenken, da er, wenn ihn die Sehnsucht, sich auszusprechen, des Abends einmal zu ihr herübergetrieben hatte, dann fluchtartig wie nun, mürrisch und unnahbar sich stets wieder zurückgezogen hatte. Wie lange war das her!

Wieder fiel ihr Blick auf den Stoß weißer Wäsche, der auf der Kommode lag. In wenigen Tagen sollte das alles sauber gestickt und fertig abgeliefert werden! Das gab zu tun, sie hatte keine Zeit zum Träumen.

Mit einem Seufzer band sie ihre weiße Arbeitsschürze um, steckte den großen Brustlatz am Kleid fest und nahm ihre Arbeit vor. Aber immer wieder sah sie heute auf von ihrer Stickerei, blickte von ihrem Sitz am Fenster hinunter in das dunkele Grün der beiden Kastanienbäume und dachte an das, was sie erlebt hatte – an Herrn Schneeberger und an ihren Buben.

Und wenn sie dann die Nadel wieder durch die Leinwand stach, dann wußte sie es stets aufs neue, sie hatte recht gehandelt, sie hatte nicht anders handeln können – des Georg wegen.

An diesem Abend kam Herr Schneeberger seit langer Zeit zum ersten Male nicht hinüber in das Wohnzimmer von Frau Marie Bang. Er kam erst später als sonst nach Hause und aß dann noch auf seinem Zimmer von geheimnisvollen Dingen, die er sich mit heimgebracht hatte. Auch das war lange nicht vorgekommen, denn es war längst ein Übereinkommen geworden, daß er das Abendessen mit Frau Bang und mit Georg zusammen nahm.

Als sie ihn drüben mit den Papieren so rascheln und rumoren hörte, stand Frau Marie Bang vom Tisch auf und ging hinaus und klopfte wieder an seine Tür.

Ein hastiges Geräusch wie von Rücken und Zusammenraffen klang heraus und dazu seine Stimme, verschlossen, abwehrend und mürrisch:

»Was is' denn los – wer is' denn da?«

Frau Bang, die erst die Tür hatte öffnen wollen, ließ sie geschlossen und zog die Hand wieder von der Klinke. Nur den Kopf beugte sie näher, und so sprach sie:

»Ich bin's, Herr Schneeberger. Ich hab' nur fragen wollen, ob S' noch was brauchen? Vielleicht Bier … oder sonst 'was …«

Ein Augenblick verging, ehe der Zimmerherr da drin die Antwort fand. »Nein – nein – plagen S' Ihna net, Frau Bang – was i' brauch', kann i' mir scho' selbst besorgen …«

Das war wieder ganz bärbeißig hervorgestoßen, in abgerissenen Stößen und mit einer Bestimmtheit, als gäbe es dagegen keinen Widerspruch.

Aber Frau Bang kannte Herrn Schneeberger. Sie stellte ihm trotz dieser Abwehr das Krügel »Pilsner«, das wie jeden Abend auch diesmal drüben schon auf ihn gewartet hatte, auf einen Stuhl vor die Tür.

»Ich hab' Ihr Bier immer herg'stellt, Herr Schneeberger«, sagte sie dann, ehe sie ging. Und als sie zehn Minuten später wieder durch das Vorzimmer nach der Küche schritt, da war die Stelle, wo das Krügel »Pilsner« gestanden hatte, leer. Ganz leise – denn sie hatte nichts gehört – mußte er es zu sich hineingenommen haben. Im Kampf des gekränkten Stolzes mit den Verlockungen des kühlen Trunkes hatten die letzteren in diesem Fall gesiegt.

Aber der Riß, der durch die Ablehnung von Herrn Schneebergers Antrag zwischen ihm und der Frau Bang entstanden war, blieb darum doch bestehen. Mit starrköpfiger Konsequenz verschloß und verkroch sich der Zimmerherr in seine Stube und wich jedem längeren Gespräch und Zusammentreffen mit Frau Bang aus. Wie im Anfang der Zeit, die er nun hier wohnte, war er wieder: in sich gekehrt, unnahbar und unfaßbar.

Mehrmals hatte Frau Bang, der dieses Benehmen des alten Freundes im Herzen wehetat, beschlossen, ihn zu stellen, sich mit ihm auszusprechen. Aber ihr freundlicher Gruß und die herzlichen Worte, die sie dann für ihn hatte, prallten ab an seinem mürrisch verkniffenen Gesicht, an der verdrießlichen Hast und Unrast, mit der er an ihr vorbeidrängte oder sich in seine Zeitung vertiefte.

So vergingen Tage, ohne daß die Verstimmung wich. Frau Bang hoffte noch immer, daß mit der Zeit der alte gemütliche Zustand wiederkehren werde – da machte eines Abends Herr Franz Schneeberger diesem Hoffen ein Ende.

Wieder war er später als sonst nach Hause gekommen. Frau Bang und Georg hatten schon gegessen, als sie die Tür vom Gang her und gleich darauf auch seine Stubentür gehen hörten.

Nebenan schritt er ein paar Minuten lang auf und nieder, dann kam er heraus und klopfte an die Tür des Zimmers von Frau Bang.

»Herein!« Eine erwartende Freude lag in ihrer Stimme. Nun kam er also wieder, nun hatte er verwunden, was ihn drückte, nun würden sie sich wie in den vergangenen Tagen als Freunde wiederum zusammenfinden!

Herr Franz Schneeberger trat mit einem steilen Nicken des Kopfes ein.

»Guten Abend, Frau Bang – grüß Gott, Georg!«

Frau Bang schob schon den großen Stuhl zurecht und rückte die Teller auf dem Tisch zusammen.

»So – das is' schön, daß Sie jetzt wieder Zeit für uns haben! Ich hab' dem Georg schon gesagt, daß Sie jetzt auch zu Haus' immer noch für Ihr Geschäft haben arbeiten müssen – am Abend. Sie haben uns beiden so gefehlt in der Zeit …« Sie fühlte, daß ihre Stimme zitterte, und mochte um alles nicht aufsehen in diesem Augenblick. So glitten ihre Hände noch ordnend und zusammennehmend über den Tisch – und dabei dachte sie: Warum kommt er nicht näher? Warum setzt er sich nicht …?

Herr Franz Schneeberger aber blieb ganz nahe bei der Tür stehen, nickte und brummelte: »Hm – ja – ganz recht – so – so …«

Dann räusperte er sich mehrmals und holte die Brille von der Nase; umständlich und wie wenn ihn das allein beschäftigte, zog er den Bügel erst über dem rechten Ohr heraus, beschrieb dann einen Halbkreis um sein Gesicht und holte nun den zweiten Bügel über dem linken Ohr hervor. Und während er nun mit dem großen roten Taschentuch, dessen unterer Zipfel ihm bis an die Knie hing, die Brillengläser rieb und dabei mit zusammengekniffenen Augen in das Licht der Lampe blinzelte, begann er zu reden:

»Ja – also Frau Bang, was ich Ihnen hab' sagen wollen. Mir is' der Weg zu weit – i' kann net alle Tag a paarmal bis nach Mariahilf hinauslaufen – ja – i' muß näher wohnen bei mein' G'schäft – i' versäum' mir z'viel Zeit mit dem Umanandersausen …«

Er schwieg, hauchte an seine Gläser und rieb sie wieder, als wollte er sie in Atome zerreiben.

Aber Frau Bang antwortete nicht. Nur eine rasche Bewegung hatte sie gemacht, als sie den Sinn seiner Worte verstanden hatte, und da waren zwei Gläser auf dem Tisch, wie in einem leisen Schrei, aneinandergeklungen. Und Georg sah mit großen fragenden Augen auf Herrn Schneeberger, der immer noch ins Licht der Lampe zwinkerte.

Als dieses Schweigen immer drückender ward, nahm er noch einmal einen Anlauf. Aber es fiel ihm schwerer mit jedem Wort, das er sprach. Die Stimme war ihm seltsam belegt, und ein paarmal mußte er sich räuspernd unterbrechen.

»Ja – Frau Bang – mir tuat's ja natürlich selber leid … ja … no aber … es geht halt net anders. Und dann – hm – hm! – also, weil jetzt meine Möbel von der Erbschaft an'kommen sind … ja, da hab' i' mir a kleine Wohnung von zwei Zimmer g'funden – gleich neben mein' Geschäft … da hab' ich's jetzt hinstell'n lassen. Und mit dem Hausknecht von mein' G'schäft da hab i' ausg'macht, daß er mir alles besorgen muß – den Kaffee in der Früh – und 's Aufbetten – na – und überhaupt …«

Wieder schwieg er. Er setzte jetzt die Brille wieder auf, stopfte das Sacktuch in die Tasche und fuhr sich dann mit den Fingern über die Stirn.

Frau Bang beugte leise nickend den Kopf.

»So – Sie woll'n fort von uns …? Mein Gott – wenn Ihnen der Diener nur alles machen kann, wie Sie's gern mögen …«

Herr Franz Schneeberger setzte an zum Sprechen, dann brach er wieder ab. Ein Hustenreiz war ihm in der Kehle aufgestiegen.

»Und wann woll'n S' denn schon fort …?«

»Morgen, Frau Bang …« Das stieß er hastig und in seltsam hohem Ton hervor. »Das heißt – natürlich zahl' ich bis …«

Sie machte eine stille, abwehrende Handbewegung, und er schwieg.

Dann sagte sie: »Ja also – von mir aus is' ja alles in Ordnung. Die nächste Wäsch', die schick' ich halt dann nach, wenn's fertig g'waschen is' … Und alles Gute wünsch' ich Ihnen – und der Georg auch … Und hoffentlich vergessen Sie uns nicht – vielleicht, daß S' doch am Sonntag hier und da zu uns herüberfinden – mein Gott – die langen Jahre – was hat man da nicht alles durchgemacht …«

Die Stimme versagte ihr, und Tränen traten ihr in die Augen. Aber sie schämte sich dieser Rührung nicht. Und wie sie nach der Tasche tastete und bemerkte, daß sie kein Taschentuch bei sich hatte, griff sie die Schürze auf und drückte sie an die Augen. Ein gutes, wehes Lächeln stand dabei unter ihren Tränen.

Und Herr Schneeberger, dem es im Gesicht zuckte, sagte nur immer wieder:

»Aber Frau Bang – gehn S', Frau Bang – aber gehn S', Frau Bang – jetzt so was, Frau Bang …«

Als sie ruhiger war, ging sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Eins müssen S' mir aber doch versprechen, Herr Schneeberger …«

Er nahm die Hand. Aber er sah an Frau Bang vorüber. Er hatte die Lippen fest aufeinander und nickte nur, während ihm die Wangenmuskeln zitternd flatterten.

»Den Diener – wissen S' – den Hausknecht, den müssen S' mir herschicken, daß ich ihm alles sag' – wie Sie's gern haben wollen …«

Da fühlte sie den Druck der Finger um ihre Hand, dann aber war Herr Schneeberger aus dem Zimmer.

Und drüben an der Tür zu seiner Stube knackte gleich darauf das Schloß. – Er hatte wieder zugesperrt …

Still und versonnen brachten Frau Bang und Georg den Rest des Abends hin. Nur hier und da, in kurzen abgerissenen Sätzen sprachen sie. Aber in Georgs ganzem Wesen war eine tiefe, heiße Zärtlichkeit – er ahnte, daß die Mutter stillschwieg über vieles, und immer wieder drang es an dem Abend in ihm auf, ihr zu zeigen, daß sie nie einsam bleiben würde, daß er sie liebte aus seinem ganzen Herzen. Und auch Frau Bang war weicher noch als sonst zu ihrem Buben …

Als sie zu Bett gegangen war und Dunkel über dem Zimmer ruhte, lag sie noch lange wach.

Wie nun wohl alles werden sollte? Sie kam sich einsam vor, und nur die Atemzüge ihres Buben gaben ihr Halt und Trost.

Von nebenan jedoch erscholl in dieser Nacht in kurzen Zwischenräumen immer wieder das trompetenhelle Schneuzen des Herrn Schneeberger. Auch er fand keine Ruhe in den Kissen.

Am nächsten Tage aber zog er aus …

* * *

Nun war es noch stiller geworden in der kleinen Wohnung von Frau Marie Bang, und die Lücke, die Herr Schneeberger da oben durch sein Gehen gerissen hatte, die blieb und wollte sich nicht schließen. Der große Armstuhl mit den bequemen gepolsterten Ohren stand wieder leer – wie damals! mußte Frau Bang denken, und ihr trat dabei die schwere Zeit nach dem Tode ihres Mannes vor Augen. Und auch ein wehes Fühlen war in ihr, das manchmal schwoll, daß es sie fast so sehr erfüllte wie in jenen leidvollen Tagen. Der Herr Schneeberger war ihr doch in all den Jahren viel geworden. Sie hatte über alles mit ihm sprechen können, er hatte teilgenommen an den vielen kleinen Schicksalsfügungen, und ein Vertrauen, ein Erkennen war gewesen zwischen ihm und ihr, das ihnen beiden eine Stütze war und eine Hilfe. Jetzt aber hatte er sich losgesagt!

Auch manche Frage, die ihr früher, so lange Herr Schneeberger ihr noch zur Seite stand, nur wenig Sorge bereitet hatte, stieg nun drückend vor ihr auf. Nun kam wieder der Sommer, und der Bub kam aus der Schule, jetzt mußte man sich auch entscheiden, welchen Beruf er wählen sollte. Der Plan des Herrn Schneeberger, ihn Buchhändler werden zu lassen, gefiel Georg immer besser, und auch sie selbst war jetzt dafür. Aber da fehlte nun überall die helfende Hand, die Herr Schneeberger dem Buben hatte bieten wollen, und ratlos dachte sie an jene Zeit, da sie Georg als Lehrling in einer Handlung unterbringen sollte. Und auch noch andere Sorgen zogen ihr durch die Gedanken. Das Zimmer, in dem Herr Franz Schneeberger gewohnt hatte, stand leer, doch auf den Beitrag, den die Miete des Zimmerherrn abgegeben hatte, konnte sie in dem kleinen und beschränkten Haushalt nicht verzichten. Später, wenn der Georg auch ein wenig verdiente, dann ging das ja, aber bis dahin hieß es, nach jedem Kreuzer sehen. So mußte sie denn daran denken, das Zimmer wieder zu vermieten. Durch Wochen trug sie sich mit dieser Sorge, und von Tag zu Tag verschob sie immer wieder die Aufgabe des Inserats. Ihr war's, als würde sie mit diesem Gang in die Zeitungsexpedition sich und dem Buben etwas zerstören, sie hatte eine stille Angst vor diesem neuen, fremden Menschen, der dann so nah bei ihnen wohnen sollte, und von dem sie doch nichts wußten, mit dem sie nichts Gemeinsames verband.

Tausend kleine Alltagssorgen stichelte Frau Marie Bang so in die sauberen und gleichmäßigen Monogramme und Initialen hinein, die sie in dieser Zeit in feine weiche Tücher aus Batist auf ihrem stillen Fenstersitz stickte. Und dann dachte sie wohl auch mit einer leisen Bitterkeit an jene Menschen, die diese Tücher, diese kostbaren Gewebe bald tragen und verwenden sollten. Das waren Leute, denen solche Sorgen wohl niemals entgegentraten.

Auf ihrem Fenstersitz saß sie auch bei ihrer Arbeit, als eines Vormittags draußen die Glocke gezogen wurde.

Mechanisch schob Frau Bang die Stickerei zusammen, nahm die Stahlbrille, die sie seit Monaten schon bei der Arbeit tragen mußte, ab und legte sie auf das Tischchen.

Ein Bettler! dachte sie, während sie die große, weiße Arbeitsschürze glattstrich, nach dem Vorzimmer ging und das Guckfensterchen der Türe öffnete.

Aber dann plötzlich zitterte ihr die Hand, die an dem kleinen Griff des Fensterchens lag, und ihre Lippen bewegten sich unwillkürlich:

»Ja, das ist ja – das ist ja …«

Mit hastigen Fingern schob sie das kleine Türchen wieder zu und nestelte an der Sicherheitskette, die sich nun in der Eile gar nicht aus dem Verschluß lösen wollte. Und endlich hatte sie die Tür offen.

»Frau Gerold – das – das haben wir ja schon gar nicht mehr erwartet …«

Und Frau Gerold, die blond und schön und blühend mit einem ein wenig verlegenen, gespannten Lächeln, das ihrem kühlen Gesicht ein warmes Leben gab, da draußen auf dem bescheidenen Treppenflur stand, streckte ihr die Hand hin und trat herein.

»Ja, Frau Bang, ich bin's. Sie werden gar nichts mehr von uns wissen wollen. Aber es war wirklich nicht nur meine Schuld, daß ich Sie in der ganzen Zeit so sehr vernachlässigt habe. Ich …«

Frau Bang hatte die kleine Hand in blütenweißem Handschuh, die sich ihr da entgegenstreckte, fest ergriffen. Was sie an harter Bitterkeit und herben Gedanken in all der Zeit gegen diese Frau in sich getragen hatte, verfloß. Nur Bilder der Vergangenheit drängten sich vor sie hin in diesem Augenblick: Herr Heinrich Gerold – Sephi. Und während ihre Augen nun wie suchend an Frau Gerold vorüber über den Treppenflur streiften, während sie dann die Tür schloß und jene nach dem Wohnzimmer öffnete, sagte sie nur:

»Nun sind Sie doch gekommen … und ich freue mich. Wir haben ja so oft an Sie gedacht, an Sie beide.«

Frau Gerold nickte und sah Frau Bang mit ein wenig schief gelegtem Kopfe an. Ein leises, gurrendes Lächeln saß ihr dabei in der Kehle. »Gut sehen Sie aus – gar nicht verändert …«

»Mein Gott …« sagte Frau Bang und strich über die große weiße Schürze.

Eine Pause entstand, während der die Augen der Frau Gerold von dem Blick der Frau Bang abwichen und durch das Zimmer streiften.

»Ich störe Sie wohl bei der Arbeit?«

Frau Bang schob einen Stuhl zurecht. »Nein – gar nicht. Wollen Sie sich nicht setzen?« Und als Frau Gerold nun ihr silbergraues Kleid, an dem die Seide knisterte und rauschte, zusammengriff und sich niederließ, fragte sie: »Was macht die Sephi? Geht's ihr gut? Wir haben uns ja so gesorgt, wie Sie uns damals geschrieben haben, daß sie kränkelt.«

Frau Gerold sah auf das einfache Tischtuch nieder, und ihre Finger zeichneten eine der verschlungenen Figuren des Gewebes nach.

»Ja – das war damals. Es geht ihr jetzt wieder gut. Ja – sie ist – ich habe sie jetzt seit ein paar Wochen bei einer befreundeten Familie auf dem Land – eben damit sie sich ganz erholt … hm …«

Es schien, als hätte sie noch etwas sagen wollen, aber sie schwieg und lächelte nur wieder ein wenig. Und als sie dann sah, wie Frau Bangs Blick mit stillem Fragen auf ihr ruhte, sagte sie noch einmal: »Nein – wirklich – ich freue mich, wie gut Sie aussehen – ganz unverändert …«

Jetzt aber schüttelte Frau Bang den Kopf.

»'s ist eben doch die lange Zeit wieder hingegangen. Und wenn man's auch vielleicht nicht sieht – sie war doch da und hat schon ihre Spur gelassen. Ohne die geht kein Tag vorüber. Wir leben ja still – da gräbt sich das ganz unauffällig und gleichmäßig ein – bis man eines Tages dann ganz vollgeschrieben ist. Gegen das Altern hat noch keiner das rechte Mittel gefunden.«

Mit leisem, mildem Lächeln blickte Frau Marie Bang dabei auf ihren Gast. Aber da sah sie, wie die schöne Frau sich mit einer aufgeschreckten Hast straffer auf dem Sessel zurechtsetzte, daß die Seide leise aufkreischend rauschte, und wie sie mit der Hand über die Schläfe fuhr.

»Ich möcht' nicht alt werden, Frau Bang. Ich finde das Alter entsetzlich. Nein – ich fürchte mich geradezu davor …! Lieber sterben – früh sterben – als alt und häßlich werden – ich könnt's nicht aushalten, Frau Bang!«

»Aber Frau Gerold … Sie sind ja doch noch so jung …«

»Mein Hans war beinah' so alt wie Ihr Georg …«

»Ja – aber Sie haben ganz jung geheiratet – und ich war beinahe ein Dutzend Jahre verlobt … Und dann, bei mir sind so viele Jahre, die doppelt zählen – nein, nein, Frau Gerold, ich bin heute schon eine alte Frau … Sie und ich – das läßt sich nicht vergleichen.«

Wieder lag Schweigen zwischen den beiden Frauen.

Nach einer Weile begann die eine zu reden, und in ihrer Stimme klang dabei ein leises erregtes helles Vibrieren:

»Frau Bang …«

»Ja?«

»Sehen Sie, Frau Bang, ich bin heut' hergekommen, um mit Ihnen über etwas ganz Bestimmtes zu sprechen – über etwas, das ich bisher noch keinem Menschen anvertraut habe …«

Sie schwieg einen Augenblick und schien auf eine Antwort, auf einen Einwurf zu warten. Aber Frau Bang sagte nichts und sah nur fragend zu ihr hinüber.

»Ich … Sie werden sich wundern, daß ich g'rade zu Ihnen komme mit dem, was ich Ihnen sagen will, aber …«

Sie griff mit beiden Händen über den Tisch hinüber nach der Hand der Frau Bang und drückte diese Finger, die unbewegt in ihren lagen – unbewegt, denn ein erkältendes Gefühl war lähmend in Frau Bang emporgestiegen.

»Ich will mich wieder verheiraten …« sagte Frau Gerold rasch. Und sie versuchte zu lächeln dabei, aber Frau Bang sah nur eine zerrende, gequälte Spannung in dem rosigen Gesicht, dessen Lippen sich nun wieder bewegten: »Nun – Sie sagen gar nichts dazu …?«

Frau Bang nickte. »Doch – Frau Gerold, ich wünsche Ihnen alles Glück. Mein Gott – Sie sind noch so jung – und auch die Sephi – auch die wird er ja lieb haben, und das ist so viel für ein Kind. Alles ist die Liebe für ein Kind – gar nicht genug kann man ihm davon geben …« Und ihr Blick ging, während sie so sprach, hinüber zu der Wand, an der über dem Bette Georgs das Bild von Heinrich Gerold hing. Sie dachte daran, was der ihrem Buben an Liebe gegeben hatte, obwohl er doch auch nicht sein Vater war. Ganz versonnen sah sie vor sich hin, und erst als sie fühlte, daß der Druck der beiden Hände in ihren weißen Glacés schwächer wurde, kehrte ihr Blick zu ihrem Gast zurück …

Aus dem Hof unten scholl der singende Ruf einer Lavendelverkäuferin herauf:

»Kauft's an Lavend'l – fünf Kreuzer der Busch – an Lavend'l kauft's …!«

Als ob er aus ganz weiter Ferne käme, klang der Ruf – von weit draußen aus der Welt, mit der man hier im Zimmer der Frau Bang kaum Fühlung hatte.

»Wie ruhig Sie's hier haben,« sagte Frau Gerold plötzlich. »Daß Sie das aushalten können! Ach Gott, Frau Bang – nennen Sie's schlecht oder nicht – aber ich sehn' mich ja manchmal so nach dem Leben …! Kann ich dafür? Seh'n Sie« – und sie sah nieder an dem duftig weichen, silbergrauen Kleide – »ich hab' die schwarzen Kleider nicht mehr tragen können – ich bin mir lebend wie in einem Sarge vorgekommen …!«

Etwas Bittendes, Hilfloses lag in ihrer Stimme.

Wie ein verwöhntes Kind, dem man nicht zürnen kann! dachte Frau Bang, und wie sie nun selbst nach der Hand der schönen Frau hinübergriff, sprach sie noch einmal: »Ich wünsche Ihnen alles Glück – ich wünsche Ihnen, daß Sie so glücklich werden, wie Sie's nur hoffen.«

»Ich dank' Ihnen …« Frau Gerold bückte sich nach ihrem kleinen Taschentuche, das ihr entfallen war, und lächelte ein wenig. »Ich bin auch noch wegen eines anderen Grundes zu Ihnen gekommen, Frau Bang – Sie waren immer so lieb zur Sephi – das hat uns auf den Gedanken gebracht …«

»Ja? Ist sie also doch noch immer kränklich?«

Frau Gerolds Finger spielten zögernd mit dem dünnen goldenen Halskettchen, an dem ihr Lorgnon hing. Es schien ihr schwer zu fallen, das auszusprechen, was sie sagen wollte.

»Nein – das ist es nicht. Sie ist wieder ganz gesund. Es handelt sich um etwas anderes. Seh'n Sie, Frau Bang – wenn ich mich wieder verheirate, so werde ich von Wien wegziehen. Mein – zukünftiger Mann übernimmt eine größere Exporthandlung im Süden – in Triest. Nun wissen wir nicht, ob das dem Kind dort guttun wird – ich mein' das andere Klima – eine gewisse Gefahr ist das für die Kinder immer – und zart ist die Sephi ja …«

Frau Bangs Blick ging in die Ferne. »Freilich,« sagte sie leise und sinnend, »zart war sie ja immer …«

»Nicht wahr? Und nun ist doch da unten die Gefahr der Malaria so groß! Ja – also das wäre ein Grund, der Hauptgrund. Aber es ist doch noch verschiedenes anderes auch, was da mitspricht. – Wissen Sie, Frau Bang – Sie müssen das nicht mißverstehen, was ich da sage – mein zukünftiger Mann hat Kinder furchtbar gern' – aber g'rad in der ersten Zeit – nicht wahr? Mein Gott – so 'was läßt sich so schwer sagen – aber Sie wissen schon, wie ich's mein' – nicht wahr?«

Frau Gerold schwieg einen Augenblick und hob den Blick von ihren Fingern, die immer noch an dem dünnen Goldkettchen des Lorgnons genestelt hatten. Sie sah Frau Bang an, lächelte ein wenig unsicher und befangen und drückte dann die Hände gegen die erhitzten Wangen.

»Ganz heiß ist mir geworden … Sie werden mich auslachen, Frau Bang. Aber – nicht wahr, die Sephi, die ist ja schließlich jetzt auch schon elf Jahr' alt – und dann, Sie wissen ja, in ihrer ganzen Art hat sie auch so 'was wie mein armer toter Mann – ich mein' so 'was Stilles, das einem immer nachgeht …«

»Wie sich der Georg freu'n tät', wenn er sie wiedersehen könnt' …« meinte Frau Bang.

Wieder kam dieses leise gurrende Lächeln aus Frau Gerolds Kehle.

»Ja, nicht wahr, Sie haben sie beide lieb, meine Sephi? – Das haben wir eben gewußt – ja – und d'rum hat auch Carlo – d'rum hat auch mein zukünftiger Mann eben gleich an Sie gedacht … Wir wollen nämlich mit einer großen Bitte zu Ihnen kommen …«

Frau Gerold machte eine Bewegung, als wollte sie die Hand von Frau Bang wieder ergreifen; dann hielt sie ein, schüttelte den Kopf und fiel in einen leisen klagenden Ton:

»Sie werden mich für eine ganz schlechte Mutter halten, Frau Bang, aber das bin ich nicht, ganz gewiß nicht! Ich hab' ja das Kind so riesig lieb – aber Gott! – schließlich ist man ja doch auch selbst auf der Welt – und schließlich will man doch auch selbst ein bisserl 'was vom Leben haben! … Und dann, es handelt sich ja nur um ein paar Monate – höchstens um ein paar Monate. Also wir wollten Sie fragen, ob Sie – das heißt natürlich gegen eine Entschädigung, soweit man einen solchen Freundschaftsdienst entschädigen kann – ja – also, ob Sie die Sephi für diese erste Zeit zu sich nehmen könnten …?«

Frau Bang nickte – sie verstand. Ihr Blick lag in der Ferne, und sie dachte an das zarte kleine Ding, das nur so wenig Raum und Sorgfalt brauchte für sein Kinderleben, und für das sich nun in der neuen Ehe seiner Mutter der enge Raum und die bescheidene Liebe nicht mehr finden wollten. Sie dachte an Herrn Heinrich Gerold, dem dieses Kind am Abend seines Lebens das Höchste war, und fühlte: es darf nicht sein, daß sie es wie ein Überzähliges und Lästiges beiseite schieben, daß es geduldet nur und heimatlos im Haus der eigenen Mutter welke … Und ein Wort, das die Frau Gerold eben gesprochen hatte, fiel ihr wieder ein:

»… mein zukünftiger Mann hat Kinder furchtbar gern' – aber …« Der Frau Marie Bang war es zumute, als griffe eine kalte Hand ihr an das Herz. Der Mann, der Kind und Mutter trennen konnte, der von der Mutter dieses Opfer forderte – der kannte wohl die rechte Liebe nicht – nicht die zum Kinde und nicht die zur Frau. Besorgt und fragend blickte sie hinüber zu ihrem Gast, aber da las sie auf dem rosigen Gesicht, dessen Wangen trotz der feinen Fältchen an den Augenwinkeln noch immer weich wie Pfirsiche waren, nur die eine Erwartung: Sie wird doch zusagen?! – Und als sie immer noch nicht sprach, fragte Frau Gerold:

»Frau Bang …?! Nicht wahr, es geht – wenn Sie's nicht machen könnten – wir wüßten uns sonst wirklich niemand … und in ein Institut, unter ganz fremde Menschen …«

»Bringen sie uns nur die Sephi her,« sagte Frau Bang. »Sie soll nur kommen; was wir für sie tun können, daß es ihr nicht zu einsam wird – ich und der Georg – das woll'n wir sicher tun … Der Zimmerherr, der so viel Jahre lang bei uns gewohnt hat – ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern? – der Herr Schneeberger? – der ist ausgezogen. Die Sephi soll das Zimmer haben … und daß sie mir ist wie mein eigenes Kind, das wissen Sie …«

Die erwartende Spannung war aus den Zügen der Frau Gerold gewichen, eine freudige Hast war jetzt in ihr.

»Ja, das weiß ich, Frau Bang. Wenn ich nur auch wüßte, wie ich Ihnen das danken soll! Seh'n Sie, wenn das Kind bei Ihnen ist, da kann ich so ganz beruhigt sein – es wär' doch schrecklich für mich, wenn ich bei allem immer denken müßte: Mein Gott, wie geht's jetzt der Sephi? Ist sie auch in guten Händen? Fehlt ihr nichts? … Das ganze Leben könnte einem dadurch vergällt werden. Aber so …«

»Wann würde die Sephi dann kommen?«

»Bis zum August kann sie bei der Familie auf dem Land' bleiben … ja – im September wollten wir heiraten …« Sie wurde verlegen und strich eine Falte ihres Rockes glatt. »Es spielen da ein paar Dinge mit, die das veranlassen – ich meine, die Übernahme des Geschäfts in Triest – na – und anderes … Würde Ihnen das passen, wenn wir die Sephi Ende August brächten?«

Frau Marie Bang nickte: »Sie soll nur kommen – wann es auch ist …«

Frau Gerold stand auf von ihrem Stuhle. »Nein, wie ich Ihnen dankbar bin, Frau Bang, nie werd' ich Ihnen das vergessen! Und wegen der materiellen Frage, da werden wir uns ja leicht verständigen.«

Im Herumblicken hatten die Augen der Frau Gerold die weißen Batisttücher gestreift, in die Frau Bang soeben die Initialen stickte. Sie trat näher und prüfte das Gewebe zwischen den Fingern.

»Hübsch ist das,« sagte sie dann, »sehr hübsch, das möcht' ich mir eigentlich auch anschaffen. Wo bekommt man das? Bei Schostal? So. – Ja, also liebe Frau Bang, nochmals vielen, vielen Dank. Und grüßen Sie mir Ihren Sohn, der muß ja jetzt schon bald erwachsen sein? Ach Gott, ja, die Kinder! – Also bei Schostal haben Sie gesagt? Nochmals Adieu – und Ende August also – vielen Dank. – Adieu!«

Nun war die Flurtür hinter Frau Gerold wieder geschlossen.

Die Hand noch auf der Klinke, stand Frau Marie Bang im Vorzimmer und hörte gedankenlos, wie das Rauschen der seidenen Röcke auf der Treppe verklang. Dann strich sie sich über die Stirn und trat in das Zimmer, in dem ein feiner Duft von Flieder an die schöne Frau gemahnte.

Wie seltsam das alles war! Frau Bang war ganz wirr von all den Eindrücken und Worten. Und dabei war doch fest und klar ein Fühlen in ihr, das sie ganz erfüllte.

Du sollst's gut haben bei uns, arme kleine Sephi, dachte sie immer wieder, du sollst's gut haben.

Mechanisch griff sie nach ihrer Brille, um sie aufzusetzen und die Arbeit wieder aufzunehmen, aber dann blickte sie nach der Uhr und hielt ein. So spät schon?! Da mußte ja der Bub gleich kommen.

Nun ging sie eilig nach der Küche, um dort am Herd nach dem Rechten zu sehen.

Und da, während sie den Schaum von der Suppe schöpfte, fiel es ihr plötzlich ein: wen sie eigentlich heiraten würde, das hatte Frau Gerold nicht gesagt. Nur Carlo hatte sie ihn genannt. Carlo –

Mit einem Male aber hielt Frau Marie Bang ein, griff, wie nach einer Stütze suchend, mit ihrer Linken nach der Lehne des hell gescheuerten Ahornstuhles und stand still.

Mein Gott – Carlo – das war der Herr Crispi! Natürlich – Herr Crispi!

Wie ein Schlag traf Frau Marie Bang dieser Gedanke, der sie mit einem Male klar erkennen ließ, was ihr bisher noch verhüllt und verborgen gewesen.

Crispi, dieser Herr Crispi, den sie selbst nur einmal gesehen hatte – damals auf dem Friedhof, als man Herrn Heinrich Gerold zur letzten Ruhe trug. Bleich und mit zusammengepreßten Lippen war er da abseits gestanden, und als er die weinende Frau begrüßte, da war es, als kennte er sie kaum, so ernst und fremd schien sein Gruß. Und der – der … Vor Frau Marie Bang entrollte sich die eine Szene wieder, die sie des Abends einst, als sie Georg holte, im Hause des Herrn Gerold miterlebt hatte, die Szene, aus der heraus sie zum ersten Male fühlte, was alles auf dem Herzen dieses stillen Mannes lag. Und dann sah sie das Ende wieder klar vor Augen: Frau Gerold und Herrn Crispi in dem einen Zimmer, und ihn – Herrn Heinrich Gerold – mit den Kindern, bis es ihn auftrieb von dem Sitz am Harmonium, bis Spiel und Sang mit einem Mißklang zerrissen und er an der Portière der Tür, im Angesicht der beiden zusammenbrach.

Und diese beiden Menschen, die so durch Schuld verbunden waren, die wollten nun, da noch kein Jahr seit Heinrich Gerolds Tod verflossen war, trotz alledem sich jetzt die Hände reichen?

Frau Bang ergriff es wie ein Schwindel. Mit einer traumhaften Bewegung schob sie den Schöpflöffel, den sie noch immer in der Hand gehalten hatte, auf die Herdplatte, dann ließ sie sich matt auf den Küchenstuhl sinken.

War denn das alles möglich – konnte denn das sein?

Sie strich sich über die Stirn, als wollte sie das ganze Hirngespinst dieser Gedanken so beiseite streichen.

Ob es nicht damals bei der Katastrophe vielleicht doch so gewesen war, wie Frau Gerold den Hergang später dargestellt hatte? Ob sie der Frau nicht doch vielleicht Unrecht tat?

Starr ging der Blick der Frau Marie Bang ins Weite. Dann aber wiegte sie den Kopf. Nein …!

Sie sah sie wieder vor sich, so wie sie noch vor einer Viertelstunde im Zimmer nebenan ihr gegenüber gesessen hatte. Sie hörte das leise gurrende Lachen und die Reden, die zielbewußt, Wort für Wort, dem eigentlichen Zweck des Kommens näher gerückt waren. Nein, nein, das war schon alles so – ein Zweifel daran war nicht möglich!

Lange sah Frau Bang mit ernsten Augen so vor sich hin, dann aber zog ein Schein von Güte und von Liebe mit mitleidvoller Wehmut über ihr Gesicht. Es war die kleine Sephi wieder in den Kreis ihrer Gedanken getreten.

Frau Bang stand erst auf, als von draußen die Glocke ertönte – das Zeichen, daß Georg aus der Schule nach Hause kam. – –

 

Nun wußte Georg, daß er die Sephi wiedersehen würde, und die Tage vergingen ihm in der Sehnsucht nach dieser kommenden Zeit viel langsamer als sonst. All' das, was er sich ausgeträumt hatte an abenteuerlichen Phantasien, an seltsamen und wunderbaren Fügungen des Schicksals, die ihn und Sephi wieder sich zusammenfinden ließen, war beiseite geschoben durch diese schlichte Wirklichkeit: Frau Gerold war dagewesen; sie wollte wieder heiraten, und Sephi sollte für die erste Zeit, bis die neue Wohnung völlig eingerichtet war, hier bei seiner Mutter und bei ihm wohnen. So hatte ihm Frau Bang das damals dargestellt, als er nach Hause kam und in dem Zimmer stand, in dem ein süßlich milder Duft von Flieder noch an Frau Gerold gemahnte.

Ganz still, nur mit einem leisen Zittern in den Armen und in den Kniekehlen, das er kaum beherrschen konnte, hatte er damals den Worten seiner Mutter zugehört. Aber er hatte gefühlt, wie blaß er ward und wie das Herz ihm klopfte. Nur damit die Mutter das nicht merken sollte, hatte er dann versucht zu sprechen:

»… Sephi soll kommen …?«

Die Mutter breitete das Tischtuch aus, strich eine Falte glatt und legte die Bestecke auf. Ihm war's, als sähe sie ihm absichtlich nicht in die Augen, aber er war dankbar dafür.

»Ja – weißt', wir müssen uns halt dann einrichten. Entweder sie kriegt das Zimmer vom Herrn Schneeberger oder du schlafst drüben und sie bei mir herüben …«

Er nickte. »Ich glaub', es wird besser sein, wenn ich drüben schlaf' …« Und ein Gefühl knabenhafter Freude, der Sephi den Platz im Zimmer der Mutter abgeben zu können, war in ihm zugleich mit dem männlichen Stolz, daß er dann ganz allein das Zimmer haben sollte, das ihm, so lange Herr Schneeberger es bewohnt hatte, stets besonders würdig erschienen war.

Das alles war nun drei, vier Tage her, ihm aber schienen diese Tage wie ebensoviel Wochen. Ununterbrochen war er in Gedanken bei Sephi, malte er sich ihr Hiersein aus und sann er nach, was alles er ihr sagen und zeigen wollte, damit sie sich nicht langweilte. Manchmal ging sein Blick auch prüfend durch die Stube, über die alten Stahlstiche an den Wänden, die in den schmalen Goldleistenrahmen sachte immer mehr vergilbten, über die polierten Möbel, die auch nicht jünger geworden waren in all' den Jahren, über den breiten Ohrenstuhl und den Sticktisch der Mutter. Wenn ihr das alles nur gefallen konnte! Früher – das war 'was anderes – da war sie nur auf ein paar Stunden hier – nun aber würde sie doch lange bleiben … Er rückte nun selbst gern die Bettdecken zurecht, wenn sie nicht glatt und faltenlos lagen; er versuchte es, einer abgescheuerten Stelle im Leder des Lehnstuhles mit Tinte wieder zu verflossener Jugendlichkeit zurück zu helfen, und als er sich erinnerte, in der Probenummer einer illustrierten Zeitung, die Herr Schneeberger einmal mit nach Hause gebracht hatte, im »Briefkasten« ein Rezept »Stockflecken aus Papier zu entfernen« gelesen zu haben, da kramte er die alte Nummer vor, nahm sich »Heinrich VIII., der Katharina Howard verstößt« von der Wand und sah die unglückliche Frau des grausamen Tyrannen lange und prüfend an.

 

»In ein halbes Liter Wasser geben Sie dreißig Gramm pulverisiertes phosphorsaures Natron und bringen Sie diese Flüssigkeit dann zum Sieden; alsdann gießen Sie das Ganze in eine große flache Schale und legen den zu reinigenden Stich in diese hinein …«

 

Mein Gott – eine so große flache Schale hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Mit einem Seufzer hing er die stockfleckige vierte Gattin des Königs wieder an ihren alten Platz.

Aber während er so in Gedanken immer bei Sephi war und ihrem Kommen sehnsüchtig entgegenträumte, war doch ein Gefühl von Unfreiheit in ihm, wenn das Gespräch auf sie kam. Ihm war es dann immer, als müßte er verbergen, wie sehr es ihn beglückte, von ihr reden zu hören, und wenn die Mutter gar mit Fragen in ihn drang: »Sag' – freuest du dich denn gar nicht, daß sie kommt? Ihr habt euch doch immer so gern gehabt …« dann konnte es wohl sein, daß er in einer Aufwallung von knabenhaftem Trotz mit ein paar gleichgültigen überlegenen Worten antwortete – mit Worten, die ihn dann selber quälten, die ihm, wenn er an sie dachte, noch nachträglich das Rot der Scham in die Wangen trieben, und die er seiner Freundin dann, wenn er des Nachts im Bett lag, mit heißer Reue in Gedanken abbat. –

Etwa acht Tage nach dem Besuch der Frau Gerold bekam Frau Bang des Morgens, als Georg eben weggegangen war, einen Brief, der Herrn Schneebergers Handschrift auf der Adresse zeigte und am Kopfe des Umschlages die Firma seiner Buchhandlung trug.

Mit einer unbestimmten Erregung öffnete sie das Hanfkuvert. Die Freude, daß der alte Freund sich nun doch wieder meldete, stritt in ihr mit der Sorge, was in dem Brief wohl stehen mochte, so sehr, daß ihre Hände leise zitterten. Dann las sie die wenigen Zeilen.

 

»Liebe Frau Bang!

Ich möchte Sie bitten, heute mit dem Georg zu mir in das Geschäft zu kommen, da ich in der Sache der weiteren Ausbildung des Buben mit Ihnen sprechen möchte. Von zwei bis vier Uhr treffen Sie mich allein, weil mein Gehilfe um diese Zeit zu Tisch geht.

Mit freundlichem Gruß
Ihr Franz Schneeberger.«

 

Frau Marie Bang faltete das Schreiben zusammen und legte es auf ihren Nähtisch.

Zwischen zwei und vier also! dachte sie, und ein Gefühl der Erleichterung war in ihr, als sie sich dann an die Arbeit setzte und, während ihre Finger fleißig schufen, den Gedanken nachhing. Das war der echte Herr Schneeberger, der sich da wieder zeigte – der sich des alten Versprechens erinnerte und ihre Sorgen auch jetzt noch teilte, trotz dessen, was später geschehen war. Sie sah ihn vor sich, mit dem Gesicht, das mürrisch und ungeduldig schien und doch im Grunde so gutmütig und voll von Anteilnahme war, sie hörte förmlich sein knurrendes, abgerissenes Räsonieren und freute sich darauf, ihm wieder die Hand geben zu können. Der Brief hier war ein Zeichen, daß sie und Georg den alten Freund nicht verloren hatten, daß sich nun an die stillen Wochen, in denen er nichts hatte von sich hören lassen, aufs neue ein Verkehr und ein Zusammengehen knüpfen werden. Ob sie ihm etwas mitbringen konnte? Vielleicht, wenn sie noch rasch einen Gugelhupf buk – den aß er ja so gern …? Sie schüttelte den Kopf – nein, diesmal nicht – aber zum Sonntagabend wollte sie ihn einladen – da konnte sie dann seine Lieblingsspeise machen: Beuschel mit Semmelknödeln. – Dann mußte sie an Georg denken. »Seine weitere Ausbildung …« Ob Herr Schneeberger ihn vielleicht in sein Geschäft als Lehrling nehmen wollte? Den Plan, den Buben in einer auswärtigen Handlung lernen zu lassen, den er früher öfter erwähnte – den hatte er ja doch hoffentlich aufgegeben! Eine drängende Angst kam über sie bei dem Gedanken. Nein, nein – nur das nicht! Nur nicht zu fremden Leuten, nur nicht fort von ihr! Da mußte der Herr Schneeberger auch ein Einsehen haben – Mutter und Kind – nein, keine Trennung von dem Einzigen, der ganz zu ihr gehörte! …

Aber Herr Schneeberger hatte dieses Einsehen nicht, und das erkannte Frau Bang des Nachmittags, als sie ihm mit Georg im kleinen Buchladen gegenüberstand.

Gleich der Empfang war doch wieder ganz anders gewesen, als sie ihn sich gedacht hatte. Hinter einem hohen Stapel von Büchern hatte der Herr Schneeberger seinen Kopf hervorgereckt, als sie mit dem Buben in den Laden eingetreten war.

»Ah – Frau Bang … Guten Tag – einen Augenblick bitte – setzen S' sich nur derweil.« Und er tauchte mit dem Kopf wieder unter hinter seinem Bücherwall und kramte raschelnd und polternd dort herum. Erst nach einer Weile kam er dann vor zu seinen Besuchern, rückte an der Brille und streckte Frau Bang und dann Georg die Hand hin.

»'Müssen schon entschuldigen – aber die Arbeit geht natürlich vor. 'Is schön, daß S' kommen sind – hm – ja, also wegen dem Georg! Haben S' Ihna 's also überlegt, Frau Bang? Und der Bua – möch'st also Buchhändler werd'n, Georg?«

Frau Bang blickte den Buben an und dann Herrn Schneeberger. »Wir sind Ihnen ja so dankbar für Ihre Hilfe dabei!« sagte sie. »Ich hätt' mir ja gar nicht zu helfen g'wußt, wenn ich's allein hätt' machen sollen. Und daß Sie jetzt, wo Sie doch selbst so viel zu sorgen haben, doch an uns denken …«

Herr Schneeberger schob ein paar Bücher auf dem Ladentisch zurecht und fingerte dabei nervös über die Umschläge der Bände hin.

»Na ja – na ja, Frau Bang, schon gut. A jeder tut halt, was er kann. Und jetzt is' in vierzehn Tagen die Schul' aus – i' mein, da wird's Zeit, daß man sich ausspricht und entscheid't. Versprochen hab' ich's damals, daß ich mich umschau' für den Georg … also! Ich hab da …,« er ging um den Ladentisch herum, öffnete die Klappe seines Pultes und nahm ein blaues Mäppchen heraus, das er vor sich hinlegte. »Also ich hab' da die nötigen Schritte gleich getan, und die Sach' is' eigentlich in Ordnung – verstanden?«

Frau Bang nickte zaghaft. Mein Gott, sie wußte ja noch gar nicht, was für Schritte das sein sollten. Sie sah Herrn Schneeberger mit banger Erwartung an, und bei all ihrer Sorge mußte sie denken: Nein, solche Kragen hat er bei mir doch nicht tragen müssen – so schlecht gestärkt und so schlampert gebügelt!

Nun schlug Herr Franz Schneeberger sein kleines Aktenmäppchen auf, blätterte in den wenigen Briefen, die darin lagen, räusperte sich dann ziemlich geräuschvoll und begann wieder zu sprechen. Ein leises Vibrieren lag dabei in seiner Stimme, wenngleich er sich Mühe gab, das zu unterdrücken:

»Ja – also Frau Bang – daß wir das gleich vorwegnehmen: hier in Wien is nix …«

Er hielt einen Augenblick ein und sah auf Frau Bang. Aber sie sagte nichts, nur ganz ängstlich blickte sie ihn an, und ihre Hand tastete in einer unwillkürlichen raschen Bewegung nach Georg.

»Wann einer ›Maler‹ lernen will, muß er nach München geh'n, und wann einer ›Buchhändler‹ werd'n will – ein ord'ntlicher deutscher Buchhändler – dann muß er eben in Leipzig lernen. So haben's beinah' alle bedeutenden Buchhändler g'macht – net nur draußen im Reich, auch bei uns herüben in Österreich. Und d'rum sag' ich: will der Georg den Buchhandel lernen – so muß er nach Leipzig … Ich hab' also an mein' dortigen Kommissionär, an den Herrn Felix Gutkind geschrieben, und da hab' ich gestern nach verschiedenen Unterhandlungen seinen letzten Bescheid bekommen. Da schreibt er mir also …« Herr Schneeberger unterbrach sich, blätterte in den Briefen und überlas einen von diesen mit murmelnder Stimme. »Ja – also … ›erkläre ich mich bereit, den Knaben, von dem Sie mir schreiben und welchen Sie mir so sehr empfehlen, als Lehrling in mein Haus aufzunehmen. Ich würde dafür sorgen, daß er in alle Arbeiten unseres Berufes vollen Einblick bekäme und daß er diese auch alle selbständig erledigen lernte. Die Lehrzeit beträgt drei Jahre. Wegen einer passenden Pension habe ich mich gleichfalls umgesehen. Ich habe einen verheirateten Gehilfen, Herrn August Thienemann, der wäre bereit, dem Knaben ein bescheidenes Zimmer einzuräumen und ihn in Pension zu nehmen. Herr August Thienemann ist ein sehr verläßlicher tüchtiger Buchhändler, so daß man ihm den jungen Mann ruhig anvertrauen kann. Wegen der Pensionskosten …‹« Herrn Schneebergers murmelnder Vortrag ging in ein unverständliches Gebrumme über, dann klappte er den Brief zusammen. »Na ja, also, das betrifft dann noch ein paar geschäftliche Fragen, die zwischen mir und dem Herrn Gutkind in Ordnung gebracht werden. Für uns handelt es sich jetzt einfach d'rum: paßt Ihnen das, Frau Bang? Und kann der Georg dann also in sechs – acht Wochen reis'fertig sein? …«

Frau Bang hatte den einen Arm um den Buben gelegt und ihn so fest an sich gezogen. Ein nasser Schleier war ihr vor die Augen getreten, und durch den sah sie nieder auf die bunten Umschläge der Bücher auf dem Ladentisch, deren Umrisse und Farben vor ihrem Blick immer mehr ineinander verschwammen.

»Mutter,« sagte Georg, »liebe, gute Mutter –« Er hielt ihre Hand und strich mit seinen Fingern immer wieder leise darüber.

Da schüttelte sie den Kopf mit einer hastigen Bewegung, machte sich los und tastete suchend nach dem Taschentuche.

»Aber, Frau Bang, geh'n S', was wär' denn das?«

Ein leises Schütteln ging durch sie, und ehe sie noch mit dem Taschentuch zu Hilfe kommen konnte, war eine schwere Träne herniedergetropft auf eines der Bücher, die da vor ihr lagen. Da saß der runde, nasse Tropfen nun, breit und mit zersprühten Rändern.

Von draußen wurde die Tür geöffnet, und ein Herr trat ein und verlangte ein Buch, das er im Schaufenster gesehen hatte.

Herr Schneeberger grüßte, nickte und schielte dabei heimlich unter der Brille hinüber nach Frau Bang. Dann öffnete er das Schaufenster, und während er das Buch hereinnahm, dachte er: Was sich der denken wird, wenn er die Frau weinen sieht hier im Geschäft! Ganz verlegen und unsicher war ihm dabei zumute. Und nur um den Käufer abzulenken, sprach er, während er nun das Buch einpackte: »Wird jetzt sehr stark gekauft, soll 'was ganz besonderes sein. So, bitte!«

Dann nannte er den Preis, der Kunde zahlte und ging.

Als Herr Schneeberger die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schritt er auf Frau Bang zu; unschlüssig stand er einen Augenblick vor ihr, dann tat er etwas, was ihm noch niemals früher in den Sinn gekommen war, er nahm sie fest bei beiden Armen, daß sie ihm in die Augen sehen mußte, und sprach so zu ihr. Und, seltsam, seine Stimme war dabei weich und zuredend warm, daß er selbst darüber staunte:

»Na, jetzt vernünftig sein, Frau Bang! Schau'n S', einmal muß's ja sein. Der Bub soll doch was Ordentliches werden – gelt? Na also! Immer können S'n ja doch net b'halten, und draußen im Reich wird er ein ganzer Kerl; 's gibt für an' Wiener keine bessere Schul', da kriegt er um das Weiche – zu Weiche – a bisserl a härtere Rinden herum, und das braucht's. Also sei'n S' g'scheit, Frau Bang, geh'n S', a Frau wie Sie! – So – schön abtrocknen die Tränen – seh'n S' – jetzt sind S' gleich noch amal so schön. Ja, und da unten auf dem Büchel, die Überschwemmung dürfen S' schon auch abtrocknen – na also, jetzt können S' ja schon wieder lachen! Bravo! Ja, Georg,« er fuhr dem Buben mit der Hand derb über das Haar, »das is' a Frau, deine Mutter, der mußt' schon Ehr' machen draußen – –«

Frau Bang hatte mit dem Taschentuch gehorsam auch den Tränentropfen von dem Buche weggetupft. Ihr war leichter geworden unter dem Griff der beiden Hände, die ihre Arme umspannt gehalten hatten. Ein Gefühl und Erkennen, daß sie auch dann, wenn der Bub nicht mehr bei ihr war, doch nicht ganz einsam sein würde, ging in ihr auf; sie wußte nun, daß dieser treue alte Freund ihr und dem Georg auch in jener Zeit zur Seite stehen werde. Nun sah sie unter neuen Tränen ein wenig lächelnd Herrn Schneeberger an.

»Mein Gott – daß Sie's gut meinen, weiß ich ja – und keinem anderen tät' ich sonst den Buben anvertrauen als Ihnen …«

»Na seh'n S', Frau Bang – das is' vernünftig –«. Er nickte ihr zu und klopfte ihr leise auf den Rücken.

»Vernünftig …? Mein Gott …« sie wollte wieder das Taschentuch nach oben führen … »für eine Mutter ist des Vernünftigsein oft gar so furchtbar schwer …«

Doch da griff Georg nach ihrer Hand und küßte sie. »Mutter – aber, wenn ich dann wiederkomm' und 'was bin – wenn ich dann viel Geld verdien', dann sollst du's auch so gut haben …«

Sie zog ihn an sich und küßte ihn wieder, und Herr Schneeberger lächelte mit seinem ironisch gutmütigen Gesicht dazu, obwohl soeben die Tür wieder geöffnet wurde und der Gehilfe, dessen Mittagszeit beendet war, eintrat.

»Natürlich!« sagte Herr Schneeberger. »Nur verzärteln und verpimpeln den Buben – höchste Zeit is', daß er 'nauskommt!« Und besonders laut, wie wenn er wollte, daß der Gehilfe die Worte hörte, setzte er dann hinzu: »Also Frau Bang, was haben wir heut? Freitag, na ja, also, ich komm' am Sonntagnachmittag auf eine Stund' zu Ihnen, und dann bereden wir die ganze Sach' noch einmal genau. Überlegen S' Ihnen derweil alles – über die Hauptsach' sind wir ja einig …« –

Und als Herr Schneeberger dann am Sonntag kam, da wurden in der Tat alle Einzelheiten durchgesprochen.

* * *

Fünf Wochen sollte Georg noch zu Hause bleiben dürfen, dann kam die Fahrt hinaus nach Deutschland, hinaus ins Leben. Es waren Tage erfüllt von einer tief in den Herzen der beiden Menschen zitternden Erregung, die über Frau Marie Bang und ihren Buben nun hereinkamen. Leise und unscheinbar wie sonst in all den langen Jahren hinter ihnen, ging ihr Leben, aber es bebte in dieser Stille ein steter Abschiedsschmerz, und oft entlud sich der zu einer heißen, wehvollen Zärtlichkeit.

Manchmal war Georg nun außer Haus; es galt Abschied zu nehmen von den wenigen Menschen, denen er näherstand, von den Lehrern, denen er sein Können dankte, von ein paar Kameraden, die ihm doch mehr geworden waren als die Menge der anderen.

Und wenn Frau Bang dann während solcher Stunden allein in ihrer Küche stand oder über die Stickerei gebeugt auf dem erhöhten Fensterstuhl saß, dann kam die Einsamkeit schon zu ihr auf Besuch und setzte sich zu ihr. Emsig stichelten die fleißigen Hände in dem Gewebe, hin und her fuhr die feine Nadel längs der in blauer Farbe dünn vorgedruckten Zeichnung des Monogramms und der Krone darüber – aber dann klang wohl ein tiefes Atmen durch das Zimmer, schwer und seltsam zitternd im Ausströmen der Brust. Und wieder blinkte die Nadel, bis sich Frau Bang ein feiner Schleier vor die Augen legte, daß sie die Arbeit niederlegen und die Brille von den Augen nehmen mußte. Mit tränennassem Blick sah sie dann oftmals still und müde hinunter in das dunkele sommerliche Laub der beiden Kastanienbäume im Hofe. Sie sah zwischen den großen Blättern die Stiele, an denen die runden stacheligen Kugeln saßen, die schon verfärbt und unscheinbar geworden waren und die sich hier und da schon öffneten, daß ihre blanken braunen Kerne blinkten. Und sie mußte denken: Diesmal, wenn all die Schalen platzen und die Kastanien auf den Hof hinunterfallen, dann ist er nicht mehr da. – Und sie sann zurück, die lange Folge der Jahre. Sie sah den Buben, wie er die Kastanien an lange Schnüre gereiht hatte, die dann ein Knabenspielzeug für ihn waren. Wie der Kriegsschmuck eines Negerhäuptlings sahen die trockenen, klappernden Ketten aus. Und sie sah ihn, wie er, die Taschen voll mit den prallen, glänzenden Kugeln, zu Gerolds ging und wie die Kinder dort mit den Früchten spielten.

Wie Freunde waren ihr die beiden Bäume vor dem Fenster, die ihr in stiller Sprache von ihren Georg reden konnten.

Aber es gab auch Stunden, in denen die Einsamkeit viel herber in das Herz der Frau am Fenster griff.

Dann sank ihr wohl der Kopf vor in die Hände, und sie weinte und konnte es nicht fassen, wie denn das Leben werden sollte, wenn sie den letzten von sich ließ, der ihr gehörte.

In einer solchen Stunde war es, daß ihr, wie eine Antwort auf ihre stumme, unausgesprochene Frage ein Brief von Frau Gerold ins Haus gebracht wurde, in dem diese anfragte, ob sie Sephi am nächsten Tage bringen könnte.

So stand die neue Form der Dinge nun durch dies Schreiben klar vor Frau Marie Bang, und sie begriff, daß mit dem Kinde etwas in die stille Wohnung einziehen würde, das, wenn es ihr auch kein Ersatz für Georg war, doch jene große Einsamkeit von ihrem Herzen halten werde. Sie konnte mit Sephi von dem Buben reden, sie konnte mit ihr seine Briefe lesen und sah in ihr durch die Erinnerung an alle die Vergangenheit ein Stück von ihres fernen Buben Jugend stets um sich. Sie fühlte auch, daß damit die Sehnsucht, Georg selber stets um sich zu haben, weniger hart und schmerzvoll sie ergreifen werde. Nicht, daß das Kind ihr ihn ersetzen könnte! Er war ihr Bub, der einzige, an dem sich vierzehn Jahre ihres Lebens maßen, die Sorgen dieser Zeit und ihre kleinen Freuden – was er ihr war, das konnte ihr kein anderer jemals sein, auch nicht Sephi, die Herrn Heinrich Gerolds Augen hatte. Aber das Wissen, nun nicht ganz allein zu sein, wenn diese große, herbe Leere und wenn die bange Sehnsucht kam, das tat ihr wohl. Das Wissen, daß es dann in ihrer Nähe zwei Kinderarme gab, die sie umfassen würden, und diese Augen, die ihr Leid verstanden – und die sich auch vielleicht ein bißchen mit ihr nach dem Fernen sehnten.

Gut aber sollte sie es hier haben, die kleine Sephi! Was sie dem Kinde geben konnte, um ihm die eigene Heimat zu ersetzen, das sollte es empfangen, so lang' es bei ihr war! Als wär's ihr eigenes, so wollte sie es halten! Und wenn die Wohnung auch nur so bescheiden war, die Möbel sich mit denen der Frau Gerold nicht vergleichen konnten – ein offenes und warmes Herz sollte das kleine Ding hier finden, das war ihm nach den langen Monaten, die seit Herrn Gerolds Tod verflossen waren, wohl nötiger als all die äußeren Dinge!

Frau Bang holte das Tintenzeug hervor, nahm Feder und Papier und schrieb an Frau Malwine Gerold, daß sie sich freue, Sephi schon morgen bei sich und Georg zu sehen. – Während sie noch schrieb, erwachten schon die kleinen Sorgen und drängten sich sachte vor ihrem Kummer, der immer noch gleich einem trüben Hauch in ihr gewesen war. Der Brief sollte sogleich zur Post, damit er noch vor Abend in Frau Gerolds Hände kam. Georg war erst in einer Stunde etwa zu erwarten – so ging sie selbst, das Schreiben zu besorgen. Und auf dem Weg spannen die Sorgen wohltätig schon wieder weiter. Das Zimmer des Herrn Franz Schneeberger – das Zimmer hieß nun einmal so in den Gedanken der Frau Bang – das mußte jedenfalls noch heute gründlich ausgefegt und ausgelüftet werden, daß Sephi, wenn sie kam, auch alles hübsch und reinlich fand. Das Bett war neu zu überziehen, die frischen Vorhänge, die schon bereit lagen, sollten an das Fenster. Auch die Möbel wollte sie ein wenig anders stellen – es sollte freundlich sein da nebenan.

Immer neue kleine Pflichten schob ihr die sinnende Alltagssorge zu, wie eine kluge stille Trösterin war sie, die Frau Marie Bangs Gedanken unmerklich und mit mildem Zwang in neue Bahnen zog und ihr so über ihre kummervolle Stimmung hinweghalf.

Fleißig und rüstig stand Georgs Mutter bei der Arbeit, als der Bub in der Mittagsstunde nach Hause kam. –

Das war eine unruhige Nacht, die Georg nun durchlebte. Der Schlaf mied den Buben, und doch, er wollte um alles die Mutter nicht merken lassen, daß er wach im Bett lag.

Seine Gedanken waren bei Sephi …

Er hörte die stillen, gleichmäßigen Atemzüge seiner Mutter und hörte jeden Schlag der nahen Kirchenuhr.

Einmal bewegte sich Frau Bang. Sie stützte sich ein wenig auf den einen Arm und spähte mit gehobenem Kopf zu ihm hinüber.

Ob sie fühlte, daß er wach neben ihr lag, daß seine Sehnsucht keine Ruhe finden konnte und daß sein Herz ihm wie im Fieber schlug?

Er hielt den Atem an und schloß die Augen, die bisher träumend in das Dunkel gestarrt hatten. Die Finger zitterten ihm auf der Decke. Er drückte sie fest gegen den Stoff – ihm war es, als müßte sie das Zittern durch all das flimmernde Dunkel sehen können.

»Georg …?« Ganz leise sprach sie seinen Namen. Es war ein Fragen, in dem die liebevolle Sorge klang.

Er schwieg.

»Georg … du schläfst …?« Noch leiser und auch ruhiger war nun die Stimme.

Und er schwieg wieder.

Er fühlte, daß es unrecht war, daß er sich so verstellte, und hätte doch kein Wort jetzt zu der Mutter reden mögen – um alles nicht.

Still, unbewegt und starr, daß es ihn beinahe schmerzte, lag er noch lange da, als die Mutter den Kopf wieder ins Kissen gedrückt hatte, und als ihr Atem wieder in gleichmäßigen Zügen ging.

Dann erst ließ die Spannung, die sich um seine Muskeln und wie ein Ring um sein Gehirn gelegt hatte, nach; aber wieder, wie vorher, bauten seine Gedanken phantastische Zukunftsbilder um die Gestalt der Sephi, die morgen näher als jemals zuvor – bei ihm sein würde.

Wenige Tage nur lagen vor ihm, in denen er mit ihr beisammen sein sollte. Dann kam die Reise nach Leipzig, die Trennung, vielleicht für Jahre.

Sein Knabenherz erstarkte bei diesem Gedanken. Wie eine Probe, die er von seiner Kraft und Tüchtigkeit geben sollte, erschien ihm die Zeit, die er fern von der Mutter und der Sephi, allein in dem anderen Lande verbringen würde. Seine Männlichkeit rankte sich selbstbewußt empor an diesem Bilde, aber sie schmückte sich mit den Träumen seiner jungen Phantasie.

Er sah Herrn Felix Gutkind, seinen künftigen Chef, im Geist vor sich und sah in seinen Träumereien, wie er die Anerkennung dieses Mannes im Sturm gewann. Oh, wie er arbeiten wollte! Er dachte sich Briefe aus, die Herr Felix Gutkind nach Wien an Herrn Schneeberger oder an die Mutter schreiben würde, Briefe voll stolzen Lobes über die junge zukunftsvolle Kraft, die er in dem neuen Mitarbeiter für sein Haus gewonnen habe. Und er sah vor allem das freudig zuversichtliche Gesicht der Sephi, die neben seiner Mutter am Tisch saß und zuhörte, wie jene die Berichte über sein Vorwärtskommen vorlas. Er träumte weiter, wie er rasch aufsteigen würde im Hause seines Chefs, wie er schaltend und waltend in den Bücherlagern bald herrschen würde, bis Herr Gutkind dann eines Tages ihm antrug, doch sein Teilhaber zu sein! Und von all diesen Siegen, die er so auf der Bahn seines neuen Lebens errang, kamen Berichte nach Hause. Alles wußte die Mutter, und alles wußte auch die Sephi. Geld konnte er bald massenhaft senden, und wenn man von ihm sprach, dann lag ein starker Glaube an ihn in den Worten. Später aber, wenn er erst Teilhaber war, dann ließ er die Mutter und Sephi nachkommen, ja und dann – dann – –. Er würde vielleicht ein eigenes kleines Haus dort haben. Die Mutter würde natürlich nicht mehr sticken. Sie würde nur so bei ihnen wohnen – bei ihm und Sephi.

Das war das Leben, das in dieser Nacht vor Georgs Sehnsucht als ein seltsames Gebilde aus Traum- und Fieberbild gaukelte.

Und hatten es des Knaben wild erregte Nerven durchgeträumt, dann setzte dieses Spiel von neuem wieder ein.

Morgen kam Sephi! Morgen! Wieder schlug die Kirchenuhr da draußen – erst in hellen, klingenden Schlägen, dann dumpfer, daß die Töne zitternd verhallten. Heute schon! Ein seltsames Gefühl, in dem sich Klarheit der Gedanken und körperliche Müdigkeit zusammenfanden, hielt ihn umgriffen. Ihm war es, als hätte er sonst des Nachts, wenn er erwachte, die Dinge ringsum niemals so klar gesehen, und auch alles, was ihm durch den Sinn zog, schien ihm so hell und deutlich ausgeprägt. Und doch lag bei dem allem auf seinen Gliedern etwas wie ein schwerer Bann, ganz unbewegt lag er die lange Zeit, und alles wache Leben schien in seinem Denken auszufluten.

Er dachte, wie anders es gekommen war seit jenem Tage, da ihm die Mutter von dem Besuch der Frau Gerold gesprochen, da sie ihm gesagt hatte, daß Sephi in das Haus kommen werde. Damals hatte er noch geglaubt, daß er in Wien bleiben würde und daß ein dauerndes Zusammensein vor ihnen läge. Nun war es anders. Nun ging er schon in wenigen Tagen fort, und nur wie eine Stärkung auf den Weg ins Leben, der jetzt vor ihm lag, war diese kurze Spanne Zeit, die er mit ihr verbringen sollte.

Als eine gütige, geheimnisvolle Fügung erschien es ihm mit einem Male, daß alles so gekommen war, daß er sie doch noch sehen durfte, ehe er ging, daß sein Leben, ehe es von der Heimat zweigte, noch einmal eng neben dem ihrigen schreiten durfte. Nur durch Tage, aber gerade dies schien ihm so wunderbar. Ihm war es in dieser Stunde, als lägen sein und Sephis Leben in Händen einer höheren Macht, die Religiosität in seinem Herzen, die Zuversicht und Dankbarkeit drängten danach, im Dasein hier die tiefere Bedeutung zu erschauen.

Beten hätte er mögen, aber anders als jemals vorher. Er hätte die Hände nicht falten können und hätte keinen Gedanken zum Gebet gefunden und kein Ziel dafür zu nennen gewußt. Nur, daß das Beste seines Herzens zusammenfloß in dem Gefühl einer heißen Hingabe an etwas Großes, Ungekanntes, das empfand er, und das war sein Gebet. Wie wenn sein Geist flöge, war ihm dabei zumute, und nur der eine Name – Sephi – stand klar vor ihm. –

Und am nächsten Tage kam sie endlich.

Endlos lang war der Vormittag für Georg hingegangen. Immer wieder war er ans Fenster getreten, wenn seine Mutter gerade in der Küche schaffte, und hatte in den Hof hinuntergesehen, ob denn noch immer niemand käme.

Aber es war umsonst. Nur die Spatzen schilpsten in den breiten Kronen der Kastanienbäume, und einmal schlich der Hausmeister im ausgewaschenen blauen Zwillichjanker aus dem Vorderhause über den Hof in das Rückgebäude. Mitten im Hof blieb er stehen, nahm die Pfeife aus dem Mund und sah langsam prüfend um sich, ob es wohl nötig wäre, die Blätter und Papierfetzen mit dem Besen zusammenzunehmen. Dann aber entschied er zu seinen Gunsten, er spuckte mit zufriedenem Nicken weit von sich, schob die Pfeife wieder zwischen die Zähne und trollte sich mit bedächtiger Ruhe weiter.

Und dann war's wieder menschenleer im Hof.

Gegen Mittag ergriff Georg ganz Besitz von dem Arbeitsstuhl seiner Mutter. Er hatte ein kleines Buch in Händen, das Herr Franz Schneeberger ihm gegeben hatte: »Wie ich Buchhändler wurde«; darin las er, während die Mutter den Tisch deckte, und darein blickte er aufmerksam und ernst, wenn sie ab und zu ging in dem Zimmer.

War sie aber doch wieder draußen, dann sank das kleine Buch gar bald in seinen Händen, und er sah wieder erwartend hinaus auf den Hof, über den Sephi schreiten mußte, wenn sie kam.

Stiller und einsilbiger als sonst verlief das Mittagsessen.

Einmal begann Frau Bang von Gerolds zu reden: »'s ist merkwürdig, daß sie noch nicht gekommen sind. Ich hab' gemeint, sie werden vormittag schon kommen. Freust' dich schon recht auf die Sephi?«

Georg hantierte mit Gabel und Messer an seinem Fleisch. Das zähe auf dem Knochen aufsitzende Stück schien gar nicht abgehen zu wollen.

Er nickte nur, ohne aufzusehen.

»Ja – Mutter …«

Aber das kam so ernst und erwartungsvoll, so tapfer gestehend und bekennend zugleich heraus, daß es Frau Bang seltsam ergriff. Sie sah zu ihrem Buben hinüber, der ein wenig blaß und erregt seine ganze Aufmerksamkeit dem Essen zuzuwenden schien, doch sie fragte nicht mehr. Nur ihre Gedanken spannen in mütterlichem Eifer weiter an dem Faden und gingen auf dem gleichen Weg, den in der Nacht vorher das wache Träumen ihres Buben hingewandelt war.

Ihr Georg und die Sephi – vielleicht, daß es eines Tages noch so kam! Wer konnte das wissen … Und dann gleich drauf die leise Sorge: Wenn sie nur wurde, wie ihr Vater war! Wenn sie nur nicht ein starkes Erbteil ihrer Mutter im Blute hatte … Denn gut mußte es der Georg einmal haben, das verdiente er, und nur die Beste würde gut genug sein für ihn: Sie dachte an das liebe, zarte Gesicht des kleinen Mädels, und ihre Stirn wurde wieder glatt, die Augen wieder hell. Gut war die! Nein – die Sorge konnte sie beiseite schieben. Und da wurde aus dem hellen Blick ein leises Lächeln.

Mein Gott, der Bub! dachte sie. Wie alt war er? Noch nicht fünfzehn! Und sie trug sich für ihn mit Heiratsplänen.

Leise kosend strich sie ihm mit der harten Hand über das helle Haar. Dann stand sie auf vom Tisch, nickte ihm zu und begann das Eßzeug abzuräumen.

Um halb Vier etwa wurde draußen die Glocke gezogen, und gleich darauf hörte Georg, der mit Herzklopfen im Zimmer wartete, die Stimmen der Frau Gerold und seiner Mutter im Flur.

Nun wurde die Tür geöffnet, und die Erwarteten traten ein. Frau Gerold in perlgrauer Halbtrauer, duftig und von beinahe jugendlicher Frische. Hinter ihr an der Hand von Frau Marie Bang Sephi, deren Augen suchend durch das Zimmer gingen und nun an Georg hafteten.

Sie war stark gewachsen, seit sie zum letztenmal hier gewesen war bei ihrem Freunde und bei seiner Mutter, das bleiche Gesichtchen aber schien noch feiner, noch zarter geworden zu sein in dieser Zeit.

Beinahe verlegen standen sich die beiden ein paar Herzschläge lang gegenüber. Keines streckte dem anderen die Hand entgegen, und keines sagte etwas. Nur ihre Augen ruhten ineinander, und durch die Kehle Georgs ging ein Schlucken und Drängen.

Laute Schritte klangen von draußen, und das Geräusch des Absetzens eines schweren Gegenstandes drang herein.

Das war der Hausmeister, der den Reisekorb Sephis vom Wagen unten heraufgetragen hatte.

Da wendeten sich die beiden Frauen um. Und während Georgs Mutter dem Mann sagte, daß er den Korb gleich in das Nebenzimmer stellen sollte, während Frau Gerold sich umsah in dem Raum, der nun für Sephi bestimmt war, blieben die beiden, Georg und das Mädchen, allein im Wohnzimmer zurück.

Immer noch war es still zwischen ihnen.

Da trat er zögernd auf sie zu und hob die Hand: »Sephi …«

Sie griff nach seinen Fingern und wollte lächeln, und brachte es doch nur zu einem Zucken um den Mund. Sie öffnete die Lippen – und schloß sie wieder. Nun ging's – nun wurde es beinah' ein Lächeln, als sie ihm wieder in die Augen sah.

»Du …« sagte sie nur.

Und nun schwiegen sie wieder, während von nebenan die Stimme des Hausmeisters herüberklang, der sich für das reichliche Trinkgeld der Frau Gerold bedankte und dann ging.

»Willst du nicht ablegen?« fragte Georg endlich. Seine Stimme kam ihm seltsam fremd vor – gerade, als spräche ein anderer die Worte.

Sie nickte und nahm den Hut ab und zog das leichte Jäckchen aus. Und Georg griff danach und legte es auf das Bett der Mutter. Bei dem allen aber war ein starkes Glücksgefühl in ihm, das ihn nicht Gedanken und Worte finden ließ.

Jetzt kamen Frau Gerold und Frau Bang wieder herüber, und Sephis Mama nickte dem Buben zu.

»Du bist aber auch groß geworden, Georg! Der reine Mann bald!« Sie lachte ein wenig. »Hoffentlich bist du immer nett und lieb zur Sephi, so lange sie hier bei deiner Mutter ist. Ja?«

Georg war rot geworden und fühlte es. Er beugte nur den Kopf: »Ja …!«

Frau Bang, die wieder Sephis Hand genommen hatte, mischte sich ein: Frau Gerold bliebe doch zu einer Schale Kaffee, das wäre selbstverständlich, und der Kaffee würde gleich fertig sein.

So zog denn auch Frau Gerold ihr Jackett und die hellen Handschuhe aus.

Ein Brillantring, dessen länglich angeordnete Steine das erste Glied des kleinen Fingers zur Hälfte bedeckten, saß an ihrer Linken. Sie streckte den Finger und wies ihn mit leisem Lächeln der Frau Bang.

Die nickte nur. »Hm …«

Als nach dem Kaffee Sephi und Georg im Nebenzimmer waren, wo er ihr nun in ernsten schwerflüssigen Worten von seiner bevorstehenden Reise und von dem Beruf und seiner Zukunft erzählte, und sie ihm von den Monaten berichtete, die hinter ihnen lagen, kamen die beiden Frauen auch auf die Zukunft zu sprechen.

»Ich bleibe noch zwei oder drei Tage hier in Wien,« meinte Frau Gerold. »Natürlich komme ich in der Zeit noch einmal her … Aber es ist doch noch so viel zu besorgen – ich kann so wenig zu Hause sein, daß es besser ist, wenn das Kind jetzt schon bei Ihnen bleibt.«

Frau Bang schob ein paar Semmelkrumen auf dem Tischchen zusammen.

»Gut soll sie es haben bei mir … in der Hinsicht können Sie ruhig sein.«

»Das weiß ich.« Frau Gerold sah wieder auf ihren Ring. Plötzlich seufzte sie. »Gut haben …« sagte sie dann, und während sie voll aufblickte zu Georgs Mutter, meinte sie noch: »Frau Bang, mir ist's jetzt manchmal, als hätte ich den Wert von dem nie genug verstanden …«

»Nicht verstanden?«

»Vielleicht nicht genug gesehen.« Sie wurde rot und zog die Oberlippe ein wenig hoch. Ein Zug von Verlegenheit trat in ihr Gesicht – beinahe schmerzlich sah es aus, wie sie nun wieder vor sich niederblickte und langsam sprach, daß ihr die Worte zögernd von den Lippen rannen. »Mir geht's so seltsam mit Ihnen, Frau Bang – und mir ist's manchmal, als könnt' ich mit Ihnen – gerade mit Ihnen – über manches sprechen – und ich kann's dann doch nicht … ›Gut haben‹ – sehen Sie, das ist auch so etwas … Mein Gott – ich hab's ja immer gut gehabt im Leben – ich meine …« Sie stockte. Ihre schönen Hände zitterten, wie sie nervös auf dem Tischtuch auf und nieder strich. Etwas Beklommenes, Gedrücktes war in ihr, das nach Worten suchte.

Frau Bang aber empfand, wie schon früher, wenn sie mit dieser Frau gesprochen hatte, wie die Gefühle für und wider in ihr kämpften.

»Wer wird sich solche Gedanken machen …« sagte sie nur … »Wer wird so grübeln, Frau Gerold …«

Aber die andere schüttelte leise den Kopf mit dem schweren goldblonden Haar.

»Wie eine Angst, Frau Bang – wie eine Angst vor dem Leben kommt's jetzt manchmal über mich … Er ist ja gut – gewiß ist er gut – das weiß ich doch, dafür hab' ich doch Beweise – und doch …«

Frau Bang sah, wie die andere sich quälte, und fand doch nicht den Mut, sie zu trösten. Wie eine Mauer stand es zwischen ihr und jener, und so hoch war diese Schranke nun mit einem Male wieder, daß nicht einmal ihr Mitleid sie überwinden konnte.

Lange schwiegen sie beide.

Dann aber warf Frau Gerold plötzlich den Kopf zurück, und ihr Ausdruck war verändert. »Ach – denken Sie nicht d'ran, an das, was ich gesagt habe, Frau Bang! Nervös bin ich! – Nervös sind wir beide – er und ich – das ist alles. 's ist ja kein Wunder! Die Trennung von Wien – und vom Kind doch vor allem – die neuen Verhältnisse, die vor mir liegen … und für ihn all die Sorgen mit seinem Geschäft, das er dort gründet. Schließlich kommt alles hundertmal besser, als man jetzt denkt!«

»Ich wünsch' es Ihnen,« sagte Frau Marie Bang.

Aber das kam so versonnen, so schwerblütig heraus, daß Frau Gerold wiederum die leichte Stimmung nicht festhalten konnte.

Wie unter einem Druck ging das Gespräch weiter – über Georg, über Sephis Schulbesuch, über die Aussicht, das Kind in nicht zu ferner Zeit nachkommen zu lassen nach Triest, und derlei mehr.

Dann brach Frau Gerold auf. – Als sie Sephi zum Abschied küßte, standen ihr die Augen in Tränen. Gewiß, sie sah das Kind ja sicher noch einmal, ehe sie fuhr – aber ein Vorgeschmack der Trennung war es doch, und der ergriff die schöne Frau, daß ihr das Herz erbebte. Sie fühlte, daß sie an der Lebenswende stand. – –

Und nun kamen für Georg jene Tage, deren Bild und Wesen sich tief, tief in seine Seele gruben, daß dann seine Erinnerung von ihnen zehrte durch Jahre.

Was anfangs noch an stiller Scheu, an Zagen und Bangigkeit zwischen ihm und Sephi gestanden hatte, das schwand mit jeder Stunde mehr dahin, und jene tiefe, innige Vertrautheit erblühte wieder, in der die beiden sich früher schon einmal gefunden hatten.

Unzertrennlich beinahe waren sie beieinander. Und seltsam war es: Georg empfand ihr Hiersein gleich einer Befreiung seines Innern. Wohl wurde er rot und fühlte sein Erröten, wenn die Mutter in das dämmernde Zimmer trat und er mit Sephi in eifrigem Gespräch am Tisch saß, aber es war eine offene Freude dabei in ihm, sein voller Blick, der die Mutter traf, umschloß sie zugleich und zog sie mit hinein in das, was er empfand. Was er früher verborgen und ängstlich gehütet hatte, das tat sich auf vor Frau Marie Bang und sprach wortlos zu ihr aus den Knabenaugen: Mutter, ich bin so glücklich …

Am dritten Tage nach Sephis Ankunft im Hause der Frau Bang, frühmorgens, kam eine Depesche an das Kind. Sie war auf dem Bahnhof in Graz aufgegeben, und Frau Marie Bang schüttelte leise den Kopf, als sie das Telegramm dem Mädchen, das noch im Bett lag, in die Stube brachte. Aus Graz – sie wußte, was allein das bedeuten konnte, und wollte es doch nicht glauben, und konnte sich dem Zwang dieser Gewißheit doch nicht entziehen.

Aufrecht im Bett, mit zitternden Fingern öffnete Sephi das Papiersiegel der Depesche.

Dann las sie. Hastend gingen die Augen des Kindes über die blauen Zeilen der Typenschrift, und das Papier zitterte stärker in den kleinen, schmalen Händen. Und als sie dann aufsah zu Frau Bang, da zuckte es ihr um den Mund – nur einen Augenblick …

»Die Mama –« sagte sie und wollte tapfer sein.

Aber es war stärker als sie. Die Stimme versagte ihr, ein Schluchzen kam ihr heiß aufquellend in die Kehle. Und sie schüttelte nur das Köpfchen und ließ sich in das Kissen sinken, barg das Gesicht und weinte leise, unaufhaltsam.

»Sephi, aber Sephi, was is' denn?«

Frau Bang beugte sich nieder über sie und umschlang den zarten, schmalen Körper mit beiden Armen.

»Kind – mein Kind, hörst du nicht, es fehlt ihr doch nichts, der Mama?«

Sie fühlte das schluchzende Schütteln, das durch die liebe Gestalt in ihren Armen ging. Sie hätte mit dem Kinde weinen können; sie wußte ja, was in dem armen kleinen Herzen aufschrie: das war die Einsamkeit.

Frau Marie Bangs Hände griffen fest um das Kind. Sie soll fühlen, dachte sie, daß wir sie nicht lassen werden. Sie soll wissen, daß sie uns immer haben wird, mich und Georg!

Aber Sephi schluchzte weiter. Nur einmal langte die Hand nach der Depesche und schob sie Frau Bang zu, drängend und zögernd zugleich. Hingabe lag in dieser zitternd zagen Geste und Scham daneben, eine Scham, die für die Mutter litt, die das vermochte.

»Lesen soll ich?« fragte Frau Bang.

Das Kind nickte, ohne das Köpfchen aus den Kissen zu heben.

Und Frau Marie Bang griff mit der Linken nach dem Blatt und las, während ihre freie Hand streichelnd über Sephis Schulter fuhr, und während ihr selbst die Zeilen vor den Augen schwammen:

 

»Liebste Sephi, ich mußte infolge wichtiger Nachrichten schon gestern abend abreisen. Konnte Dich leider also nicht mehr sehen, was mir sehr schmerzlich. Bin heute abend Triest. Schreibe mir bald, wie es geht. Ich küsse Dich, grüße Frau Bang.

Deine Mama.«

 

Also fort! Frau Gerold war abgereist, ohne ihr Kind noch einmal gesehen, ohne es zum Abschied noch einmal in den Armen gehalten zu haben.

Frau Marie Bang sah vor sich hin und konnte es nicht fassen. Nur ihre Rechte strich immer noch über Sephis Schulter hin und dann über den zarten schmalen Körper, in dem der Schmerz so einsam rang.

Leise, mit einer Bewegung, die deutlich davon sprach, daß ihre Gedanken noch immer in der Ferne waren, schob Georgs Mutter das Blatt dann auf das Nachttischchen neben dem Bett.

Nun sah sie wieder auf das Kind hinunter, das schluchzend hier vor ihr lag, und der eine Satz aus der Depesche zog ihr immer wieder durch den Kopf, daß sie ihre Gedanken gar nicht davon lassen konnte:

»Bin heute abend Triest – – bin heute abend Triest.«

Sie sah die Landkarte vor sich, die Karte aus Georgs Schulatlas, in die sie so oft mit ihrem Buben hineingesehen hatte, wenn er die Aufgaben für die Geographiestunden lernte, und die spannlange Strecke, die da trennend zwischen Wien und Triest lag, reckte sich und dehnte sich vor ihr zu einer auf immer scheidenden Ferne.

»Bin heute abend Triest – –«

Da lag das Kind dieser Frau hier in Wien einsam, und keinen Menschen hatte es, außer ihr und Georg! Und die Mutter fuhr nach dem Süden – jede Sekunde trug sie weiter fort von dem Kind.

»Bin heute Abend Triest – –«

Frau Marie Bang sah die schöne Frau vor sich, wie sie sie erst vor wenigen Tagen gesehen hatte: in perlgrauem Kleide, duftig in ihrem Spitzenwerk und ihren Schleiern. Sie sah die Krone des vollen blonden Haares über dem wohlgepflegten Teint, sah die Augen mit ihrem Blick, der weich und doch so wenig warm und herzlich war, und die Hände – die schönen weißen Hände, an deren einem kleinen Finger ein seltsam geformter Brillantring saß. Und sie fühlte, daß die Gedanken dieser Frau, die nun wohl auf der Fahrt nach Triest in den Polstern eines Coupés ruhte, nicht hier bei ihrem Kinde weilten, nein, daß die sehnsüchtig und angstvoll zugleich vorauseilten nach dem Ziel des Zuges, voraus in eine fremde Zukunft, zu dem Mann, der sie so hart gerufen haben mochte, daß sie sich nicht getraute, auch nur die Zeit zu einem raschen Abschied von dem Kinde noch zu zögern.

Wieder tasteten Sephis Finger auf der Decke.

Frau Bang griff nach der kleinen Hand. »Kind, willst du etwas? – die Depesche?«

Die Kleine schüttelte den Kopf. Aber sie hielt die rauhen Finger der Frau Marie Bang fest umgriffen. Mit keinem Blick sah sie nach der Depesche hin.

Dann schwiegen sie beide. – Auch Sephis Schluchzen hörte auf. Die wischte sich, während sie wieder aufsaß im Bett, die letzten Tränen von den Wangen und strich sich das Haar aus den Schläfen. Und wie sie so auf Frau Marie Bang blickte, schien es der mit einem Male, als hätte das Gesicht des Kindes einen so ernsten und bestimmten Ausdruck, wie sie ihn nie vorher bei ihm gesehen hatte. Beinahe hart waren die jungen schmalen Lippen geschlossen, und eine bewußte Entschlossenheit lag in den kurzen hastigen Bewegungen.

Da war es der Mutter Georgs, als müßte sie ein Wort für die Frau im enteilenden Zuge sprechen. Da kam ihr die Erkenntnis, daß in diesen Augenblicken hier in dem Kinderherzen etwas starb – und vielleicht schon gestorben war – was jener Frau das Höchste auf der Erde hätte bleiben sollen! Und alles, was an mütterlichem Mitgefühl Frau Bang erfüllte, das wallte auf und suchte nun in jähem Schrecken der Mutter Sephis zu erhalten, was sich noch retten lassen mochte. Sie fühlte selbst, daß ihr die Worte nicht aus tiefstem Herzen kamen, daß sie in ihrer Angst vielleicht auch gerade nach den nächsten Gründen griff, nicht nach den besten. Sie sah die Flammen, und sie wollte retten und war doch zu erregt zur Überlegung.

»Deine Mutter,« sagte sie hastig, »die hat vielleicht ganz unvorbereitet in der Nacht fahren müssen – es ist vielleicht doch 'was geschehen, was ihre Fahrt gleich, ohne Aufschub nötig gemacht hat – – –«

Aber Sephi schüttelte den Kopf und sah Frau Bang so ernst in die Augen, daß diese schwieg und niederblickte. Es war eine Reife über dem Gesicht des Kindes, vor der es keine ausflüchtenden Worte gab.

»Er wird ihr geschrieben haben, daß sie gleich kommen soll – das glaube ich – – aber – –«

Sephi sprach den Satz nicht zu Ende, aber sie schlang plötzlich beide Arme um den Hals von Frau Marie Bang und drückte ihr Gesicht an deren Wange.

Und leise, zögernd, sagte sie nach einer Weile: »Zu dir … weißt' … zu dir möcht' ich ›Mutter‹ sagen – –«

Fester schlossen sich dabei die zarten Kinderarme um den Hals der Frau Bang. – –

* * *

Abschied. Der Tag, da Georg reisen sollte, war herangekommen, rascher, als die vier Menschen, für die des Buben Fahrt ins Leben ein Ereignis war, gedacht hatten. Die kleinen Sorgen hatten Frau Bang die Zeit verkürzt, und Georg, dem es war, als müßte er von all den lieben alten Wiener Gassen, von den stillen, verschwiegenen Durchhäusern, durch die er so oft, so oft gegangen war, von den ruhig vornehmen Fassaden der Palais und von dem anheimelnden Winkelwerk der inneren Stadt besonders Abschied nehmen, dem schwand nun neben Sephi die Zeit so rasch, daß er es aufgab, all die lieben Stellen noch einmal aufzusuchen. Nur einmal, am Nachmittag vor der Fahrt, während Frau Bang den großen Segeltuchkoffer packte, den Herr Schneeberger als Reisegeschenk gebracht hatte, ging er mit Sephi durch die Stadt.

»Tu's, Bub!« hatte der Herr Schneeberger am Abend vorher zu ihm gesagt, als er den Koffer brachte, die Stunde der Abfahrt verabredete und dann, ganz wie in vergangenen Tagen, ein wenig mürrisch und doch gutmütig brummelnd und lächelnd zugleich, in dem alten Lehnstuhl saß. »Tu's, Bub! Und schau dir's noch amal gründlich an, die Wienerstadt! Steht dafür! Denn mögen s' draußen sagen, was' woll'n, – so 'was gibt's nimmer wieder auf der Welt! Schöner? Prächtiger? Mein Gott – als ob's dadrauf ankäm'! Aber a schöner gibt's keine!«

Mit einem Blick, der ziellos ins Weite sah, sog Herr Franz Schneeberger an der Virginia, deren Strohhalm ihm schief hinter dem Ohre stak. Und so sprach er weiter, ohne den Blick zu heben, als ob er für sich selber spräche. Und alle seine tiefe Liebe zu seiner Vaterstadt, an der er so mit allen Fasern hing, lag in den kurz hervorgestoßenen Worten.

»'Geht ein and'rer Wind draußen im Reich – freilich! – wahr is' – 'wird mehr g'schafft, is' ein Stück Amerikanertum, was die da draußen machen – und a Stadt, die heut' noch a halbe Million Einwohner hat, die hat in zehn Jahren schon vielleicht a Million! Neue Häuser und neue Menschen – a ganz a neue Welt, der man's net anschaut, daß sie vor zehn Jahr auch scho' dag'wesen is'. Dagegen Wien! Wien, das bleibt – da wachst's Neuche zu, aber's Alte gibt den Ton mit an. Und immer hat ma' das G'fühl, als ging' ma' durch sei' Ahnengalerie dabei. Wo's d' hinschaust, lebt die alte große Zeit. Und durch kei' Straßen kommst in der Stadt, wo's d' dir net sagen mußt: dahier is' schon was Weltgeschichtliches gescheh'n! Da hier, ›Am Hof‹ hab'n s' im Achtundvierzigerjahr den Latour auf den Laternpfahl aufg'hängt, und da daneben haben s' nach'er s' Zeughaus g'stürmt – da, hundert Schritt davon, am Heidenschuß, auf der Bastei haben s' mit die Türken g'rafft, daß d' Fetzen g'flogen sein – da ob'n vom Stephansturm sein d' Notraketen g'stiegen, und drüb'n vom Kahlenberg herunter is' der Sobieski aberg'saust mit die Polacken zum Entsatz! Und so geht's fort bis in die Zeit vom gottseligen Kaiser Marc Aurel und früher noch – a jeder hat sei' Platz'l in der Stadt – a jedes Stückel Erden is' groß durch das, was da sich abg'spielt hat. Und so wie Wien, so is' der Wiener! Das Neuche, ja – das macht er mit – aber's Alte, dadran halt' er fest, da drüber liegt's ihm wie a Weih'. Mei' Bua, ma' geht net 's Leben lang durch so a Stadt, ohne daß ei'm was picken bleibt davon. Daß du dei' Wienertum verlieren könnt'st da draußen, dadrum is' mir net bang, denn das laßt keinen los, mag er noch so viel Jahr' fort sein – das Gute davon bleibt dir …«

Eine Weile hatte Herr Franz Schneeberger nach dieser Rede noch sinnend vor sich hingesehen. Dann zog er ein paarmal energisch an der Virginia, und als er sah, daß die ausgegangen war, schüttelte er mißbilligend den Kopf, zog den Strohhalm hinter dem Ohr hervor, zündete ihn über dem Zylinder der Lampe an und setzte den Glimmstengel dann mit umständlicher Ruhe wieder in Brand.

Für Georg waren diese Worte der äußere Anstoß zu dem letzten Gang durch Wien am Tage vor der Reise in die Fremde geworden.

Und wie wenn ihm die Stadt zum Abschied noch mehr von ihrer Seele geben wollte als je zuvor, war's ihm bei diesem Gang, den er mit Sephi tat. Häuser und Straßen redeten mit Zungen, wo immer die zwei jungen Menschenkinder schritten. Doch all das Würdige, von dem Herr Franz Schneeberger gesprochen hatte, war tief verquickt mit den Erinnerungen, die ihn und sie durch ihre Jugendjahre hingeleitet hatten.

Über den Ring schritten die beiden, und all die wunderbare Schönheit, die hier emporgesproßt war, als Werk der größten Bauherren der Zeit, umfing sie. Aber das waren für sie nicht nur Werke der Schönheit. Hier waren sie mit Sephis Vater oft geschritten.

»Weißt du noch, Georg – –«

Als ob die Stimme des Heimgegangenen noch neben ihnen klänge, war es den jungen Menschen an diesem späten Sommertag, der voll von reicher Sonnenpracht und Wärme war. –

Schweigsam gingen sie nebeneinander, nur hier und da fiel ein kurzer Satz, und der andere nickte dazu oder sprach – aber mehr als die Lippen waren es die Augen, die redeten.

Längs der langen, stolzen Gitterreihe, die den Kaiserpark von der Straße trennte, schritten sie hin. Da, jenseit der braunen Stäbe mit den vergoldeten Lanzenspitzen, war reges Leben. Bäume wurden gefällt und Fundamente ausgehoben. Hier sollte die neue Kaiserburg erstehen, in der des Kaisers Sohn einst herrschen würde. Drüben aber schimmerte, säulengetragen, die weiße Marmorhalle des Parlaments herüber, die Kuppelbauten der Museen ragten auf, und zwischen ihnen auf dem weiten Platze erhob sich ein Gerüst von machtvollen Formen: dort wurde das Denkmal für die Kaiserin Maria Theresia aufgerichtet.

Bei dem Volksgarten wurde die Menschenmenge dichter, die ihnen entgegenströmte und sie umflutete, und aus dem dunkelen Gehocke mächtiger Wipfel drang leise und verwehend in all dem summenden Treiben die Melodie von Walzerklängen.

Zwischen den beiden Pflöcken, die hier den Durchgang durch das Gitter vom Ring herein verengten, schritten sie hindurch, und quer zog es sie dann über diesen weiten Platz mit seinen Rasenbreiten.

»Erzherzog Karl« und der »Prinz Eugen«.

Lange standen sie vor den Reiterstandbildern, und wieder trafen sich ihre Augen.

Und schon waren sie dann im Weiterschreiten, als Georg sprach: »Dein Papa hat uns das Lied so oft gespielt – auch später noch auf dem Harmonium – –«

Sephi aber nickte nur. Was ihr die Liebe ihres Vaters damals gegeben hatte, das war dem Kinde nie so heilig und so viel gewesen wie nun, da es der Mutter fremd geworden war. Ein Tränenschleier stand ihr vor den Augen. Aber sie hielt die schmalen Lippen fest geschlossen, sie blickte tapfer geradeaus – und die Melodie des Liedes von Prinz Eugenius dem edlen Ritter und das Bild des stillen gütigen Mannes vor seinem schwermütigen Instrument gingen mit ihnen.

Heinrich Gerold war unsichtbar auch bei den beiden, als sie dann in den weiten Burghof traten, der sie mit feierlicher Stille gleich einem grauen Riesensaal umschloß. Auf den langen Bänken der Kaiserwache saßen die Bosniaken mit rotem Fes über den gebräunten Gesichtern, und vor ihnen an der schwarzgelben Barriere lehnten die Gewehre und ragte die verblichene Fahne. Ruhe war alles, nur der Posten schritt langsam auf und nieder. Bis er dann plötzlich stehen blieb: »Ge – währ – – rr – aus!« und nun all' die Soldaten mit jäh erwachter Hast nach ihren Waffen griffen, in Reih und Glied traten, die Trommelschlägel auf das Kalbfell niederrasselten, der Offizier den Säbel im Salutieren schwang, und der Hofwagen mit goldblinkenden Speichen, der Leibjäger auf dem Bock, in eiliger Fahrt über den kiesbestreuten Platz und durch das hallende Burgtor hinausjagte.

Der Kronprinz Rudolf war im Wagen gewesen.

Weiter ging der Weg der beiden. Über den Kohlmarkt, vorbei an dem Panoptikum, das den Buben früher immer so geheimnisvoll angezogen hatte, als umschlösse dieser Raum voll Wachsfiguren-Herrlichkeit alle Rätsel und Schauder des Daseins. Bis Herr Gerold eines Tages, da er Georgs Sehnsucht erriet, ihm von den Dingen gesprochen hatte, die da zu sehen waren. Seitdem war Georgs Wunsch weggewischt. – Und durch das Menschengewoge des Grabens schritten sie, bis sie sich an der Stephanskirche wieder zurück nach Hause wendeten. Aber auch da war Heinrich Gerold bei ihnen. All jene seltsamen Überlieferungen wachten auf, die sich an die alten Wahrzeichen der Stadt hier knüpften: an die Pestsäule und an den »Stock im Eisen«, an den Türken auf dem Turm und an so vieles, vieles anderes. Und alles das hatte einst er den aufhorchenden Kindern erzählt. Nun stieg aus all diesen Bildern auch die Erinnerung an ihn empor …

Auf dem Rückweg hielten Georg und Sephi einander fest an den Händen. Ihre Schritte waren langsam geworden, die Augen vermieden einander.

»Bist du müde?« fragte Georg einmal.

Sie schüttelte den Kopf.

Er hatte es ja gewußt, daß auch ihr nur die Gedanken an die nahe Trennung aufs Herz gefallen waren.

Aber keiner sprach ein Wort von diesem Abschied.

Nur die Hände griffen noch fester ineinander, und als die beiden jungen Menschenkinder ganz nahe schon dem stillen Hause waren, sagte Georg:

»Sephi – du und die Mutter –« Der Atem wollte ihm nicht recht gehorchen. Er mußte schlucken. Und da standen plötzlich die Zukunftsträume seiner Nächte vor ihm auf, die Träume, in denen er sich schon als großen, wohlhabenden Buchverleger draußen im Reich gesehen hatte –

Sein Schritt wurde zögernd – auch sie hielt ein.

Nun schüttelte er den Kopf – ein Luftschloß fiel zusammen, ein neues baute sich vor seines Geistes Auge auf.

»– – und Wien!« sagte er nur. »Und Wien!« …

 

Frau Marie Bang packte den Reisekoffer ihres Buben.

Während Georg mit Sephi den letzten Gang durch die Straßen tat, stand sie allein vor dem großen Koffer aus braunem Segeltuch, dessen Leere sich vor ihr auftat, als wär's ein kleiner Sarg. Und immer wieder, so oft die heut' so müden Hände sich in die Tiefe senkten, ein Kleidungsstück, ein Päckchen Wäsche da hineinzulegen, so oft die Finger glättend, streichelnd über die so bescheidene »Ausstattung« Georgs strichen, war's ihr, als legte sie ein Stück von ihrem Herzen mit zu diesem allem. Nun ging er fort von ihr – – wer wußte, wie er dereinst wiederkam!

Manch eine Träne fiel in dieser Stunde mit in des Herrn Schneeberger schönen Reisekoffer, zwischen die dicken Wintersocken, die Frau Marie Bang für Georg an langen Abenden gestrickt hatte, während er las und sie sinnend im alten Ledersessel lehnte, auf die neuen Taschentücher, deren Monogramm sie ihm gestickt hatte, so sorgfältig und schön, als wäre es für einen großen Herrn, und auf all die schlichten Alltagsdinge, deren jedes ein Zeugnis ihrer Liebe und ihrer Sorge für den Buben war. – Auch seine Bücher legte sie ihm in den Koffer, nur wenige, aber doch lauter solche, die er auch in der Fremde lesen würde – wieder lesen würde. Die ausgewählten Werke von Schiller, die ihm Herr Franz Schneeberger einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, »Des Knaben Wunderhorn« und Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts«, noch Gaben des Herrn Gerold …

Sie richtete sich auf und sah hinunter in den Koffer. Das rote Bändchen da, das nahm er sicher bald zur Hand, sie wußte, wie sein Herz an diesem Büchlein hing. Hier an dem Tisch, beim Schein der Abendlampe hatte er es ihr vor wenigen Monaten erst vorgelesen.

Wenn er es wieder las, war er allein.

Schlaff hingen Frau Marie Bang die Arme nieder an dem müden Leib, wie sie herniederblickte auf das kleine Buch.

Ob er dann auch an jene Abende, und ob er dann an sie wohl denken würde?

Sie strich sich eine dünne Strähne Haar zurück hinter das Ohr. Und während sie noch seufzte, trat schon ein leises wehmutvolles Lächeln um ihre Augen.

Er sollte an sie denken!

Sie schritt zum Schrank und suchte in der Lade, die ihre Briefe und ihren Erinnerungskram umschloß. Dort zog sie die alte Photographie hervor, die sie vor bald zwölf Jahren von sich und ihm hatte machen lassen – damals, als noch ihr Mann lebte und als der Georg noch ein so kleiner Bub gewesen war. Eine Geburtstagsüberraschung für ihren Mann war das Bild damals gewesen …

Lange blickte sie darauf.

Mein Gott, die Zeit – wie die seitdem verflossen war! Zwölf Jahre schon? Das kleine magere Buberl, das sie hier auf dem Bild auf ihrem Schoße hielt und an sich drückte, das war nun schon zur Fahrt ins Leben reif? Wie ängstlich scheu er da ins Weite blickte. Er hatte Angst gehabt vor dem Mann, der seinen Kopf am Apparat hinter dem schwarzen Tuche verbarg. Und doch, es war noch immer sein Gesicht – sein Auge und sein Mund …

Dann sah sie auf ihr eigenes Bild. Zwölf Jahre erst? Ein trübes Lächeln drängte sich ihr auf. Die Frau hier auf dem Bild war mehr als nur zwölf Jahre jünger als sie heute! Die Jahre waren all zu schwer gewesen, gar manches davon zählte doppelt durch all die kleinen Sorgen, die es in sich schloß. – Und doch, der Georg würde ihr Gesicht auch in dem alten Bilde wiederfinden!

Sie ging zum Tisch und holte Tinte und Feder herbei. Dann setzte sie sich und drehte das Bild um. Wie sie die Feder ansetzte, war's ihr, als müßten die paar Worte, die sie für ihren Einzigen jetzt schreiben wollte, ihn wie ein Band mit ihr verbinden. Ihr Herz schlug so heftig, daß ihr der schmale Kragen des Kleides fast zu eng wurde, ihre Hand zitterte, und Andacht, Liebe, Sehnsucht, Angst und Zärtlichkeit erfüllten sie.

Sie mußte absetzen und warten. Ihr war's zumute, als sammelte sich all ihr Fühlen zum Gebet.

Dann aber war sie klar. Und aus dem vollen Herzen dieser Stunde schrieb sie hin:

»Vergiß mich nicht, mein Bub! Mein Herz ist bei Dir, Du bist nie allein!

Am Tage vor Deiner Reise. Deine Mutter.«

Als sie geschrieben hatte, saß sie noch still, bis ihre Schrift getrocknet war. Sie hatte die Feder hingelegt und die Hände gefaltet.

Nun stand sie auf und nahm das Bild. Noch einen letzten Blick warf sie darauf, dann schob sie es vor das Titelblatt des roten Büchleins im Koffer. Mochte es in der Fremde zur rechten Stunde in seine Hände fallen, ihm das Alleinsein leichter machen und ihm sagen, daß sie immer, immer ihm nahe war!

Ihr selbst war freier, als sie sich dann wieder an die Arbeit wendete. Und Stück auf Stück an Wäsche, Kleidung und sonstigem Besitz Georgs legte sie nun weiter in den Koffer, daß das rote Büchlein mit dem Talisman, den es barg, bald tiefer vergraben war unter all den profanen Gebrauchsstücken.

Als Georg dann mit Sephi nach Hause kam, sprach Frau Marie Bang mit keinem Wort von dem Bilde. Aber sie trug doch den Gedanken daran während des ganzen Abends als ein still behütetes und glückliches Geheimnis in ihrem Herzen. Er leuchtete als ein mildes trostvolles Licht, wenn die Wehmut der nahen Trennung so dunkel und schmerzvoll über sie kam, und er ließ in einem leisen, kaum merklichen Lächeln den Flor aus ihren Augen schwinden, wenn sie auf den Buben sah und dabei durchzittert ward von der zagen Angst: Und morgen um die Zeit – was wird morgen sein …? Wo ist er dann? – wie weit von mir? Und wie einsam sind wir dann beide – er und ich …

Auch an diesem Abend kam Herr Franz Schneeberger.

Er brachte eine Flasche Punschessenz mit und brummte, während er die gegen das Licht der Lampe hielt, daß sie glutrot aufleuchtete, etwas von »Abschiedsfeier« und von »höchst überflüssigem Geraunze und Trübsalgeblase«. Bedächtig und langsam las er dann die »Gebrauchsanweisung«, ehe er die Flasche bis zum Trunk nach dem Abendessen mit liebevoller Sorgfalt auf den Schrank stellte.

Und dann saß man beisammen bei Butterbrot, weichen Eiern, aufgeschnittener Wurst und etwas Käse. Aber das Essen ging nicht vor sich, und auch die Worte rissen immer wieder zwischen den vier Menschen, den beiden jungen, deren Zukunftshoffen noch alles gewinnen wollte, und den beiden alternden, die nur hofften, daß ihnen die Zukunft nichts nehmen möge von dem, was sie in Sorgen und Mühen als ihre kleine Welt errungen hatten. So oft sie auch ansetzten zum Reden und ein Gespräch durch ein halbes Dutzend Sätze schleppten, es war immer gleich darauf wieder still. Als ob die Worte, die sie sprachen, wie aufgeschreckte Vögel nach kurzem Flügelschlagen hastig sich in die nächste dichte Schonung senkten, daß sie nur wieder still verborgen ruhen konnten, war's. Und nur die Gabeln und Messer klapperten dann wieder leise auf den Tellern, und die Lider der vier Menschen lagen so seltsam schwer über den Augen.

Ein paarmal blickte Herr Franz Schneeberger verstohlen nach der Flasche da oben auf dem Schrank. Die sollte später mit dieser wehleidigen Stimmung ganz gründlich aufräumen! Von ihr versprach er sich die rechte Medizin gegen die Weichheit und die Schwermut dieser Stunde, die ihn, je mehr er selbst sie in den Knochen fühlte, auch desto mehr zum Protestieren reizten.

Unsinn war dieses ganze kopfhängerische Getue! Was war denn weiter los?! Der Bub fuhr morgen fort – No ja – und was weiter? Hatte er nicht selbst auch einmal fort müssen von zu Hause – und Millionen andere auch?! Was war denn weiter groß dabei? War's denn nicht zum Besten von dem Georg? Na also! Aber da muß die gute Frau Bang, die den Buben ohnehin verpimpelt hat, wie wenn er ein bleichsüchtiges Mädel wär', eine solche G'schicht d'raus machen!

So ärgerte sich Herr Franz Schneeberger, während ihm selbst ein dummes, klemmendes Gefühl um Kehle und Brust saß, glücklich in einen gerechten Zorn hinein, bis er endlich, da das Schweigen um ihn allzusehr drückend wurde, Gabel und Messer mit Geräusch auf den Tisch legte und, als die anderen nun auf ihn blickten, verlegen lachte.

»Recht unterhaltlich sein wir heut – das muß i' sagen! Fehlt ja g'rad' nur, daß mir alle vier 's Weinen anfangerten! Aber so is' net g'meint!« Er stand auf, griff die Flasche mit Punschessenz vom Schrank und kam zum Tisch zurück. »Frau Bang, was is' – können wir heißes Wasser kriegen – noch besser wäre a ganz a leichter Tee!«

Frau Marie Bang stand auf und nickte dabei. »Ja – ich will gleich welches machen – dann wollen wir d'rauf trinken, daß er uns gesund und glücklich wiederkommt …«

Sie wendete sich rasch ab und ging aus dem Zimmer, ohne sich umzusehen. Aber ihre Stimme, wie sie die letzten Worte gesprochen hatte, war fast gebrochen in einem jähen Weh.

Als sie draußen war, blickte Herr Franz Schneeberger ein paar Augenblicke sinnend auf die Flasche. Dann schüttelte er den Kopf, räusperte sich, stellte die Flasche hin und beugte sich weit vor über den Tisch zu Georg und Sephi.

Er setzte an, zu reden, räusperte sich noch einmal und langte endlich mit den braunen knochigen Fingern nach den Händen der beiden.

Und jetzt sprach er – seltsam rauh und heiser – in kurz abgerissenen Sätzen. Seine Augen sahen dabei starr auf das Tischtuch nieder, aber seine Finger griffen zitternd und doch fest um die jungen Hände.

»Kinder – der Mutter geht's nah – na ja – es is' amal so. Aber wir – net wahr? – wir dürfen's ihr net noch schwerer machen … Also Georg – Sephi – nehmt's euch a bissel z'samm' – i' mein' – laßt's euch nix merken! Macht's frohe G'sichter – wenn s' sieht, daß ihr nicht gar so Trübsal blasen tut's, dann fallt's ihr auch nur halb so schwer. Also gelt? Net wahr? – Na ja – also das gilt …«

Er richtete sich wieder auf. Und als sein Blick nun über die beiden ernsten, jungen Gesichter ging, aus denen ein tapferes Zusagen wortlos sprach, sagte er noch: »Na also – 's wird scho' geh'n – und i' geh' nur und schau, daß die Mutter 's Wasser richtig kocht – g'rad wie ma's braucht für den Punsch …«

Er ging.

In der Küche aber, wo er Frau Marie Bang mit tränennassen Wangen vor dem Herd fand, da sprach er nicht von dem Wasser, das im Emailtopf über der blauzüngelnden Spiritusflamme das Sieden lernen sollte. Aber den Arm legte er der Mutter Georgs auf die Schulter, und als sie da mit jähem Schluchzen zu weinen begann, da strich er ihr, als ob das selbstverständlich wäre, über die blassen Scheitel, und redete ihr zu wie einem Kinde:

»Aber Frau Bang – gengan S', Frau Bang … Wie ma' sich nur so nachgeben kann … Sie … a so a g'scheite Frau … No ja – no ja – lassen S' nur gut sein … aber geh'n S' – aber schau'n S' …«

Und als sie ruhiger wurde unter dem zitternden Streicheln seiner harten Hand, da sprach er weiter:

»Jetzt – Frau Bang – warum i' heraus'kommen bin: schau'n S' – dem Buben fallt's soviel schwer – ma sieht's ja. Mir sein die Alten – die Gescheiten – i' mein, wir müßten alles tun, daß's ihm net schwerer wird, als wie's g'rad nötig is' … No ja – also Frau Bang – nehmen S' Ihna halt a bisserl z'samm' – is' ja für ihren Buben! Spiel'n S' ruhig a bisserl Komödi – lachen S' amal – wann Ihna auch's Herz net g'rad' drum is' – gelt. Sie versteh'n, was i' mein'? – Na also …!«

Er nickte und sah in das blaue Flämmchen, das züngelnd an der Wand des Emailtopfes emporleckte. Und wie sich nun Frau Bang die Tränen trocknete, ließ er den Arm sachte von ihrer Schulter sinken.

Ein leises, singendes Summen strebte von dem kochenden Wasser auf und belebte den dämmerdunkelen Raum der Küche, von dessen Wänden die blankgescheuerten Zinn- und Kupferformen warme Reflexe sandten.

»Ja – wir haben jeder unser Teil zu tragen …« sagte er langsam. Dann sah er auf, ihr in die Augen. »Also Frau Bang …?«

Sie lächelte bei all' dem Schmerz, der noch auf ihren Zügen stand. »Ja – ich will mich zusammennehmen …«

»Na seh'n S' – i' hab's ja g'wußt …!« Und er ging in die Stube zurück und verkündete mit verheißungsvollem Gesicht, was für ein guter Punsch das werden würde mit dem famosen Tee, den die Frau Bang gleich bringen wollte.

Die Freude darüber, wie er die Kinder und die Mutter gegeneinander ausgespielt und ihnen allen so die wehe Herbheit dieser Stunde gemildert hatte, gab auch ihm neue Leichtigkeit. Beinahe verschmitzt sah er aus, als er das erste rauchende Glas zur Kostprobe an die schlürfenden Lippen führte und als er es dann, mit der Zunge schnalzend, wieder senkte.

Dann aber wurden die Gläser gehoben und klangen aneinander auf Georgs Zukunft, auf eine gute Fahrt und frohe Wiederkehr, auf Frau Marie Bang und – trotz der hastigen und kurzen Abwehr – auch auf Herrn Franz Schneeberger. Der war gesprächig, wie seit langem nicht – förmlich als entdeckte er mit Staunen ein neues ungeahntes Talent an sich selbst, so ungläubig hörte er, wie seine Stimme immer wieder zu diesem kleinen Kreis am Tische sprach. Von seiner eigenen Lehrlingszeit erzählte er, und von den Wanderungen als Gehilfe, von aller Größe des Berufs, dem Georg nun entgegengehen sollte, und von dem Leben draußen, jenseit der schwarzgelben Pfähle.

Und alle horchten zu und wußten doch: der Mann sprach nur, um ihnen die Stunde leicht zu machen, trat aus sich selbst heraus wie kaum jemals vorher, um sie über das Herbe wegzuführen. Nur wenn die Schwermut, die er bannen wollte, und die doch immer wie ein Hauch über der kleinen Runde lag, sich dichter ballte, und wenn er fühlte, daß er sie allein nicht zwingen konnte, dann traf sein Blick erinnernd, Hilfe suchend, Frau Bang oder Georg und Sephi, und siegreich hielten die ihr tapferes Versprechen und sprangen ihm mit ihren Kräften bei.

Um zehn Uhr etwa ging Herr Franz Schneeberger; er wollte Georg morgen früh mit auf die Bahn geleiten. – –

Der Morgen der Abreise kam – kam nach einer Nacht, in der der Schlaf die Menschen da oben in der kleinen Wohnung des stillen Hauses nur gestreift hatte, in der er nur ein paarmal zu kurzem Schlummer die Hand auf ihre Häupter gelegt hatte, wenn sie schon allzu wirr und müde waren vom ruhelosen Sinnen. Lange nach Mitternacht war Georg erst eingeschlafen. Als er nach einer Stunde wohl erwachte, sah er ins Angesicht seiner Mutter, die auf dem Rand des Bettes saß und durch das Dämmerdunkel auf ihn niederblickte.

Es hatte sie aufgetrieben – sie hatte ihren Buben, der diese letzte Nacht mit ihr zusammen unter einem Dache schlief, sehen müssen.

Lang' ehe es nötig war, war sie auch des Morgens schon in ihren Kleidern. Und als Herr Franz Schneeberger um sieben Uhr erschien, um alle zu der Fahrt zum Bahnhof abzuholen, da standen sie schon fertig angezogen, der Koffer war geschlossen, und selbst die Schinkensemmeln für die Reise waren schon wohlverpackt in Georgs Überrock.

Wieder wollte Herr Franz Schneeberger es mit dem Humor versuchen, aber heute langte die Kraft nicht aus. Die roten Augen der Frau Bang und Georgs bleiche Wangen sagten ihm, daß die Trennung ihr wehmütiges Recht sich nicht mehr schmälern ließe. Auch Sephi bot ihm nun keinen Beistand mehr, ihr durchsichtiges, zartes Gesichtchen, in dem die Augen in so feuchtem Schimmer lagen, sprach klar davon, daß auch sie nicht an Widerstand gegen ihr Fühlen dachte.

Zu viert saßen sie in dem geschlossenen Wagen, auf dessen Bock neben dem Kutscher der große braune Koffer lag.

Und so ging's durch die morgendlichen Straßen.

Frau Bang saß neben Herrn Schneeberger, die beiden anderen saßen gegenüber auf dem schmalen Rücksitz. Eng aneinander schmiegten sich ihre Arme, und doch sahen sie einander nicht an. Eine stille, reine Scheu war in ihnen, daß ihre Blicke sich nicht treffen mochten bei all der Zärtlichkeit.

Und draußen vor den Fenstern des Wagens zog zum letzten Male vor seiner Reise das Bild von Wien vor Georgs Augen hin.

Wien früh am Morgen, so wie er es in all den Jahren gesehen hatte, wenn er zur Schule ging. Und doch jetzt – heute schien's ihm anders. Mit tausend Armen schienen all diese Bilder, die vorüberzogen, nach ihm zu greifen, ihm zuzuwinken und ihn zu grüßen.

Ging er denn wirklich fort – sollte er denn wahrhaftig alles das – durch Jahre hin vielleicht – nicht wiedersehen? Die Gassen und Plätze, die Häuser und die Dinge alle, an denen doch sein ganzes bisheriges Leben hing?

Und da, im rollenden Wagen, der holpernd über das Granitpflaster der Vorstadtstraßen ratterte, ergriff Georg zum erstenmal der Schmerz des Menschen, der entwurzelt wird aus seiner Heimaterde.

Er hätte aufschreien mögen, so weh war ihm ums Herz. Er hätte bitten mögen: Nur einen Tag noch laßt mich hier! Daß ich noch einmal durch die Gassen gehen kann! – und sah doch nur mit stillem, blicklosem Auge hinaus und hielt die Lippen doch fest und wortlos aufeinander.

Nur den Arm Sephis spürte er an dem seinen und die Hand der Mutter, die herübergegriffen hatte, und nun seine Finger fest in den ihren hielt.

Zeitweilig sprach Herr Franz Schneeberger – wenige Worte, auf die er keine Antwort heischte:

»Und in Bodenbach is' Zollrevision, da machst' dein' Koffer auf, zum Versteuern hast' ja nix – aber nach'er, wenn noch Zeit is', dann schreibst' gleich a Karten an d' Mutter.«

Georg nickte. Wie wenn die Worte aus weiter, weiter Ferne zu ihm kämen, war ihm zumute; wie die Häuser da draußen, die Bäume und die fremden Menschen, die ihm auf einmal heute alle so nahe standen, zogen sie an ihm vorüber. Wesenlos beinahe und doch von einer schmerzlichen Wesenheit.

»Auf dem Bahnhof in Leipzig wird dich also jemand aus dem G'schäft von Herrn Gutkind erwarten – – mußt halt achtgeben, daß d'n net verfehlst.«

Wieder Stille in dem kleinen Raum – nur das Rattern der Räder und von draußen der tausendfältige Lärm der Straße. Und dann, ganz leise, das Schluchzen der Frau Bang.

Georgs Finger hielten die zuckende Hand der Mutter. Er sah auf ihren Schoß nieder, nicht in ihre Augen. Er wußte, daß auch ihn dann seine Tränen übermannen würden, sobald er nur die ihren sah.

Und nur Herr Franz Schneeberger sprach – sprach unbeholfen und doch aus vollem Herzen die gleichen Worte, die er ihr als Zuspruch und als Trost immer wieder sagte, wenn ein Schmerz sie ergriffen hielt und nicht lassen wollte:

»Aber Frau Bang – gengen S' – jetzt was wär das – a so a g'scheite Frau, wie Sie – –«

Doch Frau Marie Bang, die g'scheite Frau, schüttelte nur den Kopf, ihr war zumute, als sollte ihr ein Stück von ihrem Sein genommen werden in dieser Stunde, so weh, so blutig wund.

Dann hielt der Wagen.

Ein Träger kam herbei, öffnete den Schlag, grüßte und hob den Koffer vom Bock.

Herr Franz Schneeberger zahlte, zusammen schritten sie in die Halle, in der durch all das Drängen und Lärmen der Menschen soeben der Klang einer Glocke und die laute leiernde Stimme eines Kondukteurs ertönte, der zum Einsteigen rief.

Drängend und geschoben zugleich kamen sie auf den Perron.

»Wohin? – Nach Leipzig? – Durchgangswagen? – Jawohl, ganz vorn, bitt', ganz vor müassen S' geh'n.«

Und wieder strebten die vier Menschen weiter.

Da stand der Wagen. Herr Schneeberger stieg zuerst ein und belegte den Platz für Georg.

Draußen hielt Frau Bang indessen ihren Buben noch einmal umschlungen. Georg war sehr blaß, er fühlte, daß er seinen Schmerz jetzt niederringen mußte um jeden Preis.

»Mutter – von Bodenbach aus schreib' ich …«

»Und Georg – vergiß uns nicht …«

Er sah sie an mit vollem Auge. »Nie Mutter … nie!«

Jetzt kam Herr Schneeberger wieder aus dem Koupé: »Einsteigen, Georg – Zeit is' …!«

Und da tönte auch schon wieder die Glocke und das Rufen des Kondukteurs.

Einmal noch umarmte Georg seine Mutter. Sie küßte ihn. »Mein Bub, Gott segne dich …« Zitternd schlug ihre Rechte ihm das Kreuz über Stirn, Mund und Brust.

Neben Frau Bang stand Sephi.

»Georg – leb wohl – –« Und beide küßten sich und hielten sich für einen Augenblick umschlungen.

Dann noch ein kurzer Abschied von Herrn Schneeberger – die Stimme war ihm rauh – es war mehr ein halb unsicheres und halb gerührtes Brummen, was er da von sich gab.

Jetzt stand Georg im Wagen drin am Fenster.

Er sah heraus, sechs Augen hingen unverwandt an ihm. Er versuchte zu lächeln, so weh ihm war.

Fauchend blies die Maschine vorn den weißen Dampf zur Seite von sich.

Unten am Ende des Zuges wurden noch ein paar Türen zugeschlagen. Wieder ein Glockenschlag, ein Ruf: »Fertig!« Jetzt der Pfiff einer Signalpfeife, kurz und scharf.

Georg sah nur die Augen, die da auf ihn blickten.

Ein Zittern und Stöhnen ging durch den Zug, und nun kam Leben in ihn, und er rollte dahin, langsam, dann schneller, schneller – –

Still, unbewegt stand der Bub am Fenster; er sah die Tücher der Seinen wehen und versuchte noch immer zu lächeln und fühlte doch, wie ihm zwei Tränen die Wangen herunterliefen und wie der Schmerz sich ihm um den Mund und um die Kehle legte.

Jetzt sah er nur noch ganz entfernt ein weißes Flattern, jetzt legte sich die Rauchwolke auch vor den letzten Schimmer. Und der Zug lief schneller über das weithin hundertfach sich kreuzende Gewirr der Schienenstränge dahin.

Lange stand Georg so und ließ sich die Zugluft über die Wangen streichen. Als er sich auf den Platz in die Ecke setzte, hatte der Wind ihm die beiden Tränen weggetrocknet.

Er biß die Zähne aufeinander: Mut haben!

Was da draußen lag, das war das Leben – – da draußen konnte er sich erringen, was seinem Herzen als das Glück erschien!

Alle Männlichkeit ward wach in seinem Innern. Ich will mein Bestes geben! dachte er, und dann sah er, während die breite Landschaft der Donauauen vorüberstrich, die Augen vor sich, die ihm gefolgt waren bis zuletzt. –

So trat Georg Bang die Fahrt ins Leben draußen an.

* * *

Georg Bang war Lehrling im Hause A. G. Gutkind. Aber anders waren die Luftschlösser gewesen, die er sich einst zu Hause von seiner Tätigkeit und seinem raschen Vorwärtskommen, von seinem ganzen Leben hier in Leipzig erträumt hatte – anders war die Wirklichkeit, die ihn empfing, in ihre Arme nahm und hielt.

Gleich das Erste war so anders gekommen, als er es sich gedacht, als selbstverständlich ausgemalt hatte.

Nach zehn Uhr abends war der Zug in Leipzig endlich angekommen, und Georg, der wie gerädert war von der beinahe vierzehnstündigen Fahrt auf harter Bank, fühlte, wie ihn nun die Erregung neu belebte. Mühsam hob er den großen braunen Koffer aus dem Gepäckfach herunter und schleppte ihn aus dem Waggon hinaus auf den von mattem Licht beleuchteten Perron. Da stand Georg nun neben dem Koffer und spähte in das Gewirr der sich rings um ihn drängenden Menschen, ob er nicht einen Herrn finden könnte, der selber suchend durch die Menge schritt, ob er nicht irgendwo seinen Namen rufen hörte.

Aber da war nichts …

Immer noch drängten Menschen aus dem Zug und an den Zug heran. Da gab's ein Händeschütteln – dort ein Sichumarmen und Sichküssen. Hier rief ein Herr laut und mit fremdländischem Akzent in der Aussprache nach einem Träger, dort klang ein Rufen und jubelndes Lachen und Sicherkennen auf. Manchmal, wie die Menschen an ihm vorüberdrängten, hörte er ein paar Worte – wie Reden aus einer fremden Welt schlugen sie ihm entgegen, während er aufgerichtet, bleich und abgespannt, die Augen über all dieses Gewirre gleiten ließ.

»Nee – sowas! – ham Se sich ooch emal entschlossen, uns aufzesuchen?! Und de Frau Kemahlin – wie's pliehende Läben!«

Ein anderer – ein hagerer alter Mann mit gelbem verbissenen Gesicht und harter Sprache, und neben ihm ein zweiter kleiner, behäbiger, der jenem die Reisedecke trug und sich im Gehen wie um Entschuldigung bittend verneigte.

»Aberr Unsinn! – Ihrr Reisenderr hat gesaggt – Sie können liefern achttausend Perwitzki – schöne Felle fürr eine Marrk swansig …«

Die Flut der Menschen wurde schwächer – und immer mehr verlief sie sich. Nur an den Schranken des Perrons staute sich noch ein Knäuel. Und Georg stand immer noch und sah, ob denn keiner nach ihm blicke.

Da wurde er von hinten angeschrien. Postschaffner trieben einen Karren mit Paketen gerade auf ihn zu.

»Obacht: Heeren Se denn nich?! Wie laut soll mersch denn sachen? – Genn' Se Ihren Goffer nich beiseide duhn …?!«

Erschrocken fuhr er herum. Er verstand kaum die Worte, er erriet mehr, was die Leute wollten, und wieder griff er mit beiden Händen um die Handhaben des Koffers und zerrte ihn zur Seite, während die drei Männer den Karren auf seinen niedrigen massiven Rädern weiterstießen.

Aber kaum hatte sich Georg, noch erregt und ganz verwirrt, wieder aufgerichtet, als auch schon wieder neben ihm eine Stimme laut wurde:

»Wech da – wech da – chunger Herre …!« Und gleich darauf, während Georg noch wiederum an dem Koffer zerrte, ein hastiges Türenschlagen, der Pfiff der Lokomotive, der hallend durch den Raum tönte, und dann ein Knirschen und Rauschen, wie der Zug sich in Bewegung setzte und aus der Halle fuhr – hinaus in die Nacht.

Nun war's mit einem Male beinahe völlig menschenleer auf dem Perron. Und ein paar Lampen draußen erloschen, es wurde dunkeler. Nur der Beamte, der Georg zuletzt zurückgewiesen hatte und dann den Zug entlang noch weiter in die Halle hinausgeschritten war, kam zurück.

Da raffte Georg mit einem verzweifelten Ruck, und dem Weinen nahe vor Enttäuschung, seinen Koffer auf und schleppte ihn nach der Ausgangstür. Aber wie er dort seine Fahrkarte aus der Tasche zog und dann weiter wollte, da rief ihn knapp vor der Tür mit atemloser Stimme einer an:

»Sie – chunger Herr – sachen Se mal – sind Se vielleicht der Herr Pang? Cha? Nu, das is scheen! Mein Name is' Thienemann – Auchust Thienemann – von A. Che. Kutgind – hab ich's toch noch geschafft – nu da gomm' Se nur …«

Und hilfreich griff Herr August Thienemann, nachdem er Georg die Hand gegeben und ihn bewillkommnet hatte, mit in die Griffe des Koffers. Zusammen schleppten sie ihn so hinaus zur Pferdebahn.

Als sie da nebeneinander auf der Plattform standen und Georgs Blick müde und doch begierig über das nächtlich stille Bild der Straßen ging, durch die sie fuhren, fing Herr Thienemann noch einmal an, von seinem verspäteten Eintreffen zu sprechen:

»Säh'n Se, Herr Pang – peinah wär' ich ze spät gegomm' – aber nu cha, mit der Pfärdebahn hab' ich toch nich fahren möchen – is toch ooch wieder 'n Neikroschen …!«

Georg erwiderte nichts. Ihm war kalt, daß er fröstelte trotz der milden Nachtluft, die über allem lag. Und schwer und drückend legte sich ihm der Gedanke aufs Herz, daß sein Einzug in die Stadt, in der sein Leben nun durch Jahre wachsen sollte, nur darum so verzweifelt und so trostlos sich gestaltet hatte, weil Herr Thienemann zehn Pfennig hatte sparen wollen.

Das war die Fremde … An der Schwelle zu seinem neuen Dasein berührten Georg ihre Schauer und gruben ihm als ersten Gruß das Wissen ins Herz, daß er nun fern von allen Menschen, die ihm teuer waren, auf fremdem Boden stand, wo auch nicht einer war, mit dem ihn ein Gefühl verbunden hätte.

Neben ihm sprach indessen Herr Thienemann weiter. Er gab sich sichtlich Mühe, die Unterhaltung mit Georg in Fluß zu halten, redete auf ihn ein, fragte und erklärte die im Dunkel versinkenden Bauten, an denen sie vorüberfuhren, und lachte zeitweilig wie über einen gelungenen Scherz.

Georg verstand nicht alles, was sein Begleiter sagte. Der Dialekt, den er sprach, war ihm fremd, und er mochte doch nicht nach dem fragen, was ihm so entging. Er war mit einem Male so müde geworden und hatte nach all' den wechselnden Eindrücken des Tages nur eine Sehnsucht – Ruhe! Ruhe, um still daliegen zu können und die Gedanken weithin fortzuschicken aus all' dem Fremden, das da rings um ihn flutete, – nach Hause, zur Mutter und zur Sephi!

Aber die Stimme des freundlich schwätzenden Herrn Thienemann klang immer wieder:

»Nu, sachen Se, Herr Pang – und der Abschied von der Frau Mutter – da hat's wohl Drän'n kekeben? Ei cha nadierlich – das läßt sich denken! – is nu 'mal so – die haben immer e bißchen nah am Wasser kepaut, de Frauen – wenn's ooch nich' kerade so tief keht – is' nich soo?«

Und dabei lachte Herr Thienemann aus dem kleinen zarten Gesicht, krauste das rötlichbraune Bärtchen, das ihm in zwei runden Puffen zu beiden Seiten des Kinns saß, und blickte Georg aus den blanken, braunen Elsternaugen flink und blinzelnd an.

Endlich stiegen sie aus.

»Das 's de Waldstraße!« erklärte er.

Und nun griffen sie wieder beide um die Henkel des Koffers und schleppten ihn in die nächste Querstraße nach dem Hause, in dem Herr Thienemann wohnte, und die drei schon dunkelen Treppen hinauf.

Oben wurden sie von Frau Thienemann erwartet. Auf der Treppe schon klang ihnen durch die Finsternis deren Stimme entgegen:

»Auchust …?«

»Cha?«

»Pist tu's?«

»Cha!«

»Nu …? Is' er da?«

»Cha-cha freilich!«

»Nu also!«

Eine Küchenlampe mit rundem Blechschirm wurde im Rahmen der Tür sichtbar, und im Schatten dahinter stand mit behäbigem Lächeln Frau Thienemanns kurze rundliche Gestalt.

Als die beiden mit dem Koffer glücklich oben angelangt waren, musterte sie mit versteckten Seitenblicken den neuen Hausgenossen, während sie sich mit einer leisen Verlegenheit und dem vergeblichen Versuch, möglichst hochdeutsch zu sprechen, zunächst an ihren Mann wendete:

»Aber Auchust – so lang auszebleiben –! – Ich hab' schon kemeint, es is' dir e Unglück keschehen – –« Und zu Georg: »Nu cha – mer liest toch chetzt immer so viel – nich wahr? – alle Oochenblick keschieht irchendwo e Malheer – te Leite sind äben so unverninft'ch! – –« Sie faltete die Hände über dem Bäuchlein und räusperte sich diskret und verlegen. Dann setzte sie, unsicher von ihrem Mann zu Georg blickend, wieder zu sprechen an: »Also das ist der Herr Pang? Nu, sei'n Se mer recht herzlich willgomm', Herr Pang – cha – und nu gomm' Se nur – gomm' Se nur – daß 'ch Sie Ihre Schduhwe zeiche – mein Kott – kroß is' se cha nu' nich – aber nicht wahr? – wie mersch halt hat?! – Is' nich so? – Cha – und wenn' sich vielleicht 'n wenich zerechte machen wollen? – Nu, Auchust, hilf emal – soo – chaa – –«

Behende schritt die rundliche Frau Karola Thienemann den schmalen Gang entlang, an der sauberen Küche vorbei und öffnete eine Tür. Sie trat ein, zündete drinnen eine Kerze an und kam wieder zurück.

»Soo – das' dann Ihre Schduhwe, Herr Pang –« Erwartungsvoll blickte sie Georg an, der, ganz benommen von dem sprudelnden Wortschwall, nur nickte und sich anschickte, mit Hilfe des Herrn Thienemann seinen Koffer in das schmale längliche Kabinett zu schleppen. Und dann sprach sie weiter: »Cha – kroß is' cha nich – aber sauber – da gann Sie kee Mensch was sachen! Frisch geschdrichen is ooch – 's werd doch schon kanz drocken sein, Auchust? – Und es Bette is kut – und – nu cha – Schrang is' keener mehr hereingekang'n – nu, da häng' Se Ihre Sachen äben da auf den Riechel – da kann mer noch e krienes Tuch driewer machen – –. Na – chetzt will ich aber sähen – ich hab' noch 'was ze essen besorcht – cha – also wenn Se dann fert'ch sind – Herr Pang – –«

Sie nickte und schloß die Tür, und Georg war in seiner neuen Stube allein.

Er nahm den Hut, den er auf das Bett gelegt hatte, auf und hing ihn an den »Riechel« der Frau Thienemann, eine harmonikaartig auseinandergezogene Reihe von Kleiderhaken an der Wand. Dann sah er sich im Raum um. Nein – groß war das Zimmer wirklich nicht: drei Schritte breit und vielleicht sieben lang – viel mehr maß die ganze Herrlichkeit sicher nicht. An der Wand, knapp an das Fenster der unteren Schmalseite gerückt, stand ein Stehpult. An dieses reihten sich das Bett, ein Stuhl, der Waschtisch, auf dem die Kerze brannte. Das alles füllte den Raum bis zur Tür gerade aus. Dem Waschtisch gegenüber hing der »Riechel« an der himmelblau gestrichenen Wand – so, das war alles. Ein Schrank wäre wahrhaftig nicht unterzubringen gewesen.

Ein drückend schweres Gefühl lastete auf Georg, und mit einem Seufzer öffnete er den Koffer und begann sein obenauf liegendes Waschzeug herauszuholen. Seine Gedanken waren müde – nicht einmal schmerzlich. Nur, daß alles hier so anders war als zu Hause, das mußte er immer wieder denken. Und wie ein undurchdringlicher Nebel, vorstellungslos, erschien ihm die Zukunft, die vor ihm lag – er konnte nicht daran glauben, daß all das Neue, was ihn jetzt umgab, ihm eines Tages näherstehen, ein Stück der fernen Heimat sollte ersetzen können.

Er wusch sich. Als er gerade fertig war, klopfte es an die Tür. »Herr Pang – –?«

Georg öffnete – Herr Thienemann im bequemen Schlafrock stand vor ihm und blitzte ihn mit den vergnügten dunkelen Augen an.

»Nu – fert'ch?«

»Ja.«

»Dann gomm' Se nur, daß uns die Bemm' nich galt werd'n!« Er lachte über sein Scherzwort, das Georg nicht verstand, und schritt voraus in das schief gegenüber gelegene Wohnzimmer, in dem Frau Thienemann mit über dem Bäuchlein gefalteten Händen und behaglichem Lächeln schon vor dem gedeckten Tisch wartete. Es war ein freundlicher Raum, dem die gestreiften weißen Vorhänge vor dem Fenster und die vielen gestickten Decken und Deckchen auf allen Möbelstücken den Ton pedantischer Nettigkeit gaben.

Frau Thienemann sprach ein Willkommen zur ersten Mahlzeit und ließ sich dann auf das braune Ripssofa nieder. »Und nu lang'n Se zu, Herr Pang – hoffentlich werd Sie 's ooch gut munden – –«

Als Georg auf seinem Sessel gegenüber noch zögerte, legte sie ihm selbst zwei von den mit dünnen Wurstschnitten belegten Butterbroten auf den Teller und häufte ihm eine Portion von dem »Häringssalad« daneben, der in einer runden, waschbeckenartigen Schüssel angerichtet war.

Herr Thienemann, der schon neben seiner Frau Platz genommen hatte, sah nun fragend auf diese und erhob sich wieder. »Garolachen, aber e Fläschche Bier sollten mer drinken!«

Und, da sie gewährend nickte, verschwand er in die Küche und brachte Gläser und Flaschen herein.

Er schenkte ein und hob sein Glas. »Nu – bröstchen, Herr Pang! Auf eene kute Zugunft …«

Frau Thienemann und Georg stießen an.

Georg wollte kaum ein Schluck durch die Kehle. Wie seltsam das alles war. Nun klangen hier die Gläser, und gestern hatten sie in Wien geklungen. Wie hinter einem Schleier stand das Bild vor ihm: die Mutter mit dem tapferen Lächeln über dem versteckten Schmerz, Sephi und Herr Schneeberger. Das liebe alte Zimmer, die Lampe und die punschgefüllten Gläser mit ihrem heißen Leuchten – –. Gestern erst? Wie wenn es lang', viel länger zurückläge, war es ihm nun in seiner von den tausend Eindrücken des Tages erschöpften Phantasie.

Langsam kam das Gespräch in Gang. Georgs neue Wirte fragten, und er antwortete. Von der Reise mußte er erzählen und von dem Abschied zu Hause und von dem Eindruck, den er auf der Fahrt vom Bahnhof hierher von der Stadt gewonnen hätte. Dann sprachen auch die beiden. Frau Thienemann erzählte, daß sie den schönen aus Eisenblech geschnittenen und so natürlich bemalten Pudel, der als Ständer für die Kohlenzange vor dem Ofen saß, zum letzten Weihnachten von ihrem Manne bekommen hätte, und daß sie ihm dafür ein »Gissen« gestickt hätte »mit ›Nur ein Viertelstündchen‹, aber 's is' nadierlich nich so zum D'raufschlafen, dafür wär's doch ze schade, 's liecht driewen in der ›Kuden Schduhwe‹.«

Und das gab Anlaß, Georg einen Blick in diese »Gute Stube« zu gestatten, in der unter Glas und Rahmen der Brautkranz der Frau Karola Thienemann prangte, und in der sich auch ein Bücherschrank mit vielen schön gebundenen Werken befand. Von dem übrigen Mobiliar war nicht viel zu sehen, denn das war durchweg unter weißen Überzügen und Schutzhüllen verdeckt.

Auch Herr Thienemann war beredt, wenn seine Frau ihm eine Pause ließ zum Sprechen. Er sagte Georg, daß er selbst einmal Lehrling bei Herrn Gutkind gewesen sei – das wäre freilich schon zwanzig Jahre her – daß Herr Gutkind ihm aufgetragen hätte, den jungen Bang in dem Geschäft selbst anzuweisen, und daß die Arbeit schon morgen losgehen sollte.

Als man sich nach dem Essen trennte, war es nahe an Mitternacht, und Georg war so müde, daß er die Augen nur mit Mühe offen hielt. Schon während dieser Mahlzeit mit all den Reden und Fragen hatte ihn eine heiße Sehnsucht nach Ruhe und Alleinsein ergriffen. Als er nun beim Schein der Kerze in dem kleinen schmalen Zimmerchen stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff es ihn wie Dankbarkeit gegen die engen himmelblauen Wände hier; er fühlte, daß, was auch im Leben draußen kommen mochte, er hier doch eine kleine Stätte hatte, wo er mit sich und den lieben Bildern seiner Erinnerung allein sein konnte, wo er sein Herz ganz auftun durfte, ohne daß ihm ein Fremder in sein geheimes Träumen blickte. Er trat an das Fenster und sah hinaus. Da lag vor ihm im Dunkel ein Garten hingebreitet – Bäume und Sträucher, dazwischen Wege und Lauben. Die hellen Mauern eines kleinen villenartigen Hauses stiegen da drüben auf. Das war schön …

Langsam kleidete er sich aus und ging zu Bett. Dann lag er still noch eine Weile im Dunkel.

Was die zu Hause jetzt wohl tun mochten – die Mutter und Sephi. Ob sie schliefen? Oder ob sie auch an ihn dachten, wie er an sie?

Der Gedanke tat ihm wohl, und der blieb bei ihm, bis ihm die müden Lider zufielen zum ersten Schlaf in der Fremde …

Am Tage darauf aber begann die Arbeit.

Früh morgens schon klopfte es draußen an Georgs Tür. »Herr Pang!«

Aber so früh auch die Stunde war, Georg war schon auf. Er war völlig angekleidet, stand an dem Stehpult neben dem Fenster und schrieb mit Bleistift auf ein Blatt Papier an seine Mutter. Der Brief sollte gleich bei dem ersten Ausgang in den Kasten, damit sie sich nicht sorgte, damit sie wußte, was er bisher erlebt hatte, und wie ihm all' das Neue erschien. Georg schrieb diese Zeilen voll Zuversicht, er wußte, daß er der Mutter das Herz nicht schwer machen durfte, und sah auch wirklich bei aller Sehnsucht nach den Seinen dem Kommenden mit Hoffnung und allem guten Willen, sein Bestes einzusetzen, entgegen.

Im Wohnzimmer traf er seine Wirtsleute, und da wurde auch gemeinsam das Frühstück genommen, Brötchen und ein seltsam dünner Kaffee, von dem Herr August Thienemann behauptete: »Aber Garolachen, heite hasd'n awer schdarg kemacht – das's cha der reene Mogga!«

Worauf Frau Karola die Augen niederschlug und den Kopf in die Schultern zog, daß ihr Doppelkinn sich breit in weicher Rundung faltete. Und behaglich lächelnd, langsam, als überlegte sie jedes Wort mit Bedacht, meinte sie dann: »Tcha Auchust – wenn mer e' chung'n Wiener ze Tische hat – de Herrn sind oft eichen – da muß mer toch zeichen, was mer gann – is' nich so? – Nu also …«

Sie nahm einen kleinen Schluck und setzte die Tasse wieder ab. »Kesund gann's freilich nich' sein – kib' nur acht, Auchust, un' drink nich so viel, daß de dich nich aufrechst – awer weil's toch 's erstemal ist – cha …« –

Zusammen schritten dann Herr Thienemann und Georg nach dem Geschäft. Es war wohl eine halbe Stunde Wegs, die sie da bis zur Poststraße zurückzulegen hatten, in der die Kommissions- und Verlagsbuchhandlung von A. G. Gutkind lag. Sie füllte das Parterre eines alten, grauen Hauses, und schon von der Straße aus zeigte Herr Thienemann Georg die lange Fensterreihe des Kontors. Die beiden letzten dieser Fenster waren mit wohlgepflegten Blumen bestellt.

»Das's das Privatgondoor!« erklärte Herr Thienemann mit Wichtigkeit. »Und Herr Kutgind is ooch schon da – da genn' Se sein' Gopp säh'n …«

In der Tat sah Georg, der erwartungsvoll nach dem gewiesenen Fenster blickte, das Profil eines ältlichen, auffallend häßlichen Männerkopfes, der eine Stummelpfeife im Mundwinkel hängen hatte und mit niederschauenden Augen über Skripturen gebeugt war.

Zwischen Stapeln von Kisten und Körben, Bücherballen, Handkarren und Rollen von Packleinwand schritt Georg neben Herrn Thienemann durch die Einfahrt des Hauses, den Hof und die Packräume. Überall war schon reges Treiben, obwohl es noch nicht acht Uhr morgens war. Markthelfer in Hemdärmeln und mit hohen seidenen Ballonmützen, wie Georg sie niemals vorher gesehen hatte, Rollknechte und Burschen hantierten lärmend da herum, grüßten und sahen Herrn Thienemann und ihm ein paar Augenblicke neugierig nach, ehe sie wieder an die Arbeit gingen. Auch ein paar Gehilfen und junge Leute, nur wenig älter als er selbst war, sah Georg. Und hinter sich hörte er einmal eine Stimme:

»Du, Adolf – das's der Neije!«

Eine herbe Befangenheit ergriff Georg inmitten dieses Treibens, das ihm so fremd war und das ihn doch nun aufnehmen sollte. Ganz, ganz anders hatte er sich das alles gedacht – viel stiller, ruhiger – so etwa, wie es in der Buchhandlung des Herrn Schneeberger war …

Durch eine breite Schiebetür kamen sie in das Kontor, in dem an lang hingereihten Stehpulten eine Anzahl von Herren arbeitete. Wieder das kurze Grüßen und dann Stille, durch die nur das Rascheln der Papiere drang und hier und da das Scharren von Füßen.

Immer enger legte sich Georg das Bangen um die Kehle.

»So, nu' woll'n mer kleich zu Herrn Kutgind gehen,« meinte Herr Thienemann, als sie die Hüte abgelegt hatten. Und da war er mit einem Schlage wie umgewandelt.

Er zupfte nervös an seinem Bärtchen, rückte sich die Krawatte zurecht und schien vor Respekt und Dienstfertigkeit förmlich ein anderes Gesicht zu bekommen. Dann schritt er voran zu einer Seitentür, klopfte und trat mit mehreren eiligen Verbeugungen, gefolgt von Georg, dem das Herz heftig schlug, in Herrn Gutkinds Privatkontor.

Das wütende Gebell eines Hundes, das dann in ein asthmatisches Husten des Tieres überging, empfing die beiden.

Herr Gutkind sah, ohne den Kopf zu heben, mit hochgezogenen Brauen unter der Brille hervor von seiner Arbeit auf, nahm langsam die Stummelpfeife aus dem Mund und nickte den Eintretenden zu. Dann sprach er zu dem alten fetten Dachshund, der auf einem verschossenen grünen Fauteuil neben seinem stehenden Herrn hockend, das asthmatische Gekläffe von sich gab:

»Awer Männe – na, nu-nu! Was wär' denn das, Männe? Nur scheen ruhich, mei' Hundche' – scheen ruhich – cha. – So is' brav – das is' e braves Hundche' …«

Und wie der Hund nun mit dem Schweife wedelnd gegen den schmutzigen Polsterstuhl klopfte, lächelte Herr Gutkind dem Tier freundlich zu und fuhr ihm mit der Linken ein paarmal zärtlich streichelnd über den Kopf. Und dabei kam es Georg, der erwartend auf seinen neuen Chef blickte, vor, als wäre dessen Gesicht gar nicht so furchtbar häßlich, wie es ihm anfangs geschienen hatte, als läge unter all dieser zerknitterten Seltsamkeit der Züge noch ein zweites, ganz anderes Gesicht.

Erst als das Tier sich völlig wieder beruhigt und erholt hatte, hob sich der Blick des Herrn Gutkind wieder zu Herrn Thienemann und Georg.

Herr Thienemann wollte sprechen, aber sein Chef machte nur eine abwehrende Bewegung mit der Rechten, die noch immer die braune kurze Pfeife hielt – und er schwieg und pendelte nur zweimal hastig und devot mit dem Oberkörper vor und zurück.

»Also das's der chunge Pang?«

Georg nickte. »Ja …«

»Gomm 'mal her – laß dich ansehen.«

Georg trat näher.

Eine ganze Weile sah Herr Gutkind mit vorgelegtem Kopf, die Stirn in krause Querfalten gelegt, unter der Brille hervor seinem neuen Lehrling in die Augen. Georg wurde rot dabei, und wiederum war ihm beklommen zumute. Er fühlte, wie der Hund auf seinem Fauteuil ihn unterdessen beschnupperte, wie die kleine kalte Nase des Tieres an seine niederhängende Hand streifte.

Dann nickte Herr Gutkind, »'is kut – wie heißt de doch mit 'm Rufnamen?«

»Georg …«

»Cheorch?«

»Ja.«

»Also Cheorch, du bist von heute ab Lehrling bei mir. Mein Gommittend, Herr Schneebercher, hat dich warm empfohlen – mach seiner Empfehlung Ehre – verstanden?«

Georg sah während dieser Worte unverwandt auf Herrn Gutkinds Augen, die, wie der so heraufsah, halb verdeckt waren von den oberen Augenlidern. Er nickte, ohne den Blick abzuwenden. »Ja, Herr Gutkind.«

Und der fuhr fort: »Du wirst hier auch nebenbei die Handelsschule am Geeniksblatz besuchen – ich hab das alles mit Herrn Thienemann schon besprochen …« Sein Auge ging wie nach Bestätigung suchend nach dem Gehilfen hinüber, und der pendelte wiederum hastig und devot zwei-, dreimal mit dem Oberkörper vor und zurück.

»Cha – der gann dir also alles Net'che sachen. Und überhaupt, halt dich nur an Herrn Thienemann, der ist auch ämal Lehrling bei mir kewäsen – Auchust, wie lange bist de chetzt pei mir?«

Georg warf einen raschen Blick auf Herrn Thienemann. Ganz rot übergossen stand der da.

»Zwanzich Chahre – Herr Kutgind – cha –«

Herr Gutkind steckte die Pfeife wieder in den Mund. Er zog – sie war ausgegangen. Da rieb er ein Streichholz an und setzte sie wieder in Brand.

»Soo – pph – pph –, soo – pph – pph – zwanzich Chahre – hm – hm …« Und dann ließ er den Kopf wieder vorsinken über die Kontoblätter, die auf seinem Stehpult lagen, griff nach der Feder und tauchte sie ein. Die Züge des Gesichts kniffen sich wiederum enger zusammen. Er schien schon wieder völlig bei seiner Arbeit zu sein; die beiden, die da vor ihm standen, waren ihm darüber wohl ganz aus dem Sinn gekommen.

Sekunden vergingen.

Dann plötzlich sah er, ohne den Kopf zu rühren, unter der Brille vor, noch einmal auf.

»Cha …?! Is noch was …?«

Herr Thienemann blickte fragend auf Georg und dann auf seinen Chef. »Nee, Herr Kutgind – ich wißte nich' …«

»Nu also!« Herrn Gutkinds Blick senkte sich wieder auf die Kontoblätter nieder.

Herr Thienemann aber retirierte, unter zahlreichen raschen Verbeugungen gegen den wieder emsig in seine Arbeit Versenkten, zur Tür und schob Georg vor sich aus dem Zimmer.

Als sie draußen waren, kam es Georg erst zum Bewußtsein: nicht einmal die Empfehlungen des Herrn Schneeberger hatte er seinem neuen Chef ausrichten können.

Herr Thienemann war etwas verlegen – aber er sagte nichts dergleichen. Er führte Georg zunächst von Pult zu Pult und stellte ihn den Herren als neuen Lehrling vor. Ein kurzes Zunicken hier – ein paar Fragen nach Herkunft und Reise dort – einer reichte ihm die Hand, das war noch das Schönste. Georg war der Kopf schon wirr von all den Namen, die er bei diesem Gang durch das Kontor und dann weiter draußen durch die Pack- und Expeditionsräume hörte. Auch seine »engeren Golleechen«, die beiden anderen Lehrlinge, wurden ihm gezeigt.

»Das hier, das 's ›unser Ältester‹, der Adolf Winkler – der lernt ze Ostern aus, und das 's ›der Zweite‹, der Hucho Peeter – der Sohn von unserm Obermarkthelfer …«

Mit einem Gefühl, das sich aus Respekt und Zagen mengte, sah Georg auf die beiden, die doch nur wenig älter waren als er selbst. »Der Älteste«, ein blonder, stämmiger aber kleiner Bursche mit einem ein wenig groß geratenen Gesicht, blickte ihn freundlich an. Wir werden uns schon gut vertragen, stand in dem Blick zu lesen. »Der Zweite« aber, ein dicker rotbackiger Bengel, der förmlich eingezwängt war in ein viel zu enges, verwachsenes Arbeitsjäckchen, sah aus den kleinen dunkelen Augen mißtrauisch auf den »Neijen«, der da nun künftig als »Jüngster« lernen sollte.

Auch durch die Räume alle führte Herr Thienemann seinen Schutzbefohlenen. Auf dem »Lacher« drüben, einem breiten saalartigen Raum, der ganz vollgestellt war mit Bücherstapeln, Ballen und zwischen Bretter verpackten rohen Bogen, sah er sich einmal vorsichtig nach allen Seiten um. Und als er sich überzeugt hatte, daß er mit Georg allein war, zwischen diesen Wällen und Schanzen aus Papier, zupfte er wiederum an seinem Bärtchen, das zu beiden Seiten des Kinns in zwei krausen rötlich-braunen Püffchen stand, und lächelte halb verlegen, halb überlegen:

»Sachen Se mal, Herr Pang – das 's Ihn'n wohl aufkefallen, daß der Herr Kudgind ›du‹ auf mich kesacht hat?«

Und da Georg schwieg und nur fragend Herrn Thienemann ansah, fuhr der eilig und mit vertraulicher Eindringlichkeit fort: »Cha – wissen Se, das 's äben ooch so 'ne Eichenart von ihm – ei cha – eichenart'ch ist er schon … aber nich wahr, wenn man doch zwanzich Chahre in so 'nem Haus ist –. Damals bin ich doch ooch als Lehrlink einketräten, da hat er ›du‹ auf mich kesacht. Nu und später, wie ich nachher hab' ausgelernt kehabt, da bin ich äben im Hause keblieben als Gehilfe – ich hab damals ooch kemeint, ich bring's noch weiter. Cha nu – wie er mich so immer um sich kesähn hat – wie 's nu einmal ist – da hat er eechal weiter ›du‹ auf mich kesacht …«

Ganz rot war Herr Thienemann geworden. Nur zerrten, während er weitersprach, seine Finger an dem Ende eines Strickes, das von der Verschnürung eines Ballens niederhing.

»… nu – ich gann's ihm doch nich' sachen … Schließlich nähm' er's am Ende gar ibel – eichen is er äben. Und wissen Se, Herr Pang, ich bin der eenz'che nich', dem 's so kegang'n is im Hause …«

Georg nickte nur. Wie anders hatte er sich alles das gedacht in seinen Träumen.

Da war ein Mann, der seit jetzt zwanzig Jahren Herrn Gutkind ein getreuer Helfer war. Und allen Dank dafür trug er am letzten jeden Monats in seinem wenig schweren Portemonnaie nach Hause.

Ein herzliches Verstehen mit dem Mann, dem er so lange Jahre diente? Ein engeres Zusammengehören? Nichts war davon vorhanden. Herr Gutkind war der Chef, Herr Thienemann war die bezahlte Kraft, und näher waren sie sich in den zwei Jahrzehnten nicht gekommen. Die Tür, die in das Privatkontor des Herrn Felix Gutkind führte, schied beide Leute, den alten Junggesellen, der es nicht bemerkte, daß er den reifen Mann da draußen duzte, und den Herrn August Thienemann, der sich so ängstlich um den Platz an seinem Arbeitspult sorgte, daß er nicht wagte, von jenem die Anrede zu fordern, die ihm ganz selbstverständlich gebührte. –

Herr Thienemann hatte Georg die erste Arbeit zugeteilt: er sollte die von der Buchhändlerbestellanstalt eingelaufenen Skripturen, Prospekte und Anzeigen aller Art an die einzelnen Kommittenden der Kommissionsbuchhandlung A. G. Gutkind verteilen.

Nun stand Georg schon seit zwei Stunden in dem Expeditionsraum vor dem riesigen Schrank, der hundertundfünfzig Laden und ebensoviel Firmennamen wies, hielt einen Pack von Zetteln in den Händen, las jedes Zettels Aufschrift und schob ihn dann ins Fach des Adressaten. Und kaum eine Handvoll von den dünnen Blättern hatte er in den zwei Stunden glücklich verteilt. Vor ihm aber türmte sich am Fuß des Schrankes noch ein ganzer Berg solcher Skripturen, die alle der Verteilung harrten.

Und während er so stand und all die Drucksachen und Notizzettel, die Bestellbriefe, Abschlußformulare und Reklamen verteilte, die aus allen Städten des Reiches und von noch weiter her nach Leipzig als dem Herzen des Buchhandels der deutschsprachlichen Länder flattern, von da aus wieder in alle Welt zerstiebend, da fühlte er, wie ihm die Blätter durch die Finger glitten, daß er nun selbst ein Rädchen war in diesem weiten Treiben. Um ihn hallte der Lärm der Arbeit. Dort an den großen Fächern, in denen die Büchereinläufe für die einzelnen Firmen angesammelt wurden, hockten Gehilfen und riefen mit lauten Stimmen die Namen der Verleger, von denen Sendungen gekommen waren. An den schmalen Stehpulten vor den Fenstern standen Adolf Winkler, »der Älteste«, mit der kurzen, stämmigen Gestalt, dem großen Kopf und den ein wenig krumm geratenen Hosen, und Hugo Peter, der dicke »Zweite«, der schier aus dem zu engen Jäckchen platzte, strichen die Verlegernamen auf großen blauen Avisen an und wiederholten taktmäßig, was ihnen zugerufen wurde. Dazwischen hasteten die Markthelfer und die Burschen eilig ab und zu. Sie schnürten die Stöße von Packeten in Ballen ein. Sie malten mit schwarzer Farbe Signaturen auf die Sendungen, nagelten Kisten zu und fluchten dazwischen, wenn im Hofe die schweren Schritte der Frachtfuhrleute schallten und die niederen eisernen Räder der Stechkarren über die Schwelle herein in den Expeditionsraum ratterten und noch nicht alles fertig war. Ein helles, halb gutmütiges Schreien, halb bösartiges Schimpfen schwirrte da immer wieder durch die Luft: »Obacht!« – »Beene wech!« – »Himmel! Herrgott! Gottverdammich!« – »Was wollt'r? De Frachtbriefe?« – »Chohann! Na werd's!« – »Eechal de gleiche Schweinezucht!«

Ganz schwindlig ward es Georg in diesem Treiben. Er legte Zettel um Zettel in die dafür bestimmten Fächer und fühlte, wie's mit jedem Blättchen, das er versorgt, ihm schwerer wurde in der Brust und ums Herz. War's hier nicht so wie gestern abend auf dem Bahnhof?

Die Einsamkeit griff hart und mitleidlos nach ihm. Mutter! dachte er, Mutter! – aber da ertappte er sich, wie er eben eins von den Zettelchen in ein falsches Fach legen wollte, und schreckte auf und würgte das Weh hinunter und wollte nur an seine Arbeit denken.

Gegen Mittag brachte der Briefträger einen Brief für Georg. Mit zitternden Händen nahm er das Schreiben der Mutter und schob es hastig in die Tasche. Dann wendete er sich seiner Arbeit wieder zu. Um alles nicht hätte er den Brief jetzt in dem Trubel lesen können. Aber er brannte ihm in der Tasche; er ließ ihm die Zeit lang werden, bis es endlich zwölf Uhr schlug.

Pünktlich auf den Glockenschlag kam Herr Thienemann aus dem Kontor. »Nu woll'n mer kehen, Pang, damit uns das Essen ze Hause nich galt werd.«

Und Georg legte mit einem Aufatmen die Zettel beiseite, wusch sich und trat zusammen mit Herrn Thienemann den Heimweg an. Aber während dieser zu Georg sprach, hörte Georg nur zerstreut auf alle diese Worte. Seine Gedanken waren bei dem Brief der Mutter, den er noch uneröffnet in der Tasche trug, und all' sein Sehnen galt einer kurzen Einsamkeit, damit er das Schreiben, ganz bei ihr in seinem Fühlen, lesen konnte!

»Leibz'cher Allerlei« hatte Frau Karola Thienemann mit Nachdruck gesagt, als sie die große waschbeckenartige Schüssel – dieselbe, die Tags vorher den »Härinkssalad« beherbergt hatte – mit dieser in allen Farben schillernden Gemüsebrühe hereingetragen hatte, und in ihren freundlichen Augen, auf den dicken rosigen Wangen und um das breite, bei jedem Schritt leise erzitternde Doppelkinn war dabei förmlich ein Leuchten gewesen von freudigem Stolz. »Nu cha, Auchust, mer muß dem Herrn Pang doch unsre Leibz'cher Nazch'onalkerichte zeichen, 's ist doch wahr – nicht?« Und zu Georg: »Cha, Herr Pang, und da genn' Se iberall frachen, soo wie bei Thienemann's werd'n Se das Leibz'cher Allerlei nich' oft kriechen. Lauder kanz chunges Kemiese – un' sauber un' fein keputzt, nich' nur, wie mersch sonst vielleicht manchmal sieht bei die Leite … cha …«

Und Herr August Thienemann nickte zu den Worten seiner Frau mit ernstem Gesicht, während er die Serviette entfaltete und sich Gabel und Löffel zurechtlegte.

»Cha, Garolachen, cha, das 's kewiß wahr …«

Mit Mühe würgte Georg das Essen hinunter. Ihm war die ganze Art der Zubereitung so ungewohnt …

Und dann, während Herr Thienemann die Zeitung vornahm und das Tageblatt, zu dessen Lektüre er des Morgens meist nicht kam, bei einer Zigarre, behaglich in die eine Ecke des braunen Ripssofas gedrückt, durchstudierte, ging Georg hinüber in seine kleine Stube.

Wie eine Befreiung erfüllte es ihn, als er die Tür hinter sich schloß und nun allein in diesem schmalen himmelblauen Raum stand. Das Fenster stand weit offen, und aus dem herbstlich dunkelen Grün der Bäume und der Hecken, die sich da drüben in dem Garten breiteten, klang leise der Nachhall sprechender Stimmen herauf. Schmale weiße Fußwege führten zwischen den grünen Flächen hin, und die hellen Mauern des kleinen villenartigen Hauses lagen in warmer Sonne.

Georg trat zu dem braunen Stehpult am Fenster und sah still hinaus. Seine Hand hielt in der Tasche den Brief der Mutter umgriffen. Und er dachte an sie, die nun vielleicht von ihrem hohen Fenstersitz aus den Blick hinunterwandte auf die beiden alten mächtigen Kastanienbäume und dabei an ihn denken mochte – wie er an sie. Aber dann sah er neben ihr Sephis zarte Gestalt … das feine Köpfchen mit dem spröden Blondhaar, das Trauerkleidchen …

So sehr erfüllt war er von ihrem Bilde, daß er rot übergossen und wie beschämt einen Schritt von dem Fenster zurücktrat, als unten, zwischen dem Grün des Gartens da drüben, ein paar Gestalten sichtbar wurden.

Dann las er den Brief der Mutter – einmal und wieder. Er fühlte, wie es ihm die Kehle zusammenschnürte und wie die Augen ihm feucht wurden.

»Mutter – Mutter!« sagte er vor sich hin.

Jedes Wort des Briefes prägte sich ihm ein. Wie gut sie war. Wie sie für ihn sorgte und dachte – auch jetzt, da er ihr fern war! Und alle diese lieben Fragen, die neben all' dem anderen standen – neben den Ermahnungen, daß er sich nicht erkälte und daß er gehörig esse, neben der Sorge, ob das Bett auch gut sei, und neben der leisen Angst, ob er sie nicht doch vergessen werde unter all' dem Neuen, das ihn jetzt umgab und auf ihn eindrang … Auch Sephi hatte dem Brief der Mutter etwas hinzugefügt. Wenige Zeilen nur, Grüße, und daß sie viel an ihn dächte, und daß es so schön gewesen wäre, als auch er noch zu Hause war.

Als ein Stück der geliebten fernen Heimat stieg es in ihm aus den beiden Blättern des Briefes auf und füllte ihm die Einsamkeit der himmelblauen Stube. Beinahe zärtlich sah er dann über den schmalen Raum – gewiß, hier war ein stiller Winkel, den er mit seiner Welt beleben konnte, hier ließ es sich träumen.

Sein Blick fiel auf den braunen Koffer des Herrn Schneeberger. Der stand noch immer halb gefüllt unter dem »Riechel« an der Tür. Da schritt Georg hin und begann seine Habe auszupacken. Langsam holte er Stück um Stück aus der Tiefe des Koffers. Wie wenn all' die Liebe, die Frau Marie Bangs mütterliche Hände mit diesen schlichten Dingen hier niedergelegt und ihrem Buben mit auf den Weg ins Leben gegeben hatte, nun auferstünde und ihn umfinge, so griffen ihm dabei die Sehnsucht und eine heiße, hingebende Dankbarkeit ans Herz. Mit streichelnden Händen ordnete er die Wäsche in den Schubladen des Waschtisches, und liebevoll stellte er die Bücher auf den kleinen Aufsatz des Stehpultes am Fenster. Wie die Mutter an alles gedacht hatte, was er liebte – so gut … Da war auch Herrn Heinrich Gerolds Bild in dem schmalen Holzrähmchen. In der Wand stak über dem Pult ein kleiner Nagel – da sollte es hängen. Es sollte ihn ansehen, wenn er hier an die Mutter oder an Sephi schrieb, es sollte auf ihn blicken, was immer er tat …

Und dann scholl wieder das Klopfen an der Tür, und die Stimme des Herrn Thienemann erklang:

»Pang – 's ist Zeit – halb Zwei – mer wollen kehen!«

Da ging Georg; das Tagewerk der Arbeit lief weiter, und das schmale himmelblaue Zimmer, dessen Fenster hinaus auf den stillen Garten ging, stand leer bis zum Abend.

* * *

Und so war Tag um Tag gegangen. Was Georg anfangs neu gewesen und so fremd, daß er es mit erstaunten Augen sah, das wurde Alltag. Die Dinge liefen ruhig weiter ihren Gang, und keins nahm viel Rücksicht auf den jüngsten Lehrling des Hauses A. G. Gutkind – mochte er sich zurechtfinden in ihrem Lauf – das würde schon kommen – das war noch bei jedem gekommen. Bei dem einen leichter und eher, bei dem anderen schwerer und später. Je nach dem Material, daraus der oder jener war, je nach der Eigenart und Wesenheit des Menschleins, das in den mächtigen Betrieb des mit dem Schlag der Uhr sich unerbittlich weiterschiebenden Geschäftslebens geriet. Mürbe ward schließlich jeder, und jeder fand schließlich sein Plätzchen oder seinen Platz, auf dem er sich mit dem Getriebe abzufinden suchte – auch Georg.

Anfangs, da hatte er gemeint, daß er es nicht ertragen könnte. Aber tapfer hatte er dann die Verzagtheit immer wieder niedergerungen, und dann ging es bald besser, dann sah er den Weg vor sich, wenn er auch rauh und steinig war.

Gerade die ersten Tage, die ersten Wochen waren am schlimmsten gewesen. Da hatten ihn die Sehnsucht nach Hause, das Heimweh und die Verlassenheit oft so hart angepackt und ihm ans Herz gegriffen, daß er hätte laut schreien mögen. Aber er würgte es hinunter. Und nur einmal, da die vielstundenlange monotone Arbeit am Zettelkasten ihn schier überwältigte und da der Berg von ungeordneten Skripturen und Drucksachen am Fuß des Schrankes immer höher wuchs, daß Georg schon ganz verzagte, jemals noch dessen Herr zu werden, da waren Sehnsucht, Schmerz und Einsamkeit doch überstark in ihm geworden. Wie es gekommen war – er hätte es selbst nicht sagen können. Aber so kraftlos, so verzweifelt fühlte er sich mit einem Male wie nie zuvor. Da legte er das Päckchen Zettel langsam aus der Hand und schritt mit schluckender Kehle und mit weit offenen starren Augen weg von dem Schrank. Ohne irgend jemand von all' den arbeitenden, hastig rufenden und schaffenden Menschen ringsumher anzusehen, ging er, gleich einem Traumwandler, durch dieses Treiben hinüber auf das »Lager«. Unwiderstehlich trieb es ihn nach jener Stelle, an der, verschanzt durch Bücherstapel, Ballen und Kisten, Herr August Thienemann am ersten Tage allein mit ihm über Herrn Gutkinds »Eigenart« gesprochen hatte. Dort war es damals still gewesen – dort konnte er vielleicht auch jetzt allein sein – nur ein wenig allein sein …

Aber auch dieser Raum war heute belebt. Ein Markthelfer hatte ein paar Ballen aufgemacht und zählte rohe Bogen ab. Und neben ihm hockte auf einem Stoß von Brettern ein Gehilfe des Buchbinders, pfiff eine Gassenhauermelodie und schlenkerte mit den Beinen, daß die schweren Schuhe im Takt gegen die Bretter klapperten … Da ging Georg, so wie er gekommen war, vorbei. Nur die Angst und die rastlose Verlassenheit waren stärker noch als vorher in ihm. Und die trieben ihn weiter, daß er jetzt hastig schritt, ein Suchen in den Augen, und nur erfüllt von dem einen Gedanken: Allein sein – nur für Minuten allein sein – Befreiung finden von all dem Überschweren – die fremden Menschen da nichts merken lassen …

In dem Waschkabinet schob er den Riegel hinter sich vor. Dann stand er einen Augenblick unschlüssig in dem engen dämmerigen Raum. Sein Blick suchte – aber da war kein Stuhl und kein Möbel sonst, nur der Waschtisch mit dem breiten in die dunkele gesprenkelte Marmorplatte eingelassenen Becken. Und plötzlich sank Georg in die Kniee vor diesem Tisch und hatte beide Hände vor den Augen, hatte die Stirn an der kalten steinernen Platte und schluchzte – schluchzte, und wußte selbst nicht warum – nur weil ihm alles da innen so schwer, so furchtbar schwer und unerträglich schmerzvoll war, weil es von seinem Herzen mußte, und weil ihm leichter wurde mit den rinnenden Tränen. Ganz hinnehmen ließ er sich von diesem Weinen, das tagelang in ihm gewesen und gewachsen war, mit dem er tagelang gerungen hatte, bis es nun alle Hemmungen zersprengte und Tränen fand. Wirr und in jagender Flucht zogen dabei die Vorstellungen an ihm vorüber – aufleuchtende Bilder, an die sich kaum Gedanken knüpften in diesen Augenblicken: die Mutter, wie sie an seinem Bett gesessen hatte in der letzten Nacht, als er erwachte – Sephi, wie sie bei ihm im inneren Burghof stand, als dort die Wache ins Gewehr gerufen wurde – und dieses Bild von Wien … Ihm war es, als könnte er für seine Sehnsucht keine Ruhe mehr finden. Und doch wurde ihm leichter im Schluchzen, er fühlte, wie die Last, der Druck, dem er fast unterlegen war, von seinem Herzen wichen …

Als er draußen vor der Tür Schritte hörte, sprang er hastig auf. Sein Blick fiel dabei in den Spiegel, und das brachte ihn vollends zu sich. Die Scham, daß er dem Schmerz unterlegen war, kam ihm mit einem Male zur Empfindung, als er da seine vom Weinen entzündeten Augen im Spiegel vor sich sah, und mit ihr kam neue Stärke über ihn. Nicht nachgeben! ging es ihm durch den Kopf, aufrecht bleiben – nicht nachgeben!

Er ließ Wasser in das breite Becken strömen und wusch sich das Gesicht. Das Nachzittern des Schluchzens ging noch mit jedem Atemzug durch seine Brust, und doch tat ihm die Kühle des Wassers so wohl auf den Augen. Er hatte die Lieder geschlossen und drückte das nasse Tuch dagegen. Ganz still hielt er so. Und dabei versuchte er es, sich Sephi vorzustellen … All' seine Willenskraft drängte er in das Suchen nach ihrem Bilde.

Da wuchs dieses vor ihm auf und stand klar vor seiner Seele. Ganz still, bewegungslos, damit er es nicht störe, war Georg.

»Du …!« sagte er dann laut vor sich hin. Und ein Fühlen war dabei in ihm, klar und sicher wie ein Gelöbnis. Er wollte arbeiten mit aller Kraft, er wollte sich nie wieder unterkriegen lassen, nur vorwärts wollte er sehen! –

Das war das erste und das letzte Mal gewesen, daß Georg schier verzagt wäre in dieser Zeit.

Fester schritt er von da ab durchs Leben, so hart auch oft der Weg war, den er gehen mußte. –

Früh um sieben Uhr schon begann sein Tagewerk. Vor sechs Uhr stand er auf, und eine halbe Stunde später verließ er die Wohnung, um nach der Handelsschule zu gehen. Von Zwölf bis Zwei war Mittagspause – davon kam etwa eine Stunde auf den Weg nach Hause und zurück, so blieb nicht viel an freier Zeit. Abends sollte um acht Uhr Geschäftsschluß sein – meist aber wurde es später – oft neun Uhr und noch mehr. Wenn er dann müde und abgespannt nach Hause stapfte, neben Herrn August Thienemann her, der eifrig sprach, oder auch allein, wenn Herr Thienemann mit einem der »Golleechen« »auf ein Täppchen Bier« in den »Thüringer Hof« gegangen war, dann eilte seine Sehnsucht schon voraus zu jenen Stunden nach dem Abendbrot, die er zu Hause war. Denn das war dann die einzige Zeit, die ihm gehörte – das und der Sonntag.

Herr Thienemann hatte Georg gestattet, seine Bibliothek zu benutzen, die in dem Glasschrank in der Guten Stube stand. Und aus den Büchern, in wunderschönen Einbänden mit Goldschnitt und mit reicher Rückenpressung, wuchs Georg in den Abendstunden, die er am Tisch der Wohnstube unter der Hängelampe verbrachte, manch inneres Erlebnis, das ihn bildete. Sprechen konnte er freilich mit niemand über das, was er las, denn weder Herr August, noch Frau Karola waren Freunde von Lektüre; Herr Thienemann las nur seine Zeitung, und Frau Karola wies mit Stolz nur auf eins von den Büchern, auf die in rote Leinwand gebundenen »Gedichte« von Albert Träger. Die hatte sie als Braut von ihrem Mann bekommen. – »Nich' wahr, Auchust? – Cha – un' die haben mer damals zesamm' keläsen – weißt de noch – cha …« Sie lächelte dann wohl verschämt in der Erinnerung an jene Zeit und senkte errötend den Kopf ein wenig, daß das breite Doppelkinn sich wie eine weiche Sichel um ihr Kinn und unter die Wangen legte.

Lange war es Georg nicht klar gewesen, wieso Herr August Thienemann, der selber doch nichts las, dennoch zu einer so hübschen Büchersammlung gekommen war. Dann erfuhr er auch das – und da wurde ihm die seltene Zusammenstellung der Bibliothek, die namentlich die Verlagswerke einzelner Verleger beinahe lückenlos vollzählig in wunderschön gebundenen Exemplaren enthielt, verständlich. Die Bücherei war angewachsen aus Werken, die der Buchbinder, der für die Firma G. A. Gutkind arbeitete, Herrn Thienemann nach und nach als einen stillen Tribut, um ihn gewogen zu erhalten, gestiftet hatte. Was auch in großen Auflagen in der Buchbinderei gebunden wurde, war es ein Lehrbuch der Botanik oder ein neuer Sang von Rudolf Baumbach, war's eine Kunstgeschichte oder ein Fahrplan – ein Exemplar davon landete stets als eleganter Halbfranzband oder gar in Kalbleder gebunden in dieser Bibliothek, die Georg nun benutzen durfte.

Aber nicht immer kam Georg viel zum Lesen, wenn er so in der Wohnstube am Tisch saß. Manchmal wurde Herr Thienemann gesprächig. Dann war diese devote Schüchternheit, die ihn ergriff, wenn er Herrn Gutkind in der Nähe wußte, wie weggeblasen, ein Drang, vergnügt zu sein, kam über ihn und forderte sein Recht. In seinem »Schlafrock« – einem ausgedienten Winterrock, den Frau Karola mit türkischroten Aufschlägen und einer Leibschnur mit Quasten verziert hatte – saß er dann in seiner Ecke des braunen Ripssofas, rauchte und trank sein »Fläschche Bier«. Und dazu erzählte er dann, schmunzelnd und mit einem gewissen Männerstolz, allerhand kleine komische Erlebnisse aus dem Geschäftsleben – Ereignisse aus dem Horizont seiner zwanzigjährigen Dienstzeit im Hause Gutkind. Selbst vor den kleinen Schwächen des Herrn Felix Gutkind machte in solchen Stunden die Spottlust des Herrn Thienemann nicht immer Halt, so daß Frau Karola, nach mehrfachem Hin- und Herrücken in ihrer anderen Sophaecke, sich dann in einem steigenden Unbehagen wohl veranlaßt sah, beschwichtigend mit einzugreifen, um ihres Mannes Unvorsichtigkeit zu mildern.

»Se missen das nich' etwa falsch auffassen, Herr Pang – nu cha, nich wahr? – Mer sacht sowas, und nachher werd's weider erzählt un gommt vielleicht kanz anders heraus. Wisse Se, er ist äben eichen, der Herr Gutkind – deswächen aber ästimierd'n doch cheder – cha – un Se missen nich etwa kar klauben, daß mer 'was gechen ihn sachte. Er hätte äben heiraden missen – cha – ich hab's immer kesacht: wenn der e Frau kehabt hätte, die so recht auf 'n kesähen hätte – so e alter Chunkkeselle, das's äben iberhaupt was kanz Unnadierliches – –! Aber mein Mann weiß ihn doch sehr ze schätzen – nich' wahr, Auchust? – Wenn mer doch seit zwanzig Chahren man met dich zesammen ze duhn hat – –«

Und Herr August Thienemann hüllte sich dann in Tabakswolken und sagte:

»Cha, Garolachen – ei cha, nu freilich, Garolachen.«

Frau Karola pflegte nach solchen längeren Reden erst eine Weile schweigend und mit angezogenem Kinn auf ihre wogende Fülle niederzublicken. Dann aber sah sie plötzlich auf und gab dem Gespräch mit gutmütig unbeholfener Miene eine andere Wendung:

»Ne, Auchust, de Luft da herinn'n – wie zum Schneiden! De scheen' neij'n Kardin'n – frisch kewaschen – so'n Qualm ze machen – –!«

Häufig auch ging Georg nach dem Abendessen hinüber in die himmelblaue schmale Stube und schrieb beim Schein der Kerze, an seinem Stehpult stehend, nach Hause. Zweimal in jeder Woche schrieb er regelmäßig, und manchmal, wenn das Herz ihn trieb, schrieb er auch außer dieser Reihe. Es waren Briefe, die wie Worte waren, die er zu seiner Mutter redete. Sein Innenleben, das hier unter all den Fremden stets fest verschlossen blieb vor jedem neugierigen Blick, tat sich in diesen Stunden auf und gab sich ganz der Mutter hin. Er schrieb ihr alles, was ihm auf der Seele lag und was das Leben ihm an Neuem brachte. Er schrieb von seiner Sehnsucht – aber auch von seiner Zuversicht und seinem Hoffen und stärkte sich selbst an den Worten, die er der Mutter da sagte, damit sie nicht in Sorge kommen möge. Tröstungen waren ihm solche Briefe, und sie gaben ihm neue Ausdauer und neue Kraft. – Die Mutter aber ging in ihren schlichten Schreiben, die so voll Sorge, Anteil und tiefer Liebe waren, auf alle seine Worte ein. Sie berichtete auch von den kleinsten Ereignissen ihres bescheidenen Haushalts und sprach zu ihm von allem, was sie erlebte, fühlte und wünschte. Auch über Sephi schrieb sie – wie die ihr nun als einziger Trost in dieser Einsamkeit verblieben sei und wie sie sich schon fürchte vor dem Tag, da sie das Kind auch würde von sich lassen müssen. Wohl schreibe ja Frau Crispi – denn Frau Gerold sei nun mit Herrn Crispi verheiratet – daß Sephi zunächst noch in Wien bleiben könne, das aber sei doch nur eine Frist, die enden würde. – –

So gingen Monate dahin. Im Geschäft kam Georg Bang in dieser Zeit mit Ausdauer und Eifer weiter. Nicht, daß er schon die Freude der Arbeit gekannt hätte. Die weiten Räume mit ihrem ewigen Lärm und Trubel blieben ihm fremd. Sie drückten auf ihn, so wie das Schulzimmer einst auf den Knaben gedrückt hatte, sie nahmen ihm den unbefangenen Sinn und jede Heiterkeit. Schritt um Schritt klomm er vorwärts, mit fest aufeinander gepreßten Lippen strebte er weiter. Er gab nicht nach, so schwer es ihm auch oftmals wurde, und fügte und fand sich in all die Arbeiten, die ihm zunächst zugewiesen wurden. Anregend war keine davon, aber er erkannte, daß es eine unvermeidliche Schule war, durch die er ging, und so klagte er nicht, sondern setzte seine ganze Kraft in sie. Er schrieb Stöße von Frachtbriefen, Paketadressen und Fakturen zu Büchersendungen, er fertigte Avise aus und griff zu, wo man ihn brauchte. –

Mit seinem Chef kam er in all der Zeit kaum in Berührung. Es lag nicht in Herrn Gutkinds Art, sich in das lärmende Getriebe des Tagesdienstes einzumengen. Nur manchmal schritt er durch die Räume, wie zufällig, als ob er einen der Gehilfen suchte um einen Auftrag zu erteilen, oder aus sonst einem vorgeschobenen Grund. Dann sah er scheinbar ganz erfüllt von dieser Absicht mit vorgebeugtem Kopf unter dem Augenglas hervor geradeaus. Aber die Blicke flitzten dabei doch nach allen Seiten, und ganz gelegentlich kam es heraus, daß er trotz seiner Wortkargheit wohl alles sah, was er nur sehen wollte. – –

Weihnachten kam heran, und immer höher wuchs der Trubel der Arbeit, je näher man dem Fest rückte. In langen Reihen durchzogen die Korbwagen der Kommissionäre mit ihrer schier überquellenden Last von Bücherpaketen das Buchhändlerviertel der Stadt, und beinahe ohne Unterlaß strömten die kleinen und großen Packen durch den Paketkasten in den Expeditionssaal und türmten sich da zu einem riesigen Berg. Auch Georg half in diesen arbeitsvollen Tagen die Sendungen, die wie von unsichtbaren Händen durch die große dunkelbraune Klapptüre des Paketkastens vom Flur aus hereingeworfen wurden, in all die einzelnen Fächer der Kommittenden verteilen. Auch Sendungen für Herrn Schneebergers kleinen Laden waren darunter, und keine von diesen ging durch Georgs Hände, ohne daß er dabei des alten Freundes gedacht hätte. Und war's nicht seltsam? Die Bücher, die er hier verpackt und fakturiert in Händen hielt, die würden bald im Schaufenster und auf dem Ladentisch des Herrn Schneeberger liegen, und kam dann erst das Fest, dann lag gar manches auch auf Weihnachtstischen … in Wien – im selben Wien, nach dem ihn seine Sehnsucht zog. Er aber würde hier sein in den Tagen, fern von den Seinen zum erstenmal während des Festes. Das Weh der Einsamkeit ergriff ihn herber, wenn er das überdachte, und es war gut für Georg Bang, daß ihn der Drang der Arbeit in dieser Zeit nicht viel zum Grübeln kommen ließ.

Die Arbeit aber hatte das ganze Haus, nein mehr, die ganze Stadt wie ein Rausch ergriffen. In diesen Tagen erst erfaßte Georg ganz die großartige Stellung Leipzigs im Leben des deutschen Buchhandels. Wie ein Herz, das stärker schlägt und pulst, weil alle Glieder des Organismus reger als sonst mit angespannter Kraft in ernster Arbeit stehen, so war die Stadt. Ein Hasten, Drängen, Schieben rings umher. Mächtig beladene Fuhrwerke, die unter ihrer Last von Bücherballen ächzten, schwankten den Bahnhöfen zu, nach Hunderten zählten die Postpakete, mit denen nun Abend für Abend die Korbwagen der Firma A. G. Gutkind die Poststraße hinauf nach dem Postgebäude auf dem Augustusplatze ratterten.

Einmal war Georg selbst mit drüben gewesen auf der Post, und dabei hatte er den Trubel mit angesehen: die Wagenburgen von langen zweiräderigen korbbesetzten Buchhändlerkarren im Hof des Postgebäudes, das Rufen, Fluchen, rücksichtslose Vorwärtstreiben in dem von weißem Bogenlicht erhellten, regenbesprühten Hof, die drängende Hast, in der die Burschen in Ballonmützen und gestrickten Jacken ihre Pakete Stück für Stück aus den Karrenkörben griffen und sie, gleich Ziegeltreibern, taktmäßig einander zuwarfen, um so nur rasch die ganze Ladung an den einmal eroberten Platz am Schalter zu befördern. Wie ein Schwindel hatte es Georg da ergriffen und doch, es war dabei auch ein Gefühl von Stolz und Gehobenheit. Und wiederum, wie abends nun so oft, wenn er todmüde, abgespannt und hungrig sich eilig wusch, ehe er durch die dunkelen abendlichen Straßen neben Herrn Thienemann nach Hause schritt, empfand er es, daß er ein Teil geworden war in diesem Riesenorganismus, daß er durch seine Arbeit mit Anteil hatte an diesem rastlos und kraftvoll treibenden Leben. – –

Zwei Tage vor dem Weihnachtstag sandte Georg seine bescheidenen Geschenke nach Hause. Das geringe Taschengeld, das ihm auf Wunsch des Herrn Schneeberger allmonatlich ausgezahlt wurde, war dieses Mal beinahe ganz für diese Gaben aufgewendet worden, und Georg freute sich beim Gedanken, daß auf dem Weihnachtstisch der Mutter und der Sephi auch seine kleinen Geschenke liegen würden. Am Weihnachtstag aber kam das Paket der Mutter an ihn an.

Er war selbst auf das Zollamt gegangen, um die Sendung abzuholen – die freie Stunde nach Tisch mußte ihm zu dem Gang dienen. Ein Drängen war dort vor den langen Schrankentischen – kaum daß er ein Plätzchen finden konnte. Seine Hände streichelten zitternd das Paket, das der Beamte ihm zuschob – ihm war es, als hielte er ein Stück Heimat selbst in Händen. Das hatte die Mutter verpackt und verschnürt – das kam aus der stillen Wohnung da oben im vierten Stock über den beiden jetzt kahl aufstarrenden Kastanienbäumen.

Sorglich löste er den Bindfaden … Ein Brief lag obenauf – und Georg schob ihn in die Tasche, als müßte er ihn verstecken vor den Menschen, die da neben ihm standen, und vor den neugierigen Blicken, die ihn über die Schulter trafen.

Der alte graubärtige Zollbeamte stand vor ihm und sah mit gerunzelter Stirn unter der grünen Schirmkappe nieder auf die bescheidene Sendung.

»Auspacken – dalli – dalli – 'sind cha noch mehr da …«

Und als ihm Georgs hastige Hände nicht schnell genug all die Papierhüllen lösten, griff er selbst mit zu.

»Das's wohl von Muttern? – Cha? – Nu säh'n Se!«

Und er betrachtete lächelnd den schönen Gugelhupf, der aus dem weichen Seidenpapier hervoräugte, und die beiden Krawatten daneben, die schönen Manschettenknöpfe – Georg kannte sie, die hatten einstens seinem Vater gehört – und den Rahmen mit Sephis Bild darin.

Georg stand da, rot übergossen. Ihm war's, als müßte er sich nackt all den fremden Menschen zeigen, und alle Freude über die Geschenke, die ihm so teuer waren, duckte sich nieder unter seiner Scham.

Der Beamte wog den Gugelhupf samt seiner rauschenden Hülle aus Seidenpapier in Händen.

»Das's ä Kuchelupf – nicht wahr? Cha – da is wohl kei' Esterreicher in kanz Leibz'ch, der heite nich' so'n Kuchelupf kriecht! Eichendlich sollten mer'n verzollen – aber was wiecht 'r denn?! Nu packen Se man ihren Kram wieder zesamm', 's is' kut – un' fort mit Schaden!«

Erst als Georg mit seinem Paket wieder auf der Straße war, ward seine Freude wieder frei.

In einem stillen Winkel des Geschäfts las er den Brief der Mutter. Nur wenige Seiten waren es, aber jedes Wort von ihr drang ihm ins Herz.

 

»Mein lieber, einziger Georg!

Du wirst das kleine Paket, das ich Dir als unseren Weihnachtsgruß sende, am Weihnachtstage erhalten. Es ist so wenig, was ich Dir gebe, und ich hätte Dir doch so gern eine recht große Freude gemacht. Die Knöpfe sind noch vom Vater, das weißt Du ja. Er hat sie immer am Sonntag getragen, ich habe sie ihm einmal zu Weihnachten geschenkt, wie ich noch verlobt war mit ihm. Jetzt bekommst Du sie zum Fest, halte sie in Ehren. Die Krawatten und der Gugelhupf, den ich Dir selbst gebacken habe, weil ich ja weiß, wie gern Du ihn ißt, sind von mir, die beiden Bücher von Herrn Schneeberger, bei dem Du Dich dafür bedanken mußt. Und die Sephi, das liebe, arme Kind, will, daß ich Dir ihr Bild mit beipacke. Sie sagt, das schenkt sie Dir zum Fest. Mein lieber Bub, auch die hat diesmal kein Weihnachten bei ihrer Mutter – wie Du. Aber ich will alles tun, damit sie das nicht allzu schmerzlich fühlt. Vielleicht tut's mir der liebe Gott dafür zu Dank, daß er auch Dir das Fest recht froh und glücklich macht. Ich habe Dir das wegen der Sephi schon das letztemal schreiben wollen – und hab's dann doch gelassen: denk' Dir, Frau Crispi hat schon seit nun bald acht Wochen kein Wort mehr von sich hören lassen. Nun sind die Briefe, die das liebe Kind an ihre Mutter schreibt, alle ohne Antwort, und sie kränkt sich und will es doch nicht zeigen. Auch ich weiß nichts von ihrer Mama – wie eine Mutter nur ihr Kind so wenig tief im Herzen haben kann! Mein Bub, mein Georg, könnte ich doch bei Dir sein! Ich werde für Sephi einen kleinen Baum machen. Auch Herr Schneeberger kommt zum Heiligen Abend, und wir werden Karpfen haben und eine Flasche Wein. Ich weiß, daß mir die Tränen kommen werden, wenn ich Dich dann nicht bei mir habe. Gott gebe, daß Du noch in späteren Jahren gesund und stark und so lieb, wie ich Dich im Herzen und in der Erinnerung habe, bei mir bist, wenn der Heilige Abend ist. Und, mein Bub, Du sollst vergnügt sein und nicht traurig – aber ein bisserl sollst Du doch denken an uns! Und Georg, geh an einem von den Feiertagen in die Kirche. Leb wohl, ich küsse Dich und segne Dich, daß Du mir erhalten bleiben sollst wie Du bist.

Deine Mutter.«

 

Georg las den Brief und las ihn wieder. Die Worte griffen ihm ans Herz und übergossen ihn mit all der tiefen Liebe, die in ihnen ruhte. Ihm war's, als ginge eine Weihe von dem kleinen gefalteten Blatte aus und umfinge ihn. Und diese tiefe, ernste Stimmung blieb in ihm, trotz all der regen Arbeit, die der Nachmittag noch brachte.

Gegen sechs Uhr kam Herr Gutkind aus seinem Privatkontor; Männe, der asthmatische Dackel, trabte hustend und jebsend hinter ihm drein. Herr Gutkind hatte ein ganzes Päckchen von Kuverts in Händen, ging mit auf die Brust geneigtem Kopf und mürrisch unter der Brille hervorguckenden Augen von Pult zu Pult und schob jedem seiner Mitarbeiter mit ein paar kurzen Worten eins von den Kuverts zu. Und immer klang dann aus dem Munde des Beschenkten ein: »Danke sehr, Herr Kudgind – un' e recht verkniechtes Fest …« zurück. Auch zu Georg kam er auf diesem Weihnachtswege.

»Pang – so – da hast de ooch e Gristgeschenke – goof der was Verninft'ches davor – cha – un' wenn de nach Hause schreibst, so gannst de sachen, ich hätt' kesacht, ich wär' zefrieden – verstanden?«

Mit zager Freude griff Georg nach der Gabe seines Chefs. Er wollte danken, etwas sagen, aber da hatte Herr Gutkind ihm schon eilig und wie zerstreut zugenickt und war schon weiter gegangen mit seinem immer schmäler werdenden Päckchen von Kuverts in Händen und mit dem krächzenden alten Dackel hinterher …

Des Abends aber gab es bei Herrn Thienemann für Georg die erste Weihnachtsfeier in der Fremde.

Frau Thienemann hatte die »Gute Stube« aufgeschlossen und die weißen Überzüge und Schutzhüllen von dem »Ganabee« und den Fauteuils genommen. Auf dem Tisch, gerade vor dem Rahmen mit dem längst braun und dürr gewordenen Brautkranz der Frau Karola an der Wand, stand ein Tannenbäumchen im Schmuck von einigen roten Kerzchen und von Ketten aus Goldpapier. Daneben lagen die Geschenke: rostbraune und graue dicke Socken, die Frau Karola wie alljährlich, so auch diesmal für Herrn Thienemann gestrickt hatte, eine neue große Kaffeetasse mit Blumenbemalung und der Aufschrift: »Noch ein Täßchen gefällig?« und als Hauptstück ein Paar neue von Frau Karola selbst auf Kanevas gestickte Hausschuhe. Efeu und Lorbeer rankten da die grünen Blätter um Rosen und Vergißmeinnicht.

Mit auf die Brust gesenktem Kopf, daß das stattliche Doppelkinn weich gebettet sich breitete, und mit einem selbstzufriedenen Lächeln um Mund und Augen stand Frau Karola da, während ihr Mann diese für ihn bestimmte Gaben mit einem ein wenig dick aufgetragenen Bewundern und Erstaunen betrachtete.

»Cha – Auchust – un' de Dasse – nich' wahr? Weil doch de alte neilich ein' Schbrung kekriecht hat. – Un' de Hausschuhe – weißt de, die sin' nich' so schnuddelich – die sin' kud kearbeitet …«

Und Herr August Thienemann nickte ihr zu. »Nu, ich dank dir ooch scheen, Garolachen – ich dank dir ooch scheen – un' nu' sieh doch 'mal, was da noch ist …«

Er führte sie zur anderen Seite des Tisches und zeigte ihr die neue umfangreiche »Tallche« und die schöne Granatbrosche, die er für sie besorgt hatte. Den Stoff zu der »Tallche« hatte Frau Karola selbst ausgesucht, und mit der Schneiderin, die das Kunstwerk geschaffen hatte, waren die Verhandlungen auch von ihr eingeleitet worden – trotzdem aber tat sie erstaunt und überrascht bei dem Anblick, als sähe sie dies Geschenk zum erstenmal.

Georg hatte bei dem allem nahe der Tür gestanden. Er hielt seine Gaben für die beiden in Händen, das Kistchen mit Zigarren und den Blumenstock, und hörte kaum auf das, was die zwei Menschen vor ihm sprachen, und sah kaum, was sie trieben. Er sah nur das bescheidene Bäumchen in seinem spärlichen Lichterglanz und seinem steifen papierenen Schmuck und mußte daran denken, daß nun zur selben Stunde fern von hier, in Wien, im Zimmer seiner Mutter auch Heiliger Abend gefeiert wurde. Er sah die Mutter und Sephi und Herrn Schneeberger, wie sie vor ihrem Weihnachtstisch stehen mochten – drei Menschen, voll von innigen Gefühlen: die Mutter und Sephi weich in ihrer Freude, ihrer Sehnsucht, ihrer Liebe, und Herr Schneeberger mürrisch, rauh in seiner Form und doch nicht minder warmherzig in seinem Wesen.

Sie alle dachten wohl an ihn, wie er an sie …

Da riefen ihn die Worte des Herrn Thienemann aus seinem Träumen:

»Nu, Pang – für Sie haben wir doch ooch eene Gleinichgeet, nich wahr, Garolachen …?«

Und jetzt bemerkte Georg, dem Blick des anderen folgend, den Teller mit Stollenschnitten, Nüssen und Äpfeln und daneben das Buch auf einem bereitgestellten Stuhle. Es war ein Buch in schönem Lederband, einer jener Luxusbände, wie sie der dem Herrn August Thienemann tributpflichtige Buchbinder anfertigte …

Das Abendessen war feierlicher als sonst und reicher denn alltags. Frau Karola hatte die Tür nach der Guten Stube offen gelassen, und auch da drüben brannte neben der aufgebauten Weihnachtsherrlichkeit eine Lampe. Frau Thienemann sprach viel von den schönen Weihnachtsstollen, die sie gebacken hatte – »Rosin'stollen, cha, un Mandelstollen, un' nich' etwa gar kespart dabei, wie bei manche andere Leite« – und auch über ihrem Mann lag eine stille Selbstzufriedenheit. Jetzt waren diese Wochen schwerer Arbeit doch vorüber, jetzt konnte man sich's dann ein wenig leichter machen. Zwei Feiertage standen vor der Tür – und dann Neujahr – und Hochneujahr – und dann: in dem Kuvert »des Alten« war diesmal ein Goldstück mehr gewesen als sonst … Nein, Weihnachten war doch 'was Schönes, wenn man sich erst im Leben seinen Platz gewonnen hatte!

»Nu, bröstchen, Garolachen – wir beide – nich' wahr?«

Er hob sein Glas, etwas wie tiefere Stimmung kam über ihn, und er war selbst verwundert über die Regung. Aber er gab sich ihr hin – es war doch Heiligabend – und zwei Feiertage standen vor der Tür …

Als Herr August Thienemann nach dem Essen die erste der ihm von Georg geschenkten Zigarren rauchte, zog Georg sich zurück in seine Stube. Der Drang, allein zu sein, war überstark geworden in ihm. So sagte er, daß er doch noch nach Hause schreiben wollte, und ging. Niemand hielt ihn – er fühlte, daß es Herrn Thienemann und seiner Frau ganz recht war, wenn er sie den Rest des Abends allein zusammenließ. Und als die Frau Karola ihm, da er gehen wollte, noch mit einem seltsamen Erröten, das sich über das gutmütige, rundliche Gesicht ergoß, und das über das breite, weiche Doppelkinn niederflutete, sagte: »Gute Nacht – cha – un' verkessen Se nur Ihren Deller nich' herieben – vielleicht kriechen Se noch Abbetit – nu cha …« da wußte er es völlig klar, er war hier überflüssig geworden.

In seiner Stube zündete er die Kerze an, stellte sie auf das Stehpult und starrte durch das geschlossene Fenster hinaus in die Nacht, die sich dunkel und undurchdringlich breitete.

Er dachte nach Hause, und ein Sehnen war in ihm, daß sich die Finger ihm zusammenballten.

Es war kalt in der Stube – er merkte die Kälte kaum. Er sah nur immer wieder das liebe Zimmer zu Hause vor sich, sah die Mutter und die anderen darin und fühlte doppelt schwer die eigene Einsamkeit.

Dann wendete er sich um und griff nach den Geschenken. Nach den Büchern des Herrn Schneeberger, nach den Manschettenknöpfen, die einst noch sein Vater getragen hatte, den Krawatten und nach dem Bild der Sephi.

Lange sah er auf das Bild nieder, ein Ziehen kam ihm um Augen und Mund dabei.

»Sephi …« sagte er leise, und alles zog ihn hin, die Lippen nieder auf das Bild zu drücken. Aber etwas wie eine stille Scham, daß man es sehen könnte, war in ihm. Er blickte auf – da sah das Bild von Heinrich Gerold aus seinem schmalen Rähmchen an der Wand ernst und gütig auf ihn nieder. Nein, das war's nicht …

Draußen, das Dunkel vor dem Fenster – die Weite in ihrer Unergründlichkeit …

Er zog die Gardine vor. Und dann küßte er das Glas, das über dem Bilde Sephis war, und all' seine Sehnsucht nach ihr und nach der Heimat drängte sich in den Kuß.

Mit einer unsicheren, zitternden Scheu verschloß er dann das Bild in dem Pult.

Als er die Bücher des Herrn Schneeberger zu den anderen stellte, die oben auf dem Pult in einer Reihe standen, da haftete sein Blick an einem schmalen roten Bändchen – Eichendorffs »Taugenichts«. Und unwillkürlich in der sehnsuchtsvollen Erinnerung an jene Stunden, da er das liebe Märchen einst der Mutter vorgelesen hatte, griff er das Buch heraus. Streichelnd fuhr er darüber hin, es klaffte auf, ein Bild fiel ihm in die Hände – und jetzt, ja er entsann sich dieses Bildes!

Das war die Mutter damals, als der Vater noch lebte, und dieser kleine Bub auf ihrem Schoß, der ängstlich scheu ins Weite sah, war er.

Er blickte auf das Bild der Mutter und sah über den Zügen, wie sie einst gewesen, wie sie nun war. Das war ihr Mund, das waren ihre lieben Augen! Und da – wie sie die Hand um ihn geschlungen hielt – diese Bewegung, die kannte er so gut.

Als ob sie da leibhaftig atmend vor ihm säße, so war es ihm mit einem Male. Ganz versunken war er in Schauen und in Träumen.

Und plötzlich der Gedanke: Wie kommt das Bild in dieses Buch …?

Da wendeten es die Finger schon nach der anderen Seite, und er sah die Schrift der Mutter vor sich:

 

»Vergiß mich nicht, mein Bub! Mein Herz ist bei Dir, Du bist nie allein!

Am Tage vor Deiner Abreise

Deine Mutter.«

 

Wie eine dunkele warme Woge flossen die Worte über Georg hin, und ihn ergriff der Zufall, durch den gerade in dieser Stunde das Bild der Mutter ihm in die Hände geraten war, mit der eindringlichen Kraft einer geheimnisvollen Fügung.

Lange noch lag er wach im Dunkel an diesem Weihnachtsabend. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Und immer kam der eine wieder: Da alle seine Sehnsucht und sein Weh in dieser Einsamkeit sich vor dem Bild der Sephi hingegeben hatten, da war die Mutter still gekommen: »Vergiß mich nicht, mein Bub!« – –

* * *

Der Neujahrstag brachte für Georg eine Überraschung.

Herr Felix Gutkind pflegte an diesem Tage stets gegen Mittag auf eine Stunde in das Geschäft zu kommen und dort in dem Privatkontor die Neujahrswünsche seiner Angestellten anzunehmen. Mann für Mann traten die dann in festtägiger Kleidung bei ihm ein, und immer wieder spielte sich dann mit kleinen Variationen der gleiche Dialog ab:

»'n Morchen, Herr Kudgind!«

»'n Morchen …« Herr Gutkind, der am Schreibtisch stand, sah den Eingetretenen mit vorgelegtem Kopf und hochgezogenen Braunen unter der Brille vor verwundert an, als wäre es ihm unerfindlich, was der wohl von ihm wollen könnte. Und Männe, der alte Dachshund, hustete und kläffte.

»Ich wollte mer nur erlauben, Herr Kudgind …«

»Ruhich, Männe – ruhich, mei' Hundche … so is' brav … Cha?«

»… ich wollte mer nur erlauben, dem Herrn Kudgind e recht klickliches Neues Chahr ze winschen …«

»Soo …?« Herr Gutkind nickte gedankenschwer mit dem Kopfe. Die Eröffnung schien ihn sehr zu beschäftigen. »Soo …?«

»Cha …«

»Nu, 's kuud …« Herrn Gutkinds Augen senkten sich wieder auf die Skripturen auf der Schreibtischplatte. Sie nahmen da versonnen die Durchsicht einer Zahlenreihe oder die Lektüre irgend eines Schriftstückes wieder auf – und wenn der Gratulant jetzt nicht den Mut fand, sich mit einem mehr oder weniger deutlichen »… nu', kuten Morchen …« zu empfehlen, dann konnte er unter Umständen recht lange den Anblick seines in Arbeit versunkenen Chefs genießen.

Aber bei dem Gratulationsgange Georg Bangs hatte sich an dieses übliche, seit Jahrzehnten von Herrn Felix Gutkind in der Hauptsache unverändert angewendete Neujahrsrituale noch ein ganz besonderer Appendix angegliedert, ein Anhang, der Georg wieder zeigte, daß in dem häßlichen wortkargen Mann doch nicht alles verknöcherte Formel war, daß er bei all seiner Verschlossenheit sich doch manchmal mit fremden Schicksalen befassen mochte.

Georg hatte seine Wünsche glücklich angebracht, und Herr Felix Gutkind hatte sein tiefsinniges »Nu, 's is kuud …« gemurmelt. Da aber, als er schon die Augen senken wollte, sah er noch einmal auf.

»Sach emal, Cheorch – mit wem verkehrst de denn eichendlich …? Ich meine so außer dem Geschäfte …«

»Mit niemand, Herr Gutkind …«

»Nich mit irchend so e Chung' aus der Handelsschule? Hast de geen' Gameraden kefunden?«

»Nein.«

»Soo …« Herr Gutkind sog mehrmals an der kurzen Stummelpfeife und blies die blauen Rauchwolken von sich. Seine Augen flitzten dabei prüfend über die Gläser hinweg zu Georg hin. Dann schien er entschlossen zu sein. »Nu cha, also heere, was 'ch der sache: Gennst de die Salomonstraße?«

»Ja, Herr Gutkind.«

»Nu, da gehst de am nächsten Sonntachvormittach hin, un frachst nach der Villa Hellstein. De Frau von Hellstein, das's ne sehr feinkepildete alte Dame, in deren Haus eine ganze Reihe von chung' Leiten verkehren – chunge Musiker haubtsächlich … Cha – un' an die Dame werd' ich dich empfehlen – verstanden?«

»Ja, Herr Gutkind.«

Herr Gutkind zog die Brauen zusammen. Er sah vor sich hin und schien über etwas nachzudenken. Eine Weile war es ganz still – da bemerkte Georg, daß der Bleistift in der Hand seines Chefs addierend eine Zahlenreihe auf und nieder lief. Die Audienz war also wohl beendigt.

Erst als Männe, der Dachshund, plötzlich einen Erstickungsanfall markierte, sah Herr Gutkind auf.

»Na – nu – nu – nu-nu – mei' Hundche! Cha, was wär denn das! Ei – ei – ei-ei!« Und dann zu Georg befremdet, verwundert: »Cha? Is noch was?«

Georg fühlte sich befangen und wollte noch ein paar Worte sagen; »Nur bedanken hab' ich mich noch wollen, Herr Gutkind …«

Der aber nickte hastig. »Soo …? Nu 's is kuud …«

Und damit war das Neujahrsgespräch beendigt. –

Wenige Tage darauf machte Georg seinen ersten Besuch bei Frau von Hellstein.

Etwas Feierliches, Erwartendes war in ihm, als er durch die winterliche Salomonstraße schritt, deren Baumreihen im glitzernden Schmuck des Reifs lagen und die in der gepflegten Reinlichkeit vornehmer Villenstraßen ruhte.

Ein schmiedeeisernes Gitter schloß den Garten, in dem Frau von Hellsteins Haus gelegen war, gegen die Straße ab.

Georg drückte auf die Klinke – die Tür war geschlossen.

Zögernd stand er einen Augenblick. Dann bemerkte er unter dem Messingschild mit dem Namen »Franz von Hellstein« den Knopf des Läutewerks und zog die Klingel.

Ganz von fern klang der Ton der Glocke heraus, und wieder war es still, und Georg wartete und sah gespannt durch das Gitter in den verschneiten Garten, ob denn niemand vom Hause käme, um zu öffnen. Aber da rührte sich nichts. Das zierliche, mit allerlei Pergolen und Loggien, mit Friesen und bunten Malereien im Stil römischer Villen herausgeputzte Haus lag ruhig und versonnen träumend in dem weißen Bett des Gartens.

Da plötzlich gab es knapp vor Georg einen leisen Knack, und wie von Zauberhänden berührt sprang die Gittertür auf und ließ Georg ein und schnappte, da er schließen wollte, von selber wieder ins Schloß.

Erst als Georg dann tiefer in den Garten zum Eingang des Hauses schritt, sah er den alten Diener dort, der noch die Zugkette in Händen hielt, mit der das Wunder sich vollzogen hatte.

Mit einer gewissen herablassenden Höflichkeit und einem brunnentiefen Seufzer führte er dann Georg in ein weites, dielenartiges Vorzimmer und nahm ihm die Überkleider ab.

»Ist Frau von Hellstein zu Hause?«

»Nu allemal … Sie sin' doch ooch e chunger Musiker?« Und ohne Georgs Einwurf abzuwarten: »Nu cha, die chung' Herren von's Gonservatorichum! Das gommt äben alles ze uns – 's is' wahrhaftig so … Der reene Daubenschlach! Nu, kehn Se 'mal 'rin in den Salong – und wen soll'ch also melden?«

Georg war mehr verblüfft als gekränkt durch diesen seltsamen, in brummender Gutmütigkeit vorgebrachten Empfang. »Mein Name ist Bang,« sagte er. »Von Herrn Gutkind – die Gnädige Frau wird schon wissen …«

»Von Herrn Kutgind? Ei cha freilich – soo, soo? Von Herrn Kutgind – –« Und der Diener stelzte davon und ließ Georg in dem kleinen heimeligen Salon allein, an dessen Wänden alte Stahlstiche und Lithographien in goldenen Rahmen hingen, in dem aus zierlichen Servanten Porzellanfigürchen und allerlei zerbrechliche Kleinkunst aus vergangenen Tagen sahen, und darin die ein wenig verblichenen seidenen Polstermöbel von so stiller und friedlicher Behaglichkeit sprachen.

Eine Doppeltür in ein zweites großes Zimmer stand offen.

Georg sah einen schwarzen Flügel in diesem Raum und einen kunstvoll geschnitzten Notenständer daneben. Über dem Flügel hing an der Wand das lebensgroße Bildnis eines schönen dunkeläugigen Mannes in wallendem Künstlergelock. Nach der Kleidung mochte das Bild aus den fünfziger oder sechziger Jahren stammen. Der Abgebildete stand in heldenhafter Stellung da, eine Art weiten blauen Mantel malerisch um die Schultern geschlagen, eine Papierrolle lässig in der einen niederhängenden Hand. Ein dürrer Lorbeerkranz mit breiter Bandschleife war an dem Bilderrahmen befestigt.

Georg hielt eben seinen Blick auf dieses Bild geheftet, als die Tür hinter ihm geöffnet wurde und Frau von Hellstein eintrat.

Etwas Beschwichtigendes, Beruhigendes lag einen Augenblick lang in den Augen und der Bewegung der kleinen, alten Dame, als Georg sich rasch umwendete. Es war, als täte es ihr leid, ihn, während er das Bild betrachtete, gestört zu haben.

Dann aber ging sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Nun, seien Sie mir willkommen, Herr Bang. Mein alter Freund, Herr Gutkind, hat mir von Ihnen erzählt, und ich freue mich, Sie hier zu haben …«

Sie setzte sich auf einen der verblichenen Polsterstühle, und Georg, dem, während sie sprach, so wohl geworden war wie noch niemals, seit er nun fern den Seinen war, nahm ihr gegenüber Platz.

»Gnädige Frau,« sagte er nur, »es ist so gut von Ihnen, daß Sie mir erlaubt haben, zu kommen …« Er stockte, aber sie mußte doch fühlen, wie sehr ihm das von Herzen kam, denn sie lächelte ihm so gütig zu, daß ihr altes, zitteriges Gesichtchen ganz strahlend wurde. »Sie sind Wiener? Ich höre es an Ihrer Sprache!«

Und da Georg nickte, fuhr sie fort: »Oh, Wien ist so schön! Ich war auch einmal dort – mit meinem Franz. Wann war das? Warten Sie! Ja – wie sein ›Bergmann von Falun‹ im Wiener Opernhaus zum erstenmal gegeben worden ist. Im Jahre zweiundsechzig. Mein Gott – wie doch die Zeit vergeht! Fünf Jahre später habe ich ihn verloren …«

Ihr Blick ging durch die offene Tür nach dem Gemälde über dem Flügel und blieb dort haften.

Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und blickte Georg wieder an. »Sehen Sie, das hat mich gefreut, daß ich Sie vorhin vor dem Bild getroffen habe – das nehme ich als gutes Vorzeichen für Ihren Eintritt in mein Haus. Denn, wenn er auch seit so viel Jahren heimgegangen ist, mein Franz ist doch der Hausherr hier geblieben … Verstehen Sie das?« Um ihre Augen lag ein leises, zitterndes, verträumtes Lächeln. »Ich bin eine alte Frau,« sagte sie dann – »man muß mich nehmen, wie ich bin, aber wir zwei, das fühle ich, wir werden uns vertragen.« Sie strich sich mit beiden Händen leise über den weißen Scheitel und nickte ihm zu.

Und Georg hatte wieder das Gefühl von wärmender Geborgenheit. Nichts Fremdes schied ihn von der feinen alten Dame, er hätte mit ihr sprechen können, als wäre sie ihm vertraut seit langer Zeit.

»Sie sind hier ganz allein in Leipzig?« fragte sie.

»Ja, Gnädige Frau – die Mutter ist in Wien. Sonst habe ich keinen Verwandten.«

»Die Mutter …« Sie sah ihn wieder mit diesem leise zitternden Lächeln in die Augen. »Wie Sie das sagen, ich glaube, Sie müssen ein guter Sohn sein …«

Georg fühlte sein Erröten und hielt dem Blick der alten Dame dennoch stand. Ganz feierlich war ihm zumute. »Die Mutter ist so gut, Gnädige Frau … mein Vater ist gestorben, wie ich noch kaum denken habe können, ich hab' immer nur sie gehabt …«

»Sie müssen mir mehr von ihr erzählen …«

Und Georg sprach von seiner Mutter und von zu Hause. Jede Befangenheit fiel ab von ihm, das Herz wurde ihm ganz leicht im Reden zu dieser feinen alten Frau, die in dem matten grauen Kleid auf dem verblichenen Seidenstuhl saß und zuhörte. Ganz still saß sie, nur die mageren, welken Finger rührten sich manchmal leise, und die Augen lebten.

Als er schwieg, sagte sie nur: »Ich möchte Ihre Mutter kennen – sie muß eine ausgezeichnete Frau sein!«

Georg war glücklich über das Wort.

Als er sich erhob, um sich zu empfehlen, schüttelte Frau von Hellstein nur lächelnd den Kopf.

»Nein, lieber Herr Bang, gar so eilig dürfen Sie's nicht haben! Wollen Sie denn meine ›Raben‹ nicht kennenlernen? Wer die sind? Nun sehen Sie, was Sie noch alles bei mir lernen müssen! Sie bleiben zu Tisch – oder haben Sie Besseres vor? – Was? ›Nicht stören?‹ Mein lieber Herr Bang, nie Worte sagen, die nicht aus dem Herzen kommen! Oder bleiben Sie nicht gern? – Nun also! … Und jetzt sind Sie so lieb und drücken zweimal auf den Knopf dort an der Wand und setzen sich dann schön wieder auf Ihren Platz.«

Das alles kam so mütterlich, so gut heraus, daß Georg sich ganz glücklich fühlte, bleiben zu dürfen.

Als er kaum wieder auf dem Platz saß, trat der alte Diener ein und setzte sich in Positur.

»Gnäd'che Frau befehlen?«

»Ach, Geidel, legen Sie doch noch ein Gedeck mehr auf. Herr Bang bleibt zu Tisch.«

Der Diener zog die weißen Augenbrauen hoch. Eine gravitätische Ergebenheit lag auf seinen Zügen. »Schon besorcht, gnäd'che Frau. War vorauszesehen.«

Die alte Dame sah ihn an und mußte lächeln.

»So? dann ist es gut.«

Der Diener ging wieder.

Als er draußen war, wendete sich Frau von Hellstein gleich zu Georg. »Das war der alte Geidel – er ist seit über dreißig Jahren bei mir im Hause – schon seit der Zeit, da noch mein Franz gelebt hat. Der hat ihn gerne leiden mögen – so lasse ich ihm manches durchgehen.« Dann lächelte sie wieder. »Stellen Sie sich gut zu dem alten Geidel – er kann Ihnen viel nützen! Er serviert nämlich bei Tisch, und wen er mag, der hat's gut. Fragen Sie nur die ›Raben‹ – Ja so, die ›Raben‹!«

Sie stand auf und schritt zu dem Fenster.

»Sehen Sie das Häuschen, das dort im Hintergrund des Gartens steht? Das ist mein ›Rabenhaus‹. Da wohnen seit vielen Jahren immer sieben junge Künstler, die in Leipzig studieren. Als mein Franz gestorben war, habe ich das kleine Haus zur Erinnerung an ihn gestiftet. Da wohnen die jungen Leute, jeder hat sein Zimmer, und auch für Frühstück und Heizung ist gesorgt. Und da studieren sie. Des Sonntags aber sind sie von Mittags an meine Gäste. Sie werden sie kennenlernen, alle sieben. Es sind ganz prächtige junge Leute darunter – Falk, der Cellist, der Geigenspieler Schmerlin und der Bildhauer Teltscher. Natürlich sind nicht alle gleich – aber im ganzen kann ich zufrieden sein …«

»Und für die alle sorgen Sie, Gnädige Frau?« Mit großen Augen sah Georg auf die zarte alte Dame.

Sie lächelte. »Ich für sie – und sie für mich. Ich brauche Jugend um mich, mein lieber Herr Bang – und das wird mir mein alter Geidel auch nicht mehr abgewöhnen, wenn's ihm auch schwer fällt, sich darein zu fügen. Und dann, die jungen Leute bringen mir eines: die Musik. Ich habe ein Hausorchester – Kammermusik – auf das ich stolz sein darf: junge Menschen, die Künstler sind und die mich lieb haben … Sie spielen mir die schönen Sachen von meinem Franz – aus seinen Konzerten und Opern und Sinfonien – sie machen mir die lieben alten Erinnerungen wieder lebendig und bringen mir auch alles Neue von draußen in mein altes Leben. Alles – ja, ja – auch diese ganz neuen Sachen, die noch moderner sind als Richard Wagner – mein Gott, was wohl mein Franz, der so viel auf die reine, edle Schönheit hielt, zu diesen Tongewirren gesagt hätte …«

Durch den feinen Flockenfall, der leise über den Garten draußen niedersank, kamen ein paar junge Leute von dem Rabenhause her auf die Villa zugeschritten.

Und Frau von Hellstein nickte ihnen vom Fenster aus zu. »Da kommen sie schon!«

Gleich darauf gab es Stimmengewirr auf der Diele – vergnügte junge Stimmen und die zurückhaltend ergebene des alten Geidel – dann ging die Tür auf, und die ersten von den »Raben« traten ein …

Als Georg gegen Abend nach Hause schritt, war er erfüllt von all den Eindrücken des Tages.

Weicher Schnee lag auf den Straßen, und immer noch weiter sanken die Flocken in dichtem Fall. Sie setzten sich ihm auf den Hut und Winterrock und schwebten ihm, sachte sich wiegend, vor den Augen nieder, daß er nur wenig Schritte weit vor sich hin sehen konnte. Und doch war ihm so wohl im Schreiten durch den windstillen Abend.

Sonntäglich frohe Menschen eilten im Dämmerlicht an ihm vorüber, weiß angestäubt vom neuen Schnee wie er. Wie im lustigen Einverständnis trafen ihn ihre Blicke, und alles, die Menschen und die Dinge, die Häuser und die Straßen, schien ihm nicht so fremd wie sonst. Auf dem Marktplatz, gerade vor dem alten Rathaus, geriet er mitten in eine Schneeballenschlacht hinein.

Und wie er stehen blieb und diesem munteren Treiben der Schaar von jungen Leuten zusah, rief plötzlich einer: »Ei, Herrchee! Hat der ä scheen' Hut!« Und im selben Augenblick kam auch schon einer von den weichen Ballen stiebend ihm an die Schulter geflogen. Einen Augenblick lang war es ihm, als sollte er sich bücken und gleichfalls einen Wurf zur Antwort geben. Dann aber schüttelte er leise den Kopf. Und er lächelte dem Angreifer zu, während er sich den dicken Schnee vom Rocke stäubte und weiter schritt.

Und wieder war diese stille Leichtigkeit und Freude in ihm.

Er sah den Kreis von frohen und vergnügten Menschen wieder vor sich, wie sie da in dem ernsthaften, schönen Speisezimmer um Frau von Hellstein zu Tisch gesessen hatten, und dachte der Gespräche, die da von Mund zu Mund gegangen waren. Er durchdachte wieder die Stunde nach Tisch, da die Hausfrau sich zurückgezogen hatte und die »Raben« und er dann im Bibliothekzimmer saßen und in den Bilderwerken blätterten, während einzelne weiterdiskutierten. Und dann das Schönste von allem: das Spiel der »Raben« im Musikzimmer.

War das Musik gewesen …

Erst der junge Russe – Ossip Schmerlin – ein magerer, hochgewachsener junger Mensch mit gelblicher Haut und kohlschwarzem Haar. Einer von den »Raben«, er wußte nicht mehr welcher, hatte Georg erzählt, daß der Schmerlin ein armer Jude aus einem russischen Dorfe sei – er hätte nie studieren können, wenn Frau von Hellstein sich nicht seiner angenommen hätte. Alles dankte er ihr, alles – auch die wertvolle Geige, die er da in Händen hielt. Aber wie spielte er …! Georg hatte nie gewußt, daß eine Geige so singen könne. Ganz hingenommen war er von dem Spiel. Als Schmerlin geendet hatte, war Frau von Hellstein auf ihn zugegangen und hatte seine beiden Hände genommen. »Ich danke Ihnen, mein lieber Ossip!« Und da war der hagere, gelbe Kopf des Geigers ganz rot geworden vor Glück, und wie bedingungslose Treue und Dankbarkeit hatte es aus den dunkelen Augen geleuchtet.

Dann hatte der junge Sänger Fournier gesungen, ein hübscher stattlicher Mensch von etwa zweiundzwanzig Jahren, aus dessen Wesen ein schlecht verhehltes Selbstbewußtsein sprach. Er gab die Arie aus einer Rolle, die er studierte. Seine Stimme war groß und tönend, und doch, das, was dem Vortrag von Ossip Schmerlin die Innigkeit und Tiefe gegeben hatte, das fehlte ihr. Und nach dem Sänger war das Trio gekommen – ein wunderbares Werk des alten Haydn. Falk hatte das Cello gespielt, ein Herr Weber die Geige, und am Klavier hatte Eugen Tramm gesessen, der älteste der »Raben«.

Wie ein Strom hatte diese Musik Georg ergriffen. Da fluteten die Töne und Melodien in breiten Wellen und trugen ihn und hoben ihn und klangen an, an all' sein Fühlen. Als ob er träumte, war ihm zumute. Tausend Bilder schlossen sich auf in seiner Seele. Erinnerungen wurden wach und sehnsüchtige Wünsche – Schwermut stieg auf in ihm und Schmerz, dann aber kam mit gütig milden Schritten die Heiterkeit und wischte alles Trübe hinweg von seiner Seele …

An zu Hause hatte er denken müssen. Er sah sich an der Hand der Mutter als kleinen Buben in der Kirche und sah den Priester, der das Allerheiligste zur Wandlung hob, während die Menschen alle das Knie zur Erde beugten – er sah sich mit Sephi neben dem Harmonium vor Heinrich Gerold stehen und hörte ihre eigenen Stimmen, wie sie zu diesen ernsten, düsteren Klängen, die so voll Weh und Trauer waren, die Kinderlieder ihrer frühen Jugend sangen. Und er sah auch die Stunde, da Herr Gerold zur Erde wiederkehrte, und hörte das Rauschen der schneebeladenen Trauerweiden und das Flüstern des ewigen Friedens da draußen: »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir …« Dann aber ward es lichter in den Tönen. Die Mutter! Wie sie jetzt wohl seiner dachte – und er und Sephi, wie das werden mochte!

Leise, während die Musik zwischen den Sätzen für Sekunden schwieg, hatte er zu Frau von Hellstein aufgesehen. Sie saß still, das zitternde verträumte Lächeln auf dem alten, knitterigen Gesichtchen. Und ihre ein wenig geröteten Augen hingen an dem Bilde Franz von Hellsteins über dem Flügel und waren doch wie fort in weiter Ferne.

Als das Rondo des dritten Satzes verklungen war, nickte sie.

»Haydn,« sagte sie dann, und ihre Stimme zitterte dabei ein wenig. »Haydn … der hat die Tiefen unseres Menschentums gekannt … Und jetzt glaubt jeder, daß es seine Tiefen sind, durch die er führt … Haydn …« Und sie wischte sich mit dem zarten Tüchlein über die Augen und warf noch einen Blick auf das Bild des lang' verstorbenen, schönen Mannes mit dem dunkelen Lockenhaar und dem kühnen Auge.

Sie lächelte schon wieder still und gütig, als sie den drei jungen Männern die Hand reichte.

»Schön, schön haben Sie das gebracht …«

Dann war noch eine Stunde in angeregtem Plaudern beim Tee gefolgt. Um schöne und edle Dinge war die Rede gegangen, um große Menschen und ihre Schöpfungen. Da hatte einer von einem neuen Buch erzählt, das er gelesen, dort war man auf ein Werk klassischer Malerei gekommen. Und jeder gab zu diesen Hin- und Widerreden das Seine. Auch Georg, dem die prunklos stille Einfachheit des Tones die Zunge löste. Über dem allem aber hatte die feine alte Frau gestanden in ihrem matten grauen Kleid. Ganz sachte führte sie die Fäden, mit einem Lächeln lenkte sie die Dinge, daß nirgend Zwang und nirgend Härte war und doch kein Mißton diese Stunde trübte.

Als eine Pause eingetreten war, hatte Georg sich empfohlen. Voll Güte hatte Frau von Hellstein dabei seine Hand gehalten. »Über acht Tage – nicht wahr? Ich meine, wir wollen das ein für alle mal gesagt sein lassen. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, mein lieber Herr Bang, dann kommen Sie des Sonntags zu mir und zu meinen ›Raben‹. Grüßen Sie mir Herrn Gutkind – ich lasse ihm danken, daß er Sie zu mir geschickt hat. Und wenn Sie Ihrer Frau Mutter schreiben, so bringen Sie ihr gleichfalls meine Grüße.«

Georg hatte die kleine welke Hand geküßt, ehe er gegangen war.

Und mit herzlichem Händedruck war er auch von Falk, dem Cellisten, geschieden, von Ossip Schmerlin und von Joseph Teltscher …

Als er nach Hause kam, da gab es ein Fragen schier ohne Ende:

»Aber nu, Pang – so lange wechzepleiben! Kanz ängstlich is' uns schon kewäsen! Nu haben Se denn ooch kegessen? Cha? – Schließlich haben wir cha kedacht, daß Se bei der Frau von Hellstein ze Tische keplieben sein werden. Und nu erzählen Se doch – das 's cha wohl e kanz sonderpare alte Dame? Nu, was mer so hert, se soll cha immer e kanzen Haufen junger Leite um sich haben …« Frau Karola Thienemann konnte gar nicht zur Ruhe kommen.

Und Georg erzählte. Er mußte berichten, was es zu Tisch gegeben hatte, was Frau von Hellstein über Herrn Gutkind gesagt hätte, und daß er über acht Tage wieder dort eingeladen sei.

Den ganzen Abend blieb das Thema noch lebendig, Georg fühlte sich seltsam erleichtert, als er dann nach dem Abendessen in seiner Stube war und vor dem Stehpult all' das noch einmal dankbar überdenken konnte – wofür er vor Herrn August Thienemann und Frau Karola die Worte nicht gefunden hatte …

Von da ab waren Frau von Hellsteins Villa, der Garten darum und das Rabenhaus der Ort, dahin das Leben Georg Bangs zu seinen sonntäglichen Andachtsstunden ging.

Hier fand er nach dem Arbeitsdienst der Woche die Freude und die Schönheit, und hier genoß er immer wieder Augenblicke gleich jenen, da bei seinem ersten Hiersein das Trio Meister Haydns von allen Tiefen dieses Lebens zu ihm gesprochen hatte. Und er fühlte, daß sein Dasein wuchs, daß er reifer und stärker wurde in diesen Augenblicken.

Aber auch Heiterkeit fand hier den Weg zu ihm und treue Freundschaft. Zwei von den Sieben waren es vor allen, die Georg nähertraten – die beiden, die ihn schon gleich anfangs am meisten angezogen hatten, Falk, der Cellist und Joseph Teltscher, der Bildhauer. Sie fanden sich mit ihm nicht nur bei dem sonntäglichen Zusammentreffen bei Frau von Hellstein enger als die anderen, auch außerhalb der Villa traten sie bald in näheren Verkehr mit ihm. Und beide jungen Künstler, so verschieden sie auch waren in ihrem Wesen und so wenig sie untereinander sich verstanden, gewannen tiefere Bedeutung für seine Entwicklung.

Was Georg Bang so sehr zu dem Cellisten zog, das war ein seltsam aus Bewunderung und Sehnsucht gemengter Drang, ein Trieb, den Freund mit allem Kult der Hingabe und des Gefolgschaftsdienstes zu umgeben. Der nämliche Trieb, der einstmals Georgs Knabenfreundschaft zu Hans Gerold sein Gepräge gab, der ward auch in dem Jüngling hier noch einmal wach. Er ließ all die guten Seiten Falks Georg noch glänzender erscheinen und milderte die Schwächen in dem Bild des Freundes.

Falk war nahezu vier Jahre älter als Georg, ein schlanker, junger Mann mit edel geschnittenem Gesicht, freiem blauen Auge und weichem gewellten Haar. Sein Wesen war voll Feuer und voll Freudigkeit, und seine ungezwungene Frische, seine sorglose Leichtigkeit erschienen dem mehr stillen Georg als wunderbare Gaben. An allem konnte sich die Phantasie des Musikers entzünden, dann aber waren stets ein Trieb, sich mitzuteilen, und eine Kraft, den anderen mitzuziehen, in ihm, denen sich Georg so gern hingab. Er fühlte die mühelose Überlegenheit des Freundes und bewunderte ihn darum, ohne nach den Grenzen dieser Überlegenheit zu forschen. Er folgte den Gedanken, die jener ausgab, und ging noch weiter auf deren Wegen, wenn Falk schon lange wieder auf neuen, fern dem alten Stoff liegenden Gebieten sich tummelte. Und er merkte kaum in all' seiner Bewunderung für diese geistvolle Leichtigkeit, daß seines Freundes Wesen meist doch nur an der Oberfläche all der Dinge blieb, die in ihm selber sich in zähem Festhalten und Weiterschreiten langsam doch Schritt für Schritt vertieften. So ward Karl Falk zum fruchtbaren Anreger für Georg Bang, und aus den Gesprächen über Gelesenes, Gehörtes und Geschautes, aus den gelegentlichen gemeinsamen Gängen in das Museum, in das Theater und in Konzerte des Konservatoriums wuchs für Georg ein Teil des Lebens, das nun neben der sehnenden Erinnerung die Abende in seiner schmalen himmelblauen Stube füllte.

Und noch etwas wob sich da um den Musiker, das Georg mit geheimnisvoller Macht anzog, das ihm Scheu einflößte und doch den Freund ihm näher brachte zugleich: Falk hatte eine stille Liebe. In ganz beiläufigen Bemerkungen, in halben, hastig hingeworfenen Sätzen hatte er das mehrmals angedeutet, immer in einer Weise, die erkennen ließ, daß er in Georgs Schweigsamkeit sein tiefstes Vertrauen setzte, und daß Georg der einzige sei, dem er von diesem besten Schatz seines Lebens sprach. Georg aber hatte dann stets ernst und erregt zugehört. Und wieder war dann, wie ein Echo aus seiner Knabenzeit, ein Gefühl der Hingabe an das Schicksal seines Freundes in ihm, so stark, so bedingungslos: er hätte nicht um alles Falks Geheimnis jemals preisgegeben. Er hielt, was der ihm anvertraute, heilig und hoch, als wäre es das Beste seines eigenen inneren Erlebens.

Einmal auch hatte Falk ihm ein Gedicht zu lesen gegeben, das er gemacht hatte. Es hieß »Traumbild« und sprach von dem Erscheinen und Verschwinden der sehnsüchtig Geliebten im fieberschweren Traum. Ganz ergriffen von den Versen und zugleich dankbar hingenommen von dem Beweise des Vertrauens, hatte Georg das Blatt damals zurückgegeben. Ihm schienen die Verse schön wie irgendwelche. Er mußte an Heinrich Heines »Buch der Lieder« dabei denken, das er kurz vorher erst gelesen hatte. Es stand fest in ihm, daß Falk auch als Dichter Bedeutendes leisten würde.

In der Aussprache, die damals zwischen den beiden jungen Menschen stattfand, bot der Musiker Georg Bang das Du an. Und der nahm es wie ein köstliches Geschenk.

Seitdem sprach Falk öfter als vorher in dunkeln Worten von seiner Liebe, und Georg glaubte aus allem zu erkennen, daß Hindernisse sich zwischen den Freund und die Geliebte stellten, aber er fragte nicht, er hätte es nicht übers Herz gebracht, auch nur mit einem Wort von sich aus an dem zu rühren, was den anderen beschäftigen mochte. Nur seine Gedanken umstrichen und umschwärmten diese stille Liebe und verklärten das Leid des Freundes in romantischen Phantasien.

Dann bei einem Schülerkonzert im Konservatorium hatte Falk »sie« ihm gezeigt – ein rosiges junges Geschöpf von großer Lieblichkeit. Sie saß neben einer andern jungen Dame, die um einige Jahre älter sein mochte, ihrer Freundin, wie Falk sagte. Und Georg sah, wie sich während des Konzerts die Blicke der beiden jungen Menschen, die einander liebten, immer wieder trafen, und wie in den großen, wunderbar sanften braunen Augen des Mädchens, wenn sie hinüberblickte zu Falk, der an einer Marmorsäule des einen Seitenganges lehnte, die sehnsüchtige Liebe lag.

Auf dem Heimweg war Falk lange schweigsam.

Er hatte den Kragen des Winterrocks aufgeschlagen und den breitrandigen schwarzen Hut in die Stirn gedrückt. Dabei blickte er wie in Sinnen verloren mit auf die Brust gesenktem Haupt vor sich hin, und mehrmals seufzte er und schüttelte leise den Kopf.

Dann sah wohl Georg voll scheuer Teilnahme zu ihm hinüber. So schritten sie beide wortlos dahin durch die nächtlich stillen Straßen, die ein feines stäubendes Regengeriesel erfüllte.

Und plötzlich begann Falk zu reden, immer noch ohne Georg anzusehen und ohne seine Schritte zu hemmen. Ein seltsam düsterer Ernst, eine getragene Feierlichkeit lag in seiner Stimme:

»Ja, mein Junge, jetzt hast du sie gesehen, und jetzt wirst du vielleicht verstehen, was sie mir ist! Alles! Mein guter Engel, meine Heilige, mein Talent – mein ganzes Leben. Denn wenn ich jemals etwas Bedeutendes erreiche in meiner Kunst, dann ist's durch Else, und wenn ich heute schon ein anderer Kerl bin als früher – ich meine, anders in meinem inneren Wesen, in meiner Weltanschauung – dann ist das ihr Einfluß, dann verdanke ich ihr das. Du kennst mich nicht lange genug, um das beurteilen zu können; ich war ja früher ganz anders. Du hast vielleicht gesehen, wie viele von den jungen Konservatoristinnen ich kenne und grüße. Da sind doch gewiß bildhübsche Mädchen darunter, und ich sage dir – na, um nicht eine kümmere ich mich heute mehr! Überhaupt die andern Weiber … Mir ist ja, als ob es nur noch diese eine gebe. Und wie sie mich lieb hat, wie sie an mich glaubt, an jedes Wort, an mein Können, meine Zukunft, wie sie mich in allem versteht! Aber ich weiß auch, was ich ihr für ihr wunderbares, so kindlich reines Vertrauen schuldig bin. Oh, ich wäre ja der größte Schuft … Mensch, Georg, du hast ja keine Ahnung …«

Er blieb stehen und wendete sich mit einer raschen Bewegung Georg zu. »Weißt du, wer sie ist?«

Georg stand gleichfalls still. Er hob den Kopf und sah den Freund erregt und fragend in die Augen. Er fühlte nicht, wie ihm die feinen, sprühenden Regentröpfchen scharf gleich Nadelspitzen ins Gesicht stäubten und sich festsetzten an seinen Brauen. Hingabe an den Freund und an sein Schicksal erfüllte ihn. »Nein,« sagte er leise.

Falk setzte an zu sprechen, dann blickte er sich um und schüttelte den Kopf.

Sie standen an der Brücke, die vor der Thomaskirche über die Pleiße geht. Von dem Turm der Kirche, in der einstmals Meister Johann Sebastian Bach als Kantor an der alten Thomasschule seine unsterblichen Kantaten und Motetten dirigierte, hallte der Klang der Glocken nieder, und aus dem engen und verschwiegenen Gäßchen dahinter drang schrill quiekende Tanzmusik. Von der anderen Seite aber, aus der »Zentralhalle«, deren von bunten Lampen erhelltes Portal in allen Farben durch das Regenrieseln herüberleuchtete, kamen paarweise, eng unter ihre Schirme geduckt, laut plaudernde Menschen herübergeschritten und erfüllten die Nacht mit ihrem Lachen.

»Nicht hier,« sagte Falk, »komm!«

Schweigend schritten sie über die Brücke und die Straße hinunter, an deren Ende sich düster und breit vorgelagert ein Stück Alt-Leipzig, »Lehmanns Garten«, als ein riesiger dunkeler Häuserkoloß aus der jetzt winterlichen Einsamkeit kleiner Hausgärten erhob. Hier, zwischen den durch hölzerne Zäune abgetrennten Gärten war es still. Wie ausgestorben und ihrem Verfall überlassen, lagen sie im Schein der wenigen trübselig leuchtenden Laternen, die auf die verwitterten Reste des schmelzenden Schnees und auf die kahlen Lauben, Beete und Rabatten herniederblinzelten. Da blieb Falk wiederum stehen. Er war sichtlich ergriffen von der Bedeutung dieses Augenblickes, und wieder hatte seine Stimme jenen getragenen Klang:

»Georg, was ich dir sage – nicht wahr, du fühlst das auch? – das ist eine Stunde, die unvergeßlich sein wird in unserer Freundschaft; ich meine, ich gebe dir da einen Beweis von Vertrauen … aber wir beide verstehen uns, nicht wahr?«

Georg sah wieder in die Augen seines Freundes. So dunkel war es an der Stelle, an der sie standen, daß er die Züge des Gesichts kaum unterschied. Er wollte etwas sagen, seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut – er nickte nur.

»Sie ist die Tochter des Professors Bernhardi, des Orgelspielers. – Du weißt doch, Frau von Hellstein sprach mehrmals von ihm, er ist mit ihr befreundet.«

Er hielt einen Augenblick inne, er schien zu erwarten, daß Georg etwas sagen würde, dann fuhr er fort:

»Im Hause der Frau von Hellstein habe ich sie ja auch kennen gelernt – kurz vor Weihnachten. Frau von Hellstein hatte damals einen musikalischen Abend arrangiert – wir waren etwa zwanzig Menschen. Auch Professor Bernhardi war mit seiner Tochter geladen. Er kam nicht – das sind so eigenartige Verhältnisse dort im Haus, ich kann dir jetzt nicht so darüber sprechen – aber Else kam mit ihrer Freundin, dem Fräulein Molenaar, die ja heute auch mit ihr in dem Konzert gewesen ist. Ja – und ich war ihr Tischherr …«

Ein leises Rascheln, das sich in dem dürren Strauchwerk hinter ihnen regte, ließ Falk einhalten. Mit einer hastigen Wendung kehrte er sich um.

Aber es war nichts weiter, nur eine Katze setzte, aufgescheucht durch die Bewegung, vollends aus dem Gesträuch hervor und sprang in langen Sätzen den regendurchweichten Gartenweg entlang. An einem Staketenzaun verlor sie sich im Dunkel.

Falk wendete sich Georg wieder zu. Er faßte ihn unter den Arm, so schritten sie Schulter an Schulter durch das feine Regengeriesel nebeneinander her – immer auf und nieder zwischen den verlassen und verwahrlost ruhenden Sommergärten.

»Du frierst?« fragte Falk nach einer Weile.

»Nein …«

»Aber du zitterst ja …?«

Georg schüttelte den Kopf und drückte den Arm des Freundes fester an sich.

»Damals bist du ihr Tischherr gewesen …?« sagte er dann. Ein leises, erregtes Fragen lag in seiner Stimme.

Falk atmete tief. »Ja – und siehst du, damals schon, an diesem ersten Tag haben wir es beide gewußt, Else und ich, daß wir zwei zusammen gehörten und zusammenkommen müßten, und daß nichts auf der Welt uns trennen könnte … Siehst du, Georg, du bist ein paar Jahre jünger als ich – ich kann mir nicht denken, daß ich mit einem anderen Menschen in deinem Alter darüber reden könnte – aber du, in dir ist etwas, das mich fühlen läßt, daß du mich verstehst – eine Reifheit über dein Alter hinaus, und noch etwas – du wirst nie etwas Häßliches bei dem denken, was ich dir sage … nicht wahr?«

Wieder nur ein leises Kopfschütteln als Antwort. Georg sah starr vor sich hin auf den Weg, auf dem das blinzelnde Licht der schläfrigen Laternen bleiche Reflexe in den Kot der Straßen malte. Eine Sehnsucht war in ihm, daß er nicht sprechen konnte.

»Denn siehst du, das könnte ich nicht ertragen. Sie ist ja so vollkommen Kind in ihrem Fühlen – da ist ja über allem eine so wunderbare Reinheit … Ja – also an diesem ersten Abend habe ich die beiden Damen nach Hause gebracht. Erst Fräulein Molenaar – die wohnt übrigens hier ganz in der Nähe, in der Zentralstraße – dann Else. Und da auf dem Wege haben wir uns ausgesprochen. Ich habe sie dann natürlich öfter gesehen, auf dem Eis im Johannapark und in den Konzerten, und auch sonst. Wir sind völlig klar, wie wir zueinander stehen – aber wie furchtbar das bei aller Liebe ist, sich nicht ganz gehören zu können, sich heimlich hier und da ein paar Minuten zu stehlen … und wir müssen doch zunächst noch unsere Liebe für uns behalten …«

Ein älterer Mann in verwaschenem Regenmantel, einen derben Stock in Händen, kam wankenden Schrittes zwischen den Staketen heruntergeschritten. Er ging mühsam, wie wenn er allzuschwer geladen hätte.

Als er zu Falk und Georg kam, ließen die beiden einander frei und gaben ihm wortlos Raum. Er schritt zwischen ihnen durch, und bald verlor sich der Klang seiner Schritte hinter ihnen. Nur das Geklapper, wie er nun mit dem Stock ratternd über die Stäbe des Zaunwerkes strich, hallte noch hinter ihnen drein durch die Nacht.

»Herr Professor Bernhardi weiß noch gar nichts davon?« fragte Georg.

»Nein, niemand weiß etwas, nur du und Fräulein Molenaar – die hat es wohl bemerkt. Es hätte ja auch gar keinen Zweck – er würde seine Zustimmung zunächst doch sicherlich versagen – ich bin ja heute niemand – habe nichts – ich muß mein Leben ja erst schaffen … Aber wir werden aushalten! In einem Jahr ist mein Studium beendet, dann kommen die Konzerte und dann – dann …«

Wieder hallte der Klang der Glocken der Thomaskirche herüber. Ganz dumpf nur, wie aus weiter Ferne kommend, schwebten die Töne durch die Winternacht und gossen ihre Wellen über die Ruhe ringsumher aus.

»Jetzt kennst du den Inhalt meines Lebens,« sagte Falk und sah dabei den Freund mit ernsten Augen an. Seine Stimme hatte etwas Düsteres, er schien selbst tief ergriffen. »Leb wohl, für heute – ja – und glaube mir, so oberflächlich und leichtsinnig wie mich der gute Teltscher ja wohl hinzustellen liebt, bin ich vielleicht doch nicht.«

Er drückte Georg die Hand.

»Auf Wiedersehen, Karl – und was du mir gesagt hast …«

Der andere nickte abwehrend. »Schon gut, ich weiß, daß du verschwiegen bist; du fühlst ja, was für uns, für Else und für mich, daran gelegen ist.«

»Und alles Gute wünsch' ich euch … alles!«

Noch einmal drückten sie sich stumm die Hände, dann wendete sich Falk ab und schritt zurück, wieder zwischen dem Zaunwerk hinunter und vorbei an »Lehmanns Garten«, dessen Häuserkomplex breit und düster dalag in all der schweigenden Einsamkeit.

Georg blickte ihm nach, bis die Gestalt im Dunkel entschwand. Dann schritt auch er in der Richtung nach Hause weiter.

Seine Gedanken aber blieben bei dem, was der Freund ihm anvertraut hatte. Sie sannen darüber auch noch nach und kamen davon nicht los, als er dann in der kleinen himmelblauen Stube war und sich entkleidete, wusch und zu Bett legte.

Und nicht nur sie waren lebendig und regten sich in ihm, daß der Schlaf fern von ihm blieb, auch eine Sehnsucht erfüllte ihn, so stark, daß sich das Herz ihm krampfte.

Alles, was er an stiller, tiefer Liebe zu Sephi in sich trug, war aufgerührt und schrie nach ihr.

Stunden lag er so, und ihm ward heiß, daß es ihn im Bett nicht mehr litt. Er stand auf und brannte die Kerze an und trat an das Stehpult hin.

An sie schreiben …? Er legte ein Blatt Papier vor sich hin und tauchte die Feder ein.

Lange sah er dann in das Dunkel der Nacht hinaus, das sich da vor dem Fenster breitete.

Dann schrieb er, aber das war kein Brief …

»Mein Herz ist eine Quellen
Voll Rauschen und voll Klingen,
Darin viel tausend Wellen
Das Lied der Sehnsucht singen.

Das steigt zu nächt'gen Sternen –
Sehnsucht, wo steht dein Haus? –
Und streckt nach deinen Fernen
Die weißen Arme aus.«

* * *

Und wieder das Leben im Gleichklang der Werktage, zwischen denen, wie die ersten Frühlingsblumen im jungen Grün der Wiesen draußen, die Feiertage standen.

Manchen Sonntagvormittag zog Georg nun hinaus in die Umgebung Leipzigs, und meist war dabei nicht Karl Falk, meist war da Joseph Teltscher, der Bildhauer, sein Begleiter. Falk hatte oft geheimnisvolle Vorhaben zu diesen Stunden und ging dann seine eigenen Wege. Denn um diese Zeit spielte Professor Bernhardi die Orgel zu den Aufführungen der Thomaner, da konnte Else noch am ehesten sich unbemerkt mit Falk zusammenfinden.

Und Teltscher war ein trefflicher Führer auf solchen Gängen ins Freie, denn der junge Bayer mit seiner immer regen Naturfreude und Wanderlust war in den zwei Jahren, die er nun schon als einziger Schüler des Professors Kleng in Leipzig arbeitete und im Rabenhause lebte, ein gründlicher Kenner aller landschaftlichen Schönheit der Umgebung geworden.

»Viel is' ja net – da müssen S' Ihnen fei' net auf 'was Großartig's spitzen, aber gell', überall können d' Leut a net Berg' und Almen hab'n. Also war'n S' scho' im Rosental? – Nein? Na' geh'n mer heut ins Rosental – is' ja eh g'rad die rechte Zeit dafür – Rosental heißt's – aber a Knoblauchtal is'. Passen S' auf, was S' da für a G'rüacherl zum Schmecken kriegen!«

Und so schritten sie munter aus, der lang aufgeschossene Georg und der untersetzte stämmige Dachauer Bauernsohn neben ihm. Im Gehen aber plauderten sie, und das derbe Bayerisch Teltschers fand sich mit dem weicheren Wienerisch Georgs zusammen wie mit einer schlankeren, feingliederigen Schwester. Gleich den Sprachen der beiden, so fühlten auch ihre Wesenheiten die Menge der Gemeinsamkeit, und das Vertrauen offener Kameradschaft war von Anfang an zwischen ihnen.

Mehr als mit Falk konnte Georg mit Teltscher über all das sprechen, was ihn beschäftigte. Oft wunderte er sich selbst darüber, woher das kam. Auch das Bedürfnis, von daheim, von seinem bisherigen Leben und von den Seinen zu reden, ward ihm bei dem Zusammensein mit Falk niemals in gleichem Maße wach, wie wenn er mit dem Bildhauer beisammen war. Was wußte er bei aller Freundschaft von Karl Falk – was wußte der von ihm? »Der Falk, das is' a Blender!« – das Wort, das Teltscher von dem anderen einmal gesagt hatte und das Georg damals mit allem Eifer der Freundschaft hatte widerlegen wollen, klang doch bisweilen wieder auf in ihm. Teltscher aber konnte zuhören und konnte sprechen. Und wenn er hörte, fühlte man, daß er mit vollem Herzen bei den Worten war, und wenn er sprach – langsam, als suchte er nach jedem Ausdruck, und mit Bewegungen der Hände, als kneteten die Daumen jeden Satz – empfand man es, daß ihm sein Reden wiederum Herzenssache war, daß er der Aussprache bedurfte. Da war dann niemals eine Spur von Pose oder von Selbstgefälligkeit. Einfach und klar, doch seltsam anschaulich und plastisch, oft hart und scheinbar allzu hart, war seine Meinung über die Menschen und die Dinge. Nur wenig gab es, wofür er sich begeistern konnte, dem Wenigen voran stand seine Kunst.

Wenn er von der sprach, dann gossen sich Kraft und Entschlossenheit über sein ganzes Wesen. Die gemütliche Ruhe wich aus den derben Zügen, und um die breite Kinnlade, die feste runde Stirn und den vollen Mund lag dann ein Ausdruck, als gälte es, im Augenblick in einen Kampf zu treten.

Und er hatte schon manchen Kampf mit dem Leben bestehen müssen, ehe er sich so weit durchgeschlagen hatte. Einfach und mit Worten, als spräche er vom Selbstverständlichsten und nicht von einem jahrelangen Ringen unter Entbehrung, Mittellosigkeit und Not, hatte er Georg manches von dem harten Lebensweg erzählt, den er, der Dachauer Bauernsohn, gegangen war – als Lithographenlehrbub in München, dann als Freischüler an der Akademie und in der Zeit, da er als Achtzehnjähriger die blaue Montur in Passau trug.

Von dort aus hatte er sich dann, als er frei geworden war vom Militär, nach Leipzig durchgeschlagen. Er hatte in München die »Judith« und den »Adoranten« des Professors Kleng gesehen; bei dem wollte er weiterlernen. Und Kleng, der niemals früher Schüler gehabt und alle Lehrstellen, die man ihm angeboten, stets ausgeschlagen hatte, ließ Joseph Teltscher in seinem Atelier arbeiten. Er gab dem jungen Menschen die Empfehlung an Frau von Hellstein und verschaffte ihm Aufträge für eine Baufirma und auf ein paar Porträtbüsten.

»Na, und voriges Jahr,« so schloß damals der junge Bildhauer, »da hab' i' doch den Preis 'kriegt in Dresden für mein' ›Fechter‹, wissen S', die Statuett', die auch bei der Frau von Hellstein steht. Und jetzt geht's aufwärts, das fühl' ich, jetzt kann i's scho' zwingen!«

»Jetzt kann i's scho' zwingen!« der Satz hatte damals besonders lange nachgeklungen in Georg, denn in seiner einfachen, zielsicheren Energie umzeichnete der so recht das Wesen des jungen Bildhauers, der wortkarg Schritt um Schritt sich vorwärts rang.

Und Georg fühlte: so wie er an Falk den leicht beweglichen und geistvoll schwärmerischen Genossen gewonnen hatte, zu dem er aufsah als zu einem wunderbar Begabten, so war ihm Joseph Teltscher der Freund, der fest im Leben der Wirklichkeit stand, ohne Überschwang, aber mit klarem Blick und starkem Willen. Kein Nimbus umgab vor seinen Augen die stämmige Gestalt des derben Bayern; so schlicht war der in seiner Art, so frei von jeder Selbstgefälligkeit, daß Georg oftmals ganz vergessen konnte, welch' feiner Künstler in dem Freunde stak. Er fühlte sich dem anderen gleich, wie sie im Gleichklang ihrer Schritte über die Waldwege und Ackerpfade gingen, und wußte auch, daß Joseph Teltscher, der hier mit seinem festen Bauerntritt führte, nicht anders dachte.

Einmal sprach er mit ihm darüber:

»Wie kommt das: Sie sind Künstler, ein Bildhauer, der doch schon eine Menge erreicht hat, ich bin um Jahre jünger, nur ein Buchhändlerlehrling, und doch finden wir uns zusammen?«

Da war Teltscher stehen geblieben und hatte mit dem Stock auf einen Feldstein aufgestoßen, daß es klang. »Freilich! Is' schon so, jünger sind S'. Aber wissen S', ich hab von meine dreiundzwanzig Jahr vierzehn auf'm Dorf g'lebt. Und nur a Buchhändler sind S'? Sie, i' hab vor dem Stand fei' an Mordsrespekt! Na, auf die Buchhändler laß i' nix kommen! Und dann, was ma' is', das muaß ma' ganz sein, da gibt's fei' kei' ›nur‹. Und wann i' a Ziegeltreiber wär, mir war's gnua, wann mir einer sagen tät': Bist ja nur a Ziegeltreiber!« Förmlich in Erregung hatte sich der kleine Bayer gesprochen.

Dann aber, als er wieder beruhigt war, hatte er sich von Georg von dem Treiben im Buchhandel erzählen lassen während des ganzen weiten Weges. Immer neue Fragen hatte er zu stellen, um Einblick in den Riesenmechanismus zu gewinnen. Und Georg, dem sich in diesen Wochen zum erstenmal das ganze Bild des Kreislaufes in den machtvoll anschwellenden Vorarbeiten zu der bevorstehenden Ostermesse erschlossen hatte, fühlte, während er sprach und schilderte, wie Stolz und Freude ihn ergriffen hielten. Er wußte es: das war dasselbe Fühlen, das nun so oft in ihm erwuchs in all der Arbeit und in all dem Drängen des Tages. Der so bescheidene Platz, auf dem er in dem großen Werk der Arbeit stand, war ihm lieb geworden – das kleine Rädchen, das im Anfang nur mitgelaufen war im Ineinandergreifen des Betriebes, gewann an Schwungkraft und trieb selbst mit an. –

Am Ostersonntag gab es ein kleines Fest bei Frau von Hellstein.

»Sie kommen zu Tisch, mein lieber Herr Bang, ganz wie sonst, und ebenso ›die Raben‹. Und dann vertreiben Sie sich mit denen eine Stunde die Zeit im Bibliothekzimmer oder, wenn's schön ist, im Garten, bis meine anderen Gäste kommen. Mit denen nehmen wir zusammen den Tee, und dann soll musiziert und vorgetragen werden bis zum Abendbrot. Also ich rechne auf Sie.« Frau von Hellstein sah ihn dabei so freundlich und lieb an, daß es wie ein leiser Schimmer vergangener Jahre über dem alten knitterigen Gesichtchen lag.

»Es wird viel Jugend da sein,« sagte sie dann. »Die ganze junge Garde meiner Bekanntschaft habe ich aufgeboten. Es ist schon so schön draußen – wie Frühling – da muß ich alte Frau recht – recht viel Jugend sehen …«

An diesem Ostersonntag lernte Georg dann auch Else Bernhardi und deren Freundin Mariane Molenaar kennen. Mittags schon hatte Falk ihm gesagt, daß die Damen kommen würden, er wußte es von Else selbst, die es ihm bei einem heimlichen Zusammentreffen freudenvoll erzählt hatte. Und nach Tisch, da Frau von Hellstein sich zur Ruhe ein wenig zurückgezogen hatte, kam Georg zufällig gerade dazu, wie Falk mit dem alten Diener Geidel eindringlich und leise wispernd verhandelte. Der Alte, der die Sitzordnung der Abendtafel nach Frau von Hellsteins Angaben zu regeln hatte, sollte »versehentlich« die Karte mit Else Bernhardis Namen – die eigentlich neben dem Gedeck Ossip Schmerlins liegen sollte – neben jenes von Falk legen.

Bald nach vier Uhr kamen die ersten Gäste. Nur wenig ältere Leute – meist Jugend. Unter den älteren Herr Gutkind, der den Kreis aber bald wieder verließ, und Professor Bernhardi, der seine Tochter brachte und dann auch bald wieder ging. Unter den jungen aber Musiker und Musikerinnen, Studenten, ein junger Offizier und eine ganze Zahl von jungen Mädchen aus Frau von Hellstein befreundeten Familien.

Zwanglos fand man sich im Garten, der seine ersten Knospen am Strauchwerk trieb und seine ersten Frühlingsblumen in den Beeten zeigte. Lieb und voll stiller, herzlicher Freundlichkeit stand Frau von Hellstein unter all den jungen Menschen. Von einem ging sie zum anderen, und für jeden hatte sie ein besonderes Wort, das ihm von ihrer Teilnahme an seinem Lebensgang und an dem, was ihm Ziel und Streben war, sprach. Lange stand sie auch so bei Else Bernhardi und hielt deren Hand. Sie sprach zu ihr, und das schöne junge Geschöpf senkte die Lider über die großen samtweich blickenden Augen und sah mit einem gequälten Lächeln zu Boden, während sie Antwort gab.

So sah Georg die beiden, und er fühlte: es drückt sie, daß sie hier das reiche, offene Herz der mütterlichen Frau erkennt und doch aus deren Haus heimlich wie eine lichtscheue Erwerbung – ihre Liebe trägt. Und diese Liebe, die leuchtete immer wieder in rührender Hingabe auf in diesen Stunden.

Einmal hatte sich Else niedergebückt zum Rasen und eine kleine Blume aufgenommen. Als sie dann aufsah, traf sich ihr Blick mit dem von Karl Falk, der es vermied, auffallend viel bei ihr zu stehen. Da hielten diese Augen sich wie im Kuß gefangen. Ein heißes Rot zog über Elsens Wangen, dann führte sie wie in einer unwillkürlichen Bewegung die Blume an die Lippen. Im Weiterschreiten aber legte sie sie sachte auf einen Gartenstuhl …

Und wieder sah nun Georg, wie Falk scheinbar ganz zufällig zu jenem Stuhl trat und nach der kleinen Blume griff …

Ein sehnsüchtiges Fühlen stieg in Georg auf. Wie feine silberglänzende Fäden umwoben ihn die heißen Blicke der beiden, die sich liebten und in heimlicher Zwiesprache fanden. So einsam kam er sich mit einem Male vor in diesem Garten mit seinem jungen Frühlingstreiben. Mit einem wehen Zug um Mund und Augen sah er hinüber nach der Stelle, wo Falk die kleine Blume sich ins Knopfloch steckte. Und bei dem Schmerz und dem Sehnen, die nun so jäh in ihm erwacht und rege waren, zog es ihm durch den Kopf: Wie kann er nur … wie kann er nur …! Er müßte diese Blume küssen und verbergen als etwas Heiliges – und er trägt sie im Knopfloch vor den anderen …

Da hörte er eine helle, weiche Stimme neben sich, und Joseph Teltschers Hand, die sich ihm derb auf die Schulter legte, schreckte ihn auf aus seinem Träumen.

»Sie, Bang, was is' denn?! Alsdann passen S' auf, jetzt widerfahrt Ihnen Heil!« Er wendete sich wieder zu Fräulein Molenaar, mit der er zu Georg hingetreten war. »Also Fräul'n, das is' mein Freund Georg Bang – genügt das als Vorstellung?«

Sie nickte und lächelte dabei und streckte Georg die Hand hin. »Da Sie ihn Ihren Freund nennen, Herr Teltscher, ist es ja mehr als eine Vorstellung – eine ganz schwerwiegende Empfehlung!«

Wieder dieser milde klare Klang ihrer Stimme.

»So is' auch g'meint!« sagte Teltscher. »Und Sie, Bang, Ihnen blüht heut abend das Vergnügen, das Fräulein Molenaar als Tischnachbarin zu haben …« Dann reckte er sich mit einem Male auf und blickte nach der Gartentür, durch die soeben ein großer breitschulteriger Mann mit rotem Vollbart eingetreten war. »Mein Professor …!«

Und fort war er, um seinen verehrten Lehrer zu begrüßen.

Fräulein Molenaar schaute ihm nach mit lächelnden Augen. »Ein prächtiger Mensch …«

»Ja,« sagte Georg und stand still und ein wenig verlegen neben dem schlanken zierlichen Mädchen.

»Von Ihnen hat er mir übrigens schon eine ganze Menge erzählt – ich kenne Sie also schon ein wenig … Nicht dem äußeren Menschen nach – aber sonst …«

Sie schwieg. Georg war rot geworden. Nun sah er ihr in die klaren graugrünen Augen, über denen eine zarte Wimpernreihe goldig schimmerte. Ein warmer Schein brach aus diesen Augen und lag über dem edlen feingeschnittenen Gesicht. Das war nicht eigentlich schön, dazu war es zu unscheinbar, aber es hatte eine wunderbar helle Farbe – beinahe wie Elfenbein. Und wieder lag auch ein weicher Goldton darin von den hellen kaum sichtbaren Sommersprossen über dem Nasenrücken und auf den Wangen.

»Ich sehe Sie nicht zum ersten Male,« sagte Georg. »In einem Konzert, glaube ich, vor kurzem … Mein Freund Falk hat mich auf die Damen aufmerksam gemacht und mir gesagt, daß Sie hier im Hause verkehren.«

Sie nickte. Ein kleines Fältchen grub sich für einen Augenblick senkrecht in ihre Stirn und verschwand wieder. »Ja? … So, Sie sind mit Herrn Falk besonders befreundet? Ich kenne ihn nicht näher, ich höre nur, er soll sehr talentvoll und geschickt sein.«

Da begann Georg das Lob seines Freundes zu singen, und Fräulein Molenaar hörte ihm mit klugen Augen zu. Manchmal, während er sprach, war ein feines Lächeln um ihren Mund, und auch das Fältchen auf der Stirn war einmal noch gekommen und wieder gegangen.

Als er schwieg, sagte sie: »Sie sind ein lieber, guter Mensch, Herr Bang, geben Sie mir einmal Ihre Hand – so!« Und sie drückte ihm fest und kameradschaftlich die Hand und sah ihn voll und lange an dabei.

Da wußte er, daß sie das Schicksal ihrer Freundin Else kannte und daß sie Sorge um sie in ihrem Herzen trug …

Still stand Georg noch, ergriffen von einer tiefen zitternden Erregung, als vom Hause her die Stimme des alten Geidel klang, der die Gäste zum Tee ins Zimmer rief. –

Und diese Erregung blieb in Georg. Sie verließ ihn nicht während des Tees und auch später nicht, als im Musikzimmer die Vorträge sich aneinander reihten. Sie ließ ihn hastig hinüberblicken zu Fräulein Mariane Molenaar, so oft er sah, daß sich die Augen Elsens mit denen Falks zusammenfanden, oder daß ihre Finger sich hier an einem Notenblatt, dort an einer Stuhllehne wie zufällig berührten. Sie zog ihn hin zu ihr, mit der er das Geheimnis der beiden anderen wortlos teilte. Und je mehr ihm neben der heißen jungen Liebe dieser beiden die eigene Einsamkeit das Herz beklemmte, um so stärker ward in ihm die unbewußte Sehnsucht, diese milde, klare Stimme wiederum neben sich zu hören – diese Hand wiederum zu halten …

Eine Unruhe war in ihm, daß er den Vorträgen kaum folgen konnte, und dennoch fühlte er, wie die Musik ihn ergriff, wie die Melodien, die in breiten Wogen durch das Musikzimmer zogen, sein Inneres aufrührten und erschütterten.

Einmal, als er hinübersah zu Fräulein Molenaar, lag ihr Auge voll und ruhig auf ihm, als läse es in seinen Zügen. Da irrte sein Blick wiederum ab und ging unstet über die anderen Gäste. Über die musizierende Gruppe hin sah er starr in die Ferne. Aber er wußte, daß diese beiden hellen Augen noch immer ernst und forschend auf ihm ruhten.

Bei Tisch saß er dann neben ihr. Aber was sie da auch sprachen, ihre Worte gingen fremd aneinander vorbei, als fürchteten sie, einander zu nahe zu kommen, und als tasteten sie bei jedem Schritt im Gespräch erst, ob der Grund, auf dem sie standen, auch sicher sei. Von gleichgültigen Dingen redeten sie, von Büchern und von Musik, und wußten dabei doch beide, daß das nur Worte über ihrem Fühlen waren. So ging das, drückend und erwartungsvoll zugleich – bis Fräulein Molenaar nach einer Pause ruhig und einfach von ihrer Freundin zu sprechen begann:

»Sie haben Herrn Professor Bernhardi heute gesehen? Er ist ein großer Künstler, aber kein glücklicher Mensch. Sie kennen seine Verhältnisse nicht? Nun ja, es war eine sehr unglückliche Ehe. Jetzt ist er seit Jahren verbittert, vergrämt. Das Kind ist ihm damals zugesprochen worden … sie hat bisher nicht viel Freude gehabt in ihrer Jugend. Ich bin um ein paar Jahre älter als Else und kenne sie seit langem … ich weiß, was alles in ihr ist – das Beste, Reinste, Edelste. Sehen Sie, Herr Bang, Sie haben mir da früher gesagt, daß Sie hier bei der Frau von Hellstein ein Buch gelesen hätten: ›Die Götzendämmerung‹. Ich weiß nicht, ob Sie mit dem Lesen Nietzsches nicht noch Zeit gehabt hätten …« Sie lächelte ein wenig, und ein feines Rot ergoß sich über ihr Gesicht. »Ich habe übrigens auch manches von ihm gelesen. Ja – staunen Sie nur, es ist doch so … und da ist eine Stelle, die steht in seinem Buch ›Die fröhliche Wissenschaft‹ – an die muß ich immer wieder denken. Ich kann sie Ihnen nicht wörtlich sagen, aber ungefähr heißt es da: ›Es gibt edle Frauen, die, um ihre tiefste Hingabe auszudrücken, sich nicht anders zu helfen wissen, als daß sie ihr Höchstes rückhaltlos dem Geliebten bieten. Und oft wird dieses Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpflichten, wie die Geberinnen voraussetzen …‹ Nietzsche fügt dann noch hinzu: – ›eine sehr schwermütige Geschichte!‹«

Sie schwieg.

Und Georg saß still und hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt. Seine Finger zitterten auf dem weißen Damast, und er fühlte, wie ihm das Blut heiß und angstvoll zum Herzen drang.

Da war der Name seines Freundes von Fräulein Molenaar auch nicht genannt worden, und doch sah er nun klar, was sie bewegte. Die Sorge, die in ihr gewesen, war auf der Brücke ihrer Worte auch ihm ins Herz gedrungen, und sie verließ ihn nicht, trotz all der bewundernden Liebe, die er für Falk stets empfunden hatte.

Er sah auf, zu dem Freunde hinüber, der an der anderen Seite mit geneigtem Kopf eben zu Else sprach. Ein sorgloses Lachen stand dabei um Falks vollen Mund, und seine Augen baten. Die kleine Blume aber, die das erregt aufhorchende Mädchen neben ihm vor wenig Stunden heimlich geküßt, und die er dann in das Knopfloch seines Rockes gesteckt hatte, hing müde und welk hernieder …

An diesem Abend geschah es zum erstenmal, daß Georgs Gedanken vor seinem Einschlafen nicht auch in Wien bei Sephi waren.

Lange, lange hatten sie erst bei Falk geweilt und bei der Tochter des Professors Bernhardi. Dann aber waren sie sacht hinübergezogen zu Mariane Molenaar, die so offen und voll gütiger Sorge zu ihm gesprochen hatte. Er hörte wieder ihre Worte – den milden, klaren Klang ihrer Stimme und sah ihre Augen auf sich gerichtet – helle, graugrüne Augen, über denen eine zarte Wimpernreihe goldig schimmerte.

Eine scheue Sehnsucht, sie wiederzusehen, mit ihr zu sprechen, war in ihm. Sie war so klug – und was sie sprach, schien ihm so wunderbar klar …

Bis in seine Träume wob sich ihr Bild. –

 

Zu Ostern schied Adolf Winkler aus dem Haus A. G. Gutkind aus. Seine Lehrzeit war beendet, er war nunmehr Gehilfe und nahm als solcher eine Stellung in einer großen Newyorker Kolportagebuchhandlung an. Seit Monaten hatte er sich schon bemüht, einen Platz im Ausland zu finden, nun war er glücklich, daß ihm das gelungen war. Georg aber rückte mit dessen Scheiden zum zweiten Lehrling auf, während der Sohn eines von Herrn Felix Gutkinds Kommittenden als neuer »Jüngster« eintrat. So war die schlimmste Zeit für Georg überwunden, die Arbeiten, die ihm nun überwiesen wurden, boten doch mehr Abwechslung, ließen ihm mehr Spielraum für eigene Erwägungen, forderten mehr Selbständigkeit und Umsicht. Und Georg trat an diesen neuen Platz der Arbeit mit einer stillen, stolzen Freude hin. Nun war er doch nicht mehr der Letzte, und was er schuf, gewann im Gange des Geschäfts an Bedeutung. Diese Gehobenheit, die in ihm war, spornte ihn an, sie sprach aus seinen Briefen, die nach Hause an seine Mutter gingen und froh von jenem Wechsel Kunde gaben, und drückte sich in seinem ganzen Wesen aus.

Doch da war noch etwas in dieser Zeit, das ihn zu reger Arbeit trieb. Ganz unvermittelt kam es manchmal über ihn – als Blutwelle, die ihn mit heißem Schwall überflutete, daß sein Herz stark und stürmisch klopfte, oder als eine weiche, milde Woge, die sich auf einmal träumerisch und lähmend um sein Denken legte. Was es war, wußte er anfangs nicht, und er empfand nur seine Süßigkeit. Dann aber wuchs ein Widerstand dagegen in ihm auf, er gab sich diesen Augenblicken nicht mehr hin. Er floh sie, wenn er sie nahen fühlte, und waren sie doch über ihn gekommen, dann zog er die Brauen zusammen, umgriff den Federhalter fester und wollte sie mit starkem Willen überwinden in gesammelter Arbeit.

Am Sonntag nach dem Fest bei Frau von Hellstein hatte ihm Karl Falk gesagt: »Nun, ihr habt euch ja sehr eingehend unterhalten, Fräulein Molenaar und du. Du scheinst übrigens sehr Gnade gefunden zu haben vor ihren Augen – Else sagt's. Mein Geschmack ist sie ja nicht – immerhin: ich gratuliere!«

Da war Georg rot geworden und hatte nur hastig den Kopf geschüttelt und dann von anderm gesprochen. Aber ein widerstreitendes Fühlen war dabei in ihm gewesen, ein jähes Glück und Freude über das, was er hörte, und zugleich eine herbe Verstimmung über die spöttische Art, in der Falk gesprochen hatte. Wie eine Kluft war es in diesem Augenblicke zwischen ihnen gewesen.

An diesem selben Sonntag aber, wenige Minuten, nachdem die Worte gefallen waren, hatte er Mariane Molenaar gesehen. Er war mit Falk noch an der gleichen Stelle im Garten der Frau von Hellstein, da war sie gekommen, um der Hausfrau ihren Besuch zu machen. Ein paar Sekunden lang nur war sie stehen geblieben auf ihrem Gang in das Haus, ein paar Worte der Begrüßung waren gewechselt, dann hatte Georg die feine, zierliche Gestalt die wenigen Stufen zur Tür der Villa emporsteigen gesehen – dort war sie im Dunkel des Flures verschwunden. Er hatte noch den Druck ihrer Finger in seiner Hand gefühlt. Und wieder war diese heiße Welle in ihm aufgestiegen, lähmend und wunschlos. – Erst als er dann gesehen hatte, wie Falks Augen mit einem leisen überlegenen Lächeln auf ihm ruhten, hatte er sich gewaltsam aus diesem Bann befreit.

Seitdem kämpften Sehnsucht und Scheu in ihm um das Bild Mariane Molenaars. Ein Drang war in ihm, über sie sprechen zu hören, mehr von ihr zu wissen, und er hätte doch um alles niemand fragen mögen – vor allem aber nicht Falk, der doch sicher am besten hätte Auskunft geben können. Einmal war Joseph Teltscher mit wenigen Worten auf sie zu reden gekommen: »Ein ganz prächtiges Frauenzimmer – ein bissel 'was ander's als diese Schneegäns' alle miteinander – –!« Das war alles, was der zu sagen hatte.

Und dann, nach Wochen war wieder ein Tag gekommen, an dem Georg Bang sie sprach.

Wie damals, an jenem Abend, da er sie neben Else Bernhardi zum erstenmal gesehen hatte, war er mit Falk, dem er sonst in der letzten Zeit wenig begegnet war, in einem Schülerkonzert, und wieder waren auch die beiden Damen da.

Aber mehr noch als je vorher fühlte Georg an diesem Abend die Entfremdung, die zwischen ihm und Falk geworden war. Er sah Elsens Augen immer wieder auf seinem Freund ruhen, fragend, bittend und sehnend, und ihm war es, als wäre Falks Antwort an diese Augen nur ein gefälliges – selbstgefälliges Grüßen und Nicken. Ob auch Else das fühlte? Sie schien Georg bleicher als sonst, und etwas Erwartendes, Gespanntes war in ihr, das er früher niemals gesehen hatte.

In einer Pause des Konzerts gingen Falk und Georg zu den beiden Damen, um sie zu begrüßen – der Musiker sicher und mit einer beinah zur Schau getragenen Fröhlichkeit, Georg still und mit erregten Augen. Neben dem Stuhl von Mariane Molenaar stand er eine Weile und sprach mit ihr. Dabei sah er herunter auf die helle blonde Krone ihres weichen Haares und auf die goldig schimmernden Wimpern und die schmalen Hände, die im Schoß ruhten. – Freundlich und einfach, wie immer, redete sie zu ihm, aber er fühlte doch, daß neben ihren Worten ein anderes in ihr war. Mehrmals blickte sie forschend zu Falk hinüber, und einmal nahm sie leise Elsens Hand in ihre Hände.

Erst zum Schluß der Pause schritten Falk und Georg wieder zu ihren früheren Plätzen, aber sie sprachen wenig miteinander; Georg war es, als trennte eine unsichtbare Wand ihn von dem früher so vertrauten Freund. Als sie dann nach dem Schluß der Aufführung in der Garderobe wieder mit den Damen zusammentrafen, ergab es sich wie selbstverständlich, daß sie nun auch gemeinsam den Weg nach Hause nahmen.

In zwei Paaren schritten sie durch die Straßen – voran gingen Else und Falk, hinter ihnen folgten Mariane Molenaar und Georg.

Eine milde Frühlingsnacht lag über der Stadt, und ein leiser Luftzug trug den Duft der blühenden Frühlingsgärten über die Menschen hin und streichelte ihnen Wangen und Stirn und Lider wie mit Blütenblättern.

»Wie schön das ist!« sagte Mariane Molenaar. »Jetzt kommt der Frühling doch mit aller seiner Kraft und Wärme!« Sie sah still vor sich hin. Eine zielsichere freudige Sehnsucht lag in ihren klaren Augen, als dächte sie an etwas Schönes, Starkes, das nun seiner Erfüllung näher ging. Nie hatte Georg ihre Augen so gesehen, und er fühlte, daß etwas Großes in ihr war, und wußte es doch nicht zu deuten.

Von dem Paar vor ihnen trug das leise Wehen abgerissene Worte herüber. Elsens Stimme, innig, wie in einem bittenden Aushauch – dann Falks unbekümmertes Lachen: »Nein, Lieb – ist ja alles Unsinn … Nur keine Sorge …! Und schließlich bin ich doch Künstler …«

Da schüttelte Mariane Molenaar ganz leise den Kopf, und das schmale Fältchen zog seine herbe Linie in ihre Stirn.

»Ihr Freund Falk ist dieser Tage zu ziemlich später Stunde mit einem andern jungen Musiker und zwei nicht sehr vertrauenerweckenden Begleiterinnen in einem Café gesehen worden. Durch einen Zufall hat Else davon gehört – nun ist sie voll Erregung und voll Angst. Mein Gott – es ist ja möglich, daß das ganz harmlos war …«

Sie schwieg und schüttelte wieder leise den Kopf. – Es war, als wollte sie nicht sprechen, was sie doch nicht glauben konnte. Und Georg fühlte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug, und konnte das Beben seiner Stimme nicht beherrschen.

»Aber das kann doch gar nicht sein … das ist doch ganz unmöglich …! Er ist doch so erfüllt nur von dem Einen …«

Sie sah ihn voll an und lächelte trübe. »Glauben Sie …? Was ich Ihnen letzthin gesagt habe … Klug mag er sein und geschickt und von einer gewissen bestechenden Form – ich, mein lieber Georg Bang und Nietzscheleser, glaube, daß Gutsein mehr ist als alles das! Und Gutsein heißt, treu sein … glauben Sie mir, das ist das Höchste und das Tiefste zugleich, und nichts Hohes ist und nichts Tiefes ohne das … Ich habe Sorge um Else …«

Sie schritten weiter. Leise plätschernd und glucksend zog das Wasser der Pleiße neben ihrem Weg hin. Menschen kamen ihnen entgegen und gingen vorüber, und ihre Schritte verhallten.

Als zwei dunkelumschattete Gestalten, die weiterschritten in die Nacht vor ihnen, hoben sich die beiden Menschen vorn aus dem Dämmerlicht. Wie ein Bann lag es auf Georg. Er sah nicht auf, und doch war's ihm, als stände dieses trübe Lächeln noch immer still und weh um ihre Lippen. Und auch die Worte, die Mariane Molenaar zu ihm gesprochen hatte, lebten. Sie gingen neben ihm einher mit ihren Schritten und hallten nach in ihm gleich Glockenschlägen, die nicht zur Ruhe kommen wollen.

Und das ergriff ihn und erfüllte ihn, daß er es nicht mehr tragen konnte. Er wußte nicht, wieso es nun mit einem Mal so überstark geworden war, er wußte nur, daß es nun über seine Kräfte ging. Um Mund und Kehle fühlte er es zerren, und seine Hände zitterten und zuckten.

Und mit einem Mal blieb er stehen.

Da hielt auch sie in ihrem Schritt ein. Gütig und klar lag ihr Blick auf ihm. Wie im Traum sah er das feine helle Gesicht vor sich – seltsam leuchtend in dem Dunkel ringsum wie Elfenbein – hörte er den verhallenden Schritt der beiden andern … Und dabei leise das wiegende Plätschern des Wassers und das ferne Summen des nächtlich still gewordenen Straßenlärmes …

»Wissen Sie denn, wie lieb ich Sie habe …?« sagte er nur, und dabei stand er still, bewegungslos und hörte seine Stimme, als spräche ein anderer neben ihm.

Sie aber nickte und sah ihn an, mild und gut.

»Ja – ich weiß es …« und strich ihm leise mit der Hand über die Wange. Dann streckte sie ihm die Rechte hin. »So – und nun auf feste gute Freundschaft – ja?«

Da nahm er die Hand und drückte sie und ließ sie wieder und schritt neben Mariane weiter. Sprechen konnte er nicht.

Aus dem Dunkel vor ihnen wuchsen wieder die Gestalten der beiden andern. Wie schwarze Körper von unbestimmten Formen waren sie erst, dann wurden sie klarer, deutlicher – und standen vor ihnen im Licht einer nächtlichen Laterne, die an der Straßenecke brannte. Falk sicher und überlegen, Else mit hilflos suchendem Blick.

»Wenn es den Damen recht ist,« sagte Falk, »so bringe ich Fräulein Bernhardi nach Hause.« Er wendete sich zu Georg: »Du würdest dann Fräulein Molenaar begleiten …«

Georg sah fragend zu Mariane – die aber sagte nichts. Ihr Blick sah voll und ruhig und wie in einem Flor von Sorge auf die Freundin, die mit erregten, hastenden Fingern an ihrem Täschchen mit dem Opernglas nestelte.

»Der Abend ist so schön,« sagte Mariane, »ich gehe gern mit dir wie sonst …«

Aber Else, deren große Kinderaugen wieder so zag und hilflos von Falk zu ihrer Freundin blickten, schüttelte leise den Kopf. Ein Zittern lag in ihrer Stimme: »Es ist spät – du wirst auch müde sein …«

Da wendete sich Mariane zu Georg: »Dann gehen also wir noch eine Strecke zusammen.«

Lange, als wollte sie die gar nicht lassen, und so als legte sie all das, was sie nicht sprach, in diesen Druck, hielt sie die Hand Elsens zum Abschied in der ihren.

So trennten sich die Paare.

Neben Mariane Molenaar schritt Georg durch die Nacht. Schweigend gingen sie beide, und ein dumpfer, weher Schmerz war dabei in ihm.

Bei der Dorotheenstraße bog sie ab und schlug den Weg über die Brücke ein; er folgte ihr und war dabei so ganz erfüllt von diesem Weh, daß er kaum merkte, daß es doch ein Umweg war, den sie ihn führte.

Dann aber fühlte er, wie ihre Augen auf ihm ruhten, und sie sprach:

»Georg – wissen Sie, daß Sie mir eine große, tiefe Freude gemacht haben …?«

Er sah sie nicht an. Aber es brach ihm heiß in die Augen.

»Ich habe Sie auch lieb, lieb als einen guten Menschen und als einen Freund, den ich mir erhalten möchte. Anderes als das empfinden auch Sie nicht zu mir … Das wissen Sie vielleicht jetzt nicht – aber Sie werden es noch wissen …«

Wie im Traum schüttelte Georg den Kopf. Wie wenn all dieses Weh in ihm zerginge und sich löste, war ihm zumute. Nur weiter sprechen sollte sie! Die Stimme neben ihm sollte nicht schweigen …

»Sehnsucht ist in Ihnen, Georg – viel und starke Sehnsucht – und zu mir haben Sie Vertrauen gefunden, so wie ich Ihnen Vertrauen gebe – und da glauben Sie jetzt, Sie lieben mich … Ist's nicht so?«

Sie sah ihn wieder an mit den gütigen Augen, aus denen so viel Wärme sprach.

Und auch er blickte sie an – und schüttelte nicht mehr den Kopf.

»Ich weiß es nicht,« sagte er, »ich weiß nur, daß Sie mir mehr sind als sonst ein Mensch hier …«

Da nahm sie seine Hand. »Das ist recht – und das ist mir die Freude. Also Ihr bester Freund! Und daß auch Sie in mir den treuen Kameraden immer haben sollen, das war es, was ich Ihnen noch habe sagen müssen. Und darum dieser Umweg … hier aber ist mein Haus … Gute Nacht, lieber Freund.«

Er hatte ihre Hand geküßt – zum ersten Male.

Dann war der Schlüssel gedreht worden, die Tür ins Schloß gefallen.

Er schritt durch das Dunkel der Nacht nach Hause.

Wieder wie damals, da Falk ihm von seiner Liebe zu Else gesprochen hatte, ging er durch »Lehmanns Garten«. Aber jetzt war neues Blühen über all den Beeten, und Blumenhecken standen ringsumher.

An einem Jasminbusch, der seine weißen Sterne weit über das baufällige Staket eines der Gärtchen auf den Weg herüberdrängte, blieb er stehen und drückte das Gesicht in die kühlen, duftenden Blüten.

Ihm war es, als legte sich auch über das, was in ihm erzitterte, der milde Duft. Schmerz? Wo war er geblieben? Nur ein Weh war es – und das lag still, gleich einem Kind, das sich in den Schlaf geweint.

»Sehnsucht ist in Ihnen, Georg – viel und starke Sehnsucht – und zu mir haben Sie Vertrauen gefunden …«

Ihre Worte klangen in seiner Seele, als schritte sie neben ihm einher zwischen den kleinen nächtlichen Gärten und dann durch die Straßen, die still und einsam waren.

Als er nach Hause kam, war es längst dunkel auf der Treppe, und auch über der Wohnung des Herrn August Thienemann und der Frau Karola lag schon die Nacht.

Im Finstern tappte er sich in sein Zimmer, und dort erst machte er Licht. Ein zugedeckter Teller mit belegten Bemmen stand auf dem Stehpult, ein Brief lag daneben. Die Handschrift der Mutter.

Da schob er den Teller zurück und hielt den Brief in Händen. Ein Zaudern war in ihm – eine seltsam pulsende Erregung, daß er Minute um Minute verstreichen ließ, ehe er das Schreiben öffnete.

Und als er es dann las, da ward das ahnende, erwartende Zittern zu einer jähen Angst und zu so hinnehmendem Schrecken, daß seine Augen kaum den Zeilen folgen konnten, und daß das Blatt ihm in der Hand erbebte.

 

»Mein lieber, lieber Georg! So gern möchte ich Dir auch so Gutes schreiben, wie alles das ist, was Du mir in Deinem letzten Brief von Deinem Umgang bei dieser feinen alten Dame erzählst. Aber in mir ist es so übervoll von Sorge, daß ich immer nur an das eine denken kann, und daß mein armer Kopf bei gar nichts anderm mehr stillhalten will. Mein Georg, ich habe lange geschwankt, ob ich Dir von dem schreiben soll, was uns hier seit Wochen und Monaten quält. Und die Sephi, die doch am allermeisten darunter leidet, hat immer gebeten, ich soll zu Dir schweigen. Ich weiß auch, daß sie sich geschämt hat und gemeint hat, Du könntest sie deswegen weniger gern haben. Aber so bist Du doch nicht! Aber ich habe doch geschwiegen, solange wir hier noch Hoffnung hatten, daß es gut werde. Jetzt aber ist das Unglück doch geschehen. Denk Dir, die Mutter von der Sephi und Herr Crispi sind sehr, sehr unglücklich zusammen gewesen. – Ich habe Dir einmal geschrieben, daß sie schon vor Weihnachten durch viele Wochen nichts hat von sich hören lassen. Dann gegen Neujahr ist wieder ein Brief gekommen, und da hat sie auch noch einmal das rückständige Geld geschickt. Aber der Brief war ja schon so, so traurig! Die arme Frau – ich kann nicht anders sagen, was sie auch verschuldet haben mag! Sie hat geschrieben, daß das Geschäft, das Herr Crispi sich eingerichtet hatte, nicht ginge und viel koste, und daß er oft verstimmt sei. Und dann zwischen dem Kummer war so eine Reue in dem Brief und eine Zärtlichkeit zu der Sephi. Da war ein Satz: ›Danke Gott, Du mein Kind, daß Du bei dieser guten Frau bist – ich hab' es nie gewußt und gewürdigt, was das bedeutet: bei guten Menschen sein!‹ – Georg, jetzt haben wir erfahren, daß er so roh zu ihr gewesen ist! Die feine, schöne Frau, die hat er beschimpft und geschlagen. Und alles hat sie ihm hingegeben, was sie gehabt hat, aber es war alles verloren, mehr noch als im Geschäft auf der Börse. Und wir haben das ja doch nicht gewußt – sie hat ja gar nicht mehr geschrieben, so hat sie sich geschämt und gegrämt. Aber dann ist plötzlich vor vier Tagen die Depesche von ihm gekommen, ob seine Frau in Wien sei und bei uns gewesen wäre. Und wir wußten doch von gar nichts …! Dann haben wir es erfahren: sie ist nach einem Streit, den er mit ihr gehabt hat, während er noch in einer Herrengesellschaft war, von ihm fort – nur mit einer Handtasche und beinah ohne Geld, und niemand weiß, wo sie ist! Wir sind ja alle so voll Sorge – mein Gott, die arme Frau und unsere arme kleine Sephi! Auch die Polizei ist verständigt worden, aber man weiß gar nicht, wohin es die arme Frau getrieben hat. Wenn sie sich nur nicht in ihrer Verzweiflung das Leben genommen hat! Mein Georg, wie furchtbar ist das alles für dieses gute Kind, das ich liebhabe, wie wenn es Deine Schwester wäre. Was auch kommt, sie wird bei mir bleiben, wir beide Georg, Du und ich, wir sind ja dann die einzigen, die sie noch hat. Schreibe ihr, Georg, schreibe ihr einen lieben Brief, sie ist wie niedergebrochen unter all diesem Furchtbaren. Und wenn je ein Mensch Liebe gebraucht hat, dann ist es das arme Kind von Heinrich Gerold. Lebe wohl, mein Bub, ich selbst bin ganz ermattet von diesen Tagen. Ein guter teilnahmsvoller Freund ist uns wie immer der Herr Schneeberger in dieser Zeit gewesen. Ich küsse Dich, Du mein Einziger. Sowie ich irgendwelche Nachricht habe über Sephis Mutter – das Wort ›Frau Crispi‹ will mir gar nicht aus der Feder – so schreibe ich Dir gleich. Vergiß uns nicht bei all den lieben Freunden, die Du dort gewinnst.

In treuer Liebe

Deine Mutter.«

 

Das wars …

Georg las den Brief und starrte auf das Schreiben und las ihn wieder.

Nun war ein Sturm in ihm, ein Jagen der Bilder und Gedanken, ein Zerren, Zittern und Drängen, daß er wie im Krampf mit beiden Händen die Platte des Pultes umgriff, um sich aufrecht zu halten.

Sephi! Er sah sie vor sich, blaß und mit den wehen, trauervollen Augen, schmal und scheu und doch mit dieser tiefen Zuversicht. In dem ersten Trauerkleidchen stand sie vor ihm wie damals, da sie mit ihrer Mutter angekommen, da sie mit ihm durch die Stadt gegangen war …

»Du! Du!« Und jetzt stand sie wieder an der Pforte von neuem Leid.

Dann jagte wie im Flug an ihm vorüber, was ihn in diesen Tagen erfüllt hatte, so ganz erfüllt hatte, daß kaum ein Gedanke bei der gewesen war, der sein ganzes Leben gehören sollte, und mit der ihn sein Bestes verband! Er sah sich mit Mariane Molenaar durch die stille Straße gehen, in deren nächtlichem Schatten die zwei Gestalten vor ihnen verschwammen, und hörte sich reden – seltsam fremd, als spräche ein anderer neben ihm – »Wissen Sie denn, wie lieb ich Sie habe?«

Da griff es ihm wie mit Krallen ins Herz, die Hände krampften sich ihm zusammen, und ein wundes Weh war in ihm, daß er nichts, nichts fühlte als das. Nur ein Gedanke über all' dem Schmerz: Mit eigenen Fäusten hatte er das Beste, was das Leben ihm zu geben hatte, vernichtet und zerschlagen.

Wie schlecht, wie schlecht war das alles! Wie erbärmlich und treulos!

Vor dem Bett lag er auf den Knien und konnte sich nicht fassen in diesem Schmerz, der sich selbst geißelte und immer neue Wunden schlug in Zerknirschung und Reue.

Bis er Tränen fand …

Stunden lag er so, und auch sein Weinen war versiegt. Wie ausgebrannt von dieser heißen Flamme seines Schmerzes war seine Seele. Eine große Mattigkeit war in ihm und doch bei all' dem nachzitternden Weh zugleich ein Fühlen von neuer, sicherer und reiner Kraft.

Und ganz still war es. Nur der Hall einer fernen Turmuhr kam immer wieder wie auf dunkelen Schwingen durch die Nacht gezogen und pochte an die Scheiben: ein Mahner zur Ruhe.

Und wie das ernste Singen der Glockenschläge wiederum verklang, da war es Georg wie schon einmal in dieser Nacht, als sähe er in all dem Dunkel das helle Angesicht Mariane Molenaars. Und das sah ihn an mit stillen, gütigen Augen, vor denen nichts verborgen war. Die Lippen aber sprachen wieder:

»Sehnsucht ist in Ihnen, Georg! – und zu mir haben Sie Vertrauen – und da glauben Sie, Sie lieben mich …«

Das, das war es gewesen! Jetzt erst verstand er ihre Worte, die ihm wie Freundestrost in dieser Stunde waren: seine Sehnsucht nach der Fernen, die irregegangen war …«

Es lag schon ein heller Schein im Dunkel der Nacht, als Georg endlich Ruhe fand. Aber was noch knabenhaft gewesen war in ihm, das war abgefallen in dieser Nacht und war gereift zu einer männlichen Klarheit.

Die war in ihm, als er am nächsten Tag die Nachricht aus Wien bekam, daß die Leiche von Sephis Mutter – der schönen Frau, die so unglücklich geworden war – bei Muggia am Golf von Triest gelandet wäre, und als er dann an Sephi schrieb.

Und sie blieb ihm und prägte sich immer tiefer in sein erstarkendes Wesen.

* * *

Der Sommer kam und ging. Ein wenig stiller war in dieser Zeit das Treiben in den weiten Geschäfts- und Lagerräumen der Firma A. G. Gutkind, ruhiger und mit weniger schreiender Hast ging das Arbeitsleben seinen Gang. Herr Felix Gutkind selbst war verschwunden, er war mit Männe, dem getreuen Dackel, der sein Husten nicht verlernen wollte, trotz aller Hitze nach Italien gezogen, und Herr August Thienemann wußte in behaglichen Feierstunden wahre Wundergeschichten zu erzählen und geheimnisvoll anzudeuten von dem mystischen Treiben seines Chefs da unten in Neapel, in Palermo und Syrakus, wo er sich trotz aller Hitze in jedem Sommer aufzuhalten pflegte. Die Schwingen wuchsen dem geduckten, verängstigten Gehilfen mit seinen jetzt einundzwanzig Jahren Dienstzeit förmlich in diesen Sommertagen, da er den alten sonderlichen Herrn fern wußte. Bis in das Geschäft und an das tintenklecksige Pult begleitete Herrn August Thienemann nun oft der Glanz seiner bescheidenen Lebensfreudigkeit.

Frau Karola aber, die blühend Rundliche, die hatte freilich doppelte Sorge und konnte nicht genug beschwichtigen und glätten, wenn ihrem Mann ein gar zu übermütiges Wort entfahren war. »Na, nu klauben Se nur nich alles das, Pang, was mein Mann da ausmährt – der veralbert uns doch alle beide – cha … Un', nich wahr, Auchust …«

Aber Herr Thienemann gab nicht nach: »Nu, wenn ich toch sache: er ist kesähen worden in Balermo – vor zwei Chahren – mit einer chung'n Dame! Kanz kenau beschrieben hat ihn der Herr Kottwald: ä' spitz'schen Galapreser hat er auf'm Gopp kehabt und ä blauen Mantel umkewickelt, daß nur unten die krumm' Beine 'rauskekukt haben …«

»Aber Auchust … nu here doch mal …!« Ganz rot war das gutmütige dicke Gesicht über dem breiten Doppelkinn.

»Nu, hat er vielleicht geene krumm' Beine? Nee, Garolachen! Alles was recht ist, aber was die Beine von Herrn Kudgind sind, da gann de Männe durchspring'n wie durch ä Reifen!« So suchte sich der in drei Jahreszeiten gedrückte Männerstolz August Thienemanns zur Sommerzeit alljährlich sein Ventil.

Aber nicht nur Herr Gutkind war in seine Ferien gefahren, auch sonst war mancher aus Georgs bescheidenem Bekanntenkreis verreist. Vor allem Frau von Hellstein. Die saß nun in der grünen Steiermark, in einem kleinen Häuschen am Altausseer See, das einstmals, da ihr Franz noch lebte, das junge Paar mit seinem jungen Glück beherbergt hatte. Alljährlich lebte sie auf diesem ihr teueren Besitz in der Sommerzeit Monate, die nur der Erinnerung und der Musik gewidmet waren. Hier in dem kleinen Häuschen hatte ihr Franz einst seinen »Bergmann von Falun« zum besten Teil geschaffen – da unten auf dem See hatte er sie dann abends oft hinausgefahren. Und was da rings an Bergen und an Zinnen das Tal umschloß, das hatte damals auch auf ihn herabgesehen! Einen stillen, getreuen Kult trieb sie, wie in der Leipziger Villa, so auch im Altausseer Sommerhäuschen mit ihrem Toten. Denn ihm, der einstmals wie ein Held und Sieger in dieses schüchterne und zarte Frauenherz getreten war, gehörte nun, da ihn so lange schon der Rasen deckte, noch alles, was dieses Herz umschloß und zu vergeben hatte.

Und mit der Wegfahrt der lieben, feinen Frau, mit dem Tag, da der alte Geidel in würdevoller Resignation die Polstermöbel im Salon verdeckt und den weißen Florvorhang über das Bildnis des schönen, kühn blickenden Mannes im Musikzimmer gezogen hatte, war's auch im Rabenhaus hinter der Villa anders geworden. Nun fielen diese schönen Sonntage, an denen sich die jungen Leute in Frau von Hellsteins Räumen unter ihren Augen vereinigt hatten, aus, und was an deren Stelle trat, das war nicht besser. Große Mengen von Bierflaschen wurden nun oft im Rabenhaus ein und aus getragen, und bis spät in die Nacht waren die Fenster manchmal erleuchtet, hallten Studentenlieder und Stimmenlärm über den Garten hin. Das hörte erst wieder auf, als nach einer letzten kurzen, arbeitsreichen Zeit die Tore des Konservatoriums sich schlossen – denn nun flatterte in Hast und Jubel die Schar der Raben auseinander. In die Heimat, nach Hause zog es für die Ferienzeit die einen, kurzen, unschweren Verdienst bei einem Kurorchester, in einem Bad oder Sommertheater suchten die andern.

Mit leisem Neid, der nur die eigene Sehnsucht war, sah Georg alle diese scheiden. Wie gern wäre auch er heimgefahren, und wäre es auch nur für Tage gewesen! Er sah das liebe Gesicht der Mutter vor sich, die nun zu allen ihren Sorgen auch die um Sephi wie ein Selbstverständliches auf sich genommen hatte, und gedachte der Sephi selbst – und wußte, daß an die weite kostspielige Reise gar nicht zu denken war, auch wenn er Urlaub erhalten hätte.

So blieb er, blieb wie die beiden, die allein das Rabenhaus jetzt noch beherbergte, weil ihnen das Leben keine andere Ruhestätte bot als dieses Haus, und weil sie auch während der Ferien nicht rasten wollten.

Teltscher, der Bildhauer, der mit verbissener Zähigkeit trotz aller Sommerglut tagtäglich zehn Stunden an dem Modell einer Brunnengruppe schuf, war dageblieben und Ossip Schmerlin, der Geiger. Und daß der gleichfalls wußte, was Heimatsehnsucht war, das hatte Georg selbst erfahren, als er an einem Abend spät ins Rabenhaus gekommen war, um Teltscher aufzusuchen. Da war tief aus dem dämmerdunkelen Garten das Geigenspiel des Einsamen erklungen. Weich und schluchzend. Und alle heiße Sehnsucht nach jener fernen kleinen Judengemeinde tief im Innern Rußlands war darin gewesen und hinausgezogen in die Weite. Dort hatte er einst als Talmud-Chuchim, als Schüler der Weisheit, beim Umgang die Thora geküßt, hatte mit singender, jubelnder Stimme gebetet, die Schläfenlocken gedreht und die benetzten Hände in frommem Eifer zusammengeschlagen … Nun sang aus seiner Geige die Erinnerung. – Und so stark ergriff Georg dieses Spiel, das da im Duft der Rosenhecken zwischen den dicht geballten dunkelen Bildungen der Sträucher und der Bäume klang, daß er den tief versunkenen Spieler nicht wecken und nicht stören wollte. Still stand er, bis das Spiel verklungen war, und als die Geige schwieg und nur das Summen des tausendfachen kleinen Lebens die Nacht durchzog, da ging er wieder.

Auch Falk war fortgezogen aus dem Rabenhaus. Aus Norderney, wo er im Kurorchester für die zwei Ferienmonate das Cello strich und in den freien Stunden von all dem bunten Sommertreiben genoß, was sich ihm bot, sandte er Georg seine Grüße. Der aber konnte nicht begreifen, daß Falk, der doch mit allen Kräften sich vorwärts hätte ringen müssen, um bald dem Ziel nah zu sein, von dem er ihm in jener Winternacht in ›Lehmanns Garten‹ mit soviel Sicherheit gesprochen hatte, nun diese Zeit vergeudete in einem Tun, das so weit abseits von dem Weg nach jenem Ziel lag. Immer wieder mußte er in dieser Zeit des Urteils Teltschers über Falk gedenken und mehr noch des sorgenvollen Blickes, mit dem Mariane Molenaar die Liebe ihrer Freundin zu dem Cellisten verfolgt hatte.

Einmal, da er eben mit Teltscher von einem Spaziergang kam, traf er Mariane auf der Straße. Sie ging in lebhaftem Gespräch neben einem jungen, ein wenig gebückt schreitenden Mann von stillen ernsten Zügen. Beide grüßten. Ruhig und klar trafen dabei Marianens Augen den Blick Georgs, herzliche Freundlichkeit war in ihnen und noch etwas: ein stilles, starkes Glück.

Als das Paar vorüber war, blickte Teltscher sich nach den beiden um. Auch Georg blieb stehen, aber er sah nicht zurück. Das Herz schlug ihm heftig, es war das erstemal seit jenem Abend, da er sich zu ihr ausgesprochen hatte, daß er sie wiedersah, und alle Bilder jener Nacht waren lebendig vor ihm.

Wie sie dann weiterschritten, meinte der Bildhauer: »Jetzt hat er sich doch wieder gut erholt.«

»Wer?« Georg sah den Freund nicht an bei dieser Frage. Aber er fühlte bei all seiner Ergriffenheit, daß etwas Neues wie eine Lösung mancher stillen Rätsel nun auf ihn zugeschritten kam.

»Wer? No, der Doktor Mann – ihr Verlobter.«

»Fräulein Molenaar ist verlobt?«

Teltscher blickte mit Erstaunen auf Georg.

»Freilich – haben S' das denn nicht g'wußt? Bald zwei Jahr' schon is' verlobt – eben mit dem Doktor Mann – Historiker is' er – Privatdozent hier an der Universität.«

»So …« Und da fiel es Georg wie ein Schleier von den Augen. Das war es, was immer in ihr gewesen war bei allem, was sie sagte, und allem, was sie tat: diese starke tiefe Liebe zu dem andern – zu ihrem Verlobten. Die hatte ihrem Leben das edle Gleichgewicht gegeben: die Ruhe und die Güte und das Verstehen. Er sah die leicht gebeugte Gestalt des Mannes wieder vor sich, der eben neben Mariane Molenaar an ihm vorbeigeschritten war, und wollte seine Züge sich wiederum in die Erinnerung rufen … Den also liebte sie! Was er wohl für ein Mensch sein mochte? Und bei all diesem Denken war keine Spur von Schmerz in ihm oder von Leid. Wie etwas Großes, Heiliges erschien ihm die Liebe Mariane Molenaars; er wußte, daß ihm die Freundin niemals so nahe gestanden hatte wie nun. Und eine Dankbarkeit zu ihr stieg zugleich in ihm auf – Dankbarkeit dafür, daß sie ihn in jener Nacht nicht abgespeist hatte mit Worten, die von ihrer Liebe und Verlobung redeten, daß sie ihm feinfühlig und gut gesagt hatte: Die Sehnsucht führt dich her, die sucht nach ihrem Heim, und die ging irre … Dann aber schwirrte ihm ein Satz, den Teltscher erst gesprochen hatte, noch einmal durch den Kopf: Jetzt hat er sich doch wieder gut erholt … So war der Bräutigam Marianens also krank gewesen? Da fragte Georg auch schon.

Und Joseph Teltscher nickte.

»Freilich war er krank. Mich wundert's, daß Sie das nicht wissen. Den ganzen Winter und das Frühjahr war er unten an der Riviera – vor ein paar Wochen ist er zurückgekommen. Ein Lungenleiden ist es gewesen, jetzt aber soll er doch ganz wieder herg'stellt sein. Is' übrigens ein ganz prächtiger Mensch, der das Mädel verdient!«

Und da verstand Georg auch das frohe Leuchten, das er in Marianens Augen gesehen hatte in jener milden Frühlingsnacht, als der Duft der blühenden Gärten sie beide umzog. Als dächte sie an etwas Schönes, Starkes, das nun seiner Erfüllung näher ging, war es ihm damals gewesen, aber die Deutung dafür hatte ihm gefehlt. Nun kannte er die Lösung: der Kranke, der fern gewesen, war gesundet und sollte wiederkommen. Und wie in jener Nacht, so klang Georg nun in der Erinnerung an sie die Stimme Marianens: »… Treu sein … glauben Sie mir, das ist das Höchste und das Tiefste zugleich, und nichts Hohes ist und nichts Tiefes ohne das …«

Georg und Joseph Teltscher sprachen an jenem Abend nur noch wenig während ihres gemeinsamen Ganges. Aber als sie eine Strecke lang schweigend und jeder im Bann seiner Gedanken nebeneinander hingeschritten waren, fragte der Bildhauer unvermittelt: »Neue Nachrichten von Falk haben Sie wohl auch nicht bekommen?«

»Nein …«

Teltscher klopfte mit gefurchter Stirn die Holzpfeife an seinem Stock aus und schob sie in die Tasche.

»Der Professor Bernhardi war gestern bei uns im Atelier. Ich werd' ihn modellieren – mein Professor hat mir den Auftrag zug'schanzt – ja. Und das Fräul'n Else war auch mit da … Himmel Herrgott! – der Kerl, der Falk …«

Er sprach nicht weiter. Aber die Furchen blieben auf seiner festen, knochigen Stirn, und seine Gedanken kamen nicht los von dem lieben Mädchengesicht, das sonst so blühend schön gewesen war, und aus dem nun Sorge und Bangen und angstvoll verhaltene Tränen sprachen …

Weiter ging die Zeit. Sie trug den Sommer vorüber und brachte den Herbst. Sie führte die Menschen alle zurück in die Stadt und gab dem Leben der Arbeit wieder seinen vollen Schwung. Und Georg stand fest auf seinem Platz und tat seine Pflicht. Die Unsicherheit, die in dem ersten Jahr in der Fremde in ihm gewesen war, die war von ihm gefallen. Nicht daß die Sehnsucht nach den Seinen und nach der Heimat schwächer geworden wäre; aber er war stärker geworden. Er wußte, daß er nur ein Gast hier war, und daß er aushalten mußte und alle seine Kräfte stählen, wenn er die Ziele seiner Träume erreichen wollte.

Die Träume aber waren gleich geblieben. Nur weniger phantastisch – ruhiger und klarer waren sie geworden. Sie strebten nach wie vor zu seinen Lieben und ließen ihn ein eigenes Besitztum sehen, in dem er für Sephi und die Mutter schaffte. So waren seine Briefe, die er nach Hause sandte, voll Zuversicht und Liebe. Er gab mit ihnen den beiden Menschen in der stillen Gasse Ruhe und Freude, so wie er selbst aus den guten Briefen der Frau Marie Bang und Sephis die Kraft und das Gleichgewicht für sein Leben gewann.

Und wie ein Äußeres floß neben diesem verschwiegenen Innenleben das weitere Treiben um ihn her an ihm vorüber. Oft, wenn er durch die Straßen schritt und die Menschen plaudernd an ihm vorüberhasteten, wunderte er sich selbst, wie wenig zugehörig zu all diesem Wesen er sich fühlte. Gewiß, da waren Menschen, die ihm liebe Freunde geworden waren – Frau von Hellstein, die Feine, immer so herzlich Gütige, Mariane Molenaar, die in dieser Zeit die Frau des Doktor Mann geworden war, Joseph Teltscher und die Thienemanns – und doch, wie jäh verschwand und brach die fesselnde Kraft all dieser Menschen, wenn in ihm seine Sehnsucht nach der Heimat erwachte.

Besonders stark hatte er das eines Abends gefühlt, als er allein und müde von der Arbeit nach Hause schritt. Da waren Extrablätter ausgerufen worden, und Telegramme waren an allen Schaufenstern und Plakatsäulen angeschlagen. Der Kronprinz Rudolf hätte sich in seinem Jagdschloß Meierling bei Wien erschossen, hieß es, und die Gerüchte gingen, er wäre dort nach einem frohen Mahl von trunkenen Genossen erschlagen worden.

Da standen mit einemmal, bei all der tiefen Ergriffenheit, sein Wien und seine Heimat und all die Menschen seiner frühen Jugend wiederum hell vor Georgs Seele. An Heinrich Gerold mußte er denken, und dann wuchs ihm in der Erinnerung klar wie zum Greifen ein Bild empor: er und Sephi. Um sie beide der weite Wiener Burghof, feierlich und still wie ein grauer Riesensaal. Auf den langen Bänken der Kaiserwache die Bosniaken mit rotem Fes und an der schwarzgelben Barriere bei den Gewehren die verblichene Fahne. Ruhe und feierliche Stille wie Erwartung über allem – nur der Taktschritt des wachenden Postens. Da plötzlich ein Ruck – ein Ruf: »Ge–währ–rr–aus!« Und nun eine jähe Hast in all den braunen Gesellen, die nach den Waffen greifen, ein wirbelndes Rasseln der Trommel, das Blitzen eines Säbels im Salut und ein Hofwagen mit goldblinkenden Speichen, den Leibjäger auf dem Bock, der in eiliger Fahrt über den kiesbestreuten Platz und durch das hallende Burgtor jagt.

Damals, am Tag vor seinem Scheiden aus Wien, hatte er neben Sephi den Kronprinzen zum letztenmal gesehen. Nun war der tot, und Georg war zumute, wie wenn ihm zugleich ein Stück seines Jugendlebens entrissen worden wäre.

Im folgenden Frühjahr schied Falk plötzlich aus dem Rabenhaus. Er hatte einen vorteilhaften Antrag von einem amerikanischen Konzertunternehmer bekommen und rasch zugegriffen. Sein Abschied von Georg war hastig und seltsam zurückhaltend. Er sprach von den großen Verhältnissen, in die er nun mit einem Schlag träte, von den vorzüglichen Aussichten, die sich ihm böten, und wie er drüben in kurzer Zeit und mühelos beinahe erreichen würde, was hier mit tausend Plagereien und Quälereien kaum zu erringen sei. Er werde gewissen Herrschaften schon zeigen, daß er der Mann sei, sich in großzügiger Umgebung, die frei sei von Philistertum, sein Künstlerleben zu gestalten. Von Else sprach er nicht, doch Georg wußte, daß der Professor Bernhardi, der von der Liebe seiner Tochter zu Falk erfahren, mit diesem sich ernst und lange ausgesprochen hatte. Er hatte dabei fest darauf bestanden, daß Falk, ehe er Else wiedersähe und im Haus verkehrte, sich eine Stellung schaffe. Wie einen Feind sah Falk seitdem »den Alten« an.

Wieder kam Ostern, und es brachte diesmal doppelte Freude für Georg: sein Aufrücken zum »Ältesten« – zum ersten Lehrling – und den Besuch des Herrn Franz Schneeberger. Zur Messe war der herübergekommen nach Leipzig, wie er sagte, um den »Bahöll auch amal wieder mitzumachen«, wie aber Georg wohl fühlte, zum besten Teil, um nach ihm zu sehen. Und er schien zufrieden zu sein mit dem, was er fand. Denn er war bei all seiner Knurrigkeit, die gegen früher noch zugenommen hatte, doch immer von einer verbissenen guten Laune und ließ Georg, den er sich für die Tage seiner Anwesenheit von Herrn Gutkind freigebeten hatte, kaum von seiner Seite.

Herr Franz Schneeberger hatte sich nur wenig verändert in den beinahe zwei Jahren, während deren Georg ihn nicht gesehen hatte. Nur das Grau seiner Haare war jetzt noch heller, und die Furchen in seinem Gesicht hatten sich gemehrt und waren schärfer geworden. Und noch etwas Neues war da: eine größere Sicherheit war jetzt in ihm, man sah ihm an, daß er auf seinem Platz im Leben festen Fuß gewonnen hatte. War sein Buchladen in Mariahilf auch nur klein – er war doch unbeschränkter Herr darin wie irgendeiner von den Chefs der ersten deutschen Häuser, die sich zur Messe und zum fröhlichen Kantateessen in Leipzig zusammenfanden, und in der langen Liste der eingetroffenen Mitglieder, die das »Buchhändler-Börsenblatt« veröffentlichte, stand der Name Franz Schneeberger so gut wie der von Adolf Kröner, von Wilhelm Hertz, Hallberger oder sonst einem von den Ersten! Aber bei all dieser größeren Sicherheit – sein sprunghaftes Wesen, das aus der Weichheit und Wärme so gern in die vorgeschützte Härte und Herbheit floh, war gleichgeblieben. Das hatte Georg schon bei dem ersten Wiedersehen gemerkt, als der alte Herr am Bahnhof schimpfend und polternd an seinem Auge gerieben hatte, um ein angeblich ihm zugeflogenes Staubkörnchen herauszuwischen, und das war auch in der Folge immer wieder hervorgetreten. Es war deutlich, während Herr Schneeberger Georg über tausend Dinge des Geschäftsbetriebes ausfragte, und während er selbst von Wien, von seiner alten Freundin, der Mutter Georgs, und von dem Mädel, der Sephi, erzählte.

»Was s' macht, die Mutter? Na, halt wie immer: arbeiten und sich sorgen und sich kein' Ruah gönnen – und eigensinnig is' auch – helfen mag sie sich nicht lassen! Es is' a Kreuz, wenn ma' mit Frauenzimmer' zu tuan hat – ja – 's is' bei deiner Mutter a net anders! Da hat s' doch das liebe Madel, die Sepherl, die s' auch noch mit durchschleppt. Was hab' i' ihr zuag'redt, sie soll mich da auch a bisserl beisteuern lassen – nein! Das muaß' allein machen! Ihren Kopf muaß' durchsetzen –. Und gar wann s' auf dich zum Reden kommt – g'rad als ob's d' no a kleiner Bua wärst, für den ma' tausend Ängsten haben muaß –!«

Eine Frage nach Sephi stak Georg in der Kehle. Er hätte viel, viel von ihr hören mögen und würgte doch lange vergebens, bis er die Worte über seine Lippen brachte. Und so gespannt, so ruckweise und drängend kam dann bei aller Ruhe, zu der er sich zwang, seine Frage heraus, daß Herr Schneeberger scharf von der Seite zu ihm hinüberblickte, ehe er Antwort gab. Dann hob er vorsichtig die Brillenstange vom linken Ohr, führte sie im Bogen über die Nase weg und hakte sie auch an der rechten Seite los. Und während er mit seinem großen roten Taschentuch bedächtig die Gläser rieb, kam sein Bericht: »Die Sepherl – ja, die is' auch scho' a ganz a groß' Madel g'worden in der Zeit. No, was da alles Traurig's g'wesen is', das hat dir die Mutter ja g'schrieben. Nachher is' 'rauskommen: der Haderlump, der Herr Crispi, der is' scho' voller Schulden g'wesen, wie er die Mutter von der Sephi g'heirat' hat. Und nachher hat er der ihr Gerstl verspielt und verjuxt, der Katzelmacher der –. Jetzt wissen mir gar nix mehr von ihm – Gott sei Dank! Das heißt – i' hab von jemand g'hört: Croupier in Monte Carlo soll er sein –. Und d' Sepherl –« – Herr Franz Schneeberger setzte die Brille mit Sorgfalt und Umständlichkeit wieder auf seine Nase – »ja, die is' gut, die wird nach ihrem Vatern. Z' Haus hilft s' der Mutter, wo s' nur kann – auch bei der Stickerei. Die wird amal a Frau, Georg – ja –.«

Ganz rot war Georg geworden, während Herr Franz Schneeberger so sprach. Es tat ihm so wohl, die guten Worte über Sephi zu hören, und er hätte doch nichts darauf zu sagen gewußt. Sie klangen nur immer wieder nach in ihm, während er neben dem alten Freund hinschritt die Grimmaische Straße hinauf, nach »Auerbachs Keller« hin, wo sie mit dem von Herrn Schneeberger zu Tisch geladenen Herrn August Thienemann zusammentreffen wollten.

Und dann Wien! – Erst, als Georg danach fragte, kam eine Flut von galligem Ärger, von nörgelndem Gebrumm und Mißvergnügen: »Dö kommunale Sauwirtschaft übereinand' – dö liberale Schlamperei und der ganze lahmlackerte G'müatlichkeitsschwindel!«

Aber als Herr Thienemann, der mit gespitzten Lippen und strahlenden Augen den Rüdesheimer aus dem grünen Römer schlürfte, es wagte, sachte in diese Tonart einzustimmen: »Cha – cha! Man heert's aber ooch allchemein, Herr Schneebercher! Wien ist im Rickgang, Perlin wird Wien noch iberfliecheln!« da kam der Wind in Herrn Schneebergers Rede sogleich von einer völlig andern Seite!

»Was? Berlin? Sö, lieber Herr von Thienemann! Hör'n S' mir damit auf, g'rad' jetzt bin i' zwei Täg' dort g'wesen, bevor ich daher nach Leipzig 'kommen bin! Berlin mit dö urfaden Kartandelhäuser! Berlin, wo ma' in der ganzen Stadt kei' vernünftig's Glas Bier kriegt, und wo ma' im besten Hotel schlechter ißt als in Wien im kleinsten Vorstadtbeisel! Hab'n Sö den neuen Burgring g'sehn in Wien? Sein Sö amal im Burgtheater g'wesen? In an Stück mit dem Sonnenthal und dem Lewinsky und dem Baumeister und der Wolter? Hab'n Sö …«

»Cha – cha – kewiß, Herr Schneebercher …«

»Bitte, ausreden lassen! Hab'n Sö amal an Ausflug in' Wienerwald g'macht – i' bitt', in' Wienerwald, net in' ›Jrunewald‹ mit seine Föhrenstangerln, bei denen's Grüne erst im vierten Stock oben anfangt! Hab'n Sö amal Wiener Volkssänger g'hört? Kennen Sö den Prater? Die Wiener Universitätslehrer? Die Burgmusik? Hab'n Sö amal a Wiener Rindfleisch 'gessen? Oder Zwetschkenknödeln? Sein Sö amal in an Fiaker g'fahr'n?«

»Nee, das nu kerade nich' …« Ganz verdutzt und benommen von diesem Redeschwall sah Herr August Thienemann auf sein Gegenüber.

»Na, alsdann, mein lieber Herr von Thienemann, dann reden S' nix! Nacher kommen S' erst amal nach Wien und schaun S' Ihna dös alles an, dann werd'n mir seh'n, ob's Ihna g'fallt in Wien oder net! Und jetzt nix für ungut!«

»Für unkud? I – von wächen!« Herr Thienemann hob sein Glas. »Bröstchen, Herr Schneebercher! Ihr Wien soll läben!«

Und die drei Gläser klangen aneinander.

Sie klangen noch manchesmal zusammen in dieser Stunde in Auerbachs Keller, und Georgs Gedanken waren dabei daheim bei der Mutter und bei Sephi, deren Bilder ihm so lebendig vor Augen standen, als gingen sie, unsichtbar für die andern, leis' durch das Dämmerlicht des alten Kellers, in dem einst Doktor Faust den Zauberritt vollführte.

Auch auf Georgs Zukunft kam Herr Schneeberger zu sprechen in diesen Tagen seines Leipziger Aufenthaltes. Ganz aus sich selbst griff er am letzten Abend, da Georg ihn nach dem Hotel in der Roßstraße begleitete, die Frage auf: »Z'erst muaßt' auslernen, und dann wird sich scho' was finden. I' hab' mit dem Herrn Gutkind scho' d'rüber g'red't. Bei ihm bleiben, in seinem Haus, sollst' nicht, das hat kein' Zweck, denn was d' in die drei Jahr' net g'lernt hast hier, das lernst a später nimmer. I' mein', du sollst dann in a Sortiment als G'hilf eintreten. Herr Gutkind wird schon an dich denken, wenn 'was frei wird bei einem von seine' Komittenden. Da hast' dann dein' G'halt und bist a selbständiger Mensch. Und da halt'st mir dann noch a paar Jahr aus – bei mir is' auch net anders g'wesen – und recht is' so. Und später …« Herr Schneeberger räusperte sich, und sein Gesicht wurde wieder einmal ganz verkniffen in Unnahbarkeit und Brummigkeit, »Na ja, wann's d' es scho' durchaus wissen magst: später kannst' dann amal bei mir eintreten …« Doch als hätte er damit schon zuviel gesagt, setzte er dann hastig hinzu: »Aber das brauchst' net wieder der Mutter zu schreiben, dö wird's schon noch erfahr'n, wann's Zeit is', das sag i' nur dir, daß d' an Weg vor dir siehst, und daß d' dir keine Sorgen machst …«

Und als Georg, der all die Weichheit im rauhen Mantel dieser Worte wohl fühlte, nach Herrn Schneebergers Hand griff, da entzog dieser ihm rasch seine Finger und legte ihm in hastiger und unbeholfener Bewegung den Arm um die Schulter.

»Bua – dummer!« sagte er, und während er sich wieder räuspern mußte und seine Stimme zwischen einem tief inneren Lachen und einem ärgerlichen Brummen schwankte: »Und was für a Mordstrumm Lackel als er g'word'n is' … länger beinah als i'!« – –

 

Wieder Weihnachten – für Georg das dritte in der Fremde.

Da trat um die Mittagstunde Herr Felix Gutkind in auffälliger Hast, eine Depesche in den Händen, in die Glastür, die sein Privatzimmer mit dem großen Kontor verband.

»Cheorch!«

»Herr Gutkind?« Georg kam hinter seinem Pult vor.

»Gomm toch 'mal 'rein ze mir!«

Und als Georg hinter seinem Chef das kleine, von dickem Pfeifenqualm durchräucherte Zimmer betreten hatte, schritt Herr Gutkind an sein Pult und sah mit vorgesenktem Kopf unter der Brille hervor seinen ältesten Lehrling prüfend und eindringlich an. »Es ist dir wohl begannt, daß ich seinerzeit mit Herrn Franz Schneebercher eine dreichähriche Lehrzeit deinetwächen verabredet habe …?«

»Ja, Herr Gutkind – das weiß ich.«

»Hm. – De hättest also noch bis ze Michaëli ze lernen bei mir …«

»Ja.«

»Nu, da habe ich äben eine sehr trauriche Nachrichd begomm' … mein Kommittend, der Herr Hermann Schulze in Breslau, der Inhaber der Schulzeschen Buchhandlung, hat sich heite nacht erschossen …«

Herr Gutkind hielt ein; seine Augen ruhten scharf auf Georg. Dann nickte er, griff die kurze braune Holzpfeife vom Tisch, zündete sie an und paffte ein paar dicke Wolken vor sich hin. Und obwohl der alte lendenlahme Dachshund, ganz ruhig und apathisch auf seinem einstmals grünen Fauteuil liegend, die Auseinandersetzung mit angehört hatte, sagte Herr Gutkind doch, in alter Gewohnheit: »Ruhich, mei' Hundche'! Cha – scheen ruhich, Männe! Soo –. Braves Hundche' – cha!«

Dann erst, als sein Blick wieder auf die Depesche gefallen war, wendete er sich wieder an Georg:

»Nu cha – also de gennst die Verhältnisse in der Schulzeschen Buchhandlung. Es ist eine alte Firma, im Grund auch kuud – un' der Herr Schulze war mir befreundet. Ich habe dem Mann ziemlich viel Geld vorgeschossen – er war äben schon seit Chahren im Schlamassel. Nu hat er aufs Weihnachtsgeschäft wieder kroße Hoffnung'n kesetzt – und wie's nicht so king, wie er sich's dachte – es gamen da noch kanz eichenart'che Dinge dazu …« Herr Felix Gutkind schüttelte leise den Kopf und sah in den blauen Rauch, der seine Wolken durch die Stube wob.

Plötzlich sprach er dann weiter:

»Nu also, um gurz ze sein: ich brauche ein'n Mann dort, auf den ich mich verlassen gann, bis das Keschäft ein' neien Besitzer hat. De hast dich ticht'ch kefiehrt in deiner Lehrzeit – de bist ein ernster und verläßlicher Mensch keworden – ich schenk' dir die paar Monate, ich mach' dich zum Kehilfen und schicke dich dorthin. Un' nu' mußt de aber morchen frieh schon fahren – wenn's ooch der Christtach ist … Geht das?«

»Ja, das geht,« sagte Georg, und die Freude über das Vertrauen seines Chefs und die schöne Aufgabe, die vor ihm stand, drängte das Mitleid mit dem Mann zurück, dem schwere, ringende Sorgen die Waffe in die Hand gedrückt hatten.

»Nu, dann wollen wir rasch das Wichtikste besprechen …«

Und nun begannen in dem räucherigen Privatkontor die Erläuterungen des Herrn Gutkind zu dem traurigen Fall, in dem Georg seine Sporen als Gehilfe verdienen sollte. Beinahe eine Stunde währten die Ausführungen und Weisungen des Chefs, dann schrieb er noch das Lehrzeugnis für Georg und gab ihm Geld zur Reise und zur ersten Lebensführung.

Als Georg sich zum Schluß bedanken wollte wehrte Herr Felix Gutkind ab: »Schon kuud – das nehm' 'ch als kenossen! Nu mach' dei' Sache kuud, un' mach mer Ehre da draußen im Läben! Un' nu' geh mit Gott! Cha – un verkiß nich', kleich ze schreiben, wie alles steht …«

Herrn Felix Gutkinds Augen senkten sich und sahen durch die Brillengläser auf das Pult nieder. Langsam lesend bewegten sie sich von links nach rechts und rasch zurück und wieder von links nach rechts, als folgten sie den Zeilen des Kontos »Schulzesche Buchhandlung«, das da noch vor ihm aufgeschlagen lag. Und ganz still war der große, seltsam häßliche Kopf bis auf das Leben dieser Augen.

Leise hüstelnd bewegte sich der Hund.

»Ruhich, Männe – ruhich …«

Georg stand noch immer da. Ihm war es, als müßte er noch etwas sagen – als wäre das kein Abschied von einem Mann, in dessen Dienst er durch beinahe drei Jahre gestanden, der sein Lehrherr gewesen war und ihm die Grundlage seines Berufes gegeben hatte.

»Herr Gutkind …«

Die Augen hielten ein in ihrer Wanderung über die Zeilen und sahen unter der Brille hervor auf. Der Kopf bewegte sich nicht – nur ein fragendes Erstaunen lag in den Zügen.

»Cheorch – de bist noch da?«

Da fielen dem jungen Gehilfen all seine warmen Worte ins Nichts.

»Adieu, Herr Gutkind!« sagte er nur.

Und »Adchee – adchee …« klang es zurück.

Seltsam weh war es Georg dabei, und wie er draußen durch die mittagsstillen leeren Kontorräume schritt, da fiel es ihm mit einem Male ein, daß dieser unpersönliche, verschlossene Mann ihm während der beinahe drei Jahre nicht einmal seine Hand gereicht hatte.

Nicht zum Gruß beim Kommen und nicht zum Abschied …

Dann schritt Georg über den jungen Schnee, der auf den Straßen lag, nach Hause – und dachte der Menschen, von denen ihn sein Leben nun trennen würde, und dessen, was die Stadt und die Jahre ihm gegeben hatten.

Bei Thienemanns wurde er schon mit Spannung erwartet. Die lange Besprechung mit dem Chef hatte die Neugier des Herrn August Thienemann aufs höchste gereizt. Erst hatte er abwarten wollen, bis Georg herauskommen würde, um gleich zu erfahren, worum es sich handelte, dann aber hatte ihm das zu lange gedauert – so war er gegangen.

Die Nachricht, die Georg brachte, traf Herrn August wie Frau Karola schmerzlich – sie hatten Georg beide liebgewonnen. Und namentlich die gutmütige und runde Frau machte kein Hehl aus ihrem Trennungsleid.

»Nu ist mer doch chahrelank beisamm' kewäsen – un' daß genn' Se nich' anders sachen, Pang – kuud haben Se's toch kehabt bei uns – nich' wahr, Auchust? – wir haben toch kewiß nirgend was fehlen lassen – cha …! Un' nu weeß 'ch gleich nich' mal, ob Se denn Ihre Wäsche so schnell noch kriechen genn' von der Waschfrau – un' das dritte Paar Schuhe is' doch ooch noch beim Schuhmacher … Aber da heißt's äben ooch: Aus den Auchen, aus dem Sinn! Nu geht er ze de fremden Leite, un was mer da chahrelank ketan hat, das is verkessen un' wechkeplasen …«

Und auf einmal setzte sich Frau Karola Thienemann mitten in der guten Stube, in der schon Vorbereitungen für die abendliche Bescherung getroffen waren, kerzengerade auf einen der von ihren Schutzhüllen noch wohlverdeckten Prunkfauteuils, legte die beiden molligen Hände vor das Gesicht und begann gottsjämmerlich zu schluchzen.

Da mußte denn Herr August trösten: »Aber Garolachen – i, nu nee, sowas! Is' toch nur Breslau! Der wird sich umsähen! Breslau – un' nach Leibz'ch! Nu, so weine nur nich' – muß doch ooch emal sein – oder soll er wie ich sei' Läben lang da in der Ferma A. Che. Kutgind kleben pleiben? … Nu also!« Und dabei flitzten seine blanken Elsternaugen hin und her. Sie blinzelten Georg zu und beruhigten Frau Karola – und hatten doch eine eigene Unsicherheit am Grunde, die sich in all der Geschäftigkeit kaum verbarg.

Georg selbst wurde ganz weich. Die beiden Menschen standen ihm mit einem Male nun, da die Stunde des Scheidens kam, näher als je vorher.

Nachmittags nahm er Abschied von seinen Freunden.

Er war bei Frau von Hellstein, die ihn voll Güte und voll mütterlicher Liebe aufnahm.

»Sie gehen also auch, mein lieber Bang!?« Die alte feine Frau saß im Salon auf einem dieser mild verblichenen Seidenstühle, und auf dem kleinen faltigen Gesichtchen, in dem nur noch die beiden Augen ein träumerisches junges Leuchten hatten, lag um den schmal gewordenen Mund ein wehes Lächeln. »Wie doch die Zeit vergeht! Drei Jahre waren es beinahe? Ach nein – wie ist das möglich! Mir ist's, es wäre Monate erst her, daß ich Sie damals vor dem Bild meines Franz getroffen habe … Und das – das hab' ich Ihnen nie vergessen, mein lieber Georg …« Ihr Blick ging durch die offene Flügeltür und träumte auf dem großen Bild des schönen Mannes.

Nach einer Weile, die es still im Zimmer war, daß nur die alte Bronzependüle, an der Poseidon auf dem Wolkenwagen an einem dünnen Stänglein hängend als Pendel hin und wider fuhr, ihr Ticken hören ließ, sprach sie dann vor sich hin:

»Wie seltsam es in meinem Leben ist. Die Menschen gehen alle, und nur ich alte Frau muß bleiben. Aber die einen gehen – und wenn sie auch gegangen sind und tot sind oder fern, so leben sie mir doch und sind mir nah. Das ist mit meinem Franz so, der meinem Leben erst die Sonne gegeben hat, und ist mit vielen jungen Menschen so, die meinem Alter von ihrer frohen Jugend ein Stück ins Haus getragen haben. Auch Sie – ich weiß das, Georg – Sie werden mir nah und lebendig bleiben.«

Sie hob die schmale, blasse Hand und strich ihm leise über den Arm. »Haben Sie Schmerlin gekannt? Ossip Schmerlin – den Geiger? Aber natürlich haben Sie ihn gekannt – Sie waren ja Freunde! Sie mußten Freunde sein!« Mit einem Lächeln, das um Entschuldigung zu flehen schien, fuhr sie über die eingefallenen Schläfen. »Mir mengt sich die Vergangenheit oft ineinander – dann scheint mir Nehas fern und Fernes nah … Ja – was ich sagen wollte: auch Ossip Schmerlin ist mir nahgeblieben – obwohl er doch über dem großen Wasser ist. Nun feiert man den feinen Künstler drüben in Washington und Philadelphia und in Chicago. Er aber schreibt mir, wie man einer Mutter schreibt …«

Dann glitt es ernst und zitternd über ihr Gesicht.

»Verloren habe ich in dieser Zeit nur einen einzigen, auf den ich viel gehalten habe … Falk … Es soll ihm übrigens recht gut gehen – Schmerlin hat ihn getroffen in Chicago: er hat sich dort verlobt mit der Tochter eines sehr reichen deutschen Brauers – vielleicht ist er auch schon verheiratet … Und denken Sie, mein lieber Georg, er soll sich hier ganz ernst auch für ein liebes junges Mädchen interessiert haben, die in meinem Haus verkehrt hat … Wie doch das Leben ist …!«

Georg küßte die lieben alten Hände, als er ging. Und wie sich dann das eiserne Gittertor des Gartens hinter ihm schloß, sah er noch lange zurück auf das zierliche Häuschen mit seinen Pergolen und Loggien, mit seinen Friesen und bunten Malereien, das in den schneebedeckten Beeten und Anlagen wie ein Stück glücklich träumende Vergangenheit gebettet lag – ein Märchenschloß im Geist Moritz Schwinds.

Und weiter ging sein Abschiedsweg, zu Teltscher, der jetzt schon seit einem halben Jahr ein eigenes Atelier besaß, und zu Mariane Mann. Er hätte nicht von Leipzig scheiden mögen, ohne auch ihre Hand zu halten. Und von dem Freund wie auch von der jungen Frau nahm er Bilder voll Stärke und voll Herzlichkeit mit auf den Weg.

Den Bildhauer hatte er bei der Arbeit an einem Mädchenkopf getroffen – und Teltscher, der sonst nie zu den Geheimniskrämern zählte, hatte bei Georgs Eintritt mit knurriger Verlegenheit ein nasses Tuch über das Werk geworfen. Und doch war's Georg in dem Augenblick, als sähen ihn da aus dem feuchten Ton zwei junge stille Augen an, ein liebliches Gesicht mit einem frühen Weh, darunter wiederum ein neues Blühen keimen will – Else Bernhardi.

Mariane Mann aber hatte, als Georg kam, den Weihnachtsbaum in ihrem jungen Heim geschmückt.

Es dämmerte, als Georg heimwärts schritt.

Hier und da schon waren die Fenster hell – der Widerschein strahlender Christbäume fiel durch die Scheiben. Und unten hasteten die Menschen, die meisten reich beladen mit Paketen und in den Zügen eine stille Freude.

Georg ging durch den Trubel der abendlichen Gassen.

Wie eng sie ihm heut wieder alle schienen – und doch wie heimelig sie waren! Auch von ihnen waren ihm manche in den Jahren, die er hier weilte, wie Freunde geworden, denen sein Abschiedsweg nun galt. Rasch schritt er durch die einen – hier war allein sein Nicken, ein Blick über die Häuser und das Getriebe sein letzter Gruß. Langsam und zögernd ging sein Fuß durch andere. Da sahen ihn die alten grauen Bauten mit ihren Schneekapuzen und ihren weißgekrönten Simsen an, als wüßten sie, was jetzt sein Fühlen war. Wie oft in Müdigkeit nach arbeitsvollen Tagen, in Sehnsucht und in Träumen nach der Heimat war er hier hingeschritten. Jetzt aber, da es ans Scheiden ging, empfand er weh und staunend, daß die Fremde ihm doch nahegetreten war. Wie Herr August Thienemann und Frau Karola! dachte er – und er ging rascher, denn er wußte, daß die mit ihrer Weihnachtsfeier in der »Guten Stube« auf seine Rückkehr warten mochten …

Und manche Träne floß an diesem Abend der guten Frau Karola noch in den Weihnachtspunsch und auf die selbstgebackenen Mandel- und Rosinenstollen, denn Georgs Reisekoffer – die alte Gabe des Herrn Franz Schneeberger – stand während der Bescherung schon offen in der schmalen himmelblauen Stube. Und ihr, der Frau in reifen Jahren, die nie ein Kind besessen hatte, war es trotz aller Worte ihres Mannes mit einem Male so einsam und so weh in ihrem Herzen.

Den größten von den Mandelstollen mußte Georg mit in seinen Koffer packen, und auf dem Weihnachtstisch fand er ihr Bild und eine silberne Krawattennadel, die er – das mußte er versprechen – »stäts ästemieren un' in Ehren halten« wollte.

Als aber alles ruhig war im Haus und Georg in der schmalen Stube zum letzten Male an dem Stehpult stand, schrieb er noch einmal an die Mutter und an Sephi. Er wußte es, das war die beste seiner Weihnachtsgaben: der Schritt, den er im Leben weiter tat.

Am nächsten Morgen aber, früh, als noch der Dämmerschein der heimgegangenen Nacht über den Straßen lag, gab Herr August Thienemann ihm das Geleit zum Bahnhof …

* * *

Und den Lehrjahren im Leben Georg Bangs folgten die Wanderjahre.

Das waren sieben, und sie führten ihn nach seinem Aufenthalt in Breslau weiter nach Stuttgart und nach München. Aber, was immer auch in diesen langen Jahren, bunt wechselnd wie die Städtebilder, als Äußeres vorüberfloß an seinem Leben, sein bestes Wesen, das gefestigt und geklärt im Innern war, blieb seiner Bahn und seinen Zielen treu.

Und nur ein einziges Mal ward dieser Dienst in seinen Wanderjahren unterbrochen. Nur einmal in der langen Zeit trank sich die Sehnsucht Georgs satt: Nach seinem Abschied aus der Oderstadt kam er, die Mutter und die Sephi, die Heimat und die Stätten seiner Jugend wiederzusehen, nach Wien.

Nur zehn Tage waren es, die zwischen seinem Austritt aus der einen Stellung und seinem Eintritt in das andere größere Stuttgarter Haus lagen – sie aber galten jenem Plan, der in ihm war, seit er selbständig geworden, zu dessen Ausführung er durch viele Monate gespart hatte, und der ihm wie eine Station am Weg zu seinem Ziel erschien. Niemand zu Hause wußte von dem Vorhaben. Ganz unerwartet wollte er kommen, und so, wie es in diesen langen Jahren seines Fernseins gegangen war, wollte er auch das Leben in den beiden stillen Stuben treffen. Fünf Jahre … Wie diese lange Zeit wohl ihre Spuren in das Gesicht der Mutter eingezeichnet haben mochte? Und Sephi? Siebzehn mußte sie nun sein.

Und wieder in der Morgenstunde, wie damals, als der Zug ihn aus der Heimat führte, fuhr Georg durch das Grün der Donauauen. Schlaflos beinahe war ihm diese Nacht dahingegangen, und nur auf kurze Rast hatte sich hier und da ein wirres, halbwaches Träumen über ihn gebreitet. Dann war es ihm, während das Stampfen der rollenden Wagen in diesen flüchtig zagen Schlummer drang, während das Pfeifen der Maschine, das wirre Rufen ferner Stimmen seltsam phantastisch in das ruhelose Spielen seiner Sinne ragte, als wäre er bereits daheim, als hielte er die Mutter schon in den Armen, als sähe er in Sephis liebe Augen und läse darin all das eigene Glück … Bis dann ein derber Stoß des Wagens, ein Ruck oder der Ruf einer Signaltrompete ihn aus der Traumwelt seiner so heiß nach Erfüllung drängenden Wünsche jäh zurückführte in die Wirklichkeit.

Als der Morgen dämmerte, schwand ihm der letzte Rest von Müdigkeit. Und Stunde um Stunde sahen seine Augen hinaus in die Landschaft und konnten nicht müde werden der stillen friedvollen Bilder. Das war Heimaterde.

Je näher aber der Zug dem Ziel kam, um so stärker fühlte Georg die Größe dieser Stunde. Wie Fieber lag es ihm im Blut, das Herz schlug ihm in übervollen Schlägen, und seine Augen brannten.

Nun häuften sich die Haltestellen, an denen es in rastlos schneller Fahrt vorüberging. Städtisch war das Gepräge, und Menschen, die Georg wie alte halbvergessene Freunde schienen, tauchten auf: da Bahnarbeiter, die, auf Krampen und Schaufeln gestützt, seitlich des Bahndammes stehend, in ihrer harten Arbeit innehielten, bis der Zug über die Strecke sauste, dort Weiber, die in bunten Röcken, mit lachend munteren Gesichtern, um die das rote Kopftuch flatterte, vom Markt kamen, und dort Soldaten, die bestaubt und sonnengebräunt von einer Morgenübung heimmarschierten. Die Uniform, die er nun so viele Jahre nicht gesehen hatte! Ein Zucken ging ihm um den Mund …

Dann wieder Grün, soweit das Auge sah, und dort der Kahlenberg, der Wienerwald, die Berge seiner Jugendfreuden. Wie oft mit Heinrich Gerold, mit Hans und Sephi war er hier geschritten! Sein Auge glitt das breite Band des Stromes entlang und hielt dann ein. Denn dort, ganz fern, aus dunstigem Gebreite, aus einem Meer von halbverhüllten Bauten, ragte es auf wie Kuppeln und wie Türme – Wien!

Mit Zittern griffen Georgs Hände vor.

Jetzt kam das alles näher. Es löste sich und nahm Gestalt und Formen an.

Und jener Turm, der wie ein Wächter, vertraut in seiner wunderbaren Schönheit, all dieses ernste wimmelnde Getriebe überragte, das war der Turm der Stephanskirche!

Andacht, als stünde er vor heiliger Erde, war in Georg, und nur ein einziges Wort erfüllte seine Seele gleich einem Becher bis zum Rande: Wien! Tränen standen ihm in den Augen. Aber sein Blick ließ nicht von jenem Bild. Wie durch einen Schleier sah er es näher kommen, immer näher, und sich entfalten.

Erst als der Zug langsam und eisenklirrend die mächtige Brücke des Donaustromes überschritt, riß Georg sich aus diesem Bann. Er nahm den kleinen Koffer, der ihn allein auf dieser Fahrt begleitete, zur Hand und griff mit hastenden Fingern nach Hut und Überrock. Er konnte es kaum erwarten, bis der Zug im Bahnhof hielt.

Und dann die erste Fahrt durch Wiener Straßen.

Ein Jubel war in ihm, und immer wieder tränten ihm dabei die Augen. Er hätte laut rufen mögen und lachte den Menschen da draußen zu und grüßte die alten Häuser und staunte über all das, was neu geworden war. Und bei all dem rief jeder Nerv in ihm: Weiter! Weiter! Das alles kann ich später sehen – zur Mutter! Zu Sephi!

Dann endlich stand er vor dem alten Haus mit seinem breiten Doppeltor. Ein Beben war in ihm, daß all die Bilder nur im Flug an ihm vorüberzogen.

Die breite Einfahrt und der Hof – war der nicht sonst größer gewesen? Die beiden alten Bäume …

Er stürmte die Treppe hinauf und fühlte, wie seine Kniekehlen schwach waren dabei. Das alte Holz des Geländers – wie abgegriffen! – er streichelte im Aufwärtsschreiten mit ruheloser Hand darüber hin.

Und dann oben die Tür – das Porzellanschildchen: Marie Bang.

Leise klang die Glocke – aber tausend Jugendbilder wirbelten ihm bei diesem Klang durch den Kopf – und zum Zerspringen schlug sein Herz.

»Mutter! …« rief er leise – er konnte es nicht erwarten, daß sie kam.

Dann stille Schritte drinnen und das leise Klingen des Guckfensters. Ihm war es, als fühlte er den fragenden, staunenden Blick.

»Mutter …!«

Da war die Tür schon offen.

»Georg … mein Georg! …«

Sie lagen sich in den Armen, und ein Jubel war in ihrer Stimme, ein Jauchzen, das gar nicht wieder Ruhe fand und endlich erst in einem heißen Schluchzen stiller ward.

In der Stube stand sie dann mit tränenüberströmtem Gesicht vor ihm und sah ihn an und tastete nach ihm mit diesen lieben alt gewordenen harten Händen und streichelte ihm Haar und Wangen. Und lange währte es, ehe sie sprechen konnte.

Er aber gab sich seiner eigenen Rührung und seinem Glück des Wiedersehens in schrankenlosem Fühlen hin.

Als fiele Stein um Stein von seinem Herzen, als löste sich in seinem Innern Damm um Damm, daß alle seine Sehnsucht dieser Jahre als Liebe überfluten konnte, war's ihm zumute. In wirren Wellen kamen ihm die Worte von den Lippen, ohne Zusammenhang in all dem drängenden Glück:

»Mutter! Du … du! … Daß ich dich wiederhalte … deine Hände! Und da die Augen. Was das für Sehnsucht war! …«

Da lösten seine Worte auch ihr die Zunge:

»Mein Georg … und wie du als Bub gewesen bist … so bist du jetzt als Mann! Und groß … so groß … Daß ich das noch erleben darf! Mein Bub … mein kleiner Bub! …«

Und ihre Augen weinten, während um ihren schmalen Mund ein selig frohes Lachen zitterte. Immer wieder mußten die Hände über die Lider gleiten … und immer wieder kamen dort die glücklichen Tränen aufs neue.

Dann mußte sie sich setzen. Gleich einem Rausch, der ihr die Kräfte nahm, war ihr die Freude in das Blut gefallen. Aber sie ließ Georgs Hand dabei nicht aus der ihren – die Finger, die sie da fest und klammernd umgriffen hielt, die waren ihr das Unterpfand, daß sie nicht träumte – daß all die Freude ihr nicht, wie so manches Traumbild dieser Jahre, in nichts zerrinnen konnte.

Und unablässig, während er dann sprach und ihr erzählte, blieben die guten Augen wie gebannt auf seinen Zügen. Manchmal sprach sie ein Wort dazwischen, dann zitterte das Glück in ihrer Stimme. »Mein Bub! … Wie hab' ich oft gebetet, daß diese Stund kommen soll! … Nein – daß ich dich jetzt wieder hab' – und so – so! …«

Als Georgs Augen sie dann, da sie innehielt im Sprechen, in einer stillen Frage trafen, da nickte sie ihm zu.

»Wie Sephi sich auch freuen wird! Sie ist auf einen Gang in die Stadt – eine Besorgung – aber sie muß bald wiederkommen … Und doch, Georg, so lieb ich sie auch habe – jetzt hab' ich dich doch als erste zu Haus umarmen können – und diese erste Stunde, die hat mir ganz allein gehört …«

Da zog er sie wieder an sich, und was er ihr nicht sagen konnte in seiner tiefen Rührung über ihre Worte, das fühlte sie, das las sie ihm aus seinen Augen.

Aber, als fürchtete sie doch, er könnte ihre Worte anders deuten, sagte sie dann:

»Sie ist ja doch so gut zu mir – sie steht mir doch so lieb in allem bei – vielleicht war das recht selbstsüchtig, was ich da gesagt hab', Georg – aber mir ist's, eine Mutter …« Sie wiegte leise den Kopf und sah ihn an voll flehender Zärtlichkeit.

Und er lächelte und nickte nur in seiner Ergriffenheit.

Wie jetzt sein Blick voll Liebe auf ihr ruhte, strich sie sich über ihre Schläfen und über das dünn gewordene graue Haar.

»Alt bin ich geworden, mein Bub! Runzeln hab' ich bekommen, und grau bin ich geworden …«

Er schüttelte den Kopf und sah es doch, daß sie die Wahrheit sprach.

»Mußt mich auch so lieb haben, Georg – 's ist manches graue Haar dabei, das mir in Sehnsucht nach dir gewachsen ist … fünf lange Jahre! …«

Dann ging ihr Blick von Georg durch das Zimmer, in dem sie nun fast zweiundzwanzig Jahre wohnte, und wiederum zurück.

»Kannst du dich denn auf alles noch besinnen? Hier hat dein Bett gestanden, und – schau her! – hier hängt das Bild, das du mir vor zwei Jahren zu Weihnachten geschickt hast – weißt du noch? … Wie du seitdem so männlich geworden bist …«

Und Georg legte den Arm um die Schultern der Mutter und schritt mit ihr durch den lieben Raum.

Da grüßte ihn Stück um Stück mit den Erinnerungsbildern seiner Jugend.

Wie wohl ihm war, wie alles das vertraut und heimelig zu ihm von den vergangenen Zeiten redete. Nur kleiner schien ihm jetzt das Zimmer und enger, als er es im Gedächtnis trug. Der Tisch, an dem er seine Schularbeiten schrieb, war der nicht größer gewesen? Das Sofa – war das damals nicht noch breiter? Mit einem stillen, frohen Lächeln schritt er neben der Mutter hin, durch dieses Zimmer, durch das wie einst ein matter Duft zog wie von getrocknetem Lavendel. Aber bei all dem Schauen war doch in seinem Fühlen mit regem Lauschen ohne Unterlaß die sehnende Erwartung wach: Sephi!

Da hingen an den Wänden, gerahmt in diese schmalen goldenen Leisten, die alten Stahlstiche, die er als Kind so oft – so oft betrachtet hatte: »Maria Stuart auf dem Schafott«, »Heinrich der Achte, der Katharina Howard verstößt« und »Der Tod des Sängers Rizzio«. Da standen all die alten Möbelstücke, der harte Polsterstuhl, auf dem Herr Franz Schneeberger des Abends seine Pfeife rauchte, der blank polierte Schrank – und dort am Fenster, erhöht auf seinem kleinen Unterbau, der Mutter Arbeitssessel.

Zusammen stiegen sie auf diese Stufe und blickten nieder in den Hof, aus dem nun die Kastanienbäume grüßten. Wie Wahrzeichen der hingegangenen Jahre, wie alte Freunde seiner Jugend erschienen auch sie dem Georg … Und wie er in das Grün der breiten Kronen niedersah, da wußte er: auch an das Leben dieser Bäume hatte in den Jahren, da er fern gewesen, die Zeit gerührt … Dürr war da mancher Ast geworden, und müde von der Last der Zweige neigte manch anderer sich der Erde zu …

Doch Frau Marie Bang, die nur das Träumen in dem Blick des Sohnes sah, nickte ihm zu.

»Meine Bäume …« sagte sie nur.

Und ihm ward weh zumut bei diesem Wort …

Fester griff seine Hand um seiner Mutter schmal gewordene Schultern …

Dann klang vom Flur das Aufklinken der Tür herein, und gleich darauf stand Sephi in der Stube.

Mit jäher Hast hatte sich Georg umgewendet.

Das Blut trieb ihm in wilden Stößen nach dem Herzen. Da stand sie bleich und schlank – die zierliche Gestalt, – so anders, als er sie in der Erinnerung trug – so völlig anders, wie ein neues Wesen – und doch dieselbe. Wie im Erschrecken und in jäher Angst und Freude hatte sie ihre Hände gehoben.

Und da war er auch schon bei ihr und hielt sie fest in seinen Armen. – –

Tage kamen, die sich mit unvergänglichem Gepräge einzeichneten in Georgs Fühlen. Ihm war es, als erschlössen alle seine Sinne sich weit in dieser Zeit, als tränken sie mit jedem Nerv in sich, was ihnen da entgegenfloß. Er wußte ja, daß es nur kurze Tage waren und daß ihn die Erinnerung an sie wieder durch lange Jahre fern den Seinen führen sollte.

Und was nicht alles drängte sich in diese enge Spanne Zeit! Greifbar standen die Bilder ihm in seiner Seele.

Da war das Wiedersehen mit Herrn Franz Schneeberger, der gar kein Freund von Überraschungen, welcher Art immer, war und Georg, als er in den kleinen Buchladen trat, erst fragte, womit er wohl dienen könne.

Und als der alte Herr, der um die Mittagsstunde allein in dem Geschäft war, dann, schärfer durch die Brille lugend, Georg erkannte, da polterte er los, in Ärger und Verlegenheit über die eigene Zerstreutheit und in versteckter heimlich lachender Freude.

»A was, das sein' ja Dummheiten! Ein' alten Mann so überfallen! Is' das a G'hört-sich! Da schreibt ma' doch erst – und überhaupt, wer hat denn g'sagt, daß d' kommen sollst? Hast' etwa keine Stell' und möchst' bei mir da unterschlupfen? Nein – das wär' g'fehlt – i' kann mein' Kram no' guat allein machen mit mei'm G'hilfen!«

Erst als er Georgs Lächeln sah und sich hatte beruhigen lassen, wurde er nachsichtiger.

»No ja, dö jungen Leut – so sein s'! Kaum hat er sich a bißel a Gerschtl z'ammg'spart, muaß er z'hausfahr'n! Und d' Mutter – na ja – i' kenn's ja, mei gute Frau Bang – i' kann mir's ja denken, was dös jetzt für a Getua is' mit dir! Dös Abg'schleck' und Abg'druck' umanand …!« Ganz gallig wurde Herr Schneeberger mit einem Male wieder. Dann aber schlug der jähe Ärger um in eine rauhe Freundlichkeit. Er klopfte Georg auf die Schulter, sagte seinen Besuch für den Abend zu und zeigte ihm zum Schlusse das und jenes im Geschäft.

Und wie sie beide in der kleinen Stube hinter dem Laden standen, wo der Herr Franz Schneeberger sein bescheidenes Antiquariatslager – Spezialität Viennensia! – so dicht gelagert und gestapelt hatte, daß kaum der Raum für die zwei Menschen blieb, da druckste der alte Herr beim Kramen in all seinen verstaubten Schätzen so seltsam brummend herum, daß Georg wohl fühlte, daß Herr Schneeberger noch etwas Besonderes auf dem Herzen hatte. Und dann, wie er das hochgeschätzte Werk, die Perle seiner Sammlung, des römisch kaiserlichen Kammermalers J. Hoefnagel um 1609 entworfenen Plan von »Wienn in Österreich« in Händen hielt, den Nicolaus Piscator (Visscher) Amstelodamensis um 1640 herausgegeben hat, da strich er mit den grau bestaubten Händen liebkosend über das sorgsam gefaltete, in einer Mappe wohlgeschützte Werk.

»No ja, weils d' mi' scho' fragst,« meinte er dabei, »was i' dir damals g'sagt hab', gilt.« Und da Georg fragend zu ihm aufsah und ihn nicht gleich verstand: »No, wirst scho' wissen, stell di' net so dumm. Das weg'n dem G'schäft – was i' versprich, das gilt. Jetz aber schau!« Und gleich, als schlösse er ein Tabernakel auf, so löste er die Bänder an der Mappe in seinen Händen. –

Da war der Gang mit Sephi durch die Stadt, durch all dieselben Straßen, durch die sie einst geschritten waren, am Tage, ehe er zum ersten Male von seiner Heimat Abschied nahm. Und wieder, wie da oben in der stillen Wohnung, wo Stück um Stück des einfachen Geräts ihm Jugendgrüße wachgerufen hatte, so war es bei dem Schreiten durch die Straßen. Ihm war so wunschlos glücklich an der Seite der Sephi. All seine heiße Sehnsucht ruhte aus und stillte sich im Blick auf diese zarte, leicht und zierlich schreitende Gestalt, auf diese Lippen und das blonde spröde Haar und auf die edle Linie dieses Köpfchens. Und diese stille Tiefe ihres Wesens! Er wußte, wie ihr Fühlen mit ihm ging und wie ein jedes Wort aus ihrem Herzen kam. Nur immer sprechen hätte er sie hören mögen, die weiche, liebe Stimme neben ihm. –

Da waren diese Abende zu Hause bei der Mutter – eng und so wohl und warm wie einst. Wie in ihm selbst, so träumte nun für Stunden auch in der Mutter das Glück des Rastens aller heißen Wünsche. Und da war auch die Fahrt zusammen mit Sephi hinaus nach jenen stillen Hügeln, darunter neben Georgs Jugendfreund, dem kleinen Hans, das Sterbliche von Heinrich Gerold ruhte.

In Schweigen schritten sie über die breiten Wege, die hell und überhuscht vom Spiel der Sonnenkringel zwischen den Gräberreihen lagen. Ganz still war es. Nur der Sand erknisterte, und Vögel sangen im Gezweig der Trauerweiden und der ragenden Zypressen.

Gleich einem Garten lag die Totenstadt, und überall waren Duft und Licht und Blühen.

»Wie schön's hier ist.«

Ihr Blick traf in den seinen.

Und beide, die da schritten, wußten, daß der, den sie hier in der großen Stille suchten, unsichtbar neben ihnen war.

Dann standen sie vor diesen beiden Gräbern, dem großen und dem kleinen, und legten ihre Sommerblumen nieder. Und hielten sich bei ihren Händen und waren beide tief erfüllt von Andacht. Ihr Beten fand nicht Worte und stieg nicht auf über die Wolken und die Sterne. Es blieb als Dank und treues Denken und als verklärte Liebe bei dem, der hier den ewigen Schlummer schlief, und dessen Bild in ihnen weiter lebte.

Als sie dann wieder durch den großen Frieden schritten, zog Sephi leise den Zypressenzweig, den sie vom Grab des Vaters mitgenommen hatte, durch ihre Finger. Ein Streicheln war es, eine linde Zärtlichkeit.

»Daß meine Mutter nicht hier bei den Ihren ruhen kann …« sagte sie dann.

»Deine Mutter, Sephi?«

»Ja …« Und nach einer Weile, in der wiederum aller Laut nur dieses leise Knirschen unter ihren Füßen und Vogelgesang und träumerisches Blätterrauschen war: »Ja, Georg, meine Mutter. Du meinst, daß sie sich selber losgesagt hat von dem Guten da unten und von uns …« Sie bewegte leise den Kopf. »Ich habe früher hart über sie gedacht, und es war eine Zeit, da hab' ich die Gedanken an sie wie etwas Fremdes, Feindliches empfunden …«

»Und jetzt?«

»Georg, sie muß furchtbar schwer gelitten haben für das, was sie verbrochen hat. Mein Vater war so gut und – schau! – du weißt ja selbst, wie sehr er sie geliebt hat … Und g'rade wenn ich so an seinem Grabe stehe, da ist es mir, als säh' ich sein Gesicht … das hab' ich niemals bös' gesehen. Immer war's gütig, nur in der letzten Zeit, da war's auch immer mit diesem stillen wehen Lächeln, das wie Verstehen war und wie Verzeihen … Sie ist irr gegangen …«

Leise nahm Georg ihre Hand, die immer noch über dem grünen Zweiglein zitterte. Er küßte die Finger. »Du bist wie er …« sagte er nur.

Sie aber lächelte ihn an unter den Tränen, die ihr in die Augen traten, und sagte:

»Georg – ich weiß, er hat es ihr verziehen – der Armen …« –

Und so ging Tag um Tag, und jeder brachte Georg neue Kraft für jene Zeit, die er noch in der Fremde bleiben mußte. Als er dann aber schied, da wußte er, daß stärker noch als je vorher in seinem Leben nun das Ziel errichtet stand.

Kein Wort von Liebe hatte er zu Sephi ausgesprochen – aber es war in ihnen beiden das Wissen, daß sie fest einander zugehörten und daß sie nach dem Tage strebten, der sie für immer zueinander führen mußte.

Hoffnung und Zuversicht waren in ihm, und was an seinem Sehnen zu weich gewesen war, das war erstarkt in dieser Zeit …

Wiederum gingen Georgs Wanderjahre weiter.

Aus Stuttgart kamen nunmehr seine Briefe, die, reger noch als vorher, jedweden Vorgang seines Lebens mit Sephi und der Mutter besprachen. Als lebten sie mit ihm das Leben seines kleinen Kreises, so ausführlich wußten die beiden stillen Frauen, was er trieb.

Und oft geschah es da, daß Frau Marie Bang, der nun die Augen gar nicht mehr so recht gehorchen wollten bei diesem feinen Sticheln auf dem weißen Leinen, aufsah und ruhend auf Sephi blickte. »Jetzt wird er wohl g'rad aus dem G'schäft kommen und in das Gasthaus gehen am Tübingertorplatz – wie heißt's doch? ›Lindenhof‹! – wo er immer zu Mittag ißt. Weißt's, wo er immer auch den kleinen Apotheker trifft …«

»Den Tapferle?« Sephi lächelte. Auch ihre Hände ruhten.

»Ja, den Herrn Tapferle, der immer sagt: ›Herr Bang – wenn's jetzt net ung'schickt wär' – da wollet m'r halt no a Schöpple trinke!‹ …«

In diese Zeit war auch die Berufung Georgs zum Militärdienst gefallen.

Zaghaft und gedrückt sah Frau Bang dem Erfolg entgegen, den ihr von Herrn Franz Schneeberger aufgesetztes Gesuch um Freigabe des Sohnes vom Dienst bringen sollte. Und Georg ward frei. Als einziger Sohn der Witwe, der diese nachweislich durch regelmäßige und wesentliche Beiträge in ihrer bescheidenen Lebensführung unterstützte, kam er vom Dienst los.

Georg war glücklich über diesen Ausgang. Wie eine stille Angst hatte es in ihm gelegen, wenn er daran dachte, daß seine Dienstpflicht ihn aus der errungenen Stellung reißen könnte, daß er dann jahrelang die Flinte tragen sollte und daß er so, von seinem Ziel fortgerissen, unübersehbar weit zurückgebracht würde.

Auch Herr Schneeberger, der Verfasser des Gesuchs, konnte den Stolz und seine Freude über den Erfolg kaum unter seinem spöttischen Gebrumm verbergen.

»No also – jetzt haben S' ihn ja frei, Frau Bang – Ihren klein' Buab'n! Jetzt hat er ja sei' Extrawurscht 'kriegt, der junge Herr! Mir hat's keiner so leicht g'macht dazumal – aber heutzutag – dö jungen Leut' – g'rad' als ob's lauter Prinzen wär'n … hab' i' net recht? …« –

Und weiter schritt die Zeit in ihrer Bahn. Sie strich mit ihrer Hand leise und lind über die Scheitel der Frau Marie Bang und rührte an dem unfehlbaren Wesen des Herrn Schneeberger. Der wurde stiller und sprach weniger als sonst. Und kam er dann des Abends zu den beiden Frauen, für deren äußeres Leben ein Jahr ums andere in gleicher Weise ging, dann murrte er über die schändlich hohen Treppen und ließ sich brummelnd all die liebe Pflege gern gefallen, die er da oben fand.

Georg aber war von Stuttgart nach München übergesiedelt, und wieder sprachen seine Briefe von seiner Arbeit, seinem Leben und seiner Sehnsucht.

In einem der ersten Geschäfte hatte er eine führende Stellung gefunden. Sein Bestes setzte er ein, und was ihm sein Beruf an Freude und Gewinn geben konnte, das nahm er mit als Dank dafür. Auch neue Freunde fand er an der Isar, und einen, der ihm längst ein lieber Freund gewesen, fand er wieder: Joseph Teltscher, der Bildhauer, zog mit Else Bernhardi, seiner jungen Frau, nach München.

Das waren Abende voll Frohsinn und voll Herzlichkeit in diesem kleinen Heim, das als ein Anbau an das große Gartenatelier Teltschers stieß. Alles war bescheiden und schlicht hier, aber ein tiefes Glück lag über den zwei Menschen, mit denen Georg die Erinnerung an jene Leipziger Jahre so vertraut verband.

Sie alle waren Lehrlinge des Lebens damals gewesen, nun aber hatte das Leben sie reif gemacht.

Oft sprachen sie von jener Zeit. Von Frau von Hellstein, dieser feinen, alten Frau, die nun zur Seite ihres Franz auch schon am Ziel ihrer Sehnsucht träumte, und von den Menschen, die da ein- und ausgegangen waren im Schwindschen Märchenschloß und im Rabenhause.

Und diese beiden, der Joseph Teltscher und Frau Else, waren die ersten, zu denen Georg an einem Winterabend, als der Sturm die Bäume in dem kleinen Garten draußen fegte, und als der heiße Tee in den Gläsern dampfte, von sich und von Sephi Gerold sprach.

Still und mit roten Wangen und einem warmen Glanz in den schönen Augen lauschte Frau Else. Joseph Teltscher aber nickte Georg zu und hob sein Glas. »Mensch, glaubst', daß du mir da viel Neues sagst? Bild' dir fein das net ein! Das hab i' schon in Leipzig g'wußt, daß' da wo spukt bei dir! Na, prost! Und alles Gute!« –

Aber da kamen Tage, in denen war das Gute nicht allzu dicht gesät. Die Mutter kränkelte, und ihre Briefe klangen seltsam müde. Oft schrieb auch nur Sephi, liebe, beruhigende Worte, in denen aber doch die Sorge zitterte.

Nicht, daß Frau Marie Bang ernstlich krank gewesen wäre, nur hier und da kam's über sie wie eine große Mattigkeit, die nichts als ruhen wollte. Dann waren ihr die Hände schwer, und lange konnte sie still im Sessel sitzen und ziellos träumend niedersehen auf die zwei alten Bäume unten im Hof, von denen Ast um Ast in diesen Jahren vermorscht, verbraucht zur Erde hingesunken war. So müde war sie oft –

Da wußte Georg, daß nun sein Bleiben in der Fremde ein Ende finden mußte.

Doch schneller als er selbst es dachte, kam dann ein Brief, der ihn nach Hause rief. Nicht von der Mutter – von Herrn Franz Schneeberger.

Und tief ergreifend war der Brief in seiner seltsam wirren Stimmung.

 

»Mein lieber Georg! Lang' schon hast Du von mir keine Zeile gesehen. Du weißt, von überflüssigem Gerede bin ich keiner. Heut schreib ich Dir, denn ich merk's, es wird Zeit. Sag Deinem Prinzipal die Stellung auf und komm. Ich fühl's, daß ich jetzt einen brauche, der jünger ist als ich. Die alten Knochen wollen nicht mehr recht, und was ich hoch gebracht hab in meinem Geschäft in dieser Zeit, das soll mir nicht verschlampen, weil ich selber zum alten Eisen g'hör'! Und Deiner Mutter brauchst' nichts schreiben von meinem Gejammer da, gar so arg is' eigentlich überhaupt nicht, und die Frauenzimmer machen da gleich wieder eine Rieseng'schicht d'raus! Und Deine Mutter ist jetzt so nicht ganz in Ordnung. Also komm bald zu Deinem alten Freund

Franz Schneeberger.«

 

Das war an einem Märztag voll Frühlingswehen und voll Würzigkeit gewesen, daß Georg diesen Brief bekam. Er sprach sogleich mit seinem Chef, und der wollte, so schwer ihm Georgs Scheiden fiel, alles tun, um ihm den baldigen Austritt aus dem Geschäft zu ermöglichen.

Drei Tage später aber kam ein Brief von Sephi, in dem sie Georg schrieb, daß Herr Schneeberger ganz plötzlich ernst von einer Rippenfellentzündung ergriffen worden sei.

Und während Georg diese Zeilen las und dann in Hast sich rüstete, um für den Fall jäher Gefahr sofort nach Wien zu reisen, saß Frau Marie Bang im Junggesellenheim des Herrn Schneeberger an seinem Krankenbett. Sie hatte es, trotz alles seines scheinbar ernsten Sträubens, sich nicht nehmen lassen, in dieser schweren Zeit bei ihm zu sein. Sie wollte diesen alten Freund nicht fremden Wärterhänden anvertrauen und wußte auch, daß in dem brummig bösen Resignieren, mit dem der Kranke sich dann in ihr Kommen fügte, ein warmer ungesprochener Dank gelegen hatte.

Der redete auch immer wieder aus den alten fieberigen Augen, so oft ihr Blick die Pflegerin umfing.

Unruhig schlummernd lag der Kranke, und die Hände ruhten knochig und tastend auf der weiß bezogenen Decke. Helles Tageslicht war ausgegossen über die ganze Stube, die seltsam menschenfremd und nüchtern schien, trotz all der vielen Dinge, die sie umfing, und die doch für die Augen, die den rechten Blick besaßen, die leise Stimmung eines bescheidenen Zufriedenseins umschloß. Feine, sich wiegende Stäubchen umspielten einander im sonnigen Strahl eines Lichtbandes, das von dem Fenster aus in steiler Bahn schräg durch das Zimmer floß, und all die alten Mahagonimöbel träumten von ihren fernen Jugendtagen und sahen wie in wehmütigem Sinnen auf ihre großen und auf ihre kleinen Wunden, die sie auf ihrem Wege durch die Zeit empfangen hatten.

Frau Marie Bang aber nickte den alten Stücken zu.

Wie doch das Leben kam und ging!

Das waren jene selben Möbel, die einstmals bei dem Onkel des Herrn Franz Schneeberger, dem Hochwürdigen Herrn in dem Pfarrhaus im Mährischen, gestanden hatten. – Dann, als der Hochwürdige Herr gestorben war, da waren sie dem guten Herrn Schneeberger zugefallen – –

Ihr Blick ging sinnend auf das Krankenbett und seinen fieberheißen Schläfer.

Damals war der Herr Franz Schneeberger von ihr fortgezogen. – –

Und wie ein Wandelbild zog jene Zeit an ihr vorüber: die Abende, da er mit ihr die Pläne seiner Selbständigkeit schmiedete, der Kauf der Buchhandlung, der Morgen, da er sie in seiner unbeholfen rauhen, gutmütigen Art gefragt hatte, ob sie die Seine werden wollte – –

Ein wehes Lächeln stand ihr um die schmalen Lippen. Sie strich sich leise und mit zitternd müder Hand über die Schläfen – wie lange war das alles her!

Ein Zucken ging über das Gesicht des Kranken. Doch da war auch die Müdigkeit schon von Frau Bang gesunken. Alle Kraft nahm sie zusammen, und als der Kranke dann erwachte und fragend aufsah, da traf sein Auge in einen zuversichtig frohen Blick.

»Nun? Gut geschlafen? Und geht's besser jetzt?«

Aber Herr Schneeberger sagte nichts. Er sah nur weiter in die Augen der Frau Marie Bang – mit demselben stillen Fragen – das dann ganz langsam wie ein überlegenes Spotten ward.

Und Frau Marie Bang wich ab vor diesem Blick.

Da schüttelte Herr Franz Schneeberger leise den Kopf.

»Die Frauenzimmer! Allerweil gleich –. Vom ersten Augenblick bis zum letzten –. Wann s' nur schwindeln können! Und da is' d' Beste net besser als wie a jede …!«

»Was soll ich denn geschwindelt haben?« fragte Frau Bang, doch ihre Stimme war voll Unsicherheit, wie sie sprach.

»Was? Na jetzt so a Komödi! …« Herr Franz Schneeberger sah nach jenem Lichtbande, das mit dem Flimmern und dem Tanzen der tausend feinen Stäubchen zum Fenster aufstieg, und es war wieder Stille in dem Zimmer.

Dann aber, als Minute um Minute wortlos hingegangen war, lachte er plötzlich seltsam leise vor sich hin.

»Aber Frau Bang – glauben S' denn wirkli', daß i' so an Esel bin? Glauben S' denn, daß i's net von selber weiß, wie's mit mir steht? Und daß i's net derkenn', ob Sie die Wahrheit sagen oder net …? Na, na – wann S' mi' auch immer für an' dummen Kerl g'nommen haben …«

Da griff Frau Marie Bang, die eine fremde Weichheit in dem Wesen und in der Stimme des Kranken tief bewegte, nach seinen heißen Händen.

»Jetzt muß ich Sie zur Wahrheit mahnen, Herr Schneeberger! Was Sie uns sind – uns allen dreien – mir und dem Georg und dem Mädel, das wissen Sie. Und was ich halt' von Ihnen und immer g'halten hab', so lang wir uns kennen …«

»Is' gut, Frau Bang, is' gut! Mein Gott – am End' – am End' wird da und dort a Stück'l Wahrheit sein – … Ja – was i' noch hab' sagen woll'n …«

Ein wehes Zucken ging ihm mit einem Male über das Gesicht, und seine Hand fuhr jäh nach seiner Seite.

»Schmerzen? …«

Er nickte und lag dann wieder unbewegt, daß nur sein Atem schwer und mühsam rang. Aber in seinen Augen lebte und suchte nach Worten, was er noch hatte sagen wollen. Das ward erst langsam stiller.

Abends, als auch die Sephi kam, begann Herr Franz Schneeberger noch einmal zu sprechen.

»Frau Bang, der Bua soll kommen. Depeschieren S' ihm, jetzt wär's Zeit. Er weiß dann schon – vor ein paar Tagen, wie die G'schicht da los'gangen is, hab' ich ihm g'schrieben …«

Da ward es Frau Marie Bang, in deren Fürchten sich in all den schweren Stunden doch noch ein leises Hoffen eingeschlichen hatte, so schmerzvoll klar, daß dieser alte, treue Freund vor seinem Ende stand.

Und unaufhaltsam, wie sie sich auch zwang, und wie sie auch die Lippen aufeinanderpreßte, rannen die Tränen über ihre alten Wangen.

Im Dämmerlicht des Raumes, den nun nur jene alte kleine Lampe, die auf dem Schreibtisch stand, erhellte, sah Herr Schneeberger aus den weißen Kissen das Weinen seiner Pflegerin. Er wiegte leise den Kopf.

»Die Weiber …!« Und griff mit heißer Hand dann tastend vor, daß er die Finger seiner alten Freundin fand. »Aber Frau Bang – was wär' denn jetzt dös … aber na – so was …«

Sephi nahm das Telegramm für Georg mit, als sie dann ging. Sie hatte Frau Bang ablösen wollen für die Nacht, die aber war von ihrem Platz am Krankenbett nicht gewichen. Und Herr Schneeberger hatte still in seinen Kissen die Reden dieser beiden mit angehört und doch dann wie in träumender Zufriedenheit genickt, da Georgs Mutter blieb.

Und wieder Stunden einer stillen Qual, in denen der Kranke im Fieberschlummer und in Schmerzen lag, nur unterbrochen von dem Ab- und Zugehen der stillen Frau, die ihm mit linden Händen die Eisbeutel erneute und von der vorgeschriebenen Medizin reichte.

Zwischendurch saß sie still auf ihrem Stuhl und sann mit wehen Augen. Nun hatte Georg wohl schon die Depesche. Dann kam ihr Bub … Ob er den hier noch traf? Mein Gott! Mein Gott! Ein Beten war in ihr, und alle ihre Freude, daß sie den Buben wiedersehen sollte, ging unter in der Angst und Sorge um Herrn Schneeberger.

Dann aber schloß sie ihre Augen. Mit einem Male war sie so müde … und saß so still, ganz lang' – und fuhr erschrocken erst aus ihren Träumen, als sie die Stimme des Herrn Franz Schneeberger hörte – wie von ganz fern her: »Frau Bang …?« Er hatte sich im Bett mühsam aufgesetzt und winkte ihr zur Ruhe, als sie erschrocken ihn wieder in die Kissen drücken wollte.

»Ja – also hör'n S', Frau Bang – das muß ich ihnen sagen … Das Testament – viel is' ja net, was ich hab' – aber – net wahr? – halt doch …«

Sie sah, wie schwer ihm jedes Reden fiel, und ihre Augen baten, daß er schweige.

Doch er sprach weiter:

»Also hör'n S', Frau Bang, dort drüben im Schreibtisch, rechts in der kleinen Lad', da liegt's …«

Er wollte weisen mit der Hand, die Finger aber flatterten ihm dabei eigenwillig hin und her. Da gab er das mit einem spöttischen Lächeln auf.

»Das G'schäft is' für den Georg – ja …«

»Herr Schneeberger …« Ihre Stimme war Schluchzen.

»Na, und was i' sonst hab, das biss'l Geld, die paar Papiere, die soll der ›Buchfink‹ haben, wissen S', unser Buchhändlerverein … und die Möbel und allen den Kram, der is' für Sie … No ja, Verwandte hab' i' kein' …«

Sie weinte und konnte kein Wort über die Lippen bringen.

Da schob sich seine Hand über die Decke hin zu ihr und griff nach ihrem Arm.

»Aber Frau Bang …!« Als wäre in seiner Brust ein heimeliges glücklich frohes Lachen, so klang das Zittern seiner Stimme, und das klang seinen Worten lange nach.

Schon wollte er den müden, aufgestützten Arm wieder heben und sich zurück in seine Kissen gleiten lassen, da fiel ihm noch etwas aufs Herz.

»Frau Bang, hör'n S', alles g'hört dem Georg, das ganze Geschäft, nur hint' im zweiten Zimmer, da liegt a Pack'l: a Dutzend ganz seltene Altwiener Bücher sein' drin, dem Hoefnagel sein Plan von 1609 und so … Das Pack'l soll er mit an' Gruß von mir der Stadtbibliothek bringen … soll'n a' was haben, die Wiener, vom Schneeberger … ja …«

Dann gab er seiner Schwäche nach. Still lag er da, doch die Augen waren offen.

Er sah die Tränen der Frau Bang und lächelte bei all den Schmerzen, die ihn wieder überfielen.

Und als sie einmal, immer noch mit Schluchzen, nach dem Eisbeutel an der Seite griff, da nahm er ihre Hand in seine heißen Hände und streichelte die alten harten Finger.

»Aber Frau Bang …!« sagte er nur, »a Frau wie Sö … aber schaun S', aber gengan S', Frau Bang …« Und wieder zitterte das heimelige glücklich frohe Lachen wie Schluchzen durch das Zimmer.

Dann war es still.

Herr Franz Schneeberger sprach auch in diesen schweren Stunden, die nun kamen, nicht mehr.

Und gegen Morgen, als das Licht des Tages schon hell von draußen durch die Scheiben brach, da kämpfte er den letzten Kampf zu Ende.

* * *

Das Glück der Frau Marie Bang hatte verweinte Augen und trug graue Kleider.

Es hatte ihr das Wünschen und die Sehnsucht all dieser letzten Jahre nun erfüllt: Georg war wieder da bei ihr! Aber es hatte, wie es gab mit einer Hand, so mit der andern genommen – sie trauerte um ihren alten Freund und wußte nun erst, da er fortgegangen war, was alles er für sie und für die Ihrigen gewesen.

Bis in die letzten Stunden hatte ihn die Fürsorge für sie und für Georg nicht verlassen. Was er besessen hatte, sollten sie nun haben. Georg stand als junger Chef im Buchladen da draußen in der Mariahilferstraße, der durch so lange Zeit der Stolz des Herrn Franz Schneeberger gewesen war. Und Frau Marie Bang, der all die Weichheit, die in der letzten Nacht seines Lebens das Wesen ihres alten Freundes so still verklärt und mild umkleidet hatte, noch in der Seele zitterte, die wußte: er hatte mit seiner Bestimmung ihr selbst die späten Tage, die ihr noch beschieden waren, verschönen wollen, er wollte ihr den Georg wiedergeben und wollte, daß sie ihre Hände nun von der Arbeit völlig ruhen lasse.

Ruhen dürfen – oh, wie sie sich danach oft gesehnt hatte …

Wenn sie dann saß und still hinunterschaute auf ihre Bäume, die noch einmal blühen wollten, und deren mürb gewordene schwere Äste doch nur so wenig zage Kerzen trieben, dann schien es ihr nun oftmals wie ein Traum, daß diese Zeit der Ruhe nun für sie da sein sollte. Wie ein Erwarten blieb es stets in ihr – ein Warten auf ein Etwas, das noch fehlte.

Nur abends, wenn Georg auch gekommen war, dann trat in ihren Blick ein neues Leuchten.

Dann saßen sie beim Schein der Lampe um den Tisch und fühlten alle drei das Glück der Stunde.

Bis gegen zehn Uhr blieb Georg meist, dann ging er. Ganz in der Nähe des Geschäfts hatte er sich vorläufig ein Zimmer gemietet, in dem er schlief. Er wußte, daß in der bescheidenen kleinen Wohnung kein Raum für ihn verblieb, und wollte dann erst seine Mutter bitten, zu ihm zu kommen in ein neues Heim, wenn er mit Sephi dieses neue Heim gründen konnte.

Und auch in die jetzt unbewohnten Zimmer des Herrn Schneeberger einzuziehen, hatte ihm widerstrebt. Noch lag zu frisch das Leid auf diesen Dingen. Er fühlte darin wie die Mutter, die auch nur leise das Haupt wiegte, wenn auf die alten, blank polierten Mahagonimöbel die Rede kam, die dort in den stillen Stuben träumten.

»Das alles ist einmal für dich, mein Bub – für dich und Sephi …«

Wann aber dieses »Einmal« kommen sollte, darüber schwieg Frau Marie Bang. Darüber sprach dann nur das stille zage Lächeln ihrer Augen, das soviel tiefes Wissen von geheimnisvollen Dingen barg.

Doch hier und da, wenn dieses Lächeln in müdes Träumen überging, und wenn sich dann die schwer gewordenen Lider senkten und die Atemzüge der alten Frau gleichmäßig durch das Zimmer zogen, dann suchte wohl die Sehnsucht der zwei jungen Menschen, die sich seit ihren Kindertagen liebten, ein letztes Ziel.

Dann saßen beide still, und ihre Blicke fanden sich und ihre Hände. Sie hielten sich umschlungen, und mit leisen Stimmen redeten sie von ihrer Liebe und von ihrem Sehnen.

»Sephi, du …! Daß ich dich so halten darf! Sag', weißt du's denn, was du mir bist? Mein ganzes Leben mißt sich nur an dir – seit ich ein Fühlen habe, kommt's zu dir …!«

»Und ich, mein Georg? Ist's bei mir denn anders?«

»Und wie das werden wird, wie wunderschön! In allen diesen Jahren hab' ich mich ja so danach gesehnt! Im Herbst Sephi – im Herbst! Ist's recht …?«

Sie nickte nur und schmiegte ihre Wange an die seine.

»Jetzt liegt das Schwere noch zu nah auf uns, da wollen wir's der Mutter noch nicht sagen. Sie soll erst wieder ihre Ruhe und ihren inneren Frieden haben, die aber werden ihr der Frühling und der Sommer bringen. Meinst du nicht auch?«

Und wieder nickte sie, aber ihr Blick ging sorgenvoll dabei hinüber zu der alten Frau.

»Ja, Georg, so soll's sein.«

»Und unsere Wohnung, die wir nehmen – drei Zimmer nehmen wir, ein Wohnzimmer, eins für die Mutter und dann eins für uns – die soll ganz in der Nähe des Geschäfts liegen, denn ich will jede freie Viertelstunde dich und die Mutter sehen können.«

»Du …« Sie strich ihm mit der schmalen, zarten Hand über das Haar und über seine Wange. All ihre Liebe lag in diesem einen Wort und in dem Beben ihrer schlanken Finger.

»Du sollst dich auch nicht mehr plagen müssen, Sephi, denn das Geschäft geht gut und wird bald besser gehen. Glaub' mir, wir werden keine Sorgen haben, und glücklich werden wir in unserem kleinen Heim dann sein, wie's nie zwei Menschen waren. Fühlst du das auch so? Sag'!«

»Wie schön das sein wird … du …«

Und wieder Schweigen zwischen ihnen beiden, und statt der Worte nur ein sehnendes Träumen: Im Herbst … im Herbst …

Aber der Frühling ging, und auch der Sommer kam, ohne daß diese Schwere, die so lastend den müden Rücken der Frau Bang zur Erde beugte, von ihr gewichen wäre.

Nicht mehr der Schmerz stand jetzt um diesen wehen Mund, doch eine stille Bitternis. Die Ruhe, die so glättend und so müde ist, die jede Herbheit löst und nur den wunschlos träumerischen Frieden kennt, die war an Frau Marie Bang vorbeigegangen.

Einmal in dieser Zeit war es, daß Georg fragend ihre Hände in die seinen nahm. »Mutter, sag', fehlt dir 'was? Fühlst du dich krank? Willst du hinaus aufs Land?«

Da fand sie nur ein stilles, mildes Lächeln.

»Aufs Land?« sie schüttelte den Kopf. »Ich werd' wohl nur noch die eine Reise machen …«

»Mutter, wie du so reden kannst! Du sollst uns noch so viele Jahre bleiben! Sag', bist du denn nicht glücklich jetzt, daß du so sprichst?«

»Glücklich? Was ich mir ersehnt hab', Georg, ersehnt seit vielen Jahren, das ist da. Ich hab' dich großgezogen, und du bist ein Mann. Ich hab' dich bei mir, und du bist gut. – Gut? … der Beste bist du deiner alten Mutter!«

»Was also plagst du dich denn, Mutter? Was machst du dir Gedanken und stille Sorgen? Du sollst doch jetzt erst aufleben – denk' selbst, ein Leben lang hast du geschafft – jetzt kommt die Zeit der Ruhe erst für dich!«

Da sah sie ihm nur lang' in seine Augen und lächelte ganz still und nickte leise. »Mein Bub …«

Und träumend saß sie dann in ihrem Sessel, sah nieder auf die alten morschen Bäume und sann den Worten ihres Georg nach. Wie hatte er gesagt? »Ein Leben lang hast du geschafft, jetzt kommt die Zeit der Ruhe erst für dich!« Der Ruhe? Ja, sie konnte ruhig gehen. Das hatte sie sich durch ein Leben lang verdient.

Sie sann zurück, und vor ihr stand die Zeit, als er noch klein war und die Sorgen mit tausend Armen suchend nach ihr griffen. Wie oft war damals wie ein Ziel vor ihrem zagen Herzen der Gedanke: Wenn er erst groß ist, wenn er erst sein Plätzchen hat im Leben! Und der Gedanke hatte sie erstarkt in jener Zeit. Dann – dann sollte ja auch für sie ein Ruhen kommen! Jetzt war, was sie ersehnte, in Erfüllung, und nur die Ruhe, die war nicht gekommen.

Die Müdigkeit hatte sich schwer an deren Platz gesetzt. So matt war Frau Marie Bang geworden in diesen langen Jahren, die sie warten mußte … Die tausend kleinen Sorgen hatten sie verbraucht …

Gleich wie ein Suchen zog's ihr durch den Sinn. Warum war sie nicht froh? Da war der Bub, dem es nicht fehlen konnte, und da war Sephi, die mit ihm zum Glücke fand … war denn das alles nicht so viel, so schön?! Wie doch das Leben seltsam war, daß es ihr nun die volle Freude nicht mehr gab! …

Und weiter sann sie still und mußte plötzlich, sie wußte nicht warum, der fernen Zeit gedenken, da sie hier durch diese Zimmer als junge Frau geschritten war …

Zehn Jahre der Verlobung lagen damals hinter ihr – zehn Jahre, während deren die Sehnsucht nach dem Ziel, die heiß gewesen, gemach so müd' und still geworden war. – Wie war das doch … wie war das doch? …

Sie strich sich über ihre Stirn und sah ein Bild vor sich und wußte nicht, wieso es kam: damals in jener Zeit der jungen Ehe, da war es auch so oft in ihr gleich einem Suchen … wonach doch nur? … wonach?

Sie fand es nicht. – Und weiter zogen ihre Träume und Gedanken in langen Reihen, wie die Wolken, die langsam über das Stück Himmel zogen, das sie von ihrem Fenstersitz aus sah. –

Immer aufs neue in diesen Tagen, an denen alle Pracht und alle Schönheit des Sommers sich ergoß, versuchten Georg und Sephi die Mutter zu bewegen, daß sie sich aufraffe aus ihren müden Träumen, daß sie mit ihnen – nur auf Stunden wenigstens – hinaus ins Freie komme. Aber beinahe immer stieß dieses Bitten auf den stillen Widerstand der Frau Marie Bang.

»Nein – laßt mich, Kinder – mir ist hier am wohlsten … Aber ihr – ihr sollt gehen! Was soll ich alte Frau unter den vielen jungen Menschen draußen? Nein, nein, ich bin da nur im Weg … Und nur nicht das – nur nicht den anderen im Weg sein! … Hier aber – nicht wahr, Kinder? – hier heroben auf meinem Fenstersitz, da stör' ich niemand und steh' niemandem im Licht …«

»Mutter!« Georg trat zu ihr. »Du störst auch draußen niemand, wir nehmen einen Wagen und führen dich hinaus nach Schönbrunn oder nach Nußdorf, oder …«

»Nach Nußdorf?« Sie sah auf und lächelte ein wenig, dann aber kam aufs neue der Gedanke, den sie schon einmal ausgesprochen hatte. »Ja, Georg … das kommt auch noch. Da führt ihr mich auch noch hinaus – da auf dem alten Friedhof, neben deinem Vater werd' ich liegen …«

»Was das wieder für Worte sind! Willst du uns denn wehtun, Mutter?« Zärtlich strich er mit seinen Fingern über die müde, alte Hand.

»Wehtun? … Euch beiden? … Nein.«

Ganz versonnen sprach sie das. Und ihr Sinnen trieb, während sie noch so redete, wehmütig weiter.

Ob es denn nicht vielleicht das beste wäre – für sie alle. Für ihren Georg und für das Mädel – und auch für sie. Die beiden liebten sich, und sie war dieser Liebe am Ende wie ein Hemmnis – die trieb es heute fort in all die Sommerschönheit draußen, und sie blieben nur hier in den zwei kleinen Stuben um ihretwillen. Und wie mit diesem »Heut«, so war es vielleicht überhaupt – und war's noch nicht, dann mußte es doch kommen! Das fühlte sie, das ließ sie sich nicht nehmen. Die sehnten sich nach ihrem Sommerglück, nach ihrer Sonne für ihr junges Leben, und warteten doch still, weil sie im Licht stand … Nicht, daß die beiden das je hätten merken lassen … sie waren ja so gut zu ihr, Georg und Sephi … aber es war doch so, es mußte doch so sein …

Und wie sie so versonnen saß, da war es ihr, als hörte sie die eigene Stimme, als klängen vor ihr jene Worte, die sie vor wenigen Augenblicken erst gesprochen hatte: »– nur nicht den anderen im Wege sein!« … Und wie ein Schatten zog mit einem Male das ferne Bild der eigenen langen Brautschaft und ihrer jungen Ehe vor ihr auf. Und was ihr damals nie so klar gewesen war, das stand ihr nun so deutlich vor der Seele … Nein – nein! dachte Frau Marie Bang, sie dürfen nicht, wie ich, den besten Teil des Glücks am Weg verlieren!

»Mutter?!« Georgs Hand fuhr ihr leise über den Scheitel. »Mutter? Was denkst du denn …?«

»Ich …?« Sie sah auf, und ihre Augen trafen mit einem Blick, der wie ein gutes hingebendes Bitten war, in die des Sohnes. »Was ich denke? An dich hab' ich gedacht, mein Bub, und an die Sephi – an euch – ja, und daß ihr beide nur ein bissel Geduld noch haben müßt mit mir …«

»Geduld? Mutter, du weißt ja doch, was du uns bist! Und daß wir nur dich glücklich sehen wollen …«

Da nickte sie und lächelte und sah mit stillem Träumen wieder hinunter auf die beiden müden Bäume. –

 

Doch dann im Herbst kam der harte Tag, an dem sie wußte, daß sie auf diesem stillen Fenstersitz nun nicht mehr lange ruhen sollte.

Georg war im Geschäft, Sephi in der Stadt. Vor Frau Marie Bang am runden Tisch aber saß der Hausinspektor und keuchte noch von der Anstrengung, die ihm die vier Treppen bis da herauf verursacht hatten. Und während er nach asthmatischen Pausen sich mit dem blauen Taschentuch die perlende Stirn trocknete, stieß er seine Botschaft hervor:

»Ja – 's is' scho' so, Frau Bang – mir müassen räumen! So leid wia's uns is' um manche von die Parteien – g'rad als wia um Sö, Frau Bang – aber net wahr? – das seh'n S' ein …«

Einsehen? Nein – das tat sie nicht. Sie sah den wohlbeleibten alten Herrn, mit dem sie in den vielen Jahren, seit sie im Hause wohnte, so oft gesprochen hatte, und konnte nicht verstehen, daß es Ernst mit seinen Worten sei.

»Räumen? Und ich soll fortziehen von hier?«

Er lachte verlegen und tupfte dabei immer wieder mit dem zum Knäuel geballten blauen Tuch gegen die Stirn und die Schläfen.

»Ja – wird halt do' nix ander's übrig bleiben – so leid's uns is' – no ja, wann ma' so a Partei seit über fünfazwanz'g Jahr' im Haus g'habt hat – net wahr? – und nie kein Anstand net g'west …! … Demaliert soll werd'n – im Frühjahr schon – no ja, verdenken kann ma's denen Erben net. Dö können ja drei neiche Häuser hinstellen – wissen S', so mit allem Komfort nach der à la mode – wo jetzt dös eine dasteht – mit dem Mordstrumm Hof … Aber freili' – der alte Herr selig hätt's net g'macht – und unserein' kommt's hart an – gelt? No da hab' i' mir halt 'denkt: krallst auffi die vier Stöck und sagst es der Frau Bang – an d' andern Leut im Haus da hab'n mir's g'schrieben – aber bei Ihnen, net wahr? – wo S' so lang scho' dasein … ja … und a so stille Partei …«

Er schwieg verlegen und sah auf sein blaues Sacktuch nieder, das er entfaltete und sorgsam wiederum zu einem neuen Knäuel mit trockenem Deckblatt formte.

Frau Bang aber blickte ihn an, als läge es in seiner Hand, all dieses drohende Unheil von diesem stillen alten Haus fernzuhalten.

»Aber Herr Schleinzer – das ist doch nicht möglich. Das alte Haus – und ist doch noch so gut erhalten …!«

»Ja – is' halt doch so! Schaun S', Frau Bang – dös is' die Zeit – die will halt's Neiche! Is' ja jetzt überall a so! Und wann s' dös Wienbett erst noch zuadeckt hab'n, dann krieg'n mir ja a ganz a neiche Stadt da heraust. – Zweihundert Jahr' beinah steht's da, das Haus – freili' halten tät's länger a noch – aber d' Leut! Dö woll'n was ander's jetzt – mit Badzimmer und mit ölektrischer Beleichtung! Da kann der alte Bau halt nimmer mit – is' mit die Menschen g'rad a so! Mit mir a – mi' schicken s' dann a in Pension – dö Erben!« Er lachte ein wenig mit bitterem Humor. »Na ja – demalieren und umbau'n können s' mi' net lassen … sonst macherten s' vielleicht a so an' juristischen neichen Hausinspektor nach der à la mode aus mir – oder vielleicht auch drei!«

Und da sie immer schwieg und nur den Kopf wehmütig wiegte, sagte er noch:

»Mein Gott – so is' halt's Leben – 's Alte is der neichen Zeit im Weg, d' jungen Leut woll'n a was hab'n. No – lassen S' Ihna 's nur net z' nah geh'n, Frau Bang – finden tuan S' bald was ander's – und g'rad' jetzt, wo der Herr Sohn doch da ist … mein! – den hab' i' a no 'kennt, wie er no' in der Fatschen g'legen is'! Ja, d' Zeit! – Und wenn S' sonst no an Wunsch haben, Frau Bang – net wahr? – dann sag'n S' es nur – wird alles g'macht – alles wird g'macht – is' net so? Na also!«

Er tupfte noch einmal mit seinem Tuch über das Gesicht und streckte ihr die breite Hand entgegen.

»No – geh'n mir halt wieder. Und seh'n tuan wir uns schon noch – und net z'nah geh'n lassen …«

Keuchend kletterte er die vier Treppen hinunter.

Doch über Frau Marie Bang kam es als eine jähe große Müdigkeit, wie sie wieder in das Zimmer trat, in dem sie eben die schwere Botschaft von dem alten Herrn empfangen hatte.

Ihr war's, als schwände ihr der Boden, und ihre Hände mußten nach dem Tisch und nach dem alten Lehnstuhl tasten, um Halt zu finden. Gleich einem Schwindel kam es über sie.

Sie wußte kaum in diesem Augenblick, was der Herr Schleinzer alles da zu ihr gesprochen hatte, sie war nur ganz erfüllt von einem, das ihr unfaßbar schien, und das sich doch nicht wie ein böser Traum verwischen ließ …

Sie sollte fort aus diesem stillen Haus – aus dieser Wohnung, in der sie seit bald einem Menschenalter wohnte …

»Mein Gott – mein Gott …!« sagte sie vor sich hin, und dabei waren ihr die Knie so schwach, daß sie sich setzen mußte.

War denn das möglich? Konnte denn das sein?!

Sie strich sich mit zitternden Fingern über die Schläfen und bewegte den Kopf in einem unverstehenden Verneinen.

Dann gingen ihre Augen durch das Zimmer. Ihr Blick wanderte an den Wänden hin und suchte und war doch zugleich wie in weite Ferne gerichtet …

Hier war sie damals eingezogen als junge Frau … hier war Georg geboren, und hier war ihr Mann gestorben. Da nebenan im anderen Zimmer, da hatte er aufgebahrt gelegen zwischen den grünen Kränzen und das schwarze Kreuzchen mit dem Erlöser auf der Brust …

»Mein Gott – mein Gott …!« sagte sie wieder. Ganz erloschen klang ihr Stimme – mehr ein Zittern der Lippen war es als ein Laut.

Und hier waren die Jahre alle hingegangen mit Georg – mit Herrn Schneeberger … und mit Sephi … die tausend Sorgen waren hier bei ihr gewesen in diesen beiden Zimmern und in der Küche, und die zagen Hoffnungen, die zwischen jenen sprossen … Alles was sie erlebt hatte in diesen langen, langen Jahren, das kannten diese Wände … Hier hatte sie geschafft – hier im Fensterstuhl, bis ihre Augen nicht mehr wollten und bis die Finger nicht mehr konnten … Hier war ihr, die doch einst als junge Frau hierhergezogen, bei den kleinen und bei den großen Sorgen die Kraft dahingegangen …

Und jetzt, da sie so müde und so schwach geworden war, sollte sie gehen … jetzt wollte man das alte stille Haus da niederreißen, und sie sollte hinaus in eine fremde Stätte!

Als ob man sie entwurzeln wollte, sie, die doch nur müd und schwank im Erdreich des Lebens stand, war es ihr. Eine Furcht überkam sie bei dem Gedanken, daß sie nun unter fremde Menschen und in den Lärm des Lebens sollte.

Nur das nicht … nur das nicht …! dachte sie, und wie ein Flehen war es dabei in ihr.

Dann aber, wie sie sich erheben wollte, da kam mit einem Male wieder dieser Schwindel – das Sausen und das jähe Versagen ihrer Kraft.

Da sank Frau Marie Bang wieder zurück und fühlte, wie es sich gleich einem Nebel ihr um die Sinne zog.

»Georg …« sagte sie leise. »Georg …!« und wußte doch zugleich, daß sie allein zu Hause war. –

Sephi fand die Mutter, als sie bald darauf aus der Stadt zurückkam, ohnmächtig in dem alten Lehnstuhl. Erst unter deren angstvollen Bemühungen kam Frau Bang dann wiederum zu sich.

Und sie klagte nicht weiter und fühlte keinen körperlichen Schmerz. Sie sah nur wie verlegen und in abbittender Sorge, daß sie dem Mädchen diese Angst verursacht hätte, zu Sephi auf.

»Es war nichts, Kind – nur so ein Schwindel – weißt'? Brauchst dich nicht sorgen, das is' schon vorüber …«

Nur müde fühlte sie sich, matt und so zerschlagen, und darum legte sie sich nieder.

Als dann Georg nach Hause kam und Sephi ihm von dem Vorgefallenen sprach, ergriff ihn eine heiße Angst um seine Mutter. Er saß bei ihr am Bett und wollte seine Sorge nicht verraten und fragte doch immer wieder und wollte alles wissen, wie es gekommen war.

»Das, was dir der Inspektor g'sagt hat, Mutterl, das hat dich so stark erregt?«

Sie zog die Achseln ein wenig an, und ein Versuch zu lächeln ging über ihr Gesicht.

»Ich weiß nicht, mein Bub … nicht fragen! … weißt', ich bin halt eine alte Frau … und da kann sowas kommen.«

Da sprach er ihr von jenem neuen Heim, das sie sich einrichten wollten.

»Viel schöner als es hier ist, soll es werden, Mutter! Und viel bequemer auch für dich! Drei Zimmer denk' ich mir, und eins davon ist deines, da stellen wir alle deine alten gewohnten Möbel hinein und bauen einen Fenstersitz, ganz so wie hier! Aufleben wirst du dorten, Mutterl!«

Sie aber nickte nur verträumt und sah voll Zärtlichkeit auf ihn und lächelte Sephi zu.

»Drei Zimmer, ja, so sollt ihr's machen.«

Und dieses verträumte Lächeln, das so viel mehr verschwieg, als es verriet, das blieb der Frau Marie Bang.

Mit ihm wehrte sie alle sorgenvollen Fragen der beiden jungen Menschen ab, die denen aus den Augen sprachen und von den Lippen flossen, wenn wiederum und wieder ein Tag jetzt kam, an dem sie sich so früh zu Bett legte, oder an dem die Schwäche des Körpers sich vor den beiden offenbarte.

Auf Georgs Drängen war der Arzt gekommen. Er hatte lange hin und her geredet und gefragt und konnte doch nichts finden als diese allgemeine Abspannung – und dabei diese große Müdigkeit, die sich gar nicht aufraffen wollte, den Rest der Kraft zu halten, die da mit jedem Tage mehr entflog.

Und als der Winter eingezogen war, da ging das Leben der Frau Bang zu Ende.

Ein später Winternachmittag.

Georg hatte sich für die letzten Stunden in der Buchhandlung frei gemacht, denn alles drängte ihn, zu sehen, wie es der kranken Mutter ging, bei ihr zu sein und Sephi beizustehen, was diese schwere Zeit auch bringen mochte.

Heiß von dem raschen Gang durch die verschneiten Straßen und voll von all den wogenden Gedanken, die ihn erfüllten, war er angekommen. Sephi, die ihn mit müden Augen und verhärmtem Gesicht empfing und deren Kuß voll Scheu und Sorge war, gab ihm den ersten Bericht: alles im gleichen, große Schwäche und wenig Kraft. Ein Halbschlaf der Ermattung nun schon seit Stunden.

Georg war gleich, um seine Mutter nicht zu wecken, in Sephis Zimmer eingetreten. Nur von weitem, von der halbgeöffneten Tür aus, sah er nach dem Bett der Kranken im Nebenzimmer. Er sah nur einen hellen Schein, der sich im Dämmerlicht des Raumes von dem Kissen hob, und ihre armen Hände, die gleich zwei selbständigen Wesen, die im Leben viel geschafft hatten und nun so müde und so sterbensmatt geworden waren, still auf der dunkelroten Decke ruhten.

Erschüttert und erfüllt von einem tiefen Weh hatte er sich dann abgewendet. Ihr Schlummer sollte nicht gestört werden, vielleicht, daß er ihr neue Kräfte brachte.

Dann saßen sie einander gegenüber, er und Sephi, in diesem lieben Raum, den er jetzt niemals ohne ein leises Zittern der Sehnsucht und Erregung betrat.

Auf dem Tisch stand die Lampe und senkte ihre gelben Strahlen matt gedämpft unter dem Schirm aus weißem Glas hernieder. Als ein heller Kreis lag ihr Licht auf der Platte des Tisches, auf dem Sephis Stickarbeit ruhte, und auf den zwei jungen Menschen.

Durch die nur angelehnte Tür hörte man die leisen langen Atemzüge der Kranken, und es war so still im Zimmer, daß man das Ticken der Uhr vernahm.

Georg hatte über den Tisch vorgegriffen und hielt Sephis Hand. Still ruhten ihre Augen ineinander, und bei aller Sehnsucht und allem Glück der Zugehörigkeit standen der Schmerz und die bange Sorge. Nur wenn von drüben der Atem der Kranken schwerer ging und ein leise röchelndes Stöhnen herüberdrang, dann lösten sich ihre Augen voneinander, und beide horchten gespannt hinüber, bis das Auf und Nieder wieder in seinen leisen, müden Rhythmus fiel.

Doch einmal, als das Stöhnen sich nicht verlieren wollte aus dem Schlummer der Frau Marie Bang, stand Sephi leise auf und schritt auf den Zehen hinüber in das andere Zimmer. Still und beruhigend, als spräche sie zu einem kranken Kinde, klang ihre Stimme herüber.

So blieb sie ziemlich lange.

Endlich erschien sie wieder in der Tür und setzte sich lautlos und sorgsam wieder drüben hin. Unschlüssig saß sie einen Augenblick mit müdem Ausdruck und die Hände still im Schoß. Dann aber prägten sich die Züge des Willens wieder ein in ihr Gesichtchen, die Haltung straffte sich, und ihre Hände griffen nach der Stickarbeit, die auf dem Tisch lag.

Georg mußte immer noch auf sie schauen und konnte seinen Blick nicht von ihr lassen, wie sie jetzt dasaß, mit den lieben schmalen Fingern an der Stickerei nestelnd und die sorgenden Augen unter den rötlich entzündeten Lidern auf die Arbeit gerichtet. Wie festgebannt sah er sie an, den zarten mattblassen Teint der Wangen, um den es wie ein sanftes Leuchten war, das spröde sich lockende blonde Haar des vorgeneigten Köpfchens, das müde schien, als wollte es bei all dem Leid und all der Sorge um die Kranke sacht verwelken.

Ein Fühlen voll von herber Bitterkeit goß sich in Georgs Liebe. Er sah das Frühlingswelken, das da drohte, und konnte es und durfte es nicht bannen. Ein tiefer Schmerz ergriff ihn jäh, und er stand auf und schritt zu ihr. Nicht sprechen konnte er, doch als sie zu ihm aufsah, da nahm er ihr die Arbeit aus den Händen und schob das Leinenzeug von ihr. Dann griff er nach diesen fleißigen gütigen Fingern, die sich so emsig in dem hellen Lichtkreis der Lampe regten, hob sie an seine Lippen und küßte sie lange – lange.

»Meine liebe – liebe Sephi – –,« sagte er nur, doch all das tiefe Fühlen dieser Stunde lag in den stillen Worten.

Und sie verstand, was ihn bewegte. Ein gutes Lächeln lag umflort von Tränen in ihrem Blick.

»Mein Georg, – alles wird noch schön und glücklich werden – –!« sagte sie, und dabei ließ sie ihre Hände seinen Küssen. Wie wohl tat ihrer müden Seele die heiße Zärtlichkeit.

Aus dem Nebenzimmer drang wieder ein Seufzer der Kranken. Da machte sich Sephi sachte los, und wieder horchten beide still und gespannt hinüber.

Dann rief die Mutter – ganz leise – kaum hörbar.

Nun nahm Georg die Lampe, und sie schritten beide schnell hinüber.

Die Mutter saß halb aufrecht im Bett, mühsam auf die im Ellbogen aufgestemmten Arme gestützt, und sah durch den Spalt der angelehnten Tür ihnen entgegen.

Als sie kamen, versuchte sie zu lächeln. Mit müden Zügen, daß es mehr der Ausdruck des Willens dazu war, als ein Lächeln selbst.

»Georg – – daß du wieder da bist – –!«

Das dünne graue Haar der Kranken klebte in feuchten schmalen Schichten und Strähnen aneinander. Die Haut des lieben gütigen Gesichts war wächsern, bleich und schlaff, und das alles war so welk und hing so kraftlos und so wissend traurig, daß es war, als ob es sich nur noch an zwei Punkten hielte, an den matten Augen. Und daß es ganz, ganz zusammenstürzen müßte und zerfallen, wenn sich die Augen schlössen.

Georg hatte die Lampe hingestellt. Nun küßte er die Mutter auf die Stirn und drückte sie dann sanft zurück in die Kissen.

Wie klein der Kopf ihm schien und wie schmal die Schultern! Er hatte ihre Hand genommen und streichelte sie leise – immer entlang den lieben, mageren, harten Fingern.

Eine tiefe Traurigkeit war in ihm, er hätte gern etwas gesprochen, irgend etwas Leichtes und Scherzendes, um ihr Mut zu geben; ihr – und sich. Er sann und sann, und er setzte an, um zu sprechen, aber er brach wieder ab und fand nichts. Wie wenn kein anderer Gedanke als Traurigkeit in ihm verblieben wäre, war's ihm zumut.

Die Kranke schien das zu fühlen. Nur ein leiser Druck ihrer Finger um seine Hand war es, der ihn das ahnen ließ – ganz leise, und doch so voll von tiefster Liebe und Zärtlichkeit. Es war, als legte sie ihr ganzes Mutterherz, mehr als es Worte je vermöchten, in diesen Druck der armen schwachen Finger. Und Georg beugte sich zu ihrer Hand herunter und küßte sie.

Sephi war an das Fenster getreten. Sie hatte den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben und sah hinaus – ziellos mit weitem, tränendem Blick. Sie sah hinweg über die engen Grenzen des Hofes, über die Dächer hin. – Jetzt wendete sie sich und trat auch zum Bett. Dann stand sie neben Georg und blickte mit zagem Lächeln hernieder auf die Kranke.

Da streckte diese die eine freie Hand nach der des Mädchens aus und führte sie zu sich hinauf und so mit seiner Hand zusammen.

Und dann mit leicht aus dem Kissen gehobenem Kopf, und während es gleich einem Leuchten um ihre Züge lag, nur die beiden Worte:

»Meine Kinder …!«

Eine Weile noch blickte sie auf, bis sie dann den Kopf langsam wieder in das Kissen sinken ließ und die Hände der beiden mit leisem Druck freigab. Und bis sich auch die Lider dann wieder schlossen …

Und Frau Marie Bang lag immer noch in ihrem matten Schlummer, als eine Stunde später der Arzt kam, um, wie er versprochen hatte, noch einmal nach der Kranken zu sehen.

Er hatte den Winterrock und Hut draußen abgelegt und rieb sich die kalten, erstarrten Finger, als er, leise auftretend, in das Krankenzimmer trat.

Grüßend nickte er Georg zu, und als er sah, daß die Kranke schlief, blieb er zu Füßen ihres Bettes stehen und beobachtete sie.

Er stand ruhig und unbewegt. Nichts rührte sich an seiner hageren Gestalt, und die Augen in dem blassen, bartlosen Gesicht waren in sinnendem Ernst auf die Kranke gerichtet. Wie er so dastand, war es, als ob ein kühler, fröstelnder Hauch von ihm ausginge – die frische Winterluft der Straße, von der er kam.

Georg und Sephi sahen mit gespannten Blicken auf ihn, als wollten sie sein Urteil von seinen Zügen lesen, als wollten sie dem Wort, das er sprechen sollte, entgegenkommen. Aber er sprach nicht. Nur sein Gesicht wurde ernster, wie er so auf die Kranke niedersah, um deren Mund sich seltsam tief zwei schwere, müde Falten zogen und deren Nase bleich und spitz geworden war.

Die fröstelnde Kälte aber, die von ihm ausging, wurde immer eindringlicher fühlbar, je länger er so stand.

Und Georg sah auf den ernsten, hageren Mann, und vor seinen von banger Sorge zerrütteten Sinnen stand es plötzlich wie eine Vision. Er fühlte, daß er völlig wach war und daß er seine Gedanken auch ganz beherrschen könnte – er wußte, daß er nur diese traumhaft schwere Müdigkeit, die ihn mit einem Male überfallen hatte, abschütteln mußte, daß dieses Bild aus seiner Vorstellung verschwinden würde, wenn er sich nur einmal befreiend über seine Stirn striche.

Ihm war's, als wäre hier das alte Märchen zu trauervollem Leben aufgestanden – das Märchen vom Gevatter Tod. Da stand der Allerlöser, der hagere und bleiche Freund, still und mit gütig ernsten Augen zu Füßen dieses Bettes, und er sah ihn vor sich und konnte ihm nicht wehren …

Dann sah er, wie der Arzt ihn nickend grüßte und wie er ging.

Sephi aber nahm die Lampe und schritt leuchtend neben ihm hinaus.

Es war jetzt dunkel im Zimmer. Nur der Rahmen des Fensters umgriff eine Fläche, von der ein dämmerndes Scheinen ging, das um die Umrisse des Fensterkreuzes floß. Georg stand noch immer knapp vor dem Bett seiner Mutter, und ein Gefühl abgespannter Müdigkeit und Willenlosigkeit hielt ihn da bannend fest. Ganz still, daß er kein Glied bewegte.

Er hörte, wie Sephi draußen noch mit dem Arzt sprach. Er vernahm das schüchterne, zage Fragen ihrer Stimme und das bedächtige Antworten des anderen. Er verstand die Worte nicht, und er lauschte auch nicht nach ihnen. Aber er ahnte den Sinn, und mit müdem Schmerz mußte er denken: Er hat zu Füßen ihres Bettes gestanden … Da war es ihm bei all der schwerblütigen Traurigkeit, die ihn erfüllte, seltsam zumut, wie ruhig ihn diese Gedanken ließen. So stumpf und dumpf; nur drückend lagernd über ihm, und müde, sehr müde.

Und unbeweglich saß er still im Dunkel, bis dann Sephi wiederkam mit der Lampe und bis er die beiden Tränen sah, die ihr über die Wangen herunterliefen …

 

Es war Nacht und Frau Marie Bang war tot.

Ganz sachte, wie auf Zehenspitzen, war sie aus dem Leben gegangen, wie wenn sie es die anderen nicht merken lassen wollte, daß sie scheide. Ohne Abschied war sie gegangen, um ihnen so den letzten Schmerz zu ersparen.

Im Zimmer war es dunkel. Aber die Vorhänge waren nun von dem Fenster zurückgezogen, und so goß der Schnee auf den Dächern den Widerschein des nächtigen Himmels tiefbläulich über die wächsernen Züge der alten Frau. Und Georg saß still, regungslos an ihrem Bett und hielt die starre, kalte Hand. Wie etwas Fremdes ruhten ihre Finger in den seinen.

Sephi hatte mit ihm wachen wollen, aber er hatte sie gebeten, ihn mit der Mutter allein zu lassen und selbst ein wenig zu ruhen. Da war sie gegangen. Sie mochte gefühlt haben, daß es ihn drängte, noch einmal mit der Toten allein zu sein, mit ihr das letzte Scheidewort zu sprechen.

Ihm war es bisher kaum verständlich, was geschehen war. Nur das dumpfe Gefühl eines großen Unglücks lag über ihm, gleich einer schweren undurchdringlich lastenden Wolke. Aber beinahe ohne Schmerz. Nur der unfaßbare Gedanke: Sie ist jetzt tot. – Die Mutter ist jetzt tot.

Und das sammelte sich in ihm, langsam und kaum merklich, mit wachsender Spannung. Dann plötzlich aber, als ein leises Frösteln ihn aufschrecken machte, und als sein Blick über das bleiche, spitzige Gesicht der Toten lief, da brach es durch die Schranken und entlud sich in krampfhaft wildem Schluchzen.

Nun erst kam es ihm zum Bewußtsein, was alles er an ihr verloren hatte. Nun erst begriff er ganz, daß sie gestorben war, sie, die ihm sein Leben lang die beste, zärtlichste Mutter gewesen. Er begann zu erfassen, daß er nun nie mehr ihre liebe Stimme hören würde, daß er sie nie mehr in dem großen Sessel draußen und an dem Fenster sollte sitzen sehen. Als wäre eine Lähmung, die ihn bisher fest umfangen hielt, von ihm gewichen, so fand er nun erst Sinn und Blick für all das Todesleid.

Ihr Augen! dachte er, ihr lieben, guten Augen! Nur einen Blick noch, einen solchen Blick, in dem die große Liebe so gütig leuchtend durch den trüben Schein des Kummers und der Alltagssorgen brach! Ihr Hände – nur noch einmal euer Streicheln, das alle Schmerzen lindert und das das Wehevollste leichter tragen läßt! Ihr Hände, jetzt verlaßt mich nicht!

»Mutter …!«

Die aber lag und hörte seinen Ruf nicht mehr. Das heiße Weh des furchtbaren Verlustes, die Sehnsucht und der Schmerz schrien zu ihr, doch Frau Marie Bang blieb still, ihr Georg suchte sie zum erstenmal vergebens.

Nun sah er regungslos auf sie hernieder. Der Nachhall seiner Stimme zitterte noch in dem Raum, und er verklang, und es war wieder still. Und nichts – kein leises Zucken auf den bleichen Zügen, kein Echo und kein Zeichen, daß sie ihn noch hörte!

Da fühlte er ein so unendlich tiefes Weh, daß er den Trost der Tränen fand und weinen konnte. Nur weinen, rückhaltlos und heiß und nach ihr rufen. Er wartete nun nicht mehr auf ein Zeichen, er wußte es jetzt in den tiefsten Tiefen: die Mutter war gestorben.

So kniete er in Schluchzen vor dem Bett, bis er matt geworden war, und bis die Tränen sich ihm versagten. Dann sank der Kopf ihm nieder auf der Mutter Decke.

So blieb er lange, und wie ein Gebet, ein Lobgesang zum Preise dieser Frau, die da mit ewig stillen Lippen lag, zog ihm durch all den Schmerz des Augenblicks die Erinnerung. Was sie, seit er nur denken konnte, ihm gewesen, was sie an Sorge wortlos still getragen, an Liebe lächelnd hingegeben hatte, in all der Zeit, das sah er nun an sich vorüberziehen. Er sah sie geben, immer wieder geben, und sah auch, wie ihr ganzes Fühlen und ihr Denken nur noch der Sehnsucht nach dem Glück jener beiden gegolten hatten, die ihr die Liebsten waren – dem Glück von ihm und Sephi.

Und da ergriff ihn hier am Bett der Toten der weite Sinn von einem Wort, das Heinrich Gerold einst zu ihm gesprochen hatte: Was ihm genommen ward, das war allein der Mutter Leib. Sie selber mußte leben und unvergänglich sein in ihm und Sephi – auch wenn die guten Augen und die tröstend milden Hände nicht mehr die tiefe Liebe eines Mutterherzens säen und heimlich all die schwere Alltagssorge ernten konnten.

* * *

Das war ein kleiner Leichenzug, der Frau Marie Bang, der stillen Frau, das letzte liebende Geleit hinaus nach jenem alten Friedhof in Nußdorf gab, wo die Verstorbene an der Seite ihres Mannes und seiner Eltern noch eine Grabstelle besessen hatte.

Noch in der Kirche waren's mehr gewesen.

Da hatte sich bei ihrem schwarz verhangenen Sarg, vor dem in silbernen Leuchtern die hohen Kerzen brannten und der Priester betete und seinen Segen sprach, um Georg und Sephi so mancher eingefunden, mit dem die Gütige auf ihrem herben Lebensweg zusammengetroffen war: der Chef und eine Angestellte aus dem Geschäft, für das die jetzt so stillen Hände durch so viel lange Jahre emsig gestickt hatten, die Nachbarn aus dem alten Hause, und mancher andere.

Da war auch Herr Schleinzer, der Hausinspektor, auf Georg zugetreten, hatte ihm lang' die Hand gedrückt und dann in schmerzvoller Ergriffenheit, während er sprach, mit seinem blauen Taschentuch den schwarzen hohen Hut immer wieder gestreichelt.

»Na, wia s' doch is', die Welt, Herr Bang, jetzt hat 's halt die Frau Muatter a derglangt … A so a Frau, und über fünfazwanz'g Jahr' im Haus … Und nie kein Anstand net … so a Partei, die derf ma' suachen heutzutag! Wie lang is' her, daß i' bei ihr g'west bin zum letztenmal? A Vierteljahr – wia s' damals no' so g'redt hat, ja. Der hätt' der Himmelvater scho' noch a paar Jahrln schenken derfen, g'rad wo s' doch jetzt Sö wieder dag'habt hat. Mein Gott, ja, wann i' denk', wia stolz daß' immer g'wesen is' auf ihren Georg …«

Er nickte schwer und sah hernieder auf dieses blaue Taschentuch, das als der einzig helle Fleck aus seiner Trauerkleidung stach.

Und als Georg gleichfalls schwieg, meinte er noch:

»No ja, Herr Bang, 's bleibt kei'm net aus … Mir hab'n 's zu derwarten, dö Seliche hat's überstanden, da macht's der Herrgott, wia's die Leut mit ihre Häuser machen. Am End' wird demaliert und wird was Neiches hing'stellt … Soll's sanft ruh'n, die Frau Muatter.«

Dann aber, als die Feier in der Kirche beendet war, da war auch einer um den anderen gegangen. Und als der Sarg dann durch die Straßen gefahren wurde, hinaus zu seiner stillen Stätte, da fuhr ein einziger Wagen hinter ihm, der Wagen, in dem Georg und Sephi saßen.

Schulter an Schulter ruhten beide, und ihre Hände hielten sich umgriffen.

Ein tränenmüder Frieden war in ihnen, und all der heiße Schmerz war still geworden.

Durch die Fenster des Wagens sahen sie die Menschen draußen schreiten und sahen sie die Häuser und die Straßen vorüberziehen. Und all die Bilder, die da kamen, belebten sich in Georgs wehmutsvollem Sinnen mit der Gestalt der Heimgegangenen.

Über die Schwarzenbergbrücke ging's – wie oft war sie, als er noch ein Bub war, des Sonntags hier mit ihm in den Schwarzenberggarten geschritten – und über den Ring rollten die Räder des ernsten Trauerwagens, und durch die Stadt. Sie kamen an der Augustinerkirche vorbei, in der Georg oft mit seiner Mutter in stiller Andacht und Ergriffenheit vor dem wundervollen Werk Canovas, dem Grabmal der Maria Christina, gestanden hatte, und er sah im Geist das Bild des müden Greises, der da am Arm einer milden Führerin schmerzlos aus diesem Leben schreitet. Und er mußte denken: Jetzt ist auch sie eingegangen in jenes dunkele Tor …

Am Josephsplatz ergriff er fester Sephis Hand.

»Weißt du es noch, hier war das Naturalienkabinett, hier waren wir mit deinem Vater.«

Sie gab den Druck der Finger wieder: »Ja …«

»Wie lang's doch her ist! Jetzt ist in den Räumen die Bibliothek.«

Dann war es wieder still. Nach einer Weile sprach Georg aufs neue:

»Dein Vater damals – und die Mutter heute … das sind die beiden Menschen, die mir die liebsten waren … jetzt hab' ich nur noch dich …«

Da sagte sie kein Wort, sie machte nur die Hand aus seiner frei und schob mit zitternden Fingern den schwarzen Schleier beiseite. So bot sie ihm mit tränenfeuchten Wangen den Mund zum Kuß.

Weiter rollte der Wagen, die Liechtensteinstraße hinaus und dann durch das stillere vorstädtische Treiben. Und wieder sahen beide, Georg und Sephi, in wehem Träumen hinaus zu den Scheiben, an denen so nah – und doch so traumhaft fern zugleich – das Alltagsleben vorüberschritt.

Hier und da blieb einer von den Menschen stehen und zog den Hut vor der Entschlafenen, die unter Blumen zu ihrer letzten Stätte fuhr.

Georg sah das, und ein Gefühl des Dankes kam über ihn zu diesen Fremden, die vor der Heiligkeit des Todes ihr Haupt entblößten.

Immer freier ward die Gegend, durch die sie fuhren. Kleine Gärten standen zu den Seiten der Straßen, und beinahe dörflich wurde das Wesen ringsum. Und Georg nickte Sephi zu, als der Wagen endlich den kleinen Hügel aufwärts fuhr …

Dann hielten sie.

Vor ihnen hoben die Männer den Sarg hernieder und trugen ihn hinein durch die Pforte des Friedhofs, der von der Menge längst nicht mehr benutzt wurde, der nur ganz selten noch in seinen Schoß ein abgelaufenes Leben bettete – wenn einer von den wenigen verschieden war, die hier aus alter Zeit noch eigene Gräber besaßen.

Kaum zwei-, dreimal im Jahr tat sich die Pforte auf für solche Gäste.

Und zwischen alten, efeuübersponnenen Kreuzen, zwischen Säulenstumpfen und Obelisken, um die zerweht vom Sturm des Herbstes und hier und da verdeckt vom jungen Schnee das dürre Kraut der abgeblühten Blumen stand, trug man die Mutter Georgs die Anhöhe hinauf, hin zu dem Stein, auf dem in matt gewordenen Buchstaben der Name seines Vaters stand.

»Hier ruht in Gott Tobias Bang …«

Als sie den Sarg zur Erde setzten, ergriff Georg und Sephi noch einmal der heiße Schmerz des großen Scheidens. Da drückte er die Lippen aufeinander und zog das Mädchen, das den Tränen nicht mehr wehrte und das ihm schmerzenvoll am Arm hing, fest, fest an sich.

Still war der Priester an den Sarg getreten – ein junger Mann mit herben, strengen Zügen, bleich in dem schwarzen Kleide, das er trug.

Georg sah, wie er sein Käppchen vom Haupt nahm, wie er den Weihwedel empfing von dem Begleiter und segnend dann das Kreuzeszeichen über dem Sarg beschrieb. Und er hörte, wie die fremden Worte des lateinischen Gebets von den jungen strengen Lippen rannen – wie aus weiter Ferne schien ihm der Klang zu kommen.

Leise strich der Wind über den Hügel. Er spielte mit den schwarzen Schleiern Sephis, daß die zu Georg wehten und seine Wangen streiften, und trug den winterlichen Duft des Waldes und der Felder draußen über den Sarg der toten Frau, gleich einem letzten Grüßen dieser Erde.

Wie etwas Fremdes schien Georg das Beten dieses jungen Priesters.

Da sollte eine ruhen, die eine Heilige gewesen war als Mutter, die brauchte diesen Segen nicht.

»Mutter …!« sagte er leise und zog Sephis Arm fester in den seinen.

Wie ein Gelöbnis für sein Leben war ihm dies eine Wort …

Dann saßen sie wiederum im Wagen und fuhren heim, während das Bild des letzten Ganges mit der Toten in ihren Seelen lebte.

»Schön ist's da oben,« sagte Georg, »die Mutter könnte nirgends schöner ruhen …« Und er dachte des weiten Blickes, der von dem Hügel, weg über die alten Gräber und ihre niedere Friedhofsmauer, hinaus in's Weite all der Weinberge und Felder ging. »Und still … so ein verlassener Garten.«

Sie nickte nur, und wortlos gingen die Sekunden. Dann aber sagte sie mit einer lieben Stimme, in der die Tränen noch ein wenig zitterten und die doch seinen Schmerz schon trösten wollte: »Wie's erst im Frühjahr schön sein wird … Georg, da will ich Rosen pflanzen auf das Grab. Und wenn dann alles blüht, dann wollen wir sie oft besuchen …«

Da zog er sie in all dem Leid, das noch in ihm erbebte, an sich.

»Du Gute, du! Du Meine …!«

Und aus dem Weh der Stunde wuchs das Sehnen, die Brücke, die vom Schmerz um das Verlorene hinüberwies in ein neues Leben.

Wenn erst der Frühling kam …

Dann wollten sie zusammen an dem Grabe stehen, und wo jetzt dürre Blätter hingen, blühten Rosen. Dann lagen all die Felder grün an grün, und aus dem Efeu riefen Vogelstimmen.

Dann war das Leid gemildert und geklärt, und nur die Liebe träumte noch von der, die hier auf diesem stillen Plätzchen ruhte.

 

Ernst gingen die Tage an den Kindern der Frau Marie Bang vorüber.

Der Schmerz, den sie gemeinsam litten, stand oftmals noch groß vor den beiden da, und er war es, der sie noch enger zusammenführte als das Leben dieser Jahre je vorher.

Mehrmals in diesen arbeitsreichen Tagen, wenn Georg hinter seinem Pult stand, griff ihn ein jäh erwachendes Erkennen von dem, was er verloren hatte, so wehevoll ans Herz, daß er nicht anders konnte, als alles lassen, wie es lag – und zu der einen eilen, die seinen Schmerz allein verstand. Und wenn er die dann fand in dieser leeren Wohnung, in der ein jeder Schritt und jeder Blick an die gemahnte, die hier ein Leben lang geschaffen hatte – und nun fehlte, dann wußte er, daß für Sephi sein Kommen gleich erlösend war wie für ihn selbst.

An einem solchen Tag war es auch, daß Georg, wie er den Hof betrat, die Männer dort sah, die die zwei alten Bäume fällten …

Da eilte er schneller noch die Treppe hinauf, während von unten die Axthiebe erklangen und das Zischen des Sägeblattes hörbar war, das durch die alten Stämme schnitt, die er seit seiner frühen Kindheit liebte …

Wie er dann oben eintrat und Sephi sah, an der die roten Augenlider trotz des Lächelns die schwere Stunde verrieten, die auch sie verbrachte, da war's ihm klar, daß er sie hier nicht länger lassen durfte.

Am nächsten Tag schon war in jenem Zimmer, das hinter Georgs Buchladen lag und einstmals des Herrn Franz Schneeberger »Antiquariat« beherbergt hatte, ein Schreibtisch und ein Arbeitsplatz für Sephi eingerichtet. Der Raum, der früher so erfüllt gewesen war, daß er kaum Platz für einen Menschen bot, war, seit die wachsenden Bestände ein eigenes Magazin erforderten, wohnlich und hübsch geworden.

Hier sollte Sephi bei ihm sein in dieser herben Zeit, daß sich das Weh der Einsamkeit in ihr und ihm – die doch nicht einsam waren! – nicht mehr so mächtig sollte regen können.

So wurde ihm die Geliebte auch zur Gefährtin seiner Arbeit. Und Hand in Hand schritten sie durch die Tage, in denen die Erinnerung an die Mutter gemach die Schmerzlichkeit verlor. –

Und dann kam der Frühling.

Er brachte die Rosen für das stille Grab, auf dessen Stein nun unter jener alten Inschrift die neue stand: »Hier ruht in Gott Marie Bang …« und brachte die grünen Felder und die Vogelstimmen draußen und das Blühen in den Herzen der beiden Menschenkinder, die sich liebten.

Niemals vorher war in den beiden das staunende Erkennen für die Wunder des neuen Werdens rings umher so wach gewesen wie in dem Frühling, der auch ihnen ein neues starkes Blühen brachte nach all dem Welken, das gewesen war.

»Drei Zimmer – ja, so sollt ihr's machen …«

Die Worte der Frau Bang schwebten ihnen vor, als sie in dieser Zeit die Wohnung nahmen, und vor sich sahen sie dabei das müde, gütige Gesicht mit dem verträumten Lächeln, das so viel mehr verschwieg, als es verriet. Ob Georgs Mutter damals nicht gewußt hatte, daß sie in dieses neue Heim nicht mehr mit übersiedeln würde? Ob in den stillen Augen nicht gestanden hatte: Ja – macht es so – ich aber will in meinem alten Hause sterben …?

Oft mußten sie nun daran denken, während sie gemeinsam die Einrichtung des neuen Heims betrieben, in das – als Spitzhacke und Schaufel dem alten, stillen Haus zu Leib gingen – Sephi, erst allein noch, zog.

Wie dort, so brachten sie auch hier die Abende gemeinsam zu, und immer saßen sie in jenem Raum, den Georg stets der Mutter Zimmer nannte. Da waren, wie er es der Kranken damals gesagt hatte, die alten Möbel so wie einst gestellt, da sollte auch im neuen Leben ein Platz verbleiben, der die Heimgegangene ihm und Sephi stets lebendig hielt.

Eng aneinander geschmiegt saßen sie da und sprachen von ihrer Liebe und träumten von ihrer Zukunft, während, wie früher auch so oft, die Lampe auf dem Tisch brannte und das Ticken der Uhr in ihr tiefes Glück den Pulsschlag der Stunden wob.

Und wie die Zukunft, die sie sinnend malten, so zog an solchen Abenden auch die Vergangenheit vor ihren Augen hin. Dann sprachen sie und sprachen immer wieder, und konnten nie genug erzählen aus ihrem Schatz gemeinsamer Erinnerung. Da ward Hans Gerold – Sephis kleiner Bruder und Georgs erster Freund aus seinen Knabenjahren – wach und ging, wie damals im Matrosenanzug mit breitem Strohhut und mit frohen Augen, durch ihr Träumen. Da stand Herr Heinrich Gerold wiederum vor ihnen mit seinem trauervollen Lächeln, das so gütig war, mit seiner Liebe, die stets gab und schenkte, und seinem Weh, das ihn dann überwand. Und auch die schöne Frau mit ihrem reichen blonden Haar und ihren weißen Händen schritt durch des Georg und der Sephi Sinnen – und Herr Schneeberger und die Mutter Georgs …

Wie eine Welt für sich und reich – so überreich! – schien ihnen beiden ihre Jugend.

Und wenn sie dann nach solchen Stunden, eh' Georg schied, noch an das Fenster traten und mit heißen Wangen niedersahen auf die Straße, in der das Treiben all der Tausende noch wogte, dann fühlten beide erst so ganz, wie unzertrennlich diese Jugend sie zusammenhielt!

In stetem Wechsel zog der Strom der Menge. Da schritten Tausende, und keiner teilte, was sie gemeinsam durch die langen Jahre getragen hatten. Ein jeder trug die eigenen kleinen Sorgen, und jedem schien das eigene Schicksal groß und bedeutungsvoll vor jedem anderen.

Groß und bedeutungsvoll …?

Da hielten sie wohl inne – und einmal war's, daß Georg unvermittelt sprach:

»Was wir zusammen erlebt haben, ist uns so viel – uns beiden. Oft, wenn ich es so überdenke, ist mir's, als wär' es so viel mehr als die Jugend von den meisten anderen – und doch, was bin ich denn …?«

Als sie ihm darauf fragend in die Augen sah und ihm, da er vom Fenster weg zurück ins Zimmer trat, die Hände auf die Schultern legte, fuhr er zu reden fort:

»Ein Wiener Buchhändler … bald auch ein junger Ehemann, der glücklich ist wie keiner sonst … Aber als Mensch?« Er schüttelte den Kopf und mußte lächeln. »… schließlich doch einer … nicht? … von denen g'rade zwölf auf's Dutzend gehen … ich meine einer, der kein besonderes Licht ist vor dem Herrn, und der aus dem bescheidenen Kreis seines Lebens nicht über all den Durchschnitt ragt …«

Da schlang sie ihre Arme fest um seinen Hals und wiegte ihren feinen Kopf und küßte ihn.

»Du Dummer!« sagte sie, »du Dummer, du!«

Und ohne daß sie dem ein Wort verliehen hätte, fühlte er, was sie empfand: daß nicht sein Dasein nach der Außenseite der rechte Maßstab für sein Leben war und auch nicht für die Tiefe jener Liebe, die ihn und sie verband. –

Aber nicht nur solche Tage, an denen die Erinnerung wachte und dieser beiden jungen Menschen Herzen mit ihrer Träumerei erfüllte, brachte das Frühjahr, es führte Georg und Sephi auch durch Abende voll heißer Sehnsucht, an denen all ihre lang' verhaltene Zärtlichkeit sich überstark in ihnen regte.

Dann küßte er das spröde blonde Haar, die weichen Wangen und den Mund, um den es wie ein stilles Blühen lag. Er sah, daß jenes frühe Welken, das einst – in den vergangenen schweren Tagen – drohte, wieder geschwunden war aus diesen zarten Zügen, und ihn erfüllte heißes Glück.

Dann hielten sie sich wohl im Dämmerlicht in durstiger Liebe eng umschlungen und riefen unter Küssen nach der Zeit, da es für sie kein Auseinandergehen mehr geben sollte!

Und mit dem Blühen all der vollen Rosen, die auf dem Grabe der Frau Bang von Georg und von Sephis Liebe zu der Toten sprachen, kam diese Zeit.

Als sich der Frühling mit dem Sommer zum Gruß die Hände reichten, ward Sephi Georgs Frau.

Sie hatten nicht den Ablauf ihres Trauerjahres abgewartet, sie wußten, daß die Heimgegangene, die dort am Fuß des Wienerwalds, im Duft der Felder, die zur Ernte reiften, den ewigen Schlummer schlief, die Liebe ihrer Kinder segnete.

Und beide fühlten ihre reife Liebe und sehnten sich nach jenem Hafen, in dem kein Sturm des Lebens draußen sie mehr trennen konnte.

Still war in ihrer äußeren Form die Feier, die Georg Bang mit Sephi verband, doch den zwei Menschen, die sich seit den Tagen ihrer Kindheit liebten, war dieser Tag das Ziel ihres Lebens.

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