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In einem Schachklub, der die besten Spieler der Stadt allabendlich in ungezwungenem Beisammensein in seinen Räumen vereinte, hatten wir uns zum ersten Male getroffen, Herr Richard Plank und ich. Wiederholt waren wir Gegner in kleinen Schachturnieren gewesen, und da seine überaus ruhige, scharf kalkulierende und geistvolle Art, zu spielen, mir ganz besonders zusagte, und er auch an meinem Spiele Gefallen fand, so kam es, daß wir uns bald nicht nur im Klub aufs engste aneinanderschlossen, sondern daß unser Verkehr auch über jenes neutrale Gebiet hinauswuchs, daß wir gute Bekannte, und schließlich Freunde wurden. Besonders innig aber gestaltete sich unser Zusammenschluß, seit Richard Plank, der unabhängig von irgend welchem Amte, gleich mir von den Zinsen eines bescheidenen Vermögens lebte, sich entschloß, in jenem selben Vororte der Stadt sich einzumieten, in dem auch ich mein Heim besaß.

Hier bewohnte er das Parterre eines kleinen, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammenden Landhäuschens, das inmitten eines wohlgepflegten Gärtchens lag und das so recht im Sinne der ein wenig an die Biedermeierzeit gemahnenden Bezeichnung »Haus Sanssouci«, die ein früherer Besitzer dem Grundstück gegeben hatte, ein überaus behagliches und ruhiges Heim für einen Menschen bot, der, wie mein Freund, den stillen Hafen einer wohlverdienten Muße suchte.

Wer Richard Plank eigentlich war?

Ich habe lange gebraucht, um mir die Frage ganz beantworten zu können, und nur nach und nach, wie unsere Beziehung zu einander wärmer wurde, wie aus der oberflächlichen Bekanntschaft jene stille, feste Freundschaft wuchs, die gereifte Männer ohne viel Worte, aber dennoch fest und sicher aneinander bindet, erfuhr ich auch das Schicksal seines Lebens.

Es waren seltsam schöne Stunden, in denen er mir so sein Inneres erschloß. Draußen war es meist, in seinem Gartenhäuschen, oder auch bei mir – denn seit wir in so angenehmer Nähe voneinander wohnten, kam es gar häufig vor, daß wir die Fahrt zum Klub uns sparten und unser Spiel hier beieinander spielten. Hatten wir dann die Kräfte des Geistes auf unserem schwarz und weiß gewürfelten Schlachtfelde lange genug aneinander gemessen und brach die Dämmerstunde mit ihrem milden Dunkel als eine stille Mahnerin, es nun genug sein zu lassen, über uns herein, dann ließen wir Brett und Figuren ruhen. Es traten Wein und glimmende Zigarren, es traten die Fauteuils und trauliche Gespräche in ihr Recht.

Dann erzählte ich dem Freunde aus meinem bewegten, wenn auch nur allzu kurzen Soldatenleben, aus dem mich so früh schon die böse Kugel, der ich jene Lähmung des linken Beines verdanke, gerissen hatte, und er sprach mir von seiner Jugend, vom Schiffbruch seines Lebens und von dem Berufe, den er dann gefunden hatte, – von seinen Erlebnissen als Detektiv. Denn Richard Plank war zwanzig Jahre lang als Detektiv im Dienste der Wiener Polizei gestanden, als ein Mann, der das beste Stück von seinem Dasein dem Dienste der Wahrheit und Aufklärung widmete, nachdem sein eigenes tragisches Schicksal ihn schon in jungen Jahren zum Opfer eines Justizirrtums gemacht hatte.

An solchen Abenden war es denn auch, daß Richard Plank mir den Fall Versegy erzählte, ein Vorkommnis aus der besten Gesellschaft von Budapest, das sich zu Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ereignete und das damals nicht nur die österreichischen Polizeibehörden, sondern auch das Publikum in höchste Aufregung versetzte. Planks Bemühungen war es in diesem eigenartigen Kriminalfalle gelungen, entscheidend in den Gang der Dinge einzugreifen.

Wir saßen an jenem schönen Juniabend, an dem Plank auf diese seltsame Begebenheit zu reden kam, auf der kleinen, gedeckten Veranda, die aus seiner Wohnung in den Garten führte. Draußen brach die Dämmerung gemach herein, die strahlend hellen Farben des Tages wurden ernster und erloschen. Von der Straße herüber drang manchmal mit dem Wehen des mild fächelnden Windes ein leiser, leichter Schwall des Lebens, das dort, jenseits der alten Ahornbäume, jenseits der Linden, deren voller Blütenduft herüberzog, sich regte. Es war friedlich und still bei uns, so recht die Stimmung und das Weben, um sich zurückzusinnen in vergangene Zeit.

Da begann mein Freund zu erzählen:

»Ja, – es war ein seltsamer Fall, – einer von den letzten wirklich großen Fällen, die ich noch mit betreiben konnte, denn bald darauf zog ich mich zurück vom Dienste. Und für mich war der Fall Versegy auch darum noch besonders fesselnd von Anfang an, weil es ein Zufall fügte, daß ich ihn auch vom ersten Augenblicke an, da er der Polizei bekannt wurde, mit beobachten konnte. Das ist stets wertvoll für alles folgende, will aber doch viel heißen für unsereinen, denn es trifft eigentlich doch nur recht selten zu. Meist wird der Detektiv erst zugezogen, wenn die Polizei mit Meldungsannahmen, Protokollen, Lokalbesichtigung und anderen Vornahmen und Erhebungen das für den Fachmann Wichtigste bereits vorweggenommen hat – wenn das, was sich an psychologischen Momenten gerade in den ersten Augenblicken oft klar und deutlich wie sonst niemals wieder offenbart, bereits verwischt, halb unbewußt verfälscht oder verloren ist. In solchen Fällen kriegt der Detektiv dann ein von der Polizei gesichtetes Material als Unterlage für seine Forschung, und da geschieht es nur allzu oft und allzu leicht, daß Beobachtungsfehler, Vorurteile oder Übersehungen, die den Beamten auf der Polizei mit unterliefen, dann auch dem Detektiv sein Werk erschweren, ja, ihn vielleicht sogar für immer von der rechten Fährte bringen. So fassen wir es denn geradezu als Glück, als ein Ereignis auf, wenn es uns möglich ist, den Faden des Verbrechens gleich im Anfang aufzunehmen und ihm von da ab, ungehemmt durch Maßnahmen der Vorgesetzten, mit eigenen Augen folgen zu können. Und dieses Glück war mir im Falle Versegy von Anfang an beschieden.

Ich war damals von meinem Wiener Chef, dem Polizeirat Franz, nach Budapest gesendet worden, um eine Gesellschaft von rumänischen Hochstaplern, die in Wien mehrere Hoteliers und Juweliere um große Summen geprellt hatten und die nun in Budapest aufgetaucht waren, auszukundschaften und verhaften zu lassen. Alles war über Erwarten glatt und rasch gegangen, und ich war eben auf der Budapester Polizei, um mich bei dem Kommissar, der mir behilflich gewesen war – einem noch jungen Manne von starker kriminalistischer Begabung, aber einem ebenso unkriminalistisch raschen, sanguinischen Temperament – persönlich zu verabschieden, als ein Diener eintrat. Er meldete einen Herrn, der dringend und erregt ersucht hatte, zwecks einer Anzeige sofort vorgelassen zu werden. Dabei überreichte der Diener dem Kommissar die Karte des Herrn, und der Beamte las den Namen: Professor Sandor Versegy. Während der Kommissar nun dem wartenden Diener noch seine Order gab, und ich mich eben, um nicht zu stören, empfehlen wollte, trat der Gemeldete auch schon mit allen Zeichen erregter Hast ins Zimmer. Er blickte fragend von dem Kommissar auf mich und wieder zurück auf den Kommissar, stammelte ein paar unzusammenhängende Worte, die wohl als eine Entschuldigung gelten sollten wegen seines Eindringens, und brach dann mit einem wahren Schwall von wirren Sätzen hervor, aus denen uns nur so viel klar wurde, daß man bei ihm eingebrochen hatte, daß sein Kassenschrank gewaltsam geöffnet und ihm ein beträchtliches Vermögen geraubt worden war.

Aber all das war, wie gesagt, aus seinen Worten mehr zu erraten, als zu verstehen, denn der Mann gebärdete sich so fassungslos und hingenommen von dem Vorfalle, daß er endlich, übermannt durch sein Unglück, auf einer schmalen Bank, die an der Wand des Raumes vor einem Tischchen stand, zusammensank und laut zu schluchzen begann.

Während der Kommissar ihn zu beruhigen suchte, während er dem kleinen, nervös und ängstlich aussehenden Manne zusprach, sah ich mir den Professor Sandor Versegy ein wenig näher an. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, war sorgfältig und nach bestem Geschmack gekleidet und machte mit seinem versorgten, nun vom Weinen und der Erregung seltsam gedunsenen Gesicht im ganzen den Eindruck eines Mannes, der geistig viel gearbeitet hat, vielleicht auch durch Nachtarbeit, Stimulanzien und allzu reichlichen Zigarettengenuß – sein linker Zeigefinger und Mittelfinger ließen an der gelben Färbung der Haut deutlich erkennen, daß er Zigaretten rauchte – vor der Zeit gealtert hat. Was mich an der sonst recht sympathischen, nur allzu weichlichen Erscheinung des Mannes damals ein wenig abstieß und befremdete, war die zügellose Art, in der er sich seinen Gefühlen überließ. Darin lag etwas Haltloses und Weibisches, – manchmal, wie mich bedünken wollte, sogar ein wenig Unnatur.

Als er nun ruhiger geworden war, wollte ich den Moment benutzen, um mich bei dem Kommissar rasch zu empfehlen. Der aber – der, wie ich hier erwähnen will, damals als Vertreter seines verreisten Vorgesetzten völlig selbständig disponierte – bat mich, doch zu bleiben und den Bericht über den Einbruch jedenfalls mitanzuhören. Ich blieb gerne, denn – daß ich es nur gleich sage – der Mann, der da in erregter, fiebernder Unruhe auf der schmalen Bank des Zimmers saß, fesselte mich, ich fühlte, daß hier ganz Besonderes geschehen sein müßte, daß es sich hier um mehr handeln mochte, als um einen jener Gaunerstreiche, bei denen ein paar »Schwere Jungen« mit Dietrichen und Schränkzeug auf Raub ausgehen um der Beute willen.

Und nun erfuhren wir auf unsere Fragen, die er in neu aufflackernder Erregung immer wieder durch Ausbrüche von Schmerz und durch verzweifelte Klagen über den Verlust unterbrach, in unzusammenhängendem Berichte etwa das folgende: Er war Professor an der Budapester Universität gewesen, hatte aber vor etwa einem Jahre seine Vorlesungen eingestellt, weil ihn ein Nervenleiden zur Ruhe nötigte. Er hatte dann die ganze Zeit in der Behandlung eines der ersten Budapester Spezialisten gestanden und war auf dessen Rat vor nun sechs Wochen in eine Kaltwasser-Heilanstalt bei Wien gefahren, wo er eine Kur gebrauchte, die ihn nach seiner Angabe auch wesentlich gebessert hatte. Seine Frau hätte ihn begleitet; die Dienstboten wären in dieser Zeit beurlaubt, die Wohnung gesperrt gewesen. Gestern nacht wäre er mit seiner Frau zurückgekommen, und heute früh, als er sein Arbeitszimmer zum ersten Male betrat, da hätte er entdeckt, daß der Kassenschrank erbrochen und seine gesamten Papiere im Betrage von rund hundertundfünfzigtausend Gulden ebenso wie mehrere wertvolle Schmuckstücke seiner Frau verschwunden wären! – An der äußeren Wohnungstüre wären, soweit er es erkennen könnte, Spuren von gewaltsamer Bearbeitung nicht zu sehen, obwohl die Türe außer mit dem gewöhnlichen Schlosse auch mit einem Sicherheitsschlosse versehen war.

Der Kommissar fragte, ob irgend jemand von der Dienerschaft, oder sonst wer, während der Zeit von des Professors Abwesenheit Duplikate der Wohnungsschlüssel in Händen gehabt hätte? – »Nein.« – Ob ihm gegen irgend eine Persönlichkeit ein Verdacht aufgestiegen wäre? – Er zögerte, dann aber sagte er mit einer Bestimmtheit, an der mir etwas Gezwungenes, Gewaltsames zu haften schien: »Nein.«

Nun war keine Zeit zu verlieren. Der Kommissar ließ einen Assistenten zur Aufnahme des Protokolles kommen, und wir begaben uns zu viert hinunter, nahmen einen Wagen und fuhren nach des Professors Wohnung. Der Mann wohnte in einer der schönsten neuen Straßen von Budapest, in einer jener eigentlich nur von wohlhabenden Leuten bewohnten Straßen, die keine Geschäftsstraßen sind und auch nicht zur Bewältigung des Hauptverkehres dienen. Das ganze Viertel machte einen vornehmen und ruhigen Eindruck. Auch das Haus, in dem der Professor Versegy wohnte, trug dieses gleiche, ruhige Gepräge. Es war ein neuer, gut ausgestatteter Bau, von dessen Portierloge aus man – wie ich sogleich feststellte – jedermann, der die Treppe hinauf wollte oder von einer der Wohnungen herunter kam, unbedingt sehen konnte.

Die Wohnung des Professors lag im dritten Stock. Noch ehe wir uns deren Türe öffnen ließen, betrachtete ich mit dem Kommissar die beiden Schlösser. Sie waren, soweit wir zunächst beurteilen konnten, völlig unverletzt. Wir behielten uns eine genauere Untersuchung auf später vor und traten unter Führung des Professors in die Wohnung ein.

Da schlug uns gleich beim ersten Schritte jener durchdringende Geruch von Kampfer, Naphthalin und Pfeffer entgegen, der uns daran gemahnte, daß die Räume durch viele Wochen unbewohnt gewesen waren. Über einen in Halbdunkel gelagerten Flur, in dem mehrere Koffer standen, auf die Kleider – ein brauner Pelz, ein Regenmantel und ein Damenjakett – hingeworfen waren, ging es in den Salon, wo die Polstermöbel noch mit Papier und Tüchern verhüllt waren, und weiter in des Professors Arbeitszimmer.

Eben wollten wir zu diesem treten, als aus einer gegenüberliegenden offenen Türe des Salons eine noch junge Frau von auffallend regelmäßigen Zügen und beinahe mädchenhafter Schlankheit auf uns zu kam.

Mit wenigen Worten stellte uns der Professor vor.

»Meine Frau,« sagte er dann.

Mir ist der Augenblick besonders klar in der Erinnerung geblieben, denn als ich jene in dem schlichten hochgegürteten Morgengewande aus dem Wohnzimmer drüben in den Salon herüberschreiten sah, war mir sofort das geradezu königlich Edle ihrer Erscheinung aufgefallen, und der starke Gegensatz zwischen ihrem Wesen und jenem des Professors hatte sich mir aufgedrängt.

Einfach und in einer Weise, die das Geschehene als einen bösen Schicksalsschlag nahm, gegen den nicht Klagen, sondern nur Besonnenheit und Tatkraft wappnen konnten, forderte sie uns auf, an unsre Erhebungen zu gehen. Man hörte dabei aus der ein wenig singenden und eigenartig akzentuierenden Art, wie sie die Vokale des Deutschen sprach, daß auch sie gleich ihrem Manne gewohnt war, Ungarisch zu sprechen.

So traten wir in die Türe von des Professors Arbeitszimmer, und da fielen uns allerdings die Merkmale des Einbruches sofort und mit einer für den Kriminalisten ganz auffälligen Deutlichkeit ins Auge. Die Türe des Kassenschrankes stand gähnend offen. Auf einem Stuhle lagen durchwühlte Briefschaften und Papiere, andere Skripturen waren mit – ich möchte sagen: mit einem gewissen demonstrativen Vandalismus – zerrissen, zerknüllt und umhergestreut worden. Die Möbel waren zum Teil beiseite geschoben, und der Fußboden rings um den Kassenschrank war mit abgebrannten Streichhölzern, Kerzenstückchen, Zigarettenasche, abgebrochenen kleinen Eisenteilen und Feilspänen besät.

Ich muß bemerken, daß schon dieser flüchtige Anblick des Raumes auf mich einen seltsamen Eindruck machte. Ich war damals seit nahezu zwanzig Jahren im Dienste; ich kannte die Gepflogenheiten der »Schweren Jungen« wie wenige – und die Leute, die in unsrer großen Welt eine kleine, abgeschlossene Welt für sich bilden, haben gemeinsame typische Gewohnheiten und Wesenszüge, gleichwie als stammten sie aus einer Rasse, aus einem Schlage. Mir fiel der wüste Zustand des Zimmers auf – das war außerordentlich, das wich ab von der Regel. Ein Einbrecher mag durch seine Tat den Beraubten zu Grunde richten, zum Bettler machen – das tut er mit kalter Ruhe; hat er aber seine Beute, dann hat er auch meist jenen Zug von paradoxem Mitleid mit seinem Opfer, der ihm gutmütig zuruft: »Merken soll er's wenigstens nicht gleich, der arme Teufel, – ich will äußerlich alles wieder halbwegs in Ordnung bringen, – damit er nicht zu sehr erschrickt!« So kommt es, daß der Tatort der größten Verbrechen zunächst meist völlig ordentlich aussieht, bis man bei näherem Hinschauen erkennt, daß diese Ordnung trügerisch war. Jedenfalls ist sie in der Regel vorhanden, sei es, wie gesagt, als Ausfluß einer gewissen Gutmütigkeit, sei es als Erfolg einer berechnenden Vorsicht, die die Spuren der Tat verhüllen will, um sich bis zur Entdeckung möglichst viel Zeit zu schaffen.

Hier war von dieser Gewohnheit abgewichen – die Einbrecher hatten entweder keine Zeit mehr gehabt, sich länger in der Wohnung aufzuhalten, oder – und darauf schien mir die rücksichtslose Behandlung der Skripturen zu deuten – es lag eine Absichtlichkeit in dieser Verwüstung. Klar war dieser Punkt zunächst in keiner Weise – der Fall begann mich schon zu fesseln, zu beschäftigen, als ich im wörtlichen Sinne erst noch auf der Schwelle des Tatortes, an der Schwelle jeder näheren Untersuchung stand.

Da unterbrach die Frage des Kommissars meine Gedanken.

»Ist alles noch genau so, wie Sie es gefunden haben, Herr Professor? Ist an dem Zustande des Zimmers nichts geändert? Was da herumliegt, lag das alles ebenso herum, als Sie zum ersten Male heute früh ins Zimmer traten?«

Der Professor, über den nun mit unserem Eintritt in die Voruntersuchung eine nervös erregte Hast gekommen war, nickte. »Alles ist, wie es war – nur die Fensterladen habe ich geöffnet und in dem Kassenschranke habe ich gesucht – –. Ich wollte die Papiere, die hier zerstreut liegen, auch zusammennehmen, aber meine Frau hat mich gehindert. Sie hat geraten, alles zu lassen, damit die Polizei es vorfände, wie wir es vorgefunden haben.«

Frau Professor Versegy bewegte leicht bejahend den Kopf zu den Worten ihres Gatten, und während der Assistent, der sich an einem kleinen Tischchen niedergelassen hatte, die Mitteilung zu Protokoll nahm, verbeugte sich der Kommissar dankend gegen des Professors Frau.

»Ihre Anregung war sehr wertvoll für uns.« Dann begann er wieder zu fragen.

»Ist – soweit Sie bisher sahen – außer dem Kassenschrank noch etwas erbrochen worden? Oder ist Ihnen der Abgang von noch weiterem, außer den Papieren und dem Schmuck, aufgefallen?« Er sah von dem Professor auf dessen Frau.

Beide verneinten.

»Der Schmuck und die Papiere waren in einer besonderen Blechkassette, die ist geöffnet worden. Nun steht sie leer im Schranke. Und damit wird der Dieb wohl genug gehabt haben,« meinte der Professor.

»Sie sagen, der Dieb – haben Sie einen Anhaltspunkt dafür, daß es nur einer war?«

Der Professor antwortete mit einer Gegenfrage: »Ja, glauben Sie, daß es mehrere gewesen sind?«

»Solche Einbrüche werden beinahe stets von mehreren Personen ausgeführt, und ebenso pflegt es vorzukommen, daß die Leute, wenn ihre Beute an Bargeld und Papieren auch noch so reich sein mag, noch ein oder das andere ›Kleine Andenken‹, das ihrem Geschmacke besonders entspricht, mit verschwinden lassen. Es wäre auffällig, wenn hier von dieser Regel abgewichen worden wäre.«

Unruhig, und wie wenn er suchen wollte, ob er nicht noch nachträglich den Abgang irgend eines Gegenstandes bemerkte, sah der Professor umher. Wir aber traten nun vollends in das Arbeitszimmer ein und machten uns an unsere Untersuchung. Zunächst lasen wir auf, was wir an Reliquien des Verbrechens fanden: Streichhölzer, Kerzenstücke und Eisenteile. Da war schon etwas darunter, was uns von Wichtigkeit werden konnte – die abgebrochene Spitze einer Feile. Das Werkzeug hatte dreikantige Form besessen, und das Teilstück zeigte einen seltsamen, schräg verlaufenden Bruch. Auch die umherliegende Zigarettenasche wurde ebenso wie zwei nahezu völlig aufgerauchte Zigarettenstummel sorgfältig aufgesammelt und verwahrt.

Nun wandten wir uns dem Schranke selbst zu.

Und da machten wir bald eine Entdeckung, die uns beide innehalten und einander vielsagend in die Augen sehen ließ: so sehr der Schrank auch äußerlich zerschunden worden war, so sehr man auch an seinem Schlosse und an seinen Riegeln gefeilt, gebohrt und sonst herumgearbeitet hatte, eines ging trotz aller dieser scheinbaren Zeugen eines gewaltsamen Einbruches für den Sachverständigen klar hervor – der Schrank war ursprünglich mittels des zugehörigen Schlüssels geöffnet worden, all die Verletzungen, die er zeigte, hatte man nachträglich dem schon geöffneten Schranke zugefügt! Da war knapp unterhalb des Mittelriegels im Eisenrahmen eine schwache Delle – man hätte glauben können, hier hätten die Verbrecher die »Elle« angesetzt, die starke, kaum zwei Zoll dicke Brechstange, die mit der scharfen, breiten Schneide und mit dem langen Hebelarme so furchtbar wirkt. An der Türe aber fehlte die Narbe des Gegendruckes zu jener Delle! So war denn diese auch nichts anderes als der Erfolg von einem Axthiebe – von einem Hiebe, den man gegen die schon geöffnete Kasse geführt hatte. Solche beweisende Stellen aber fanden sich viele.

Schon wollte der Kommissar, den es nach dieser Entdeckung wie ein Fieber ergriff, eine Frage stellen, da hielt ich ihn zurück. Ich winkte ihm mit einer kaum merklichen Bewegung, zu schweigen, und fuhr in meiner Untersuchung fort. Und bald erkannte ich als zweites Faktum, das uns nicht minder wichtig als das erste war: zu all den Verletzungen, die man dem Kassenschranke zugefügt hatte, war nicht eines der zünftigen und in ihrer Wirkung so bezeichnenden Einbruchswerkzeuge der gewerbsmäßigen Verbrecher verwendet worden, keine dieser nur scheinbar schweren, im Grunde meist recht harmlosen Narben und Beschädigungen war mit einem jener charakteristischen Instrumente unserer erstklassigen Gauner erzeugt, denen die Eisenschränke sich öffnen wie alte Holzspinde.

Als ich mir im klaren war, wandte ich mich plötzlich, aufsehend an den Professor. »Haben Sie vielleicht eine Axt im Hause?«

»Eine Axt?« – Er sah mich fragend an; er schien aus mir lesen zu wollen, wohin meine Frage zielte.

»Ja – oder eine Hacke –, es wäre mir lieb, ein solches Werkzeug für ein paar Augenblicke zu bekommen.«

Der Professor blickte unsicher auf seine Frau, die aber schritt auch schon durch den Salon dem Flure zu und kam auch bald darauf mit einem ziemlich starken Küchenbeile wieder, das sie mir reichte. »Genügt das hier für Ihren Zweck?«

Ein Blick auf das Beil sagte mir genug. Die Schneide hatte frische, tiefe Scharten, und auch die Stirnseite war stellenweise blank von tiefen Schrunden.

»Danke!« sagte ich nur, dann gab ich das Ding wortlos dem Kommissar. Der ging zu dem Schranke und legte das Beil mit seiner stumpfen Seite in die Delle unter dem Riegel. Es paßte haarscharf.

Nun sah er auf. Einen Augenblick hielt er noch an sich, und da war es drückend still im Zimmer. Dann aber sprach er, mit einer eigentümlich scharfen Betonung und mit dem Zittern der Erregung in seiner Stimme: »Es ist doch seltsam, Herr Professor, die Diebe haben da den Schrank mit Ihrem eigenen Beil bearbeitet – –«

»Ja – –?« Der Professor war näher herzugetreten und starrte mit vorgestrecktem Kopfe nach den Händen des Kommissars, die immer noch das Beil an jene Stelle hielten.

Nun trat auch die Frau des Professors heran und überzeugte sich von dem Verhalte. »Das Beil lag aber in der Küche, ganz an dem gewohnten Platze –.«

Der Kommissar zuckte die Achseln. »Dort hat man es dann wieder hingelegt.« Dann wandte er sich an den Assistenten und gab in jenem seltsam kalten Stile gerichtlicher Feststellungen zu Protokoll, daß ein von dem nach seiner Angabe geschädigten Professor Versegy als sein Besitz erkanntes Beil bei der Beschädigung des Schrankes zweifellos in Anwendung gekommen wäre, und daß besagtes Beil belagweise zu den Akten genommen würde. Und wieder lag in seiner Stimme, wie er nun diktierte, der überlegene und scharfe Ton.

Ich hatte inzwischen die auf den Boden zerstreuten Papiere zusammengerafft und auf den Schreibtisch gelegt. Flüchtig nur blätterte ich die Dokumente durch. Da waren die Taufscheine des Professors und seiner Frau, Steuerquittungen, sein Doktoratsattest, ein Mietvertrag, – und dann plötzlich hielt ich ein. Da hafteten nun meine Augen auf einem Blatte, das mir für Augenblicke mit grellem Lichte eine schreckliche Erkenntnis aufdrängte. Ich sah auf den kleinen, nervösen Mann, der dort in seiner modischen Exaktheit stand, hinüber, und auf die schöne, ernste Frau, und über meinen Rücken ging es mir bei dem Gedanken wie ein Schauer. Es war eine Erkenntnis, die nicht abzuweisen war unter dem Eindruck unserer Untersuchung, und die mich doch ins Innerste erschütterte. Was ich in Händen hielt, war die Police der Versicherungsgesellschaft »Pan«, bei der Professor Versegy sich gegen Einbruch mit einer Summe von rund hundertfünfzigtausend Gulden versichert hatte.

Wie lange ich, mit mir selber kämpfend, auf das Blatt gesehen habe, weiß ich nicht mehr, aber plötzlich fühlte ich, daß jemand über meine Schultern mit hinunter sah. Und gleich darauf hörte ich auch die Stimme des Kommissars, nun aber klang sie in unverhohlenem Triumphe.

»So – so, Sie sind versichert gegen Einbruch, Herr Professor? Das haben Sie uns ja noch gar nicht erzählt?!«

Ich blickte auf.

Der Professor stand knapp neben dem Tischchen des Assistenten. Seine Finger hielten sich an der blanken Mahagoniplatte. Er gab sich sichtlich Mühe, dem Kommissar unbefangen in die Augen zu sehen. Aber er schien zu fühlen, welcher Verdacht aus dessen Worten sprach, denn er war bleich, und seine Lippen zuckten. »Ja« – sagte er – »gewiß, ich bin versichert – seit einem Jahre schon – – beim ›Pan‹ bin ich versichert – – das ist ja noch das reine Glück bei allem dem – –« Er schwieg, – durch seine Kehle ging ein seltsames Schlucken, gleichwie, als zwänge er sich, der Erregung Herr zu werden, die ihn befallen hatte.

Doch da erklang die Stimme seiner Frau.

»Du hast den Herren nicht gesagt, daß wir versichert waren, Sandor? Aber wie ist das möglich! Das ist es ja, Herr Kommissar, was uns den Schlag noch halbwegs ruhig tragen läßt. Denken Sie doch, welche Summe – –«

Der Kommissar ließ den Professor nicht aus den Augen. Aber er sprach zu dessen Frau: »Ruhig? Ich meine, Frau Professor, Ihr Herr Gemahl wäre erregt genug. Auch anfangs gleich, bei der Anzeige – – und nun zeigt sich doch, daß er gesichert ist auf alle Fälle – –? Es lag also ein Grund zu solcher tiefgehenden Erregung gar nicht vor.«

»Mein armer Mann ist krank – wir kommen aus der Kur –, ich finde, es wäre Grund genug zur Erregung, wenn man in seine Wohnung kommt und sich beraubt findet – – gleichgültig, ob man geschützt ist gegen diesen Schaden oder nicht!« Die Worte waren energisch und mit kühler Zurückhaltung gesprochen worden; sie bargen zweifellos die volle Überzeugung dieser Frau, und das war mir klar: mochte was immer für ein Vorgang dunkler Art dem Einbruche zu Grunde liegen, die Frau hier, die soeben noch das belastende Küchenbeil hereingebracht hatte, wußte nichts von diesen Dingen.

Dieses Gefühl schien sichtlich auch der Kommissar zu teilen, denn als er weitersprach, war sein Ton nun entschieden zurückhaltender; er zwang sich, ruhig und ganz geschäftsmäßig vorzugehen, alles Tatsächliche festzustellen und zu protokollieren, seine Gedanken über die Art, wie der Einbruch verübt wurde, zunächst aber für sich zu behalten. So begann er denn seine Fragen über die Abwesenheit des Professors und seiner Gattin.

»Also am siebenundzwanzigsten März sind die Herrschaften hier abgereist und haben die Wohnung abgeschlossen?«

Der Professor nickte. »Ja. Und wir sind zunächst nach Wien und haben dort einen Arzt konsultiert, an den ich empfohlen war.«

»Wann kamen Sie nach Wien, und wie lange blieben Sie dort?«

»Wir kamen noch am selben Tag an und sind dann – – Ilka, wie lange sind wir das erste Mal beim Lajos gewesen?«

»Vier Tage.«

»Ja, stimmt, vier Tage, denn am ersten April waren wir in Kaltenleutgeben in der Kaltwasser-Heilanstalt – –«

Der Kommissar unterbrach. »Pardon: wer ist Lajos?«

»Lajos? Das ist mein Bruder. Ich habe einen Bruder in Wien – einen Stiefbruder, Lajos Révai – das heißt, er nennt sich jetzt Ludwig Révai – aber wir sagen natürlich Lajos, weil er ja immer so gerufen worden ist. Ja – wir haben auf der Durchfahrt beide Male bei ihm gewohnt – man konnte das gar nicht ablehnen –«

Der Professor sprach schnell, beinahe überstürzt, dann schwieg er plötzlich, wie wenn er den Faden des Gedankens verloren hätte.

Da griff der Kommissar mit einer neuen Frage ein.

Und so erfuhren wir weiter, daß die Herrschaften vom ersten April bis zum dritten Mai in der Kuranstalt geblieben waren, daß sie dann abermals zwei Tage sich bei des Professors Bruder in Wien aufgehalten hatten und eben gestern in der Nacht vom fünften auf den sechsten Mai hier angekommen waren.

Während all der Fragen des Kommissars stand der Professor neben dem Tischchen, an dem der Assistent die Aussagen zu Protokoll nahm. Seine Augen gingen, wenn er sprach, unruhig, als müßte er sich dort die Bestätigung seiner Aussagen holen, zu seiner Frau. Manchmal auch wandte er sich direkt mit Zwischenfragen an sie.

»Nicht wahr, Ilka, so war es doch? – Das ist doch richtig so – du weißt es doch auch?«

Und sie nickte dann beschwichtigend, beruhigend. »Ja, Sandor – ganz wie du sagst – es ist alles genau so gewesen.«

Einmal legte sie ihm auch den Arm um die Schulter und sah ihn begütigend an, während sie leise den Kopf schüttelte. »Du sollst dich nicht so aufregen – das schadet dir – beruhige dich doch –«

Aber der Professor konnte in all der Zeit unserer Untersuchung und Feststellung seine Ruhe nicht finden. Nervös und erregt verfolgte er mit den Augen jede von unsern Bewegungen, und die Spannung auf seinen Zügen wich keinen Augenblick.

Wohl eine Stunde mochten wir so gearbeitet haben, und wir waren eben dabei, all die zerstreut aufgefundenen Papiere noch einmal genau durchzusehen und festzustellen, ob sich zwischen ihnen nicht vielleicht etwas fände, was weiteren Anhalt zur Ermittlung des Verbrechers geben könnte, als des Professors Frau für wenige Minuten uns verließ, um bald darauf mit einem Tablett wiederzukommen, auf dem sie Wein und Gläser trug.

»Die Herren müssen entschuldigen,« sagte sie, »ich kann nichts anderes bieten, denn unsere Dienstboten sind noch nicht da. Aber ein Glas Wein nehmen Sie vielleicht?«

Dankend lehnten wir ab, aber da füllte der Professor schon die Gläser und leerte als der erste das seinige.

Still ging indessen unsere Arbeit weiter.

Plötzlich fragte der Professor: »Stört es die Herren, wenn ich rauche?«

Der Kommissar hielt in der Arbeit ein.

»Nein, keineswegs.«

Auch ich blickte auf. Ich sah, wie der Professor eine Tabatiere aus Tulasilber aus der Seitentasche seines Rockes zog, wie er eine Zigarette herausgriff, zwischen die Lippen klemmte und die Tabatiere mit einem leisen metallischen Klappen wieder schloß.

Und da, ich weiß selbst nicht, wie es kam, denn sehen konnte ich nicht so weit, um zu erkennen, was es war, was er da rauchte – aber förmlich instinktiv, triebartig griff auch ich nach meiner Tasche, als suchte ich nach Tabak.

Aber der Professor, der kein Auge von uns ließ, hatte auch die Bewegung aufgefangen. Und da klappte seine Tuladose auch schon wieder auf und er hielt sie mir geöffnet entgegen: »Bitte, nehmen Sie hier – etwas Besseres werden Sie kaum finden.«

Einen Blick warf ich in die Tabatiere, in der in zwei Reihen die Zigaretten lagen. Dann nahm ich eine.

»Danke, Herr Professor.«

Und während ich die Zigarette anbrannte und die milde, süßliche Rauchwolke von mir blies, wußte ich es: das war dieselbe Sorte, von der wir halbverrauchte Stummel und Asche hier vor dem angeblich erbrochenen Kassenschranke gefunden hatten.

»Gut – nicht wahr?« fragte der Professor nach einer Weile, da ich den türkischen Aufdruck auf der Zigarette prüfend betrachtete.

»Vorzüglich. Sie kaufen das Kraut hier?«

Er lächelte nervös.

»Nein – hier kriegen Sie das nirgends. Die lasse ich mir direkt aus Pera schicken – die raucht kein Mensch sonst hier.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ich weiß es – die werden für mich besonders angefertigt.«

Der Kommissar hatte aufgehört, in den Papieren zu suchen, und sah mich fragend an. Ich fühlte, es war ihm unverständlich, warum ich mich in dieser ernsten Stunde mit dem Professor über den Tabak unterhielt, den er rauchte.

Aber ich tat, als merkte ich das nicht.

»Wollen Sie mir noch eine von Ihren Zigaretten geben, Herr Professor?«

Er war verwundert, griff aber eilig wieder nach der Tasche. Ich nahm noch eine Zigarette und sah dem Manne fest in die Augen.

»Herr Professor, Sie sind sicher, daß dieses Zimmer vor Ihrer Abreise gut ausgefegt war?«

Er war verblüfft durch die Frage und sah wieder hilfesuchend nach seiner Frau.

»Ausgefegt? – Zweifellos war es das –«

»Und daß Sie heute noch nicht hier geraucht haben?«

Sein Blick war nun völlig verständnislos.

»Nein – geraucht habe ich nicht – ich war ja nur für ein paar Augenblicke im Zimmer –«

»Ja – so sagten Sie schon. Es ist nämlich ganz merkwürdig –,« und ich reichte dem Kommissar die Zigarette hinüber, »der Mann, der hier Ihren Schrank ausgeraubt hat – ja, bitte, kommen Sie und sehen Sie nur selbst – der hat dieselben Zigaretten geraucht wie Sie – die gleiche Sorte, die nach Ihrer Meinung kein Mensch sonst raucht.«

Totenstill war es für ein paar Augenblicke in dem Zimmer, und wir alle sahen nach dem Professor, der bewegungslos dastand mit einem angstvollen, hilflosen Ausdruck, als verstände er den rechten Sinn meiner Worte noch nicht ganz, als ahnte er nur, daß ein furchtbarer Verdacht sich hinter ihnen verberge. Derselbe Verdacht, der früher schon in uns aufgesprungen war, als wir die Police fanden, und der nun durch diesen neuen Umstand noch gestärkt, gekräftigt wurde.

Seine Frau war die erste, die das Schweigen brach.

»Sandor – so schau doch –,« und sie kam selbst an den Tisch heran und blickte nieder auf die beiden gefundenen Zigarettenstummel und die Aschenreste, neben die nun der Kommissar mit vor Erregung zitternden Fingern die Zigarette legte, die er von mir empfangen hatte. »So schau doch – es ist – ja – es ist wirklich dieselbe Sorte – aber wie kann denn nur – wie ist denn das möglich?«

Ich hatte die Frau bei diesem Vorgang fest im Auge. Was sich da auf ihren Zügen spiegelte und in ihrem Innern abspielte, war ein fassungsloses, unbegreifendes Erstaunen. Daran war nichts Gespieltes, nichts Gemachtes.

Zögernd war nun auch der Professor näher getreten und sah nieder auf diese halbverrauchten kleinen Papierröllchen, die da auf dem Tische lagen und die so furchtbar gegen ihn und für seine wahre Rolle in dem Verbrechen zeugten. Merkwürdig lange stand er so, still vorgebeugt, mit abwärts gerichtetem Blick – unbewegt. Nur seine Rechte tastete unsicher vor und griff um die Kante des Tisches. Und ich hatte dabei das Gefühl, daß er nach einer Stütze suche, damit wir nicht bemerkten, wie seine Hand zitterte, und daß er nicht aufsah, weil er es vermeiden wollte, dem Blicke des Kommissars zu begegnen.

Dann aber ruckweise und wie unter dem Impulse eines Entschlusses richtete er sich auf. Seine Stimme klang erregt, das Klopfen seines Herzens vibrierte in ihr. »Ja,« sagte er, »die Zigaretten sind von den meinigen – das ist außer Zweifel – das kann ich nicht leugnen, – aber – –«

Der Kommissar unterbrach ihn: »Pardon – Sie sagen ›leugnen‹ – ›kann ich nicht leugnen‹ – das Wort ist auffällig unter diesen Umständen. Finden Sie nicht?«

Der Professor sah hilflos um sich, der Kommissar aber fuhr fort, und der Tonfall seiner Stimme hatte jetzt etwas von ironischer Höflichkeit.

»Nun ja – wenn Ihre Rolle bei diesem Einbruche hier wirklich so völlig passiv ist, wie kommen Sie dann dazu, festzustellen, daß Sie eine Tatsache, die uns vielleicht auf die Spur des Verbrechers führen kann, ›nicht leugnen‹ können?«

Der Professor strich sich über die Stirne, als wollte er all das, was ihn da zu umgarnen drohte, verscheuchen. »Mein Gott,« sagte er, »es war ein Wort – ich habe mir natürlich nichts weiter dabei gedacht.« Und dann zögernd, mit sichtlicher Erregung: »Ich verstehe überhaupt nicht, wo Sie hinaus wollen. Ich zeige ein Verbrechen an, und Sie behandeln mich, als wäre ich selbst ein Verbrecher.« – Seine Erregung stieg, eine kaum noch zurückgehaltene Heftigkeit kam über ihn. »Ich muß Ihnen sagen, daß ich das ganz unerhört finde – daß ich Ihr Vorgehen – –«

»Bitte!« sagte der Kommissar. Dann zuckte er die Achseln und wendete sich zu mir. »Herr Plank, ich glaube, daß wir uns auf Grund der bisherigen Erhebungen hier jede weitere Mühe sparen können – oder haben Sie noch irgend welche Fragen an Herrn Professor Versegy zu stellen?«

Ich kam noch einmal auf die Zigaretten zu sprechen.

»Darf ich fragen, Herr Professor, ob vielleicht während Ihrer Abwesenheit eine Anzahl von diesen Zigaretten irgendwo in Ihrer Wohnung frei umherstand? Wäre das der Fall gewesen, dann ließe sich ja sehr leicht denken, daß der ›Dieb‹ von diesem Vorrat an sich genommen und während seiner Tätigkeit an Ihrem Schranke davon geraucht hat.«

Der Kommissar sah mich verwundert an. Meine Fragestellung schien ihm ein wenig naiv vorzukommen: ich bot ja dem verdächtig gewordenen Kläger geradezu ein Schlupfloch an, durch das er entkommen konnte.

Und der Professor schien einen Augenblick lang in der Tat mit sich zu kämpfen. Dann aber schüttelte er den Kopf.

»Nein – es war nichts im Hause von den Zigaretten. Es war sogar seltsam – mein Vorrat war, als wir abreisten, nahezu aufgebraucht, und so habe ich den ganzen Rest in die Reisetasche gesteckt und mir eine neue Sendung direkt nach Wien machen lassen – –«

Der Professor schwieg plötzlich. Er war auffallend fahl geworden und starrte mit ziellosem Blick vor sich hin.

Der Kommissar aber, der die Papiere, die er für wichtig hielt, und unter denen sich auch ein genaues Verzeichnis der entwendeten Wertpapiere befand, inzwischen zusammengenommen hatte, wandte sich an ihn.

»Ja – Sie wünschen also, daß Ihre Meldung des Einbruches aufrecht bleibt und verfolgt werde, Herr Professor? Ich hätte ja im Grunde gar nicht mehr das Recht, das Verfahren einzustellen – –«

Über des Professors Gesicht lief ein unruhiges Zucken der Muskeln. Er schien zu schwanken, und der Kommissar lächelte mich mit einem mitleidigen Achselzucken bedeutsam an.

Da sprach Frau Professor Versegy an Stelle ihres immer noch zögernden Mannes: »Aber natürlich halten wir die Klage aufrecht, und wir wünschen nur, daß das Vorgehen der Polizei bald Erfolg haben möchte.« Dann wendete sie sich an ihren Mann, und ihre Stimme, die sehr zurückhaltend geklungen hatte, wurde fürsorglich und weich. »Es hat dich angegriffen, Sandor – du wirst dich dann ein wenig niederlegen – ja?«

Er drückte ihre Hand und sah sie dankbar an. Dann fragte er: »Brauchen die Herren noch etwas von mir?«

»Das Protokoll ist noch zu unterzeichnen.«

Er unterschrieb. Es war eine zitternde, unsichere und kraftlose Schrift, in der sein Name nun unter dem Berichte über unsere Erhebung stand.

Draußen im Flure schraubte ich noch die beiden Schlösser aus der Türe, um sie genau untersuchen zu können.

Dann legten wir dem Professor und seiner Frau nahe, gegen niemand – auch im Hause nicht – über den Vorfall zu sprechen, und verließen die Wohnung.« –

Als mein Freund Richard Plank so weit erzählt hatte, hielt er ein paar Augenblicke ein. Er nahm einen Schluck aus dem Glase mit Rotwein, das neben der Aschenschale auf dem kleinen Tischchen zur Rechten seines Stuhles stand, brannte sich die Zigarre, die ihm beim Sprechen ausgegangen war, aufs neue an, und begann dann wieder zu erzählen:

»Sehen Sie, lieber Freund, Sie kennen mich ja jetzt auch schon ein paar Jahre und wissen gerade aus unsern zahllosen gemeinsamen Schachpartieen, wie mir's ergeht, wenn ein Problem sich vor mir aufbaut und mich fesselt. Ich komme dann nicht mehr los davon, bis ich die letzte Lösung gefunden habe, es nimmt mich hin und bohrt in mir und läßt mir keine Ruhe, bis ich jeden Zug kenne, den meine Figuren gehen müssen, bis ich jede Konsequenz überschaue, die sich daraus ergibt – bis ich mir eben sagen kann: das ist der Weg, und das ist das Ziel. Dieser Zähigkeit – so muß ich's ja wohl nennen – verdanke ich die bescheidenen Erfolge meines Lebens. Sie ist es, durch die ich mich einen leidlich guten Spieler vor dem Schachbrett nennen kann, und sie ist es auch, durch die mir in meiner Laufbahn als Detektiv vieles gelungen ist, weil sie mich auch damals nicht Ruhe finden ließ, bis ich die rechte Lösung klar vor mir sah. – Die Onkels auf der Polizei sagen, ich hätte Erfolge gehabt, wie kaum ein andrer in meinem Fache, und als ich abging, da schrieben die Zeitungen spaltenlange Nekrologe über meine abgeschlossene Tätigkeit. »Der geniale Richard Plank« hieß es damals, »Der gefürchtetste Feind der Verbrecher« – mein Gott, der Laie überschätzt derlei so leicht! Ich weiß es, die Polizei hat glänzendere Köpfe in ihrem Dienste gehabt, als meiner einer ist; wenn ich auf etwas stolz bin, dann ist es die Unermüdlichkeit, mit der ich an meinen »Fällen« arbeitete, bis ich sie eben zum klaren Ende geführt hatte. Und dann noch eines: ich habe mit Freude gearbeitet – ich war, sowie mir eine Aufgabe erwuchs, mit Leib und Seele in ihrem Dienste.

So ging es mir auch mit dem Falle des Professors Versegy. Er reizte mich besonders, weil ich fühlte, daß hier noch vieles unklar war, und weil ich sah, daß eine ganze Anzahl von Umständen gleich von Anfang an ungewöhnliche Formen angenommen hatten. Ein Drang, ein förmliches Fieber, die Sache verfolgen zu dürfen, hielt mich damals ergriffen.

So war mein erster Gang, als ich das Haus des Professors verlassen hatte, zum Telegraphenamte, wo ich eine Depesche aufgab, die mir zur Arbeit an diesem Falle die Zustimmung und den Urlaub seitens der mir vorgesetzten Behörde in Wien erbat.

Dann, während der Kommissar seine Recherchen gleichfalls mit regem Eifer fortsetzte, ging ich an die genaue Untersuchung der beiden Wohnungsschlösser des Professors.

Die Arbeit ergab, obwohl ich alles mit der Lupe genau absuchte, nicht den geringsten Anhalt für eine gewaltsame Öffnung, oder auch nur für eine Erschließung der Wohnung mit Schlüsseln, die nicht zu diesen Schlössern gehörten. Nirgends waren Scharten, Kratzer oder sonstige Merkmale zu sehen, wie sie beim Öffnen mit Dietrichen durch das wiederholte Probieren und den unpassenden Schlüsselbart beinahe unbedingt erzeugt werden. Die Schlösser waren glatt und tadellos, als hätten niemals andere Schlüssel in ihnen gesteckt als jene, die gleichfalls vor mir auf dem Tische lagen. Und das war um so auffälliger, als das eine Schloß einen ganz eigenartigen Mechanismus hatte, dessen Bewältigung selbst einem gewiegten Gauner ganz gehörige Mühe gemacht haben würde.

Ich war mit meiner Untersuchung eben zu Ende gekommen, als der Kommissar in meinem Zimmer erschien, um die weitere Behandlung des Falles mit mir zu beraten. Auf meine Anregung hatte er inzwischen das Verzeichnis der bei dem Professor angeblich entwendeten Wertpapiere auf telegraphischem Wege an die verschiedenen hauptsächlich in Frage kommenden Polizeistellen gemeldet und diese ersucht, bei den Banken Umfrage zu halten, ob einzelne Stücke aus diesem Verzeichnisse da oder dort im Laufe der letzten Zeit zum Verkaufe angeboten worden wären. Auch über des Professors Lebensweise und Verhältnisse hatte er sich erkundigt, und da hatte er erfahren, daß der vor kurzem bei einer Börsenspekulation, auf die er sich eingelassen hatte, von recht namhaften Geldverlusten betroffen worden war.

Dieser letztere Umstand war Wasser auf die Mühle des Kommissars, denn nach seiner Meinung handelte es sich hier um nichts anderes als einen fingierten Einbruch, eine gut gespielte Komödie, die dem Professor zu der hohen Versicherungssumme von hundertundfünfzigtausend Gulden verhelfen sollte.

Am liebsten wäre der Kommissar gleich zur Verhaftung des Professors geschritten, und es bedurfte meiner ganzen Überredungskunst, um ihn von einem solchen übereilten Schritte abzuhalten. So ließ er sich nicht nehmen, das Haus des Mannes jedenfalls überwachen zu lassen, um einen etwaigen Fluchtversuch des Professors zu verhindern.

Ich selbst konnte für meine Person die Überzeugung des Kommissars nicht teilen.

Daß nach all den doch immerhin sehr merkwürdigen Beobachtungen und Umständen ein Verdacht gegen den Professor sehr nahe lag und keinesfalls ganz abgewiesen werden konnte, war mir klar. Dennoch standen diesen belastenden Momenten auch eine ganze Anzahl von Tatsachen gegenüber, die dafür sprachen, daß der Professor mit der Ausführung des Verbrechens nichts zu tun gehabt hatte, und in der Tat bildete sich in mir, je länger ich mich mit diesem rätselhaften Falle beschäftigte, immer mehr die Überzeugung aus, daß der Mann nicht der Täter war.

Aber was führte der Kommissar nicht alles zur Begründung seiner Auffassung an, und was sprach nicht in der Tat alles schwer belastend gegen den Professor! Da waren das Küchenbeil, die Zigarettenstummel, die Asche, der Mangel an Spuren, die auf die Verwendung zünftigen Verbrecherschränkzeuges, auf die Anwesenheit gewerbsmäßiger Gauner gedeutet hätten! Da war weiter der tadellose Zustand der Wohnungsschlösser, und das zerfahrene, unsichere Benehmen des Professors selbst! Alle diese Dinge galten dem Kommissar als beinahe überführend, die Police aber, die den Professor jedes direkten Schadens enthob und ebenso die Tatsache, daß der Mann vor kurzem größere Börsenverluste erlitten hatte, gaben dem Verdachte eine ganz bestimmte Unterlage, ließen Grund und Ziel erkennen, warum der Professor einen Einbruch fingiert haben konnte.

Was der Kommissar in dieser Richtung anführte, war ja zweifellos beachtenswert.

»Der Professor hat sein Vermögen früher auf einer Bank liegen gehabt – vor einem Jahre hat er es behoben und seitdem im Hause verwahrt. Warum hat er es behoben? Er sagt, verschiedene Bankdefraudationen und Bankkrache hätten ihn ängstlich gemacht. Gut – möglich! Aber gab es da nicht noch genügend sichere Staatsdepots, die er in Betracht ziehen konnte? Er zieht es vor, die große Summe in seinem Hause zu verwahren. Aber gleichzeitig, wie er das Geld in sein Haus nimmt, versichert er sich gegen Einbruch! Auch das kann an sich ganz harmlos als einfache Vorsichtsmaßregel aufgefaßt werden – aber in seiner Gesamtheit kann man das alles ebensogut, und vielleicht mit mehr Recht als Einleitung, als Vorbereitung für einen von langer Hand geplanten Coup betrachten! Für einen Coup, den der Mann nun ausgeführt hat und bei dem er hundertundfünfzigtausend Gulden glatt ›verdienen‹ konnte – wenn er nicht ein paar Dummheiten bei der Inszenierung gemacht hätte, und wenn er selbst unbefangener, sicherer uns gegenüberstände!«

Ich hörte, was der Kommissar mir sagte und schüttelte schweigend den Kopf dazu. Gerade diese »Dummheiten« und diese Unsicherheit des Professors waren es ja, auf die sich meine Überzeugung von seiner Unschuld stützte.

War es wohl anzunehmen, daß der Mann wirklich sein eigenes Beil verwendet hätte, um den Schrank zu verstümmeln, und daß er dieses Beil dann ohne Widerrede zur Stelle hätte schaffen lassen, wenn er wirklich der Täter war? War es anzunehmen, daß er die tolle Unvorsichtigkeit begangen hätte, Reste seiner besonderen Zigarettensorte – einer Sorte, von der er uns sagte, daß niemand sonst in Pest sie rauchte – dort zurückzulassen? Hätte er schließlich, wenn er selbst der Täter gewesen wäre, nicht verhindern müssen, daß uns das Verzeichnis der fehlenden Wertpapiere in die Hände fiel, weil er sich sagen mußte, daß wir mit Hilfe dieser Liste, auf der die Papiere mit den genauen Nummernangaben notiert standen, dem Verkäufer und damit dem Verbrecher vielleicht auf die Spur kommen konnten? Blieb sein in der Tat auffälliges Betragen. Ja – ließ sich das nicht vielleicht doch durch sein Leiden und durch den Umstand erklären, daß er wohl fühlte, wie er durch den seltsamen Befund verdächtig geworden war?

All diese Dinge sprach ich nicht aus, aber sie waren mir bestimmend, als ich dem Kommissar immer wieder riet, nur mit der größten Vorsicht vorzugehen und sich vor jeder Übereilung in seinem Verhalten gegen den Professor zu hüten. Auch dazu veranlaßte ich ihn, daß der Bericht über den Vorgang, der an die Zeitungen gegeben wurde, einfach die Tatsache eines Einbruches und Raubes in der Wohnung des Professors Versegy während dessen Kuraufenthalt in einem Bade feststellte.

Den Nachmittag dieses Tages, die Stunden also, an denen man von dem angeblichen Einbruch noch nirgends etwas wußte, benutzte ich zu weiteren Nachforschungen. Deren Ergebnis aber trug leider ganz und gar nicht dazu bei, meine Ansicht über die Schuldlosigkeit des Professors zu stützen. Im Gegenteil, was ich erfuhr, ließ mich fürchten, daß der Kommissar wohl doch recht behalten würde – daß in der Tat ein fingierter Einbruch vorläge.

Ich begab mich noch einmal nach dem Hause des Professors Versegy, und meine Absicht war, bei dem Portier vorzusprechen und nach dessen Angaben, so gut das gehen wollte, die Daten nachzuprüfen, die jener in Bezug auf seine Abreise und Rückkunft angegeben hatte. Vielleicht erfuhr ich dabei auch sonst noch manches Wissenswerte im Hinblick auf den Einbruch, denn jedenfalls hatten der oder die Täter, um in das Treppenhaus und in die Wohnung zu gelangen, an der Portierloge vorbeipassieren müssen. War der Portier damals in seinem Verschlage anwesend, dann mußte er die Leute auch gesehen haben.

Als ich in die Nähe des Hauses kam, in dem der Professor Versegy wohnte, sah ich dem Haustore schief gegenüber an der Straßenecke einen Dienstmann lehnen, der, seine Pfeife im Mundwinkel, scheinbar gedankenlos vor sich hin starrte. Trotz der Verkleidung und der gut gewählten Maske erkannte ich den Mann, es war ein Vigilant der Budapester Polizei, ein Beauftragter des Kommissars, der die Aufgabe hatte, das Haus und im besonderen den Professor zu überwachen.

Ich schritt an ihm vorüber, trat in das Haus und klopfte an die Loge des Portiers, der gleich darauf ziemlich mißlaunig aus seinem engen Verschlage kam.

Der Mann, ein verbissener Nationalungar, stellte sich an, als ob er kein Wort Deutsch spräche. Obwohl ich nun bald bemerkte, daß er das Deutsche sehr gut verstand, hielt ich es doch für geraten, die Unterhaltung ungarisch weiterzuführen, um ihn bei besserer Stimmung zu erhalten und so eher etwas zu erfahren, was meinen Zwecken dienen konnte.

Auf die Partei im dritten Stock des Hauses schien er, wie ich bald merkte, nicht sehr gut zu sprechen zu sein. Der Grund dieses Zerwürfnisses war allerdings nicht tiefgehend: der nervöse Professor hatte sich ein paarmal über das laute Wesen und Umhertreiben der Kinder des Portiers im Treppenhause beschwert. Seitdem herrschte wort- und grußlose Feindschaft zwischen den beiden Männern, daß sie aneinander vorübersahen, wenn sie sich begegneten, als kennten sie sich nicht.

Um den Portier zu weiteren Mitteilungen zu veranlassen, nahm ich scheinbar das größte Interesse an diesem bedeutungslosen Vorgang, und wie sich bald zeigte, hatte ich damit in der Tat den rechten Weg zur Enthüllung eines schwerwiegenden Umstandes beschritten.

»So, der Herr Professor Versegy hat sich über Lärm im Hause beschwert?«

Um den Mund des Portiers ging ein verächtlicher Zug.

»Wissen Sie,« sagte er dann, »ich glaube manchmal, es ist nicht recht bei ihm im Kopf! Wenn ich nicht Mitleid hätte mit dem Mann, so käm' ich ihm gerade jetzt einmal gehörig.«

Der drohende Ton, der dabei in seiner Stimme lag, machte mich stutzig, und ich fragte weiter: »Was ist denn vorgekommen? Ich meine, hat er irgend etwas getan, was gegen die Hausordnung verstößt?«

Der Portier warf einen wütenden Blick nach der Höhe des Treppenhauses, wo die Türe zur Wohnung des Professors lag.

»Der!« stieß er dann hervor und lachte zornig; »beschwert sich, weil meine Kinder ein bisserl Lärm gemacht haben auf der Treppe – er aber darf herumrumoren und lärmen so viel er will! Aber er soll mir nur noch einmal kommen …!«

Der Zorn erstickte dem Manne fast die Stimme.

»So? In der Wohnung des Professors ist in der letzten Zeit gelärmt worden? War das jetzt in der allerjüngsten Zeit, daß Sie den Lärm gehört haben?«

»Jetzt?« Der Portier schüttelte den Kopf. »Jetzt war er wieder fort.«

»Ja, wann denn?«

»No – wie er zurückgekommen ist von seiner Reise.«

Ich verstand nicht gleich, wie der Portier das meinte. So fragte ich: »Ja ist der Professor denn nicht erst heute nacht zurückgekommen?« Und da ich sah, daß der Portier sich ungeduldig umsah, als hätte er genug von unserer Unterhaltung, hielt ich ihm die Zigarrentasche hin. »Darf ich bitten?«

Er nahm eine Zigarre, nahm dankend auch das angebrannte Streichholz und war mit einem Male wieder wesentlich lebhafter. Und während er die Zigarre mit paffenden Zügen anbrannte, sprach er:

»Ja – mpp – mpp – das ist schon richtig – mpp – mpp – zurückgekommen – mpp – ich mein', zurückgekommen mit der Frau und allem Gepäck ist er heut nacht. Aber zwischendurch war er auch einmal da – mpp – mpp – ja und damals –«

Ich unterbrach den Mann und faßte ihn am Arm. Die Worte kamen mir so unerwartet, sie waren von so furchtbarer Bedeutung für den Fall und das Schicksal des Professors, daß mich meine so oft bewährte Ruhe für einen Augenblick verließ.

»Was sagen Sie? Der Professor war jetzt in dieser Zeit seit Ende März bis gestern nicht immer fort?«

Der Portier sah mich verwundert an. Er schien nicht zu begreifen, warum seine Worte solchen Eindruck auf mich gemacht hatten.

»Nein,« sagte er dann, »einmal war er zwischendurch da – das war so etwa acht Tage, nachdem er weggefahren war. Nur auf ein paar Stunden war er da – aber einen Lärm hat er damals gemacht in seiner Wohnung, gerade, als wenn er alles hätte zusammenschlagen wollen.«

Meine Hand, die den Arm des Portiers umgriffen gehalten hatte, war heruntergesunken. Eine furchtbare Ernüchterung kam plötzlich für einen Augenblick über mich.

Das also war die Lösung! –

Zahllose Gedanken durchkreuzten mir mit unerhörter Schnelligkeit das Hirn.

Ich sah den Professor vor mir, wie er abreist – heimlich wiederkommt – den Einbruch und Raub in seiner eigenen Wohnung inszeniert – dann wieder aus Budapest verschwindet, vier Wochen lang noch fern bleibt und endlich offiziell heimkehrt und das Verbrechen »entdeckt« – das er selbst begangen hat! – – Ich sah im Geiste, wie er dastand und mit dem Küchenbeile seine Kasse bearbeitete, daß der Lärm bis in den Flur hinaus hörbar wurde, und wie er bei dem Werke der Verwüstung, das er da mit Vorbedacht ausführte, achtlos ein paar Zigarettenstummel von sich warf. Auch all die Bilder der Untersuchung und Feststellung vom verflossenen Vormittag schossen wie im Fluge durch meine Erinnerung – ich sah ihn in seiner unsicheren Haltung, seiner Ängstlichkeit und Hast – und bei all dem hatte ich ein seltsames Gefühl von Bedauern mit ihm, das mir immer wieder nur die beiden Worte ins Gehirn trieb: Wie plump! wie plump!

Und auch eine beinahe lähmende Enttäuschung fühlte ich zugleich.

So simpel also ging der Fall zu Ende, von dem ich – – ja, – in diesem Augenblicke wurde mir erst klar, was alles sich an noch unklaren dunkel keimenden Kombinationen in mir hier hatte bilden wollen.

Und alles das war nun durch diese Tatsache entwurzelt, widerlegt? – –

Mir war's, als sähe ich den Kommissar vor mir, der sich die Hände rieb, und der ein wenig überlegen lachte. »Nun sehen Sie, Herr Plank, jetzt können Sie ruhig nach Hause fahren! Was ich Ihnen gleich gesagt habe, der Kerl hat den ganzen Rummel selbst besorgt! Ja, ja, man muß nicht überall Geheimnisse wittern, manchmal liegen die Dinge ganz einfach – und gar so dumm sind wir hier auf der Budapester Polizei eben auch nicht. – Grüßen Sie mir übrigens die Herren in Wien.« – –

Und dann ertappte ich mich dabei, wie ich leise den Kopf schüttelte und mir mit den Fingern über die Stirne strich.

Nein, nein, das alles war ja wirres Zeug – und meine Gründe, die für des Professors Unschuld sprachen, bestanden fort!

Aber da stand ja doch der Mann vor mir, der es bezeugte, daß der Professor Versegy nicht immer fort gewesen, daß er inzwischen auf kurze Zeit zurückgekommen war.

Und wie ich da dem Blicke des Portiers begegnete, hatte ich auch meine Ruhe wieder.

»Sie sind sicher, daß Sie sich nicht irren?« fragte ich. »Sie wissen das, was Sie da sagen, ganz bestimmt?«

Der Portier knipste die Asche der Zigarre von sich. »Wenn ich etwas nicht bestimmt weiß, so sag' ich's nicht. Am dritten oder vierten April wird es gewesen sein, nachmittag – oder mehr gegen Abend schon, so um vielleicht halb sieben – sieben Uhr. Es war schon dämmrig, denn ich hab' in meiner Loge schon Licht gebrannt und hab' grad' das Abendblatt gelesen. Da seh' ich den Professor, wie er ins Haustor tritt, wie er einen Augenblick in der Tür draußen stehen bleibt und dann schnell und ohne zu grüßen an mir vorüberschießt und die Treppe hinaufgeht. Ich hab' mir noch gedacht: Der Narr, der dumme! weil er grad' extra den Kopf weggewendet hat von mir – –«

»Sie haben also sein Gesicht nicht gesehen? – Ja aber da können Sie doch gar nicht sagen, daß er es wirklich war!«

Der Portier zuckte geringschätzig die Achseln.

»Ich werd' doch den Professor kennen, der seit fünf Jahren im Hause wohnt! Ganz deutlich hab' ich ihn erkannt – seinen braunen Pelz mit dem Astrachankragen hat er angehabt – das ist mir noch besonders aufgefallen, weil es ja schon ein ganz warmer Tag war, und – –«

»Einen braunen Pelz mit Astrachankragen?« Ich dachte sofort an den auffallenden kaffeebraunen Pelz, den ich am Morgen im Vorzimmer der Wohnung des Professors, über einen der Koffer hingeworfen, gesehen hatte.

»Ja – einen braunen Pelz – er trägt ihn immer im Winter – – ja – und eine gelbe Ledertasche hat er getragen, man hat gesehen, daß er eben vom Bahnhof kommt.«

»Und so ist er in seine Wohnung?«

»Ja – natürlich.«

»Und bald darauf haben Sie dann den Lärm gehört?«

»Eine halbe Stund' später wird das gewesen sein. Ich weiß noch genau, weil ich gerade hinaufgegangen bin und das Licht auf der Treppe überall angezündet hab'. Und da, wie ich in den zweiten Stock gekommen bin, hab' ich's schon rumoren gehört – und dann im dritten Stock noch mehr – ich hab' mir schon gedacht, ob ich nicht läuten soll – aber dann war's auf einmal ruhig, so hab' ich's gelassen. Aber daß ich's ihm schon noch sag', hab' ich mir vorgenommen. Und gerade so zwei Stunden später – oder vielleicht zweieinhalb Stunden – es ist schon auf zehn Uhr gegangen, und ich hab' schon bald das Haustor zusperren wollen, da ist er wieder hinaus aus dem Haus. Wieder in seinem Pelz und wieder mit seiner gelben Tasche. Da hab' ich mir noch gedacht: Rufst ihn doch an und fragst, was denn das für ein Herumarbeiten wär', und sagst ihm, daß sich das auch nicht gehört! Und wie er wieder so eilig an mir vorbei will, ruf' ich noch: ›Herr Professor – ich bitt'!‹ Aber da ist er nur noch schneller vorüber und hat den Kopf geschüttelt, wie wenn er's weiß Gott wie pressant hätt' und sich nicht aufhalten wollt'! Ich hab' mir gedacht – weil er doch die Tasche getragen hat: Vielleicht, daß er wieder zur Bahn muß? – und hab' ihn laufen lassen.«

Der Portier schwieg eine Weile, dann sagte er noch: »Ja – ja – ist ein gar merkwürdiger Herr, der Herr Professor – –«

Ein altes gebücktes Weiblein kam durch das Haustor geschlichen und reichte dem Portier das Abendblatt hin.

Er nahm die Zeitung und nickte der Alten zu.

Dann schlich das Frauchen mit ihrer Last von Zeitungen die Treppe hinauf.

Mechanisch sah der Portier über die erste Seite der Zeitung hin. Ich wußte, in ihr mußte die Nachricht von dem Einbruch schon stehen.

Da legte ich ihm die Hand auf den Arm, daß er aufblickte, knöpfte meinen Rock auf und zeigte ihm das Schild, das mich legitimierte. Dann setzte ich ihm mit wenigen Worten auseinander, daß hier im Hause, in der Wohnung des Professors, eingebrochen worden sei, und daß es sich um die Verfolgung des oder der Täter handelte.

Erstaunt, verblüfft sah er mich an.

»Eingebrochen? – – Hier im Haus? – Ja, das ist ja gar nicht möglich! – Wann soll denn das gewesen sein? – Ich seh' doch jeden Menschen, der aus und ein geht – –«

»Und Sie haben in den letzten sechs Wochen niemand gesehen, der Ihnen verdächtig schien?«

Er sann einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf: »Nein.«

»Hm. – Ich habe oben, bei dem Professor noch einige Nachforschungen anzustellen – ehe ich hier gehe, möchte ich Sie ersuchen, über das, was wir gesprochen haben, zunächst gegen niemand zu reden. Wir möchten erst völlig klar sehen können. Wollen Sie mir das versprechen?«

Das alte Weiblein kam mit seinen Zeitungen wieder die Treppe herunter und schlich nochmals grüßend an uns vorüber.

Sinnend blickte der Portier ihr nach, bis sie aus dem Haustore auf die Straße bog, und in seinen Augen lag dabei jener erregte Glanz, den die Nähe eines Verbrechens, das Interesse an dem Ungewöhnlichen, Geheimnisvollen bei Leuten dieser Kreise so oft hervorruft. Auch die Bedeutung alles dessen, was er gesagt und berichtet hatte, schien dunkel in ihm zu dämmern, als er mich dann ansah und seine Hand in die meinige legte.

»Ja – ich versprech's. Und wenn ich Ihnen noch mit irgend etwas dienen kann – –«

»Danke – zunächst nicht. Und nun Adieu!«

Ich schritt die Treppe zu der Wohnung hinauf. Und während ich Stufe und Stufe höher stieg und dabei überlegte, wie ich all das Gehörte deuten und wie ich dem Professor nun gegenübertreten sollte, horchte ich doch zugleich gespannt hinunter.

Aber da war es zunächst ganz still. Der Portier mußte unbewegt noch eine lange Weile an derselben Stelle stehen geblieben sein, an der ich ihn verlassen hatte. Ich war schon beinahe oben im dritten Stock, als ich den Hall seiner Schritte und das leise Zuklappen der Logentüre hörte. – –

Auf mein Läuten wurden nach einer Weile Schritte im Vorzimmer der Wohnung laut. Dann fühlte ich, daß ein Auge durch das Guckloch in der Türe auf mich gerichtet war, und gleich darauf wurde der Riegel inwendig zurückgezogen, die Tür geöffnet.

Die Frau Professor stand vor mir und erwiderte meinen Gruß, während eine erwartende Spannung auf ihrem Gesichte stand.

»Herr Plank – –! Sie kommen schon wieder? Hat man vielleicht schon einen Anhalt – –?«

Ich sah sie an, sah diese hohe stolze Gestalt, die nun zurücktrat und mich einlud einzutreten, und hatte wieder wie am Vormittag das unbedingt sichere Gefühl: Was auch geschehen ist, die Frau hier weiß von nichts – und was auch gegen den Professor sprechen mag, die Frau hier, die so sicher und so ernst besonnen handelte und sprach, hatte mit dem Verbrechen nichts gemein.

»Ob wir schon eine Spur haben?« sagte ich, als ich die Tür hinter mir wieder geschlossen hatte. »Ja, wir haben Anhaltspunkte, die nach einer ganz bestimmten Richtung weisen. Aber dessentwegen bin ich nicht gekommen; ich wollte Ihnen nur die Schlüssel wiederbringen und Ihnen die Schlösser wieder an die Türe schrauben. Die Untersuchung hat ergeben, daß von einem Öffnen der Türe mit Nachschlüsseln sicher nicht die Rede sein kann.«

»Nicht?« Ihr Erstaunen war lebhaft und ungeheuchelt. »Ja aber was denn?«

Ich zuckte die Achseln, zog das Paket mit den beiden Schlössern hervor, legte das eine auf einen großen Koffer und begann sogleich, das andere wieder an die Tür anzuschrauben. Quer über dem Reisekorbe neben jenem Koffer aber lag noch immer der Pelz, den ich schon am Vormittag bemerkt und den der Portier erwähnt hatte: ein Pelz aus Skunks, außen mit hellem kaffeebraunem Tuch bezogen und mit einem fest geringelten schwarzen Astrachankragen besetzt. Ein ganz auffälliges Kleidungsstück war es, ein Ding, das wie ein Steckbrief den Mann bezeichnete, der es trug!

Gelassen sah die Professorin meiner Arbeit an der Tür zu.

Plötzlich fragte sie: »Sie möchten es vermeiden, darüber zu sprechen, nach welcher Richtung ihre Anhaltspunkte weisen?«

Ich hielt in meiner Arbeit ein und richtete mich auf. »Eigentlich: Ja! Es ist ein eigen Ding, über so etwas Derartiges zu sprechen, ehe man unbedingt sicher ist.«

»Und das sind Sie noch nicht?«

Mein Blick haftete wieder für einen Augenblick an dem Pelz. War denn das nicht der untrüglichste Beweis? Gab es denn überhaupt noch Zweifel neben all dem, was gegen den Professor zeugte? War's nicht geradezu widersinnig, daß sich im Angesichte aller dieser Tatsachen, die sich zu einem schier unübersehbaren Indizienmateriale gegen den Professor häuften, in meinem Innern immer noch der Zweifel regte, daß, allem dem zum Trotz, da immer noch ein Etwas sich rührte, das mich wie warnend und verhütend zurückhielt, diesen Fall als abgeschlossen zu betrachten? Ein Zögern, das mir wie die Stimme des Gewissens war und das mir immer wieder zurief: Und er war's doch nicht! Und das alles war doch anders!

»Nein,« sagte ich dann, seltsam laut, daß ich selbst verwundert war über den Klang meiner Stimme. Und nach einer Weile, während ich mich schon wieder niedergebeugt hatte und an dem Schlosse schraubte: »Der Herr Professor ist wohl nicht zu Hause?«

»Doch, er ist da. Aber er hat sich ein wenig niedergelegt – diese Erregung hat ihn sehr ergriffen.«

Das erste Schloß saß fest in der Tür, und ich wollte eben mit der Befestigung des zweiten beginnen, als aus den Zimmern die Stimme des Professors rufend herausdrang: »Ilka!«

Mit einem Wort der Entschuldigung schritt die Professorin aus dem Vorzimmer und ließ mich allein.

Und da, wie ich nach dem zweiten Schlosse griff und neben mir wieder den Pelz auf dem Korbe liegen sah, fuhr es mir durch den Kopf: Greif rasch in die Taschen des Pelzes – vielleicht findest du etwas, was zur Klärung beiträgt! Und schnell, um den Augenblick des Alleinseins zu nützen, durchsuchte ich den Pelz.

Aber die Taschen waren leer – nichts war in ihnen, als ein verknittertes und zerknülltes Pferdebahnbillett, das sich in eine Ecke der kleinen oberen Seitentasche verkrochen hatte. Enttäuscht wollte ich schon den kleinen Papierfetzen wieder an seinen alten Platz stecken, da hörte ich den Schritt der wiederkehrenden Professorin und schob das Blättchen rasch in die Westentasche.

In wenigen Minuten war nun auch das zweite Schloß befestigt. – Als ich fertig war, wandte ich mich noch einmal fragend an die Professorin.

»Ihrem Herrn Gemahl geht es jetzt wieder besser?«

»Danke, ja.«

»Ich darf fragen, – er ist nervenleidend? Nicht?«

Sie schien angenehm berührt zu sein durch meine Teilnahme. Förmlich dankbar sah sie mich an. »Ja – leider – es ist eine langwierige Sache. Seit nahezu zwei Jahren geht das schon.«

»Und Sie haben ihn auch jetzt in der Kuranstalt immer gepflegt?«

»Ich bin in den sechs Wochen kaum eine Stunde von ihm fern gewesen.«

Ich sah sie voll an, aber kein Zug zuckte in ihrem ebenmäßigen edlen Gesicht. – War das nun Wahrheit oder Lüge?

»Und Sie waren beide bis auf die Zeit, die Sie bei dem Bruder Ihres Herrn Gemahls – bei Ihrem Schwager – in Wien verbrachten, immer in der Anstalt in Kaltenleutgeben?«

»Ununterbrochen – die Kur hat ihm auch gutgetan.«

Ich sah nach der Uhr und griff dann nach meinem Hute. Es war Zeit für mich, ich mußte gehen.

Sicher und ruhig war auch der Abschied der schönen Frau.

Als ich die Treppe hinunterstieg, waren meine Bedenken wieder reger denn je. Daß sie gelogen hätte, konnte ich nicht glauben – und doch sprach das, was sie gesagt hatte, schroff gegen all' die belastenden Momente.

Unten an der Straßenecke stand mit albernem Gesichtsausdruck und in scheinbar völlig teilnahmloser Versunkenheit immer noch der Pseudo-Dienstmann des Kommissars. Ich schritt an ihm vorüber und sprang in die nächste Pferdebahn. Ich wollte rasch nach der Polizei, wo die Antwortdepesche meines Wiener Chefs schon auf mich warten mußte.

Und da, wie ich das Billett des Kondukteurs in Händen hielt und sinnend, ganz erfüllt von dem Probleme des Falles, auf den kleinen durchlochten Zettel niederblickte, und mechanisch Nummer und Blockzeichen las, schoß es mir plötzlich durch den Kopf: Das Pferdebahnbillett aus dem kaffeebraunen Pelz! Wenn das einen Anhalt gäbe!

Zehn Minuten später war ich in dem Administrationsbureau der Pferdebahn und hatte meine Frage gestellt: »Hier ist ein Billett: Block D. 178, Nummer 743, können Sie feststellen, wann und auf welcher Strecke der Fahrschein verwendet worden ist?«

Der Beamte nickte.

Ich sah, wie er im Hintergrunde des Bureaus einen mächtigen Folianten aus der langen Reihe gleichartiger Bände von einem Borte nahm und nachschlagend sich einige Notizen machte. Gleich darauf kam er wieder vor, ein Zettelchen mit ein paar Bleistiftbemerkungen in Händen.

»Das Billett ist am vierten April abends um etwa zehn Uhr zur Fahrt aus der Stadt nach dem Bahnhofe verwendet worden. – Wenn Sie das auch noch interessieren sollte: der Fahrgast fuhr im Wagen Nummer 127, Kutscher Arpad Ködves, Kondukteur-Öden Gierthyanffy.«

»Danke.«

Auf der Straße rief ich den nächsten Fiaker an.

»Auf das Polizeibureau! Aber ein bißchen plötzlich!«

Der Kutscher nickte, schnalzte mit der Zunge, und die Jucker griffen aus.

Als der Wagen über das Pflaster ratterte, atmete ich auf und strich mir über die Stirne.

Das war ja der reine Hexensabbat! Was war denn nun wahr und was falsch?! Hatte mich also die Frau doch angelogen?! Das Billett bewies doch deutlich, was der Portier gesagt hatte! Der Mann war am vierten April in Budapest gewesen, und wenn sich alles, was der Portier mir sonst berichtet hatte, auch so verhielt, so war der Professor auf diesen Fahrschein nach Ausführung des fingierten Einbruchs am Abend jenes vierten April wieder zur Bahn gefahren, um dann schleunigst noch in der Nacht über Wien nach seinem Kurort zurückzudampfen!

Aber war denn das alles möglich? – Wahrscheinlich?

War's nicht wieder eine maßlose Dummheit, wenn der Mann in diesem blödsinnig auffälligen Pelz in sein Haus kam – zweimal vorbei an dem Portier, mit dem er auf Kriegsfuß stand?! Hätte er nicht mit Leichtigkeit eine andere Art ausdenken können, wie er völlig unerkannt, in irgend einer Verkleidung an seine Wohnungstüre und dann mit seinen Schlüsseln in seine Wohnung selbst gelangen konnte? Und war denn der Professor – der kleine weichlich-schwächliche, nervöse Mann – wirklich der Mensch für eine solche Parforcetour?! Oder – und da war es mir einen Augenblick lang, als schlössen sich ganz neue Möglichkeiten vor mir auf: konnte nicht etwa Böswilligkeit das Billett in die Tasche des Pelzes praktiziert haben – noch mehr! –, konnten nicht Gauner, die des Professors Art, sich zu kleiden und sein äußeres Wesen kannten, in seiner Maske das Verbrechen begangen haben?!

Als wirre Phantasieen verwarf ich die Gedanken.

Als der Wagen vor dem Polizeigebäude hielt, war ich mir klar darüber, daß ich trotz allem und allem den letzten ausschlaggebenden Beweis noch immer nicht in Händen hielt!

Oben aber, da ich dem Kommissar in kurzen Worten das Wichtigste von meinen Erhebungen mitteilte, wurden mir zwei Depeschen vorgelegt. Die eine war von meinem Wiener Chef, dem Polizeirat Franz, und gab mir Vollmacht, den Fall Versegy zu übernehmen und bis zur Klärung zu verfolgen. Die zweite war gleichfalls von der Wiener Polizei und zeigte an, daß nach den dortigen Nachforschungen sichergestellt sei, daß am sechsten April nachmittags in der Wechselstube der Anglobank dort zehn Stück ungarische Rentenobligationen im Nominalbetrag von vierzigtausend Gulden – die zweifellos aus dem Einbruch bei Professor Versegy stammten – verkauft und an den Verkäufer ausbezahlt worden seien. Weitere Erhebungen wären im Gange.

Noch an demselben Abend fuhr ich selbst nach Wien, um dort die Fäden der Untersuchung aufzunehmen. Ich benutzte denselben Zug, auf den das Pferdebahnbillett aus dem Pelze des Professors Versegy schließen ließ. Vor meiner Abfahrt hatte ich den Kommissar, der nun ganz unbedingt und mehr denn je von der Schuld des Professors überzeugt war, noch einmal dringend ersucht, von jedem Vorgehen gegen den Professor abzusehen, bis auch ich mich zu jener Überzeugung zweifellos bekennen könnte. Und er hatte nach langem Zögern, nach vielen Einwürfen und Bedenken zugesagt. Widerwillig nur hatte er meinem Wunsche endlich nachgegeben, denn nach seiner Auffassung war nach den deutlichen Angaben des Portiers, nach dem Beweise, den wir mit der Fahrkarte in Händen hielten, jeder weitere Zweifel an der Schuld des Professors absurd, unhaltbar, und er hielt es für kaum zu verantworten, wenn er den Mann noch länger auf freiem Fuße ließ. –

Ja – so standen die Dinge damals, als ich in einer schlaflosen, von tausend widerstreitenden Gedanken belebten Nacht von Budapest nach Wien hinaufdampfte.« –

Als mein Freund Richard Plank so weit erzählt hatte, hielt er ein und sah sinnend eine Weile hinaus in das Dunkel der Sommernacht, die ihre milde Ruhe weich schattend über den kleinen Garten vor der Veranda und dem Hause gebreitet hatte. Wie hoch erhobene Riesenhäupter zeichneten sich die Kronen der Bäume in ihren Umrissen von dem silberig leuchtenden Dunkel des Himmels. Als kleine Fünkchen trugen ein paar Leuchtkäferchen ihr bläulich-fahles Licht durch die Nacht, und ein Duften kam herein aus jener still geheimnisvollen Welt da draußen, süß und schwer.

»Das sind die Rosen,« sagte Richard Plank, und wieder, wie so oft, war ich verwundert, wie seltsam einträchtig sein Sinnen wortlos neben dem meinen hingeschritten war.

Von weit draußen irgendwo hallten leise, daß man es hörte, wie sie wegemüde waren, die Schläge einer Turmuhr. – Und wir zählten: zwölf.

Mein Freund erhob sich, trank den Rest in seinem Glase aus und streckte mir die Hand entgegen.

»Genug für heute – und ein andermal dann mehr davon, wenn es Sie interessiert.«

So trennten wir uns an jenem Abend. –

Wenige Tage später schon kam dann die Stunde, in der ich ihn an den Fortgang der Erzählung mahnte, und da er mir den weiteren Verlauf des merkwürdigen Falles berichtete.

Diesmal aber war es nicht die still verschwiegene Veranda seines Häuschens »Sanssouci«, wo wir beisammen saßen, sondern das kleine Rauch- und Plauderzimmer meines eigenen Heims. Und keine schöne Sommernacht war es, die uns mild unter ihre Fittiche nahm, diesmal trommelte draußen der Regen ohne Unterlaß an die Scheiben. Aber Abend war es wie damals, und wie damals stand auch das Schachbrett mit dem mattgesetzten weißen Könige vor uns. – –

»Ja – – wie der Fall Versegy sich dann gestaltet hat?«

Richard Plank setzte sich zurecht in seiner Sofaecke, tat ein paar lange Züge aus der Zigarre, um sie besser in Brand zu setzen, und sann ein paar Augenblicke vor sich hin.

»Ich habe Ihnen erzählt bis zu dem Punkte, als ich die Angelegenheit in Budapest verließ und mich nach Wien begab? – Nun ja.

Ich fuhr die Nacht durch und kam früh morgens an. Zwei Stunden Schlaf, dann noch ein Bad, ein gutes Frühstück – und ich war auf der Polizei und übernahm die Fortführung der Erhebungen von dem Beamten, der bisher die Umfrage bei den Banken geleitet hatte. Diese war so erfolgt, daß man hektographierte Abschriften der Liste mit den fehlenden Wertpapieren zugleich mit einer bezüglichen Anfrage an alle bedeutenderen Bankinstitute sandte. Schon am Tage der Versendung hatte sich darauf, – wie ich ja wohl schon erzählte – die Anglobank mit dem Berichte gemeldet, daß bei ihr am sechsten April zehn Stück ungarische Rentenobligationen im Nominalbetrage von vierzigtausend Gulden verkauft worden wären, deren Nummern auf jener Liste ständen. In später Abendstunde war dazu dann am selben Tage noch die Meldung einer Wechselstube der Escomptebank gekommen, die gleichfalls anzeigte, daß am sechsten April eine Anzahl von Wertpapieren, die auf unserer Liste notiert ständen, angeboten worden wären, und daß der Verkäufer den Kurswert der Papiere im Betrage von gegen fünfzigtausend Gulden anstandslos ausgezahlt erhalten hätte. Das waren also zwei Stellen, an denen meine Nachforschungen nach der Persönlichkeit des Verkäufers einsetzen konnten.

Um rasch Gewißheit zu erlangen, wo der Professor an den verhängnisvollen Tagen gewesen war, sandte ich einen Kollegen nach Kaltenleutgeben, damit er dort in der Kuranstalt nachfrage. In zwei Stunden schon konnte ich Nachricht von ihm in Händen haben.

Ich selbst fuhr zuerst in das Bureau der Anglobank.

Es liegt in einer stark belebten Straße inmitten der Stadt. Durch eine breite, zweiflügelige Glastüre tritt man direkt in den großen Bureauraum, der durch einen quer durch das ganze Lokal laufenden Zahltisch in zwei Teile geschieden ist. Vorne sind Bänke und Stühle für das wartende Publikum, hinter diesem schrankenartigen Tische stehen die Pulte der Beamten und die Kassenschränke für den Tagesbedarf.

Ich sagte, daß ich in der Angelegenheit der in Budapest entwendeten und hier verkauften Papiere käme. Der Beamte, den ich angesprochen hatte, schien von dem Vorgange schon unterrichtet zu sein, er bat mich einen Augenblick zu warten, er wollte mich dem Direktor melden. Damit schritt er in ein Nebenzimmer, dessen Türe in den rückwärtigen Teil des Bureauraumes mündete.

Gleich darauf kam er wieder, hob die Platte des Zahltisches an einer Stelle empor, öffnete das quer laufende Brett türartig nach innen, so daß ein Eingang entstand und hieß mich ihm folgen. An der Türe zu dem Privatbureau des Direktors empfahl er sich von mir.

Drinnen bei dem Direktor, einem weißbärtigen liebenswürdigen Mann, wurde mir sofort jede Unterstützung zur erfolgreichen Durchführung meiner Nachforschung angeboten. Zunächst nahm ich Einblick in die schon bereitgelegten Bücher mit den Eintragungen über den Kauf der zehn ungarischen Rentenobligationen. Der Posten war am sechsten April verbucht, die Nummern der Papiere alle angegeben, es war kein Zweifel über die Identität der Papiere möglich. Auch der Schlußschein über den Kauf lag vor, er war mit dem Namen Sandor Versegy unterzeichnet, und in der linken Ecke stand mit Bleistift: Hotel Imperial.

Ich hatte des Professors Schrift nur einmal vor Augen gehabt, damals, als er seinen Namenszug unter das Protokoll unseres Befundes in seiner Wohnung setzte. Aber ich glaubte dennoch zu erkennen, daß die Unterschrift hier nicht von seiner Hand gezeichnet war. Ich hatte den Eindruck, als wäre sie mit verstellter Hand ausgefertigt, als wäre der Schreiber wohl gewohnt, für gewöhnlich in andrer Schriftlage und unter Benutzung andrer Buchstabenformen zu schreiben.

»Können Sie mir eine Personalbeschreibung des Verkäufers geben?« fragte ich den Direktor.

Der verneinte. »Ich nicht – ich arbeite beinahe nur hier in meinem Zimmer, kaum daß ich ein-, zweimal täglich auf ein paar Minuten draußen durchgehe. Aber der Herr, der den Verkäufer damals bedient hat, erinnert sich, wie er mir gestern sagte, seiner noch ganz genau.« Er drückte auf den Knopf eines telegraphischen Läutwerkes, das, von Skripturen und Briefschaften beinahe ganz verdeckt, auf dem breiten Diplomatenschreibtische stand. »Ich lasse Ihnen den Herrn kommen, damit Sie ihn nach all dem fragen können, was Ihnen wichtig ist.«

An der Türe wurde geklopft.

»Herein.« –

Ein Diener in schwarzer Livree mit silbernem Monogramm an Kragen und Aufschlägen erschien.

»Herr Direktor wünschen?«

»Sagen Sie doch, bitte, Herrn von Bauernfeind, ich ließe ihn bitten, zu mir zu kommen.« Und zu mir gewendet sagte er noch, als der Diener wieder gegangen war: »Der Herr ist der Sohn von dem Bankier von Bauernfeind, den Sie ja dem Namen nach kennen werden. Er arbeitet auf Wunsch des Vaters bei uns – kein großes Lumen – lange nicht das, was der Vater ist – aber immerhin ein verwendbarer junger Mann.«

Dann kam der Gerufene. Eine hohe, überschlanke Erscheinung von lässiger Haltung. Er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, blond, hübsch, und allem Anscheine nach gutmütig. Seine Kleidung war sehr gewählt, peinlich nach der letzten Wiener Ringstraßenmode, aber nicht stutzerhaft, nicht karikiert. Alles an ihm war wohlgepflegt, man sah ihm an, er war von Jugend auf gewöhnt, seinen äußeren Menschen mit Sorgfalt zu behandeln.

Und der Direktor stellte vor.

»Herr Plank möchte gerne eine nähere Schilderung des Mannes haben, der da am sechsten April die Rentenobligationen verkauft hat; Sie sagten ja gestern, daß Sie sich auf den Verkäufer noch besinnen könnten –?«

»Gewiß, Herr Direktor.«

»Nun?«

Der junge Beamte wendete sich zu mir. »Ja – ich hab' den Mann für einen Gutsbesitzer oder so 'was g'halten.«

Er sprach langsam, in jenem schmeichelnd klingenden Wienerisch, wie man es bei den Angehörigen alter Wiener Familien aus guten Kreisen so oft findet.

»Darf ich fragen, wie Sie zu dieser Meinung kamen?«

Herr von Bauernfeind junior lächelte ein wenig verlegen und strich sich mit der gepflegten Rechten ein paarmal über sein helles Schnurrbärtchen.

»Ach Gott – ich mein' nur – man hat doch so ein Gefühl für so 'was – –. Der Herr ist bei uns übrigens sehr sicher aufgetreten. Ich bin g'wiß vorsichtig, und grad' wenn sich's um größere Summen handelt, aber der Verkäufer hat wirklich ganz unbefangen getan – ein Verdacht hätt' einem da gar nicht kommen können!«

»Eine Frage, Herr von Bauernfeind: Sie sagen, der Verkäufer hat ›ganz unbefangen getan‹ – was verstehen Sie darunter?«

Der Gefragte sah mich erstaunt an.

»Na, er hat halt durch sein ganzes Auftreten nicht den Eindruck gemacht, als ob an der Sache irgend ›was faul wär‹. Im Gegenteil, ich hab' eher geglaubt, daß das ein Mann ist, der g'wohnt ist, mit größeren Beträgen zu arbeiten. – Wie ich ihm den Kurswert von den Papieren genannt hab', da hat er g'funden, daß der auffallend nieder wär' – und das stimmt auch, die Obligationen waren damals schlecht. Wenn Sie sich überzeugen wollen.« – Herr von Bauernfeind machte eine kleine Bewegung nach der Wand, wo, an einem langen dünnen Haken aufgespießt, ein ganzer Stoß von Kurszetteln hing, aber ich wehrte ab. »Ja – und da hat er noch g'sagt, er hätt' den rechten Moment zum Verkauf verpaßt, jetzt müßt' er den kleinen Schaden tragen. Und auch dann, wie ich hinunter geschickt hab' in den Tresorkeller, um mir den Betrag holen zu lassen, weil das Geld in meiner Tageskasse nicht gereicht hat, da ist er ruhig auf einem Stuhl g'sessen, ohne jede Unruh', obwohl der Diener lang' genug weggeblieben ist. Auch wie er das Geld dann an sich genommen hat, – das war alles so ruhig und überlegt, so ohne jede Hast oder Unsicherheit – ich hab' bis gestern kein' Augenblick gedacht, daß der Mann ein Einbrecher sein könnt'.«

»Und Ihre Vermutung, daß er ein Gutsbesitzer gewesen wäre, worauf stützen Sie die?«

»Er hat halt so ausg'schaut.«

Ich mußte unwillkürlich lächeln trotz des Ernstes der Dinge.

»Wie also sehen die Gutsbesitzer nach Ihrer Meinung aus, Herr von Bauernfeind – und vor allem: wie sah dieser Mann im besondern aus?«

Nun lachte er selber – gutmütig, lustig, wie ein großer Junge. Und mir fielen die Worte des Direktors dabei ein: Nein – ein großes Lumen war dieser Beamte nicht.

»Wissen S' – ich hab' halt den Eindruck g'habt, als wenn er ein Fremder wär' – auch weil er das Hotel Imperial an'geben hat, wie ich ihn nach seiner Wohnung gefragt hab'. Ja – und dann auch sein ganzes Äußeres hat mich d'rauf gebracht: Es war ein mittelgroßer Herr – eher noch klein als groß – aber nicht schwächlich – –«

»Können Sie sich erinnern, ob er einen bestimmten Dialekt gesprochen hat?«

Herr von Bauernfeind sann einen Augenblick lang nach. »Is mir nicht aufg'fall'n«, sagte er dann.

Ich fühlte, wie im Lauf all dieser Reden sich ein Gefühl wie ein tiefes Aufatmen in mir freirang. Förmlich leichter war mir geworden.

Das alles, was ich da über den Verkäufer der Papiere hörte, paßte gewiß nicht auf Professor Versegy! Die Chancen des Professors stiegen, und an meiner Freude erkannte ich erst recht, wie sehr ich im Grunde meines Fühlens an seine Unschuld glaubte. Und mit wachsender Erregung fragte ich weiter.

»Sein Gesicht? Wissen Sie noch, wie das ausgesehen hat?«

Herr von Bauernfeind zog die Brauen hoch.

»Das is schwer zu sagen. – Er hat einen schwarzen Vollbart gehabt und Augengläser. Auch das Kopfhaar war dicht und schwarz, und die Gesichtsfarb' gesund und rot. – Sonst ist mir nichts Besondres ausgefallen – –«

Ich nickte nur. Hier also gab es endlich eine neue Fährte!

»Und seine Kleidung? – Wissen Sie das noch?«

Jetzt blitzte es in den Augen des andern auf.

»Ja – das weiß ich noch – das is mir direkt aufg'fallen – ich hab' mir noch gedacht: wenn der lang so herumsteigt in Wien, dann führt er uns eine neue Mode ein! Einen nußbraunen Pelzrock hat er ang'habt mit einem schwarzen Pelzkragen dran aus Persianer oder Astrachan – das weiß ich nicht so genau – –«

Da also fiel der Bau meiner Hoffnungen wieder zusammen, – das war der kaffeebraune Pelz, den ich gesehen hatte, dem das belastende Billett entstammte und den auch der Portier erwähnte!

Aber der Mann – der Verkäufer, der hier beschrieben worden war, hatte doch nichts gemein mit dem Professor!

Der Professor war schmächtig – der hier sollte eher untersetzt gewesen sein – der Professor war blaß und beinahe kahlköpfig, der hier war von robustem Aussehen und hatte dichtes schwarzes Haar! Und dann vor allem, der hier war ein sicherer kaltblütiger Mann, der ohne Wimpernzucken – unbefangen, wie Herr von Bauernfeind es nannte – sich in die gefahrvolle Situation des Verkaufs gab, der Professor aber war ein nervöser, zarter, zaghafter Mensch, der sich nach all dem, was ich von ihm wußte, in einer solchen Lage keinesfalls so unverdächtig betragen haben würde!

Ja, aber wie hing alles das denn dann zusammen?

Wieder stürmte es wüst auf mich ein, wieder rang ich vergebens, um in all dieses Wirrsal Ordnung und Klarheit zu schaffen, während ich nun zu der Wechselstube der Escomptebank fuhr.

Auch der Gedanke kam mir, ob es nicht, wenn schon der Professor teilhatte an dem Verbrechen, ein Komplice von ihm gewesen sein könnte, der den Verkauf der Papiere besorgte, also ein Mann, der mit dem anderen unter derselben Decke stak? Und ich dachte das Problem unter dieser Voraussetzung durch. Aber auch da stieß ich bald auf widersprechende Tatsachen. Wenn dem so war, dann war doch die Unterschrift des Schlußscheines mit Versegys Namen, dann war doch die Verwendung von des Professors Pelz bei dem Verkauf der Papiere die größte Dummheit! Nein, das war ausgeschlossen.

Aber wer denn hatte die Papiere verkauft, wenn schon der Professor selbst wirklich in Wegfall kam?

Ein Gauner, der das Verbrechen beging und der in keinerlei Zusammenhang mit Versegy stand? Aber wie wäre der zu dem Pelz des Professors gekommen? Und dafür, daß hier wirklich dieser Pelz und nicht ein ähnlicher die wichtige Rolle spielte, sprach ja die Fahrkarte, die ich in seiner Tasche gefunden hatte!

Was ich in der Wechselstube der Escomptebank erfuhr, entsprach genau dem, was mir schon von Herrn von Bauernfeind berichtet worden war. Auch hier war, wie auf der Anglobank, der sicher auftretende, völlig unverdächtige, joviale Mann im braunen Pelz erschienen, hatte die Papiere verkauft, hatte dann noch über allerhand gleichgültige Dinge mit dem Beamten geschwatzt und war schließlich mit dem Wagen, den er draußen hatte warten lassen, wieder davongefahren. Man hatte den Eindruck gehabt, es mit einem wohlhabenden Manne zu tun zu haben, der zum Abschlusse irgend eines größeren Geschäftes bares Geld brauchte und darum die Papiere verkaufte. Auch hier war der Schlußschein mit dem Namen Sandor Versegy unterzeichnet – als Adresse aber war hier das Hotel Bristol angegeben.

Ich beschloß zunächst, die beiden Hotels zu besuchen und dort nachzufragen. Ich war im voraus ziemlich sicher, daß der Schritt völlig vergebens sein dürfte, daß man mir einfach sagen würde, ein Herr Sandor Versegy sei niemals dort abgestiegen. Als ich dann aber meine Auskünfte erhalten hatte, bekam ich wieder allen Respekt vor der kaltblütigen Umsicht, mit der der Verbrecher vorgegangen war. In beiden Hotels suchte man mir aus den alten Korrespondenzen je ein Telegramm vom vierten April aus Budapest hervor, in dem Herr Sandor Versegy für den sechsten April je ein ruhiges Zimmer bestellte! So also hatte sich der Gauner gesichert – für den Fall, daß von seiten einer der Banken in dem angegebenen Hotel nach dem Verkäufer gefragt worden wäre. Er selbst war natürlich in beiden Hotels unsichtbar geblieben!

Was blieb mir noch zu tun? – Bei dem Budapester Bahnhofstelegraphenamte nachfragen, ob man sich auf den Absender dieser am vierten April abends vor Abgang des Wiener Zuges aufgegebenen Depeschen besinnen könnte? Das schien ziemlich aussichtslos! Hatte es aber Erfolg – dann war die Personalbeschreibung sicher identisch mit jener, die ich ja nun kannte.

Den Kutscher feststellen, der den Verkäufer der Papiere am sechsten April zur Escomptebank gefahren hatte? Auch der konnte mir wohl wenig Neues sagen!

Blieb als das Wichtigste zunächst der Bericht des Kollegen, der auf meine Veranlassung nach der Kuranstalt in Kaltenleutgeben gefahren war, um festzustellen, ob Professor Sandor Versegy am vierten, fünften und sechsten April sich dort aufgehalten hätte – oder nicht.

Ich fuhr zurück zur Polizei.

Zwei Depeschen lagen auf meinem Arbeitstische.

Ich muß sagen, daß mir die Hände zitterten, als ich die Siegelmarken aufbrach.

Die erste war von dem Kollegen in Kaltenleutgeben.

 

»Auf Grund der Aussagen des Leiters der Anstalt und der Angestellten, sowie nach den Eintragungen in den Büchern über Kurgebrauch, Kost und Getränkkonsum steht ganz zweifellos fest, daß Professor Versegy an den fraglichen Tagen, ebenso wie während der ganzen anderen von ihm angegebenen Zeit, vom ersten April bis zum dritten Mai ununterbrochen mit seiner Frau in der Anstalt gewohnt und gelebt hat.

R.

 

Also stand der Professor mit dem Verbrechen in keinem Zusammenhang! Also war der Mann, der am vierten April in Budapest in der Wohnung des Professors gewesen war und der zwei Tage später in Wien die Banken besucht und die Papiere verkauft hatte, ein anderer gewesen! Wie ein Aufatmen kam es über mich, da ich nun den stichhaltigen Beweis in Händen hielt – einen Beweis, der allen belastenden Gründen, die gegen den Professor sprachen, standhalten konnte.

Eine rege Freude stieg in mir auf, und mit ihr wuchs mein Drang, dem weiteren Zusammenhang der Dinge nachzuforschen. Wie Jagdeifer hatte es mich ergriffen, und ein Gefühl beherrschte mich, als wäre ich dem Professor, der ja auch mir eine Zeitlang nicht unverdächtig geschienen hatte, die Genugtuung schuldig, nun den wahren Täter zu finden und zur Stelle zu schaffen! Oh, der Gauner sollte sich nur nicht zu sicher fühlen, so schlau er auch vorgegangen war! So sehr erfüllt war ich von den Gedanken, wie ich am besten nun vorgehen wollte, daß ich die andre Depesche aus Budapest nur unaufmerksam aufbrach, und daß ich nur zerstreut auf die blauen Typen längs der ausgeklebten Papierstreifen blickte.

Aber dann begannen meine Hände zu zittern.

Was da stand, war mir unverständlich – das waren Worte, für die ich den Zusammenhang und Sinn nicht finden konnte.

Mit fliegendem Blick las ich diese Depesche wieder und wieder. – –

Um Gottes willen – das war ja unmöglich!!

Dann sank mir das Papier aus den Händen – – – aus!

Eine Weile stand ich und starrte überlegend durch das Fenster neben meinem Arbeitstische auf die Straße. – Ich sah das Gewimmel der Menschen und Wagen da unten – wechselnd und schillernd in rastloser Unruhe zog das Leben vorüber. Aber all dieses unruhvolle Treiben, all dieses tausendfache Ineinanderklingen von Farbe und Bewegung kam mir nur wie ein einziges Bild, das irgendwo in weiter Ferne stand, zum Bewußtsein. Wie Fieber hatte es mich ergriffen, meine Gedanken arbeiteten in tiefster Erregung und trugen in Sekunden wieder und wieder vergleichend, prüfend und sichtend zusammen, was ich in diesen beiden Tagen erlebt hatte.

Dann aber ruhten meine Augen wieder auf dem Papiere. Wie schwer fallende Tropfen fielen mir die Worte, die da standen, in das Bewußtsein.

 

»Herrn Richard Plank,
Kommissar, Wien, Polizeibureau.

Bitte jede weitere Nachforschung in Sache Versegy einzustellen. Die Schuld des Professors ist von mir zweifellos festgestellt worden. Leider hat der Mann sogleich nach seiner Überführung Selbstmord begangen. Ihr Hiersein wäre mir wegen mancherlei Nebenfragen sehr erwünscht. Können Sie nicht heute nacht nocheinmal kommen? Alles andere dann ausführlich.

Kommissar N.«

 

Und dann griff immer stärker ein einziger Gedanke, ein unabweisbares Empfinden von mir Besitz: Da hat man einen armen kranken Menschen durch eine törichte Übereilung in den Tod getrieben! Der Mann war unschuldig – trotz allem, was auch gegen ihn zeugen mochte und sicher auch trotz dem, was die Depesche »seine Überführung« nannte! Minutenlang stand ich so, und wieder zog das Wandelbild mit seinem tausendfältig regen Treiben des Lebens da unten auf der Straße vor meinem Blick vorüber. Drängend schoben sich die Menschen; wie ein Gewimmel aufgestörter Ameisen war es anzusehen, wie sie aneinander vorüberhasteten und eilig nach allen Richtungen auseinander und aus all den Seitenadern der Straße zusammenströmten – Tausende – Tausende!

Und einer war heute früh gestorben – war durch eigene Hand gestorben, vielleicht in dem Augenblicke, da ich in der Anglobank mit Herrn von Bauernfeind, dem sorgfältig gekleideten, über den Verkäufer jener Papiere sprach – oder früher schon, während ich mit dem Kollegen verhandelte, der nach der Kuranstalt gefahren war.

Einer weniger von diesen Tausenden – ein kränklicher und lebensschwacher Mensch weniger – das war alles. – Nein! Das war nicht alles!

Entehrt, durch den Verdacht eines schimpflichen Betruges war er gestorben! In einem Anfall der Verzweiflung über diesen Verdacht, der auf ihm lastete, der Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit mußte der arme haltlose und kraftlose Mann den entsetzlichen Schritt begangen haben, der nun den Makel der Schuld erst recht schier untilgbar auf sein erloschenes Leben prägte!

Die arme, arme Frau! – –

Dann aber machte ich mich frei von diesem Sinnen. – Nur rasches Handeln konnte hier noch etwas helfen.

Ich wollte den Wunsch des Kommissars erfüllen und abends wieder nach Budapest fahren, die Zeit bis dahin aber sollte mir noch dienen, um weitere Nachforschungen anzustellen.

Es fiel mir ein, daß der Professor von einem Stiefbruder – Ludwig Révai – gesprochen hatte, bei dem er auf der Durchreise durch Wien ein paar Tage gewohnt hatte. Den wollte ich aufsuchen, vielleicht konnte er mir einen Anhalt geben, der mir dienlich war.

»Ludwig Révai, Agent, Schwindstraße 3« fand ich in dem Adreßbuchs verzeichnet. – Eine Viertelstunde später hielt mein Wagen vor dem schönen Hause in der ruhigen Straße seitlich des herrlichen Schwarzenberggartens.

Der Hausbesorger wies mich nach dem zweiten Stock, als ich nach der Wohnung des Herrn Révai fragte, und oben öffnete mir ein Diener die Türe, während ein kleiner Foxterrier mich schnuppernd anbellte.

»Herr Révai zu Hause?«

Der Diener, ein noch junger Mensch, dem man den ehemaligen Soldaten an der strammen Haltung sogleich ansah, wies den Hund zur Ruhe: »Kusch, Pitt! Kusch!«, dann zog er den Kopf ein wenig ein. »Ich werd' nachsehen – – wen darf ich melden?«

Ich gab ihm meine Karte und wartete. Nach etwa zwei Minuten kam er wieder.

»Der gnädige Herr läßt bitten.« – Und er führte mich durch ein hübsches, in altdeutschem Stil eingerichtetes Speisezimmer und öffnete dann vor mir die Tür in das Arbeitszimmer seines Herrn.

Als ich eintrat, erhob sich ein Herr von etwa achtunddreißig Jahren von dem Polstersessel vor dem Schreibtische und legte meine Karte, die er in Händen gehalten hatte, hin.

»Guten Tag, Herr – – Plank! Ich kann mir denken. Sie kommen wegen des Köters – nicht wahr?«

Ich grüßte, und es mag sein, daß ich hierbei eine Bewegung machte, die er als Zustimmung auffassen konnte, denn er fuhr rasch zu sprechen fort.

»Ja – 's ist ein Elend mit dem Beest! Also was war denn wieder los? Ist er ohne Maulkorb herumgestrolcht? Oder hat er einen edlen Mitmenschen in die Waden gekniffen? Na, nehmen Sie vor allem Platz, und dann lassen Sie hören.«

Er wies auf eine mit einem orientalischen Teppich belegte Polsterbank, die neben seinem Schreibtische stand, und ließ sich selbst wieder in seinen Sessel nieder, den er mit einer kleinen Drehung mir zuwendete, so daß er das Licht des Fensters im Rücken hatte.

»Nein, Herr Révai,« sagte ich, »ich komme nicht wegen Ihres Hundes. Mein Besuch bei Ihnen hat einen andern, weit ernsteren Grund.«

Ich hielt einen Augenblick ein und sah ihn an. Die Silhouette seines Körpers hob sich breit und massig gegen das Licht ab. Seine Züge konnte ich nicht deutlich ausnehmen, aber ich fühlte, daß sie erwartend, fragend auf mich gerichtet waren.

»Nicht wegen des Köters? – So? – Ja, was denn, wenn ich fragen darf?«

»Sie haben einen Bruder in Budapest, Herr Révai?«

»In Budapest? Ja natürlich – das heißt, es ist ein Stiefbruder von mir, Professor Versegy. – – Fehlt ihm etwas – ich meine, ist er wieder erkrankt? Was ist mit ihm?«

Er hatte im Sprechen die Beine ein wenig angezogen und den Oberkörper erwartend vorgestreckt. In seiner Stimme kämpfte ein leises Zittern gegen den festen Ton der Worte, und ich, der ich gekommen war, um ihm auch von dem tragischen Tode seines Bruders zu sprechen, glaubte die Sorge um den Kränklichen daraus zu hören.

»Ihr Herr Bruder ist, wie Sie ja wissen, längere Zeit von seinem Hause abwesend gewesen. Er war in einer Kuranstalt und ist, wie er mir sagte, bei seinem Aufenthalte in Wien mit seiner Frau bei Ihnen abgestiegen – nicht wahr?«

Herr Révai nickte nur. »Und – –?«

»Als Ihr Bruder nun nach Budapest zurückkam, entdeckte er, daß in seiner Abwesenheit seine Kasse aufgebrochen und sein Vermögen, das er in Wertpapieren zu Hause verwahrte, ebenso wie eine Anzahl von Schmuckstücken seiner Frau geraubt worden waren. Ihr Bruder hat den Vorfall zur Anzeige gebracht, und wir haben die Aufklärung des Falles sofort in Angriff genommen. Es haben sich nun dabei, sagen wir, infolge von unglücklichen Zufällen, einige Momente ergeben, die den Verdacht der Täterschaft auf – –«

Mir war es, als hätte an der Türe jemand leise angepocht, und ich sah auf. Herr Révai schien das Geräusch nicht bemerkt zu haben. Er saß unbewegt, ganz Spannung.

»Ja – –?« sagte er nun, da ich schwieg.

»Hat man nicht eben geklopft?« fragte ich.

Er stand mit einem Ruck auf, schritt zur Türe und öffnete mit festem Griff.

Pitt, der Terrier, der an der Schwelle gekratzt haben mochte, kroch niedergeduckt und scheu wedelnd in das Zimmer und drängte sich halb angstvoll, halb schmeichelnd um die Füße seines Herrn. Aber der hatte nun wenig Sinn für das Tier. Ziemlich unsanft und derb griff er ihm ins Fell und warf das aufquiekende Tier so wieder in das Speisezimmer hinüber. »Kusch – – sonst –!«

Dann schloß er die Türe wieder und kam an seinen Platz zurück. Sein volles Gesicht war blaß, und seine Hände zitterten ein wenig, wie sie nun wieder um die Armlehne des Sessels griffen.

»Entschuldigen Sie,« sagte er, »aber was Sie mir da mitteilen, – Sie werden verstehen, daß mich das sehr ergreift, und eine solche Störung ist da natürlich doppelt unangenehm. – – Ja – was sagten Sie? Daß sich der Verdacht der Täterschaft – – war's nicht so?«

Ich nickte. »Ja, durch eine Reihe von Umständen, die wir unglückliche Zufälle nennen wollen, ist Ihr Herr Bruder selbst verdächtig geworden – –«

»Mein Bruder?!«

Herr Révai war aufgefahren. Dann setzte er sich wieder zurecht und schüttelte den Kopf. Entrüstung und Sorge zugleich lagen in dieser Geste.

»Mein Bruder ist ein Ehrenmann,« sagte er dann hastig, »wenn er auch jetzt in schwerer Lage war, etwas Schändliches hätte er sicher nie getan. Krank ist er, das ist alles – von einem krankhaften Pessimismus, der ihm die Dinge alle schwärzer, hoffnungsloser erscheinen läßt, als sie sind.«

Ich nickte. Gerade für diesen Gedanken, den mein Gegenüber da zuletzt ausgesprochen hatte, kannte ich ja ein furchtbares Beispiel: das Ende des Professors. Und ich fragte: »Hatten Sie bei dem Hiersein Ihres Bruders Gelegenheit, diesen Zug an ihm zu beobachten? Hat er sich in dieser Weise jemals ausgesprochen? – Ich bin leider mit dem, was ich Ihnen zu sagen habe, noch nicht zu Ende – Sie werden bald verstehen, warum ich das frage.«

Herr Révai sah eine Weile mit tief vorgebeugtem Kopf zu Boden. Seine Finger lagen fest um die geschnitzten Enden der Armlehnen an seinem Sessel, er schien mit sich zu kämpfen, ob er sprechen sollte oder nicht. Plötzlich hob er den Kopf und begann zu reden, ruckweise, klar, daß nur in der Tiefe seine Bewegung über das, was er sagte, vibrierte.

»Sie stellen da eine Gewissensfrage an mich, und ich müßte sie nicht beantworten. Es ist vielleicht auch Unrecht, wenn ich Ihnen antworte. Aber ich halte es für richtig, nichts zu verschweigen – schließlich handelt es sich ja nur um Worte; von der Unschuld meines Bruders bin ich überzeugt. – Also: ja, er hat mir wiederholt über seine Lage geklagt. Er hätte im Winter und jetzt wieder große Börsenverluste gehabt – eine Aussicht, daß er sein Lehramt an der Hochschule wieder aufnehmen könne, sei infolge seiner Nervosität noch nicht gegeben – sein Vermögen sei sehr reduziert. – – Aber ich bitte Sie, was wollen denn solche Redereien besagen! Das ist ja Unsinn! Nein – nein – hier, bei dem, was Sie mir mitteilen, handelt es sich doch um ein Verbrechen!«

Eine Unsicherheit schien über Herrn Révai zu kommen. Er schien zu bereuen, daß er mir so viel gesagt habe. Aber in seiner Sucht, den Bruder von jedem Verdachte zu befreien, verhedderte er sich und belastete ihn nur noch mehr.

»Sehen Sie, mein Bruder ist eben krank – ein Sonderling. Und gerade jetzt, vor ein paar Tagen, wie er auf der Rückfahrt nach Budapest hier durchkam, da fiel mir das besonders auf: Diese Hast, diese Unruhe – gerade, als ob er ahnte, daß ihm neue Erregungen bevorstanden – – als ob er fühlte, daß er eine drohende Zukunft vor sich hatte – –. Und auch sonst, er machte da ein paar Bemerkungen – –«

»So?«

»Ja – aber ich habe das alles nur auf seine Krankheit und auf seine Hoffnung, nun zu genesen, bezogen –«

»Darf ich fragen: Was waren das für Bemerkungen?«

»Eigentlich nichts von Bedeutung; er meinte nur so, daß er jetzt in mancher Hinsicht an einer Lebenswende stünde, – daß man aber nie wissen könnte, wie die Dinge sich entwickelten – –. Aber ich habe natürlich immer gemeint, daß er damit auf seine Kur anspielte und auf deren Erfolg.«

Ich nickte. »So wird es ja auch wohl gewesen sein.«

»Meinen Sie – – nun ja, gewiß – natürlich! Was sollte er denn auch sonst gemeint haben? Nicht wahr?« Herr Révai war ganz lebhaft geworden im Sprechen. »Ja –,« fuhr er fort, »und jetzt? Ich meine, was sagt er selbst denn zu all dem? Hat er irgend einen bestimmten Verdacht ausgesprochen? Haben sich irgend welche Anhaltspunkte ergeben – außer diesen sicherlich doch ganz irrigen Dingen, die meinen armen Bruder da, wenn möglich, gar noch in einem zweideutigen Licht erscheinen lassen. – – Wie stellt er sich denn zu dem Vorgange – was meint er selbst?«

Ich schwieg zögernd und sah Herrn Révai an. Er saß ein wenig vorgebeugt, mit halb geöffneten Lippen, voll von Erwartung, Spannung.

»Ihr Bruder meint nichts mehr. Er ist, wie mir aus Budapest gemeldet wird, zusammengebrochen unter dem gegen ihn gerichteten Verdacht. Er ist tot – –. Er hat heute morgen Hand an sich gelegt – –«

»Um Gottes willen!«

Beide Hände an die Schläfen gepreßt und in das dichte, dunkle Haar, stand Herr Révai vor mir und stierte mich an.

Das Licht fiel nun auf ihn, er war bleich, ganz entstellt vor Entsetzen war sein Gesicht. Seine Nasenflügel bebten, und ein Zucken ging um seinen Mund.

Auch ich war aufgestanden. Ich hatte Mitleid mit dem Manne, dem ich die böse Nachricht hatte bringen müssen, und war doch zugleich seltsam ergriffen, erstaunt, verblüfft über die furchtbare Verheerung, die meine Mitteilung in seinem Wesen, seinen Zügen für Augenblicke angerichtet hatte.

»Ja. Es ist leider so. Ich kenne die näheren Umstände selbst noch nicht. Ich fahre übrigens heute abend noch einmal nach Budapest, dort werde ich ja alles Nähere erfahren.«

Herr Révai schien seine Fassung wiederzufinden. Er strich sich über die Stirne und schritt mehrmals in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände nun in den Taschen vergraben, im Gesicht immer noch bleich und ergriffen, aber kämpfend mit seiner Erregung, sie mit jedem Auf- und Niedergang längs des weichen Smyrnateppichs mehr besiegend.

Dann blieb er vor mir stehen. »Und Näheres darüber, wie das gekommen ist – wie das geschehen konnte, wissen Sie wirklich gar nicht – –?«

»Nein.«

»Schrecklich ist das alles!« sagte er. Ein Zittern lief ihm um Schultern und Nacken. Wie wenn er seine Erregung entschuldigen müßte, sprach er dann weiter: »Ich habe mich da vielleicht in Ihren Augen exaltiert benommen bei Ihrer Mitteilung – aber Sie müssen das doch verstehen. Er war doch mein Stiefbruder – und dann, vor wenigen Tagen habe ich ihn doch noch hier gesehen – grauenhaft ist es!«

Ich nickte, und wieder hielt mich dabei ein seltsam zwiespältiges Gefühl ergriffen. Mitleid und doch daneben noch ein anderes, das ich mir nicht erklären konnte, das aber alle meine Aufmerksamkeit wach hielt und horchen ließ.

»Es ist natürlich außer dieser rein menschlichen Seite noch ein anderer Gesichtspunkt, der den – – ich meine, der das Hinscheiden Ihres Bruders gerade zu diesem Zeitpunkt sehr peinlich auch für die Hinterbliebenen gestaltet. Diese Flucht aus dem Leben muß natürlich in den Augen der Fernstehenden den Verdacht, der sich nun einmal geltend gemacht hat, noch mehr verstärken. Man wird sagen: die Angst vor der Entdeckung, die Furcht, völlig entlarvt und zu entehrender Strafe verurteilt zu werden, haben ihn in den Tod getrieben! Und damit bleibt – falls es nicht gelingt, den anderen, wirklichen Täter des Einbruches zu fassen – ein Makel auf dem Namen sitzen –«

»Den anderen, wirklichen Täter –?« Herr Révai hatte wieder nach meiner Karte gegriffen, die noch auf dem Schreibtische gelegen hatte, und blickte mit zusammengezogenen Brauen auf sie nieder. Seine Hand, die das weiße Blättchen hielt, zitterte ein wenig. Nun sah er auf, aber sein Blick hob sich nicht bis zu meinem Auge. Er schien an meiner Weste etwas zu betrachten, während er fragte: »Wie – Sie selbst, Herr Plank, glauben also nicht, daß mein Bruder – daß Sandor – wie soll ich sagen – in Zusammenhang mit dem Verbrechen steht?«

»Nein. – Ich habe Gründe, zu glauben, daß ein anderer der Verbrecher ist. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich zu Ihnen komme.«

Herr Révai stützte die Linke auf den Schreibtisch. Einen Herzschlag lang blitzte mich sein Auge an, dann war es wieder auf meine Weste gerichtet.

»Zu mir? Ja, was kann ich Ihnen dabei helfen oder sagen – das meinen Sie doch so?«

»Ganz recht. Es hat sich ergeben, daß die Spuren des Mannes, den ich für den Verbrecher halte, hierher nach Wien weisen. Es ist also anzunehmen, daß der Mann, der die Gepflogenheiten Ihres Herrn Bruders ungefähr gekannt haben muß, hier in Wien mit ihm irgendwie in Fühlung getreten ist. Meine Frage lautet nun: Können Sie mir sagen, mit wem Ihr Herr Bruder bei seiner ersten Durchfahrt hier umgegangen ist?«

Herr Révai zuckte nachdenklich die Achseln.

»Mein Bruder hat hier gewohnt – das wissen Sie ja? Ich habe eine vierzimmerige Wohnung – da konnte ich ihm den Wunsch nicht abschlagen – zumal ich ja als Junggeselle Raum genug habe. – – Ich habe ihm und seiner Frau ein Zimmer, das nur wenig von mir benutzt wird, einräumen lassen. Was er hier in Wien gemacht hat, weiß ich nicht. Ich selbst war in den Tagen durch unerwartete Verpflichtungen beruflicher Art sehr angestrengt und habe die beiden nur wenig gesehen – nur bei den Mahlzeiten und des Abends, wenn wir im Theater waren oder in einem Konzert-Restaurant. Bekannte aus früherer Zeit hat er hier aufgesucht – wie die heißen, wird Ihnen meine Schwägerin ja sagen können – ich weiß es nicht.«

Eine Pause trat ein. – Dann fragte ich: »Werden Sie nach Budapest fahren?«

Er stand auf und schritt nach dem Hintergrunde des Zimmers. Vor einem Büchergestelle blieb er stehen und musterte die Bände, die da standen. Dann griff er ein Kursbuch heraus und kam damit wieder vor.

»Ich weiß es nicht,« sagte er. »Wann gehen die Züge?« Er schlug das Buch auf – es klaffte auf der gesuchten Seite auseinander: »Ah – hier – –«

Ich hatte ihm zugesehen und konnte nun eine Verwunderung nicht unterdrücken. Als ob ich hier ein Zeichen sähe, das auf den Mann da vor mir wies, war es mir einen Augenblick.

»Sie haben Glück,« meinte ich, »ein seltener Zufall, daß man so auf den ersten Anhieb die rechte Seite aufschlägt!«

Herr Révai sah zögernd auf. Dann lächelte er ein wenig. »Zufall? Glück? – Nein. Mein armer Bruder hat das Buch benutzt, ehe er wieder nach Hause fuhr – –. Ob ich hier abkommen kann? Ich weiß noch nicht – – vielleicht.« Er brach das Buch an der aufgeschlagenen Stelle noch weiter auseinander und legte es hin. »Kann ich Ihnen sonst noch mit etwas dienen, Herr Plank?« Seine Stimme klang plötzlich sehr kühl, sehr zurückhaltend.

»Danke.«

»Falls Sie noch irgend etwas von mir wünschen sollten im Laufe Ihrer weiteren Erhebungen – ich stehe stets zu Ihrer Verfügung.«

»Sehr liebenswürdig – –.« Ich grüßte und ging.

Herr Révai brachte mich selbst bis zur Türe des Eßzimmers, draußen öffnete wieder der gut erzogene Diener, und Pitt, der Terrier, sprang wieder kläffend um mich her.

Langsam schritt ich die Treppe hinunter.

Als ob es heute gewesen wäre, so deutlich weiß ich mich noch zu erinnern: Es lag dabei ein Zögern in mir, jeder Schritt, den ich abwärts ging, war wie gehemmt von einem Gefühle, das mir leise zuflüsterte: »Geh' nicht – du bist nicht fertig hier – in diesem stillen Hause, in diesem Junggesellenheim mit seiner wohlhabenden Ruhe liegt etwas, das du noch nicht kennst und das durch irgend welche heimliche Beziehungen und Dinge den Schlüssel zu dem Falle Versegy bedeutet.«

Dann aber wieder mußte ich an den Toten denken, an den Mann, den Übereifer und überfeine Verdachtriecherei in Verzweiflung getrieben haben mochten, und ich ging, getrieben von der Sorge, es könnte aus gleichen Gründen auch hier Unheil entstehen.


Der Regen schlug noch immer an die Scheiben.

Er pochte leise an die Fenster und trommelte dann wieder wie im Übermute auf das Glas der Sommertüre, die auf den kleinen Balkon des Zimmers führte.

Richard Plank aber, der eine ganze Weile schweigend hinausgesehen hatte in das Rauschen, nickte nun vor sich hin und fuhr dann, ohne seinen Blick von draußen abzuwenden, zu erzählen fort.

Es war, als spräche er da vor sich hin, als wiederholte er sich selbst die Dinge und Ereignisse, durch die sein Leben damals in jenen arbeitsvollen Tagen hingeschritten war.

»Ja – so eine Nacht wie die da draußen, so eine Nacht war es, in der ich dazumal zurückgefahren bin nach Budapest. Dichter, unablässiger Regen wie dieser, ein fortwährendes leises Rauschen über mir, das Fallen des Wassers auf das Dach des Waggons, und vor mir das Spiel der ineinander rinnenden Tropfen an der Scheibe.

Ich weiß nicht, ob Sie das einmal beobachtet haben, wie das seltsam sich ausnimmt im fahrenden Zug – gerade des Nachts, wenn all das blitzende Gefunkel sich von dem tiefen Schwarz da draußen hebt. Schief schlagen die Tropfen an das Fenster, wie Striche sitzen sie da einen Augenblick lang an der Scheibe. Dann aber verschwinden die Linien, ziehen sich zusammen zu Punkten und kleinen Halbkugeln und streben im Gerüttel des Wagens nach unten. Langsam, schrittweise. Aber neue Striche kommen und werden neue Punkte und Kugeln – begegnen den andern, rinnen zusammen mit denen und vereinigen sich mit ihnen. Immer größer werden die hängenden Tropfen. Wie Tränen sitzen sie an der Scheibe, bis sie plötzlich ruckweise ein Stück nach unten torkeln, in neuen Tropfen, die auf ihrem Weg lagen, neue Zufuhr finden und nun – kleine Lawinen – unaufhaltsam in seltsam zerrinnenden Linien nach unten laufen. Hier eine – dort wieder eine. Nur die Linien ihrer Bahn bleiben noch ein paar Augenblicke lang bestehen – dann sprühen neue Strichlein an die Scheiben und löschen auch die Wegkurven dieser Tropfen wieder aus.

Und so wie der Regen an den Scheiben, so war das Treiben der Gedanken in meinem Hirn.

Immer wiederholte ich mir all die Einzelheiten des Falles, trug sie zusammen zu Hinweisen und Belegen, ging den Linien ihres Verlaufes nach – und mußte sie doch immer wieder aufgeben, um neuen Gedanken, Möglichkeiten und Kombinationen zu folgen. – Erst nach und nach begann sich aus dem Chaos dieser Vermutungen und Annahmen ein ganz bestimmter Gedanke scharf in mir herauszuprägen. An ihm hielt ich nun fest, und ihn erprobte ich an allen den besonderen Einzelheiten, die ich in diesem seltsamen Falle nun schon kannte. Und er hielt all den Einwürfen, die immer ich auch machen wollte, stand – nur daß ich mir das Hirn vergeblich zergrübelte nach den Motiven, die eine solche Lösung des Problems erklären konnten, nach den besonderen Vorgängen, die – falls ich nun mit meinem Gedankengang auf dem rechten Weg war – den Verbrecher bestimmt haben mochten, in so unerhörter Weise vorzugehen.

Um etwa acht Uhr früh traf ich mit dem Kommissar in Budapest zusammen. Er empfing mich in einer Stimmung, in der sein Triumph, daß er in seiner Auffassung des Falles recht behalten hätte, sich seltsam mit dem aufrichtigen Bedauern über den Tod des Professors und mit einer gewissen nur schlecht bemäntelten Gedrücktheit über diesen tragischen Ausgang mengte.

Und hier erfuhr ich gleich nach den ersten einleitenden Hin- und Widerreden den Hergang der erschütternden Katastrophe im Hause des Professors.

Ich erzähle den Verlauf hier nicht wörtlich so, wie ich ihn damals erfuhr – also nicht so, wie ihn der Kommissar damals berichtete –, aber so, wie er sich nach allem, was ich auch später noch darüber hörte, wohl abgespielt haben mag. Mir selbst sind die Figuren, die an der furchtbaren Tragödie Anteil hatten, so klar vor Augen, als wäre ich damals dabei gewesen, und oft, lange nach jener Zeit, habe ich mir die Vorgänge im Geiste ausgemalt.

Es war am frühen Morgen nach meiner Abreise gewesen, da war der Vigilant, der gegenüber der Wohnung des Professors in der Maske eines Dienstmanns das Haus und besonders den Professor selbst im Auge behalten sollte, zu dem Kommissar gestürzt gekommen und hatte die Nachricht gebracht, die Frau des Professors wäre auf ihn zugegangen und hätte ihn – da sie ihn für einen echten Dienstmann hielt – aufgefordert, in einer halben Stunde einen kleinen Koffer oben in der Wohnung abzuholen und zur Bahn zu tragen. Der Professor selbst würde dann gleich mitkommen, er wollte zu dem ersten Wiener Zug!

Darauf war dem Kommissar sofort der Gedanke gekommen: Der Mann will ausrücken – durchbrennen! Dem wird das Pflaster hier nun doch zu heiß! Wenn die Polizei jetzt nicht rasch zugreift, dann hat sie das Nachsehen.

Voll Freude darüber, daß es ihm gelungen war, durch seinen Detektiv von dem vermeintlichen Plan des Professors Wind bekommen zu haben, hatte er den »Dienstmann« entlassen und war selbst sogleich und in Begleitung von zwei Wachleuten in Zivil in die Wohnung des Professors gegangen. Einen von diesen Leuten ließ er im Treppenhause warten, der andre sollte ihn begleiten.

Der Professor selbst hatte auf das Läuten geöffnet – die erwarteten Dienstboten waren noch immer nicht wieder eingetroffen. Er soll beim Anblick des Kommissars verstört, verwirrt ausgesehen haben, und in seiner Frage nach dem Zwecke dieses frühen Besuches will der Kommissar eine erregte Unruhe, in seinem Versuch die Herren im Vorzimmer abzufertigen, ein Zeichen des bösen Gewissens gesehen haben.

Aber der Kommissar schritt trotz der deutlichen Abwehrversuche des Professors an diesem vorüber in das Arbeitszimmer. Und dort stand auf zwei aneinander geschobenen Stühlen ein kleiner brauner Lederkoffer – halb gepackt schon – während die noch zur Mitnahme bestimmten Dinge auf dem Schreibtische und auf einem dritten Sessel zerstreut lagen.

»So, Sie wollen reisen, Herr Professor? – – Sonderbar – –«

Der Professor soll den Kommissar ziemlich feindlich angesehen haben.

»Ja – ich will reisen. Kümmert das Sie?«

Der Kommissar zuckte die Achseln und lächelte. »Doch ein wenig – –«

Nun soll der Professor ernstlich böse geworden sein. »Ich wüßte nicht! – Und überhaupt, die ganze Art von Ihnen muß ich mir verbitten! Sie dringen hier am frühen Morgen bei mir ein – Sie zeigen mir gegenüber ein Benehmen – gestern schon, und heute wieder –«

Der andre unterbrach ihn. »Wohin wollen Sie reisen? Und warum – –?«

»Das geht Sie nichts an!« Der Professor, der tags vorher doch ganz verängstigt und gebrochen gewesen war, soll nun gesprochen haben, als nähme er an Energie zusammen, was er nur in sich hatte.

»Geht mich nichts an? Ich will es Ihnen sagen: Sie wollen nach Wien – –!«

Das Gesicht des Professors zuckte. Dann versuchte er überlegen zu lächeln.

»Wenn Sie es ohnehin wissen – wozu fragen Sie dann?! Haben Sie irgend welche Wünsche – dann bitte rasch – ich bin in Eile.« Er wandte sich dem Koffer zu und kramte nervös unter den Reiseeffekten. »Sie entschuldigen, der Dienstmann, den meine Frau bestellt hat, wird aber gleich kommen, den Koffer zu holen.«

Der Kommissar trat näher zu ihm heran.

»Ich würde mir die Mühe nicht machen, Herr Professor – der Dienstmann wird nämlich nicht kommen – –.«

Mit einem Ruck sah der Professor auf.

»Was heißt das –? – wird nicht kommen – –«

»Stimmt schon.« Der Kommissar trat an das Fenster, schob den Vorhang ein wenig beiseite und sah auf die Straße hinunter. »Sehen Sie nur – er ist schon nicht mehr da! Das war nämlich mein Dienstmann – Herr Professor.«

»Sie – – Sie haben mich bewachen lassen?!«

Bleich und zitternd soll der Professor die Frage hervorgestoßen haben. Ganz entstellt soll er ausgesehen haben dabei.

Der Kommissar nickte. »Ja. – – Und ich möchte Sie auch bitten – –«

Der Professor unterbrach ihn: »Ja, warum denn – wie komme ich denn dazu – was will man denn von mir?! Was fällt denn den Leuten ein – –?!« Seine Finger fuhren zitternd und tastend längs der eingefallenen Schläfen und des spärlichen Bartes herunter.

»– – ich möchte Sie auch bitten, mir zum mindesten zu sagen, was Sie in Wien zu tun haben – Herr Professor.«

Der aber soll wie in innerem Kampfe gestanden haben. Seine Lippen bebten, sein ganzer hagerer Körper war wie im Krampf. Ein paarmal setzte er zum Sprechen an – dann schwieg er wieder. »Darüber bin ich Ihnen keine Auskunft schuldig – –!« würgte er endlich hervor.

Der Kommissar zog die Achseln in die Höhe: »Wie Sie meinen. – Aber dann bin ich auch gezwungen. Ihnen die Abreise zu verbieten.«

»Was – – was wollen Sie?!« Er stierte den Kommissar an, als könnte er den Sinn der Worte gar nicht fassen. Seine Stimme klang heiser – beinahe tonlos. »Sie wollen mich nicht reisen lassen – hier festhalten?! – Herr – Sie wollen – –«

»Ich muß tun, was meine Pflicht ist – und die zwingt mich – so schwer mir das auch fällt – –«

»– die zwingt Sie – –?« – atemlos zitterte ihm die Frage von den bleichen, bebenden Lippen.

»Ja – nach all dem, was nun gegen Sie vorliegt, zwingt sie mich. Sie zu verhaften –«

»Mich!? – – Gegen mich vorliegt!? – Ja – was liegt denn gegen mich vor – –! – Mich verhaften?!«

Er war wie unter einem Schlage zurückgetaumelt und hielt sich nun mit tastenden Fingern an dem Stuhle, der vor dem Schreibtisch stand.

Lautlos still war es im Zimmer.

Dann aber plötzlich sank er in dem Stuhl zusammen, schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte auf. All seine mühsam aufrecht gehaltene Energie und Willenskraft schien nun mit einem Male in nichts versunken.

Der Kommissar hinter ihm zuckte die Schultern und sah seinen Begleiter mit einem bezeichnenden Blick an. Ein Glück, daß er noch rechtzeitig gekommen war, ehe er das Nest leer gesunden hatte, dachte er.

Wohl eine Minute verging so.

Dann fragte er: »Sind Sie bereit, Herr Professor?«

Der Professor hatte sich ein wenig gefaßt. Wohl schüttelte ihn immer noch ein Schluchzen, aber die Hände, die nun zitternd mit dem Tuche über Augen und Wangen fuhren, suchten doch die Zeichen dieser erschütternden Erregung zu tilgen.

»Meine Frau muß jeden Augenblick kommen,« sagte er tonlos. »Sie holt nur etwas – – für die Reise – –« Wieder schüttelte ihn das Schluchzen.

Als er ruhiger geworden war, fragte der Kommissar: »Können Sie ihr nicht aufschreiben, worum es sich handelt – –?«

»Aufschreiben?« Der Professor schüttelte den Kopf. Dann aber zog er doch, halb mechanisch, wie einer, der gewohnt ist, sich einem stärkeren Willen zu fügen, den Schlüsselbund aus der Tasche und schloß die breite mittlere Lade des Schreibtisches auf, um sich aus dem Chaos von Papieren und Briefschaften, die da, wie es schien, noch ziemlich ungeordnet durcheinander lagen, das Nötige herauszuholen. Mit zitternden Fingern hatte er einen kleinen Stoß Papier aufgehoben, da hielt er ein und starrte mit entsetztem Ausdruck in die geöffnete Lade.

Impulsiv wollte er sie dann rasch zuschieben, aber war es, daß er in der Erregung einseitig auf die Lade drückte – sie sperrte sich und blieb geöffnet. – Aber da war auch der Kommissar schon knapp hinter ihm, und griff an ihm vorüber in die Lade, in der nun bloßgelegt auf einem Pack mit Schriften aller Art eine zerbrochene Feile lag.

»Donnerwetter!« Und ganz erregt über den Fund hielt ihn der Kommissar vor sich hin: Es war ein dreikantiges Werkzeug, die Spitze fehlte – sie war allem Anschein nach abgesprungen, und das Stück hier zeigte einen seltsamen schrägverlaufenden Bruch.

»Und was – was sagen Sie nun, Herr Professor – –?!«

Wie gelähmt starrte der auf das furchtbare, zerbrochene Werkzeug. Es war klar, er konnte keinen Augenblick im Zweifel darüber sein, was dieser Fund an dieser Stelle für ihn bedeutete.

Er strich sich über Stirn und Schläfen, und sein Blick ging suchend, verständnislos über den Kommissar hin. Seine Lippen bewegten sich, als schnappte er nach Worten, aber er sprach nicht. Kein Laut kam über sie – nur durch seine Kehle ging es wie ein Schlucken.

Und der Kommissar, der nun ein Ende machen wollte, sprach weiter. »Ja – es ist zweifellos: das abgebrochene Stück von dieser Feile haben wir vor dem ›aufgebrochenen‹ Schrank gefunden! Was da ein Leugnen jetzt noch helfen soll, ist mir nicht klar!« Er wandte sich an den Begleiter. »Sie – Wachmann – –«

Der Professor war aufgesprungen – so hastig, daß der Sessel hinter ihm polternd umgefallen war. Mit zusammengekrampften Händen und wirrem Blick, als suchte er in verzweifelnder Angst eine Hilfe, sah er im Zimmer umher.

Ganz still war es in diesem Augenblick. Nur der Nachhall des Gepolters, wie der fallende Sessel zu Boden geschlagen war, summte noch in der Luft, und die Schlüssel, die an ihrem Ringe nun an der Mittellade des Schreibtisches baumelten, schwangen hin und her und klangen dabei leise klirrend aneinander.

»Ich bin unschuldig, Herr – –!«

Der Kommissar machte eine verächtliche Kopfbewegung und versorgte die Feile in seiner Brieftasche. »Es wird Ihnen nicht ganz leicht fallen, das zu beweisen – –«

»Ich – – ich – – Ilka! – Ilka! – –« In ratloser Verzweiflung stieß er den Namen seiner Frau hervor.

»Vorwärts – Wachmann!«

Aber da entriß sich der kleine schwächliche Mann den schon nach ihm greifenden Händen und taumelte an den Leuten vorüber, – durch den Salon – das Vorzimmer – ins Treppenhaus – –

Ob er fliehen wollte – in seiner kopflosen Verzweiflung an Flucht dachte? Ob er nur seiner Frau entgegen wollte – in ihrer Nähe sein, um jeden Preis – –? Wer will das sagen können!

Aber da stand er auch schon im Treppenhause dem anderen Wachmann gegenüber. Mit ausgebreiteten Armen versperrte der den Weg nach unten. Und von rückwärts, aus der Wohnung, hörte der arme, von ratloser Verzweiflung gehetzte Mensch die nähereilenden Schritte der beiden andern.

Da war es, daß er wohl die Besinnung für sein Tun ganz verlor.

Nur daß er hastig um sich blickte mit irren suchenden Augen, sahen die Männer noch, daß er dann plötzlich das Geländer der Treppe umgriff und sich – ehe noch einer von ihnen hatte zuspringen können – über dieses hinunterschwang. – –

Ein Schrei hallte durch das hohe tönende Treppenhaus – ein dumpfer schwerer Aufschlag klang herauf – –.

Es war geschehen.

Dann aber schollen erregte Rufe und das Klappern all der eiligen Männerfüße, die nun nach unten stürmten. Türen wurden aufgerissen – ängstliche Fragen gestellt – erregte und verworrene Ausrufe flogen von einem zum andern.

Als die drei Männer unten ankamen, kniete der Portier schon hingebeugt über den Toten.

»Der Herr Professor – mein Gott, nein – so was – der Herr Professor – –«

Aber da war nichts mehr zu helfen.

Gemeinsam trugen sie ihn dann wieder hinauf und betteten ihn auf ein Sofa. –

Wenige Minuten später kam des Professors Frau. Sie trug mehrere kleine Päckchen in den Händen – kalten Aufschnitt für die Fahrt, und noch ein paar Kleinigkeiten, die sie ihrem Manne noch rasch für die Reise besorgt hatte.

Schon unten und im Treppenhause ging das Raunen um sie her. Oben sah sie dann die Menschen alle, die, scheu und neugierig zugleich, voll Mitleid und voll Schaulust sich an die halb geöffnete Türe der Wohnung drängten.

Und wie sie sich Bahn gebrochen hatte durch sie, die nun zurückwichen mit jener Hast, mit der das Volk dem Unglück aus dem Wege geht, wie sie voll fürchtender Erregung und das Schlimmste ahnend in die Wohnung trat – da hörte sie und sah sie das Furchtbare, das sich ereignet hatte.

Sinnlos und fassungslos vor Schmerz soll sie zuerst gewesen sein. Sie warf sich über ihren Toten und konnte es nicht glauben, daß er ihr genommen war.

Ratlos und unbeholfen standen die Männer umher. Dann schlich sich einer nach dem andern mit verlegenem Achselzucken hinaus – bis die zwei Menschen allein da oben in der Wohnung waren: der Tote und die Frau, die vor ihm kniete und ihn umschlungen hielt. – –

Ja – so etwa muß das Furchtbare sich nach der Darstellung des Kommissars damals ereignet haben. Er selber war, als er mir davon sprach, noch so ergriffen von dem Vorgange, daß er seinen Verlauf nur mit der größten Anstrengung erzählen konnte.

Am Nachmittag desselben Unglückstages war er dann noch einmal in der Wohnung oben gewesen.

Die Frau war ruhiger geworden. Sie jammerte nicht mehr und lag nicht mehr auf ihren Knieen; als wäre ihr Schmerz erstarrt zu einer harten Entschlossenheit, so war es anzusehen.

Der Kommissar begann zu reden. Er sagte ihr, daß von einer weiteren Verfolgung des Falles unter diesen Umständen abgesehen werden müsse – natürlich dürfte sie irgend welche Versicherungsansprüche bei jener Gesellschaft, bei der ihr verstorbener Gatte gegen Einbruch versichert gewesen war, nicht geltend machen. Er sprach ihr von der Feile und zeigte ihr die Feilenspitze, die er nun mitgebracht hatte, und das Werkzeug selbst. Die beiden Teile paßten haarscharf aufeinander in dem Bruch.

Sie unterbrach ihn nicht mit einem Worte, nur, als er stillschwieg, sagte sie mit einer Stimme, in der die ganze Fülle ihres Schmerzes noch lebendig war, und die doch gegen jede Weichheit kämpfte, nur das eine: »Mein armer Mann ist unschuldig gestorben! Ich will nicht ruhen, bis ich das bewiesen habe!« – –

Von all diesen Vorgängen sprach mir also der Kommissar, als ich ihn bald nach meiner Ankunft in Budapest aufgesucht hatte, und ich hörte ihm aufmerksam zu und suchte das im Geiste zu verarbeiten, was sich an neuem Tatsachenmaterial aus dieser furchtbaren Tragödie ergab.

Als er stillschwieg, fragte ich: »Und Sie glauben wirklich, daß der Professor den Einbruch selbst begangen hat?«

Der Kommissar, der auffallend nervös war nach all diesen erregenden Vorgängen, die er in so erschütternder Nähe miterlebt hatte, fuhr förmlich auf. »Wie könnte ich daran zweifeln!? Hier, sehen Sie die Feile an! Sind das zwei Stücke, die einmal ein Ganzes waren – oder nicht?! Und wäre er es nicht gewesen, was hätte der Professor denn für Grund und Ursache gehabt – – diesen verzweifelten letzten Schritt zu tun? Nein, ich bin sicher – völlig sicher! Denken Sie doch selbst: Er wollte abreisen, als ich dazwischen trat – der Boden wurde ihm zu heiß – er wollte fliehen – –«

»Fliehen? Wer sagt das?«

»Das ist doch klar! Was hätte er denn jetzt in Wien zu suchen gehabt?!«

»Das festzustellen, wäre, falls er es freiwillig nicht sagen wollte, eben unsre Aufgabe gewesen! Ich glaube, daß sich alles, was wir wissen wollen, uns wie von selbst eröffnet hätte, wenn wir den Mann in guter Überwachung ruhig hätten reisen lassen. Nach meinem Dafürhalten war diese geplante Verhaftung eine Übereilung, und ich fürchte, daß wir – –«

Der Kommissar hatte eine Zigarette aus dem Etui gegriffen und drückte erregt an ihr herum. Nun unterbrach er mich: »Ja, Pardon, – Herr Plank – wir verstehen uns da wohl nicht ganz! – Was wollen Sie denn eigentlich noch wissen?«

»Was? – Ich will wissen, wer das Verbrechen, den Einbruch in der Wohnung des Professors begangen hat, denn meiner festen Überzeugung nach hat der Professor mit der Sache nicht mehr zu tun gehabt, wie ich und Sie!«

Der Kommissar war vor mir stehen geblieben, sah mich verständnislos an und schüttelte dann heftig den Kopf, als wollte er jeden Zweifel an seiner Auffassung der Dinge von sich schleudern.

»Unsinn!« stieß er hervor. Dann besann er sich. »Pardon – ich meine nur, was Sie da sagen, ist ja einfach unmöglich, denn es ist nicht in Einklang zu bringen mit all dem, was wir beobachtet und festgestellt haben!«

Ich zuckte die Achseln. »Nicht in Einklang zu bringen? Vielleicht nur noch nicht – weil uns eben noch ein Zwischenglied in all unseren Erhebungen fehlt. Unsinn ist's dessentwegen nicht, und ich meine, Sie werden mir beistimmen, wenn ich Ihnen von dem Erfolge meiner Untersuchungen in Wien berichte.«

Und ich erzählte ihm in kurzen Worten, was ich auf den Banken erfahren hatte, was mir durch den Kollegen, der die Erhebungen in der Kuranstalt gemacht hatte, mitgeteilt worden war, und schließlich auch wie das Gespräch mit Herrn Révai, dem Stiefbruder des Toten, verlaufen war.

Je mehr ich aber sprach, um so unruhiger wurde der Kommissar, ich fühlte, daß ihn nun, da es doch zweifellos erwiesen war, daß der Professor an den bedeutungsvollen Tagen die Kuranstalt nicht verlassen hatte, der Zweifel an seiner bisherigen Auffassung ergriff. Aber er sagte nichts. Mit fest zusammengekniffenen Lippen hörte er mich an. Ich sah es, wie er mit sich kämpfte, ob er wohl zugestehen sollte, daß sein rasches Vorgehen gegen den Professor doch besser unterblieben wäre, aber ich sah auch, wie der Trotz, nicht abzulassen von dem einmal eingenommenen Standpunkte, die Oberhand behielt.

Als ich geendet hatte, war er sehr ernst und gedrückt. Er schritt im Zimmer auf und nieder, zerbiß das Mundstück der längst ausgegangenen Zigarette und sah mit zusammengezogenen Brauen ins Weite. Endlich fragte er: »Sie wollen den Fall also weiter verfolgen?«

Ich erhob mich. »Ja.«

»Und Sie versprechen sich Erfolg davon?«

»Ja. – Ich glaube sogar sagen zu können, daß ich den Fall mit voller Sicherheit aufklären werde. Ich sehe nun den Weg ganz klar vor mir, dem ich folgen muß – auch eine bestimmte Persönlichkeit habe ich ins Auge gefaßt, nur über einzelne – ich möchte sagen psychologische – Zusammenhänge bin ich mir noch nicht in jeder Hinsicht klar, und – –«

Er nahm mir das Wort vom Munde: »– und da Sie ein sehr vorsichtiger Mann sind – –.« Seine Stimme klang überlegen, mit einem Beiklang von ironischem Spott.

»Das bin ich,« sagte ich ruhig. »Das Unglück, das gerade in unserem Beruf durch Übereilung entstehen kann, ist so ganz unermeßlich, daß ich – –«

Der Kommissar machte eine nervöse Handbewegung. Er konnte seine Gereiztheit kaum verbergen.

»Schon gut, Herr Plank! Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich sage Ihnen eines: Ich halte den Einbruch nach wie vor für fingiert – dafür habe ich stichhaltige Beweise in Händen. Und für mich ist die Sache mit dem traurigen Ende des Mannes abgetan.« –

Als ich nach dieser Unterredung mich von dem Kommissar verabschiedete, hatte ich das klare Bewußtsein, daß ich auf irgendwelche weitere Unterstützung von seiten der Budapester Polizei in der Angelegenheit des Professors Versegy sicherlich nicht mehr rechnen durfte.

Ich mußte sehen, wie ich ohne solche Hilfe zum Ziele kam. – –

Der Plan, den ich verfolgte, machte es nötig, daß ich möglichst bald mit Frau Professor Versegy Rücksprache nahm. Sie allein konnte mir über jene Dinge und Zusammenhänge Auskunft geben, die mir noch dunkel waren und deren Klärung dem Netz meiner weiteren Schlüsse erst Grund und Boden gab.

Die Mitteilung des Kommissars über die Absicht des Professors, nach Wien zu reisen, hatte mir in dieser Richtung einen neuen wichtigen Fingerzeig gegeben, einen Hinweis, der mir manchen ganz unscheinbaren Vorgang nun in bestimmtem Lichte erscheinen ließ, der meine Vermutungen nur bestärkte, mich anspornte, an dieser Stelle einzusetzen.

Diesmal öffnete mir ein Dienstmädchen die Türe, als ich oben die Klingel zog. Ein nettes Mädchen in dunkler Kleidung, das mich in den Salon führte, das dann ging, um mich der Frau des Hauses zu melden und nach ein paar Augenblicken wieder kam und sagte, daß »die Gnädige« gleich kommen würde.

Die Frau Professor mußte zu dem Mädchen ein Wort haben fallen lassen, aus dem diese entnehmen konnte, wer ich war, denn nun, da sie eben schon gehen wollte, wendete sie sich noch einmal um.

»Der gnädige Herr ist schon fortgebracht,« sagte sie dann, aber gleich darauf verschlugen ihr die Tränen die Stimme, und sie begann zu weinen.

»Sie haben den Herrn Professor auch sehr gern gehabt?« fragte ich, um etwas zu dem armen Ding zu sagen.

»O – ein so guter Herr war er –« und schluchzend ging sie hinaus und ließ mich allein in dem Raume, in dem ich noch vor zwei Tagen mit dem Toten zusammen gewesen war.

Klar, als stünde er leibhaftig vor mir, sah ich im Geiste sein Bild, das zaghafte, verängstigte Gesicht mit dem dünnen Bart, dem ein wenig weichlichen Zug um den Mund und der hohen, kahlen Stirne. Und klar sah ich auch wieder jenes seltsame Erschrecken, das über diese Züge lief, jenes zögernde sekundenlange Kämpfen, das sie zeigten, als der Kommissar ihn damals gefragt hatte, ob ihm gegen irgend eine Persönlichkeit ein Verdacht aufgestiegen wäre, und ebenso dann später, als er selbst erwähnte, daß er sich eine Sendung der Zigaretten, die ihn so belasteten, direkt nach Wien hatte schicken lassen.

Frau Ilka Versegy trat ein. In der ernsten, schwarzen Trauerkleidung schien sie mir noch schlanker auszusehen, als ich sie in der Erinnerung hatte.

Sie war ruhig und gefaßt, nur die geröteten Augen und der herbe Zug um den Mund verrieten, was hinter ihr lag. Sie reichte mir die Hand und hieß mich Platz nehmen. »Sie kommen im Auftrag des Herrn Kommissars?« fragte sie kühl.

»Nein. – Mein Besuch bei Ihnen, Frau Professor, hat mit dem Vorgehen des Kommissars nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob Sie über meine Versuche in der Angelegenheit Ihres verstorbenen Gatten unterrichtet sind? – Nicht? – Nun gut: ich war gestern in Wien und habe auf Grund meiner Erhebungen die Überzeugung gewonnen, daß Ihr Gatte dem Verbrechen in der Tat ferne stand – –«

In ihren Augen leuchtete es auf. »Es ist mir unverständlich, wie man hier nur jemals anders über ihn denken konnte!«

»Es sprach manches gegen ihn –«

»Oh – ich werde nicht ruhen, bis ich nicht seinen Namen von jedem leisesten Makel rein sehe! Haben Sie die Notizen in den Abendblättern gestern gesehen? Haben Sie gelesen, wie man in halb versteckten hämischen Bemerkungen ihn, der sich nicht mehr wehren kann, da angreift und verdächtigt? Wie man den Tod des armen Mannes mit diesem Einbruch in Verbindung bringt – –.« Der Schmerz und die Empörung siegten über ihren Willen. Sie schluchzte in ihr Tuch. Dann aber richtete sie sich wieder auf, wischte die Tränen weg und schüttelte den Kopf.

»Nein! Eintreten will ich für ihn – nicht verzweifeln. Das war der eine Fehler, den er hatte, daß er sich nicht wehren konnte, daß er nicht kaltes Blut behielt! Da haben sie ihn dann zu Tode gehetzt! Einen kranken, durch Krankheit gebrochenen Menschen, der gut war wie kaum ein anderer – –!«

Eine Pause trat ein, während der sie wie in stiller Rückerinnerung an ihn über mich weg ins Weite sah.

Dann sprach ich: »Gnädige Frau, ich habe Ihnen angedeutet, daß seitens der hiesigen Polizei die Anzeige, die Ihr Gatte erstattet hat, als erledigt betrachtet werden dürfte. Der Kommissar hat Ihnen dasselbe wohl selbst auch gesagt?«

Sie nickte.

»Nun ja. Meine Meinung deckt sich nicht mit der der Polizei. Ich glaube einen Weg zu haben, der zu dem wahren Verbrecher führt – wollen Sie mich durch Beantwortung von ein paar Fragen bei meiner Arbeit unterstützen?«

Sie sah mich voll an, als wollte sie sich überzeugen, ob auch kein Hinterhalt in meinem Vorgehen lag.

»Ja,« sagte sie dann, »fragen Sie, Herr Plank, was ich weiß, will ich offen sagen.«

Sie setzte sich zurecht und sah mit Spannung auf mich. Das Licht der Vormittagssonne fiel voll auf ihr Gesicht, kein leiser Zug konnte mir da entgehen.

»Hat Ihr Herr Gemahl Feinde gehabt – oder besser: Hat er einen bestimmten Feind gehabt?«

»Nein. Sicher nicht. Mein Mann war ja so friedfertig –«

»Eine andere Frage: Wie ist das Verhältnis Ihres Gatten zu seinem Stiefbruder, zu Herrn Révai gewesen?«

Ein flüchtiges Rot ging über ihr Gesicht und setzte sich auf Wangen und Stirne fest. Wie sie nun sprach, war ein leises Zittern in ihrer Stimme.

»Seit Jahr und Tag gut – zuletzt in Wien, wie wir auf der Durchreise dort abstiegen, sehr gut.«

»Und früher?«

Sie stockte.

»Es liegt mir viel daran, hierin klar zu sehen, gnädige Frau.«

»Sie sind sich jahrelang aus dem Wege gegangen – –«

»Kennen Sie die Ursache dieser – Verstimmung?«

Wieder vergingen ein paar Sekunden, ehe sie Antwort gab. Dann sagte sie hastig: »Die Ursache war ich. Die ganze Sache ist rasch erzählt: Sie wissen, mein Mann hat ziemlich spät geheiratet – wir waren ja nur fünf Jahre verheiratet. In der Zeit, als wir verlobt waren, kam sein Bruder – Lajos – einmal auf mehrere Wochen hierher auf Besuch. Damals lernte ich ihn kennen. Er scheint nun meine rein verwandtschaftliche Freundlichkeit mißverstanden zu haben, – aber muß ich das alles denn wirklich sagen?«

»Ich bitte darum.«

»Nun – ja – es kam dahin, daß ich ihn bitten mußte, mich als das zu respektieren, was ich damals war – die Braut seines Bruders. Es hat dann bald darauf noch eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Sandor gegeben – eben auch in dieser Sache – und daraus war dann diese Verstimmung entstanden, die bis vor etwa anderthalb Jahren angehalten hat.«

»So. – Und wie glich sich das alles wieder aus?«

»Mein Mann selbst, auf den dieser Zwist sehr drückte, tat den ersten Schritt. Er hatte gehört, daß sein Bruder – Sie wissen wohl? er ist Häuseragent – sich bei einem Bauunternehmen über seine Mittel engagiert hatte; da half er ihm aus. Mein Schwager hat die Summe damals bald zurückgezahlt. Er hat sich auch bei meinem Mann und mir entschuldigt wegen jenes Vorganges vor Jahren – –. Als er uns dann diesmal, wie wir ihm mitteilten, wir kämen nach Wien, aufforderte, bei ihm abzusteigen, konnten wir nicht gut ablehnen …«

Sie schwieg und ich nickte nur. Vor meiner Erinnerung aber stand das Bild, wie Herr Révai, in seinem Schreibstuhle sitzend, den Blick auf meine Weste hin gerichtet, die Achseln zuckte. Und seine Worte glaubte ich wieder zu hören: »Mein Bruder hat hier gewohnt – das wissen Sie ja? Ich habe eine vierzimmerige Wohnung – da konnte ich ihm den Wunsch nicht abschlagen –«

Nur eine Kleinigkeit war es! Wer war der Wünschende gewesen? Ein Nichts! Ein Vorgang, kaum der Rede wert – und doch, er schien mir hier bedeutungsvoll und schwer.

Ich fragte weiter. »Gnädige Frau, hat Ihnen Ihr Gatte gesagt, was er für Absichten mit seiner geplanten Reise nach Wien verbunden hat? Ich meine, was er gerade jetzt in Wien wollte?«

Sie strich mit den Fingern über die Kante des Tisches, an dem wir saßen.

»Er war so seltsam,« sagte sie dann. »Ich habe ja sein ganzes Verhalten an den beiden Tagen nicht so ganz verstanden. Er war sonst immer die Offenheit selbst gegen mich, aber da war es mir, als ob er doch etwas vor mir verberge – –«

»Ja was? Einen Verdacht? Eine Befürchtung?«

Der schmerzliche Zug in ihrem Gesicht war wieder tiefer geworden. »Ich weiß es nicht,« sagte sie. »Und über seine Reise sprach er sich nicht aus. Er wollte ja auch nicht, daß ich mit ihm fahre – ich habe schließlich geglaubt, daß er, da die Versicherungsgesellschaft ›Pan‹ ja ihren Sitz in Wien hat, seinen Verlust persönlich melden wollte. Auch seinen Bruder wollte er aufsuchen – davon sprach er einmal.«

»Hm.« Ich stand auf. »Ja – das wäre eigentlich alles, was ich brauchte, gnädige Frau.«

Sie erhob sich gleichfalls.

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht, Herr Plank? Und haben Sie Aussicht, den Verbrecher zu finden?«

Ihre Augen ruhten beinahe bittend in den meinen. Arme, verweinte Augen, aus denen der hingebende Eifer sprach, den Makel von dem Namen des geliebten toten Gatten zu löschen.

»Wann wird die Bestattung des Armen sein?« fragte ich nur als Gegenfrage.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Morgen – –«

Ich hielt ihre Hand und drückte sie.

»Eins kann ich Ihnen sagen, Frau Professor, daß Ihr Mann mit fleckenloser Ehre zur Ruhe getragen werden soll, daß in der gleichen Stunde, da man ihn hier zum letzten Schlafe bettet, der wahre Täter des Verbrechens sich schon in sicherem Gewahrsam finden wird!«


Richard Plank sah nach der Uhr.

»Gleich Mitternacht! Und Sie sind sicherlich schon müde?!«

Er wollte sich erheben aus seiner Sofaecke.

Ich aber griff nach seinem Arm und hielt ihn fest.

»Nein, bleiben Sie – jetzt dürfen Sie nicht fort! Es gießt in Strömen draußen und vor allem – Sie müssen zu Ende erzählen.«

Er schüttelte den Kopf, stand auf und trat zu der Glastüre des Balkons.

Draußen rauschte der Regen.

»Bleiben Sie nur!« sagte ich noch einmal.

Da wendete er sich um und nickte mir zu.

»In Gottes Namen also, lieber Freund! Durch diesen Guß da draußen zu laufen, ist kein Vergnügen – und schlafen könnte ich jetzt doch nicht zu Hause – –. Aber ein Glas Punsch oder Grog möchte ich haben – irgend etwas, was den inneren Menschen ein wenig anpackt und erwärmt!«

»Sollen Sie kriegen! Und wenn ich selber das Wasser dazu kochen müßte!«

Aber auch das war nicht nötig. Meine alte Wirtschafterin war noch wach – sie hatte eben einen langen Brief an ihren Sohn in Amerika geschrieben – und machte sich jetzt sogleich daran, uns den gewünschten Grog zu brauen. –

Als ich wieder in das kleine Rauch- und Plauderzimmer trat, traf ich meinen Freund Plank in versonnenem Auf- und Niederschreiten an. Nun nickte er mir zu, und wieder, als lese er in meinen Gedanken und wüßte, was mir eben durch den Kopf gegangen war, sagte er: »Ja, lieber Freund, Sie haben recht – die Erinnerung an solche einst erlebte Dinge, die greift uns doch ganz tüchtig an das Herz und an die Nerven! Und seltsam ist es – wenn ich daran denke: damals war ich in all den Augenblicken, die kaltes Blut und Besonnenheit erforderten, fast ruhiger als heute, da ich mir doch jene Augenblicke nur im Erinnerungsbilde wieder zurückrufe. Man ist eben älter geworden, die Spannkraft hat nachgelassen! Gerade, wenn ich so einen von meinen ›besseren‹ Fällen vom Anfang bis zum Ende durchspreche, fühle ich das, und da weiß ich es auch wieder ganz genau: ich habe recht gehandelt, als ich mich im gegebenen Augenblicke zurückgezogen habe von der Arbeit – so lieb mir die Arbeit auch gewesen ist. Unser Beruf erfordert ganze Männer, bei denen sich mit Energie, Ausdauer und scharfer Beobachtungsgabe auch volle körperliche Tüchtigkeit vereint. Wir sind wie Jäger, die auf Raubzeug birschen. Wird erst das Auge schwächer, daß es nicht mehr die leiseste und beinahe verwischte Fährte des Feindes sieht, wird erst die Hand unsicher und der Körper rebellisch gegen die Strapazen solcher Jagd – dann lieber mit der Flinte in den Schrank und andere, junge Kräfte auf das Feld! So fühlte ich es damals, und ich habe recht gehandelt, als ich ging – ehe ich gehen mußte.«

Die Türe wurde geöffnet, und die Wirtschafterin trat mit dem dampfenden Grog ins Zimmer. Sie stellte die Gläser auf den Tisch, dann ging sie wieder.

Richard Plank hatte sein Glas leicht auf den Tisch gestoßen und hob es nun hoch gegen mich.

»Prost, Lieber!«

Die Gläser klangen leise aneinander.

Er kostete, setzte ab und nickte befriedigt.

Dann setzte er sich wieder hin in seine Sofaecke und nahm den Faden der Erzählung wieder auf.

»– – von den Strapazen des Berufes habe ich gesprochen, nun ja, die habe ich auch damals durchgemacht. Aber das ist ja das Seltsame auch hierbei: der Eifer und das Interesse an dem Fall nehmen einen so völlig in ihren Bann, daß man weder Ermüdung noch Abspannung fühlt. Es ist, als ob die Bedürfnisse des Körpers zurückträten hinter dem Drang, die besondere Aufgabe zu lösen, deren Klärung man übernommen hat. Wie ein guter Jagdhund hinter der aufgenommenen Fährte, so ist ein guter Detektiv hinter der Spur seines Verbrechers her, und da fühlt er nicht Hunger und Durst, nicht Müdigkeit und Schlafbedürfnis, bis dann endlich sein Netz von Indizien stark und eng genug ist, daß er dem Mann die Hand auf die Schulter legen kann: »Vorwärts, lieber Herr, Sie kommen mit mir!«

So war es eben auch damals, als ich Frau Professor Versegy verlassen hatte.

In Budapest gab es nichts mehr zu tun für mich.

Einen Kranz mit weißen Schleifen bestellte ich noch, der sollte Tags darauf auf des Professors frisches Grab, dann aß ich auf dem Bahnhofe eine Kleinigkeit und fuhr mit dem Mittagszug schon ab nach Wien.

Beinahe die ganze Fahrt verbrachte ich an einem kleinen Ecktischchen im Rauchabteil des Speisewagens. Vor mir stand der schwarze Kaffee, und auf dem Aschenbecher häuften sich die Asche und die Mundstücke der ausgerauchten Zigaretten. Denn das war immer so – erregte mich ein Fall, dann stieg mein Tabaksverbrauch ins Große – und damals rauchte ich noch dieses Gift – nur dieses Gift und nicht, wie heute, die solide K. und K. Regalitas.

Und bei Kaffee und Zigaretten arbeitete ich.

Ich hatte mir vom Kellner ein paar Blätter Briefpapier geben lassen, auf denen zeichnete ich mir auf, was ich heute nacht auf der Hinfahrt nach Budapest kombiniert hatte und was durch die weiteren Erhebungen und Mitteilungen noch festere, bestimmtere Formen bekommen hatte.

Masche um Masche wob sich da auf dem Papier zu einem Netz, und als die Dämmerung hereinbrach und die Lichter des Wagens angesteckt wurden, konnte ich meine Blätter zusammennehmen – die Sache stimmte.

In Wien warf ich in dieser Nacht noch ein Schreiben an Herrn Ludwig Révai in den Postkasten, in dem ich bei ihm anfragte, ob es ihm wohl genehm wäre, wenn ich ihn morgen vormittag um zehn Uhr in Begleitung eines Kollegen, der gleichfalls in der Angelegenheit des verstorbenen Professors Versegy Nachforschungen angestellt hätte, aufsuchen würde. Wir möchten ihn noch um einige Auskünfte bitten – die Budapester Polizei hätte übrigens weitere Nachforschungen eingestellt, da sie die Überzeugung hege, daß Herr Professor Versegy doch nicht unbeteiligt an dem Verbrechen gewesen wäre. –

Und am nächsten Tage, pünktlich um zehn Uhr vormittags, traf ich mit meinem Kollegen – demselben, der die Nachforschungen in der Kuranstalt von Kaltenleutgeben betrieben hatte – in der Schwindstraße ein. Als wir, von der andern Seite der Straße kommend, den Fahrdamm überschritten, blickte ich unauffällig nach den Fenstern des zweiten Stockes, und da sah ich, wie sich ein Schatten hinter dem Vorhang am Fenster von Herrn Révais Arbeitszimmer behutsam zurückbewegte. Der Mann hatte unser Kommen also erwartet.

Ich muß sagen, daß ich nicht ohne eine starke innere Erregung das Haus betrat. Auch mein Kollege, den ich in mein Vorhaben eingeweiht hatte, sah mich vielsagend an, während wir nun die Treppe emporstiegen. Aber je höher wir kamen, desto ruhiger wurde ich, das Herz schlug wieder gleichmäßiger, der Puls verlor das Zittern.

Einen Augenblick standen wir wartend, tief Atem schöpfend vor der Türe, dann drückte ich auf den Knopf der elektrischen Klingel.

Wieder ein Bellen von innen und dann näherkommende Schritte. Nun wurde geöffnet. Wieder der Diener, der uns eintreten hieß und Hüte und Stöcke abnahm.

»Der gnädige Herr hat schon gesagt, daß er zwei Herren erwarte – wenn ich bitten darf – –«

Er ließ uns in das Speisezimmer eintreten, in dem die Reste eines reichen Frühstücks noch auf dem Tische standen, und klopfte dann an die Türe von Herrn Révais Arbeitszimmer.

»Herein!«

Der Diener öffnete und trat in die Türe: »Gnädiger Herr, die zwei Herren wären da – –«

Die Stimme des Herrn Révai war deutlich auch für uns vernehmbar: »Schön – ich lasse die Herren bitten!«

Gleich darauf traten wir in das Zimmer.

Herr Révai erhob sich bei unserm Eintreten von seinem Arbeitsstuhle, begrüßte uns und nahm die Vorstellung meines Kollegen mit einer leichten Verbeugung entgegen. Dann sah er mit einer gewissen Hilflosigkeit über seinen Schreibtisch und die Sitzgelegenheiten des Zimmers hin, die alle mit Bauplänen, Skripturen und Geschäftsbüchern belegt waren.

»Sie müssen entschuldigen, meine Herren, daß es hier so aussieht, aber ich arbeite, daß mir der Kopf raucht. Jedenfalls will ich rasch Platz schaffen!« Er griff die Briefschaften und Hefte von zwei Polsterstühlen herunter und schichtete sie neben dem Schreibtische auf den Teppich. »So – nun geht's ja wohl – und nun bitte ich die Herren, Platz zu nehmen – –«

Wir setzten uns, und wieder fiel es mir auf, wie geschickt Herr Révai seinen Schreibstuhl durch eine kleine Drehung so zu wenden wußte, daß er das Licht in den Rücken bekam, während ich und mein Kollege in voller Helle saßen.

Dann begann ich zu reden. »Ich habe Ihnen schon geschrieben, Herr Révai, was uns noch einmal zu Ihnen führt. Sie waren bei meinem letzten Besuch so liebenswürdig, sich mir zur Verfügung zu stellen für den Fall, daß wir in der Angelegenheit Ihres Herrn Bruders noch weitere Auskünfte gebrauchten –«

Er nickte bejahend. »Gewiß, soweit ich das vermag, stehe ich Ihnen gerne zu Diensten. Ich bin allerdings, wie Sie sehen, gerade jetzt mit Arbeit sehr, sehr überlastet – so greulich trifft sich das, daß ich nicht einmal nach Budapest fahren konnte, um – ja – um der Beerdigung meines Bruders beizuwohnen. Ich habe das gestern auch meiner Schwägerin geschrieben. Aber für Sie, in dieser Angelegenheit – wo es doch gilt, den Namen meines Bruders zu retten – ja, bitte, fragen Sie nur.«

»Danke. Nun gut. Sie wissen, Herr Révai, daß die Budapester Polizei auf der Ansicht fußt, daß Ihr Herr Bruder selbst der Schuldige gewesen sei, und daß sie darum die weitere Verfolgung des Falles eingestellt hat?«

Herr Révai bewegte leicht zustimmend den Kopf. »Ja, Sie haben mir das geschrieben – und ich muß Ihnen heute sagen – heute, da ich mir all diese furchtbaren Vorgänge in Ruhe überdacht und überprüft habe – –.« Er schüttelte den Kopf, dann griff seine Hand nach vorne und legte sich eindringlich auf meinen Arm. »Glauben Sie mir, Herr Plank, mein armer Bruder war vielleicht krank, schwer krank – und wenn er etwas so Unsinniges getan hat, dann muß das eben als ein Ausfluß seiner – sagen wir, eines Gemütsleidens – aufgefaßt werden – –«

»Ja, wenn – –! Sie glauben also heute, daß er selbst der Verbrecher gewesen ist, Herr Révai?«

Seine Hand auf meinem Arme zuckte. Ich fühlte es deutlich, und ich fühlte es auch, wie der Mann mir gegenüber sich nun Mühe gab, mich das Zittern der Finger nicht merken zu lassen und den Tonfall seiner Stimme beizubehalten.

»Mein Gott!« sagte er, »man weiß ja schließlich selbst nicht mehr, was man denken soll – –. Es spricht so manches für diese Auffassung – wie furchtbar es für mich ist, das zugestehen zu müssen, werden Sie fühlen?!«

Ich nickte. »Ja, Herr Révai, und darum kommen wir – ich und mein Kollege. Ich habe nämlich die unumstößlichen Beweise, daß Ihr Herr Bruder unschuldig ist – – –«

»Beweise, daß mein Bruder – –?!« Seine Stimme klang gierig, seltsam hoch.

»Ja. Aber davon später. Ich habe mir auch ein Bild davon gemacht, wie das Verbrechen in Wahrheit ausgeführt worden ist, und wollte nun, ehe ich mich mit meinem Kollegen daran mache, den Fall zu Ende zu bringen, Ihnen, der Sie doch die Verhältnisse einigermaßen genau kennen – –«

Seine Hand zuckte von meinem Arm zurück. Aber schon versuchte er, die unwillkürliche Bewegung in einer willkürlichen zu verstecken. Er strich sich leicht über die Stirne und meinte: »Nun, so genau kenne ich die Dinge doch eben auch nicht – –«

»Einigermaßen! Ich sagte einigermaßen! Ja, also, da wollte ich Ihnen meinen Gedankengang unterbreiten und Ihre Meinung dazu hören. Wollen Sie mir das gestatten?«

Er lächelte ein wenig gezwungen. »Bitte sehr – ich wüßte zwar nicht, welchen Wert meine Meinung für Sie haben könnte. – Pardon, darf ich den Herren eine Zigarre anbieten? Nicht? Schade! Aber ich darf mir wohl eine anzünden? Ja? Danke.«

Das Streichholz flackerte empor, und der kleine glühende Kreis der brennenden Zigarre glimmte flammend auf unter den ersten paffenden Zügen des Herrn Révai. Grell leuchtete das Flämmchen für Sekunden über sein Gesicht. Er war sehr bleich, und die Lippen waren fahl. Aber über seinem ganzen Wesen lag kaltblütige Besonnenheit.

Ich wußte es in diesem Augenblick mit unbedingter Sicherheit, hinter der Stirne dieses Mannes saß das Geheimnis des Verbrechens, aber ich wußte auch, daß dieser Mann bereit war, jeden Kampf mit mir aufzunehmen.

So holte ich meine Blätter mit Notizen aus der Brusttasche und hielt sie vor mich hin.

»Ich habe Ihnen, schon als wir das erste Mal über den Fall sprachen, gesagt, Herr Révai, daß ich großen Wert darauf legen würde, zu wissen, mit wem Ihr Herr Bruder bei seinem ersten Aufenthalt in Wien in Berührung kam. Nehmen wir nun einmal an, einer von diesen Menschen wäre der Verbrecher! Warum ich Ihnen gleich mit einer solchen Voraussetzung komme? Die Sache wird anschaulicher, wenn man sich eine Person – irgend eine bestimmte Person – einen alten Bekannten, einen entfernten Verwandten – was weiß ich, wen – dahinter denkt! Nicht wahr?«

Herr Révai nickte – er sagte nichts.

»Nun gut. Also dieser Mann, der zum Beispiel gerade in großen Geldschwulitäten ist, trifft mit dem Professor in Wien zusammen und erfährt von ihm so das Interessanteste von dessen materiellen Umständen. Er erfährt also, daß der Professor wochenlang fortzubleiben gedenkt, daß er reichlich bares Geld in der verlassenen Wohnung zu Hause hat – der Professor scheint ja in diesen Dingen ziemlich offenherzig gewesen zu sein. Sie sagten mir doch wohl das letzte Mal, daß er auch Ihnen davon sprach, Herr Révai – war es nicht so?«

Ich fühlte, daß Herrn Révai Augen mich rasch und forschend anblitzten. »Ich wüßte nicht,« sagte er, »daß ich Ihnen etwas Derartiges angegeben hätte.«

»So? Nicht? Nun, dann irre ich wohl – aber was hat das zu sagen! Wir sprechen doch nur von einer Theorie der Vorgänge. Also nehmen wir an, er hätte es Ihnen gesagt – –«

»Mir?« Herrn Révai Stimme suchte den Ton eines harmlosen Erstaunens, aber sie fand ihn nicht.

Da zitterte noch etwas andres mit in seiner Frage, etwas, das er zu verbergen suchte und das doch meinem Ohre nicht entging.

»Ja, Ihnen – oder sonst jemand – eben dem Manne, der das Verbrechen schließlich begangen hat! Warum soll man sich die Vorgänge nicht so zu verdeutlichen suchen? Es ist eine Annahme wie jede andere. – – Nun gut. Wir wissen genau, daß der Verbrecher am vierten April – also zwei Tage, nachdem der Professor Wien wieder verlassen hatte, seinen Schlag geführt hat. Er ist nachmittags in Budapest angekommen, mit Einbruch der Dämmerung in die Wohnung gedrungen, hat dort seinen Raub ausgeführt, ist vor Torschluß wieder verschwunden und mit dem Nachtzug wieder nach Wien gefahren. Vor seiner Abfahrt aus Budapest hat er noch in zwei großen Wiener Hotels als ›Sandor Versegy‹ Zimmer bestellt. Der Portier im Hause des Professors hat den Verbrecher aus- und eingehen gesehen und für den Professor gehalten – weil er den Pelz des Professors trug. Die Polizei in Budapest hat den Professor als verdächtig betrachtet, weil die Wohnung und der Kassenschrank mit den Originalschlüsseln geöffnet waren, weil man Zigarettenreste von des Professors besonderer Sorte vor dem ›erbrochenen‹ Schrank und das Stück einer Feile, die bei der Verletzung des Schrankes verwendet wurde, in seinem Schreibtische fand – –«

»Solche Dinge hat man gefunden – –?« fragte Herr Révai mit belegter Stimme.

»Ja – sie zeugen nach meiner Auffassung entlastend für den Professor.«

»Entlastend?« Herr Révai starrte mich einen Augenblick lang wirr und verständnislos an, dann faßte er sich. – »Pardon, ich verstehe das nicht recht – – vielleicht erklären Sie sich deutlicher –«

»Gerne – ich meine, daß auch ein kopflos gewordener Verbrecher niemals eine solche Fülle von unfehlbar verratenden Spuren hinter sich läßt! Gerade diese große Menge von stummen Belastungszeugen wirkt darum entlastend – sie hat mir sogar eine ganz – – bestimmte Überzeugung andrer Art aufgedrängt – –«

»Ja – –?« Herr Révai saß mit vorgebeugtem Kopf, die Hände fest um die Armgriffe des Sessels gelegt.

Ich blickte in meine Papiere und schien etwas in den Notizen zu suchen. Dann stand ich auf und schritt um seinen Sitz herum.

»Sie gestatten wohl, daß ich an das Fenster trete, Herr Révai – das Licht ist hier so gering. – Ah, hier ist es gleich viel besser!«

Ich hatte wohl bemerkt, wie er zusammengezuckt war bei meinem Nähertreten, aber ich tat nichts dergleichen. Ich stand am Fenster, an das Fensterbrett gelehnt, und blickte in die Papiere. Nun, da ich diese wieder sinken ließ, hatte ich den Herrn Révai in gutem Licht vor mir. Er war sehr bleich, und seine Augen gingen unruhig von mir zu meinem Kollegen hinüber. Es schien ihn zu stören, daß er so zwischen uns geraten war. Ich aber fuhr zu sprechen fort.

»Ja – also diese plumpe Häufung von ›Spuren‹, die alle scharf auf den Professor weisen, hat mir die Überzeugung aufgedrängt, daß der Verbrecher die Tat direkt dem Professor zuschieben wollte! Was meinen Sie dazu, Herr Révai?« wandte ich mich plötzlich direkt an ihn.

Herr Révai rückte mit seinem Stuhle ein wenig nach rückwärts. Die Zigarre entfiel ihm dabei, und er bückte sich und hob sie auf, ehe er sprach. Jetzt zuckte er die Achseln. »Ich? – Mein Gott – Sie müssen das doch besser wissen, wie man derlei deuten kann. Ein bißchen weit ausgeholt scheint mir die Annahme zu sein – –«

»Aber nicht unmöglich! Nicht wahr?«

Herr Révai zuckte noch einmal die Achseln. »Ich könnte mir keinen Grund denken,« sagte er dann, »der den – den Verbrecher veranlassen konnte, etwas Derartiges zu beabsichtigen – –«

»Einen Grund? Gründe, so viel Sie wollen! Denken Sie sich doch selbst in die Lage – –«

Herr Révai machte eine unruhige Bewegung, und sein Mund zuckte, als wollte er etwas sagen – aber er schwieg.

»Denken Sie zum Beispiel nur, der Verbrecher hätte sich einen gehörigen Vorsprung nach der Entdeckung der Tat sichern wollen! Was konnte er da Besseres tun, als den Professor so verdächtig machen, daß die Polizei das Suchen nach einem andern Täter für überflüssig hielt oder doch nur recht lax betrieb? Oder denken Sie an die zwei Gründe, die beinahe nirgend fehlen, wo ein Verbrechen seine Spuren zeigt: an Haß und Liebe! Ich möchte Ihnen nicht gerne allzu romantisch erscheinen, – aber welch weiten Spielraum hat nicht in diesem Fall die Phantasie! Ein Beispiel? Gerne! Sehen Sie, der Professor hat eine schöne Frau – sie ist sehr schön – aber wozu davon reden? Sie kennen sie ja – und wenn ich Frau Professor Versegy recht verstanden habe, so haben ja auch Sie einmal ein gewisses tiefgehendes Interesse für Ihre Schwägerin empfunden – ein Interesse, das ja wohl auch der Grund eines ziemlich ernsthaften Zerwürfnisses zwischen Ihnen und dem Professor wurde – – ist es nicht so?«

»Herr Plank – –!« Herr Révai war aschfahl geworden und hatte den Kopf einen Augenblick lang erregt in den Nacken geworfen. Seine ganze Haltung war so, als ob er auffahren wollte, dann aber besann er sich, warf die ausgegangene Zigarre in den Aschenbecher und meinte nur: »Ich wüßte nicht, wie ich dazu käme, mit Ihnen meine Privatangelegenheiten zu erörtern.«

»Ihre Privatangelegenheiten? Pardon – Sie haben recht. Wie kam ich doch darauf – ja, nach Gründen haben Sie gefragt, und ich sprach dann von Haß und Liebe. Also bleiben wir bei dem reinen Fall! Wäre es nicht möglich, daß der Verbrecher den Professor gehaßt oder dessen Frau geliebt hätte? Daß Rache an ihm, oder der Wunsch, die beiden Menschen zu trennen, um selbst dann den Weg zu der schönen Frau zu finden, ihn geleitet haben könnten, als er den Professor verdächtig machte? Sie sehen: Gründe – die haben wir! – Fehlt also noch das Bindeglied: Wie setzte sich der Verbrecher in den Besitz von des Professors Schlüsseln und von des Professors Pelz? – Denn in diesem Pelz ist der Wackere in Budapest gewesen und mit diesen Schlüsseln hat er dort Wohnung, Kasse und Schreibtisch geöffnet.«

Ich schwieg und sah ruhig fragend auf Herrn Révai nieder, dessen Finger nun nervös auf der Tischplatte trommelten. Nach einer Weile rückte er sich einige von den Skripturen näher.

»Ich stecke bis an den Hals in Arbeiten, Herr Plank – Detektiv bin ich nicht – es wäre mir also schon lieber, wenn Sie Ihren Theorieen so lange allein nachgingen, bis Sie meine Hilfe wirklich gebrauchen können – –«

»Hm. Ja – das wäre aber eben jetzt.«

»Jetzt? – Wieso – –«

»Ich habe auch hierfür eine Theorie und gerade über diese wäre mir Ihr Urteil sehr wichtig – ja ausschlaggebend.«

Herr Révai starrte mit gerunzelter Stirne und fest zusammengekniffenen Lippen auf einen Bauplan nieder, der vor ihm lag, und da er nichts erwiderte, fuhr ich zu sprechen fort.

»Sehen Sie, Herr Révai, meine Theorie ist so lächerlich einfach, so simpel, daß jedes Kind ihr folgen kann! Ich nehme an, Ihr Bruder hat seinen Pelz und seine Schlüssel dem Verbrecher in Wien aus freien Stücken oder jedenfalls ohne Böses zu ahnen, in Händen gelassen!«

Das Papier, das Herr Révai in Händen hielt, knisterte. Die Lippen des Mannes waren bläulichgelb.

»Wie das möglich gewesen wäre? Man muß sich den Fall nur wieder vorstellen – sich hineindenken – dann verliert er jede Unwahrscheinlichkeit. – – Ihr Bruder hat seinen Pelz mit auf die Reise genommen trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit, weil er die lange Fahrt von Budapest nach Wien gefürchtet hat. Nehmen wir an, er hätte es für überflüssig gehalten, das schwere Kleidungsstück auch zu der kaum einstündigen Fahrt von hier nach Kaltenleutgeben mitzunehmen, nehmen wir an, er hätte es hier in Ihrer Wohnung, in dem bei Ihnen bewohnten Zimmer bis zur neuen Verwendung auf der Rückfahrt nach Budapest zurückgelassen – –«

»Bei mir?!« Herr Révai war aufgesprungen; seine Hände zu Fäusten geballt, stand er da, es war, als würde er sich im nächsten Augenblick auf mich stürzen.

Aber ich sah ihn ruhig an.

»Problema!« sagte ich, »Problema – nichts weiter! Eine Annahme – nicht wert, sich darüber zu erregen! Bei Ihnen – oder einem andern – jedenfalls bei dem Verbrecher.«

»Herr, ich muß mir verbitten – –!«

»Was? Daß ich an einem Fall exemplifiziere, der Ihnen besonders anschaulich sein sollte? Gut – sehen wir davon ab.«

Herr Révai sah tückisch von mir zu meinem Kollegen hinüber, es war, als suchte er zu ermessen, ob es möglich war, sich aus dieser Zernierung loszumachen. Dann ließ er sich in seinen Sessel niederfallen, lachte kurz und hart auf und drückte plötzlich auf den Knopf des elektrischen Läutwerkes, das auf dem Schreibtisch stand.

Ein paar Sekunden vergingen. Dann steckte der Diener seinen Kopf zur Türe herein. »Der gnädige Herr befehlen?«

»Fritz, einen Wagen – einen Fiaker.«

Ohne sich umzuwenden, stieß er die Worte hervor. Als der Diener wieder gegangen war, wandte er sich an uns.

»Es tut mir leid, meine Herren, aber meine Zeit ist um. Ich muß fort.« Er warf einen Blick nach der Uhr. »Ich werde erwartet und kann nicht länger bleiben.«

»Eine Frage werden Sie mir wohl noch gestatten, Herr Révai – –?«

Er erhob sich und schlug nervös ein Aschenrestchen, das ihm am Ärmel haftete, herunter. »Ich bedaure – unmöglich. – Ich habe Ihren problematischen Ausführungen nun lange genug zugehört – vielleicht zu lange schon.«

Ich blickte meinen Kollegen an, und der verstand. Auch er hatte sich erhoben; wie ein Zufall war es, daß er vor der Türe stehend den Weg nach außen verlegte. Ich selbst hatte meine Papiere in der Tasche versorgt.

»Die Frage ist andrer – nicht ›problematischer‹ Art. Sie bezieht sich auf Tatsächliches. Ich möchte wissen – –«

Herr Révai unterbrach mich. »Ich habe keine Zeit, Herr!«

»Ich möchte wissen, ob Ihr Bruder während seines Aufenthaltes in der Kuranstalt seinen gelben Lederkoffer, der mit anderem alle Schlüssel der Budapester Wohnung enthielt, und seinen Pelz hier bei Ihnen zurückgelassen hat, weil er diese Dinge in der Kuranstalt nicht brauchte und weil er sie hier für sicherer hielt als in der Kuranstalt – oder nicht – –«

»Herr!!«

Wie ein wildes Tier brüllte er das heraus. Und zugleich stürzte er nach vorne auf mich zu. Ich fühlte seine greifenden Hände, seinen keuchenden Atem – es war ein Ringen mit verzweifelten Kräften.

Schon wankte ich unter dem Anprall des stämmigen Mannes, da kam mir mein Kollege zu Hilfe, und vereint gelang es uns, des wie rasend sich Wehrenden Herr zu werden.

Keuchend mit stierem Blick und knirschenden Zähnen lag er ein paar Minuten später mit gefesselten Händen in seinem Stuhle.

Dann klopfte es wieder an der Türe, und wieder stand der Diener vor uns.

»Der Wagen – –,« sagte er, dann hielt er ein und starrte verständnislos auf seinen Herrn und auf uns.

»Sie heißen Fritz?« fragte ich, und hielt ihm zugleich das Schild, das mich als Funktionär der Polizei legitimierte, vor Augen.

»Ja –«

»Und mit dem andern Namen?«

»Gruber – Fritz Gruber.«

»Sie waren Soldat?«

»Zu Befehl – Hoch- und Deutschmeister-Regiment – –«

»Es ist gut. Sie erinnern sich, daß Herr Professor Versegy aus Budapest zu Anfang des vorigen Monates ein paar Tage lang hier gewohnt hat. – Hat er dann, als er in die Kuranstalt fuhr, irgendwelche Effekten hier zurückgelassen?«

»Zu Befehl. Ein Pelz ist dageblieben und noch allerhand andre Sachen – die waren aber im Schrank verschlossen.«

»Wer hat den Schlüssel zu dem Schrank gehabt?«

»Ich glaub', den hat der Herr Professor mitgenommen.«

»Zeigen Sie mir den Schrank.«

Ein wütender Blick des Herrn Révai traf mich, als ich das Zimmer hinter dem Diener verließ.

Eine Minute später hatte ich an verschiedenen Schrammen des Schlosses festgestellt, daß der Schrank mit einem Nachschlüssel geöffnet und wieder geschlossen worden war.

Als ich zurückkam, wandte ich mich an Herrn Révai. »Sie sind verhaftet, Herr, es stimmt alles genau, wie ich es angenommen hatte. Vorwärts! Der Wagen wartet ja.«

Und gleich darauf rollten wir im Fiaker nach dem Polizeigebäude. – –

Am Nachmittag desselben Tages hielten wir Haussuchung bei Herrn Ludwig Révai.

Der Mann war schlau gewesen, aber doch nicht schlau genug. Im Schreibtische fanden wir außer den Quittungen über alle möglichen alten Forderungen, die im Hause der letzten Wochen von Herrn Révai beglichen worden waren und deren Betrag sich auf nahezu zwanzigtausend Gulden belief, nichts Belastendes. Dann stellten wir fest, daß er auch eine Reihe von Wechseln, die wiederholt schon prolongiert worden waren, in dieser Zeit eingelöst hatte. Endlich, nach langem Suchen, fanden wir auch die Wertpapiere, die noch fehlten – sie waren zwischen dem Papier und der hölzernen Rückwand eines gerahmten Kupferstiches, der im Arbeitszimmer des Herrn Révai hing, verborgen. Damit war der letzte, stichhaltige Beweis erbracht. Als wir später auch noch eine Brille mit ungeschliffenen Gläsern und am Grunde einer mit Tabak gefüllten Dose die bei Professor Versegy entwendeten Schmuckstücke fanden, war unser Wissensdurst gestillt.

Révai selbst, der, nachdem man ihm einen falschen Bart angeheftet hatte, übrigens schon tags darauf sowohl von Herrn von Bauernfeind, wie auch von dem Beamten der Wechselstube der Escomptebank mit Sicherheit als der Verkäufer der Wertpapiere wiedererkannt worden war, hat zwei Tage lang in voller Verstocktheit geschwiegen. Am dritten Tage hat er in mürrischer, wortkarger Weise ein kurzes Geständnis abgelegt. Er hatte seine große Geldnot, in die er durch eine mißglückte Bauspekulation geraten war, als Grund seiner Tat angegeben. Es wurde klar, daß seine Leidenschaft zu der Schwägerin, die bei dem Wiedersehen in Wien ebenso wie der Haß gegen den Bruder neu aufgeflammt war, den Mann dann zu jenem niederträchtigen Tun veranlaßt hatte, das schließlich den Professor Versegy verdächtig gemacht und in den Tod getrieben hatte –«

Richard Plank schwieg still, nickte und griff nach seinem Glase.

»Der Grog ist kalt geworden. Lieber,« sagte er, als er dieses dann wieder hinsetzte. »Ja – das ist die Geschichte – –«

»Und des Professors Frau?« fragte ich hastig, noch ganz erregt von der Erzählung.

»Ihr habe ich an jenem selben Tage noch Aufklärung gegeben. Der Ruf des armen Toten war rein von jedem Makel – das war es, was sie wollte und was mir selbst nicht weniger wertvoll war, als die Bestrafung des wahren Täters. – Ihr Eigentum hat sie zurückerhalten – was fehlte, hat ihr die Versicherungsgesellschaft ›Pan‹ ersetzt. Mir ist sie dankbar, und noch jetzt bekomme ich von ihr zeitweilig ein paar Zeilen, in denen sie von ihrem Wohlergehen schreibt. – Verübelt haben mir mein Vorgehen nur zwei: Herr Ludwig Révai, der nach der Verhandlung im Zuchthause in Stein auf lange Jahre Wohnung nehmen mußte – und noch einer, der Kommissar in Pest. Mag sein, daß es für den damals nach der Rückkunft seines Vorgesetzten noch eine allerhöchste Nase ›von oben‹ setzte – jedenfalls mied er mich seit jener Zeit, wo er nur konnte.« – – – – –

Still und wortlos gingen die Minuten.

Die Erinnerung hatte die Hand auf Richard Plank gelegt, ich aber war noch ganz im Banne des Gehörten.

Dann plötzlich stand mein Freund auf.

»Nachtschwärmer sind wir,« sagte er. Er trat an die Glastüre des Balkons und öffnete.

Der Regen draußen hatte aufgehört, die feuchte Frische der Nacht strömte erquickend herein. Er nahm die Lungen voll in tiefen Atemzügen, wandte sich um und nickte vor sich hin.

»So ist das Leben! damals war es heißer, harter Kampf – heute bin ich ein ausrangierter Mann! Und doch – da gibt es Dinge, die mir auch heute noch wie Ranken aus der alten Zeit der Arbeit in meinem stillen Leben echte Freude sind. Denken Sie an die Frau Professor Versegy – die wird mir meine Arbeit danken, solange sie lebt. Und solche Menschen habe ich wohl zwei Dutzend! Ja, Lieber, mancher, der heute seinen Kopf gerade trägt, verdankt es mir, daß Unwahrheit und Trug ihn nicht hinabgezogen haben. Und das – das ist ein Fühlen, das etwas, wie ein Glück für mich bedeutet. – Na – Schluß für heute!«

Er streckte mir die Hand hin, und ich drückte sie.

Dann ging er.

Vom Balkon aus sah ich ihm lange nach, bis er in dem schon dämmernden Dunkel entschwand, der seltsame Mann, der selbstlos und im Dienste der Wahrheit einstmals durch alle Tiefen des Lebens geschritten war.

 

Ende.

 


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