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VI.

Gurlitt ging schweigend an Janna Lynds Seite durch den Hyde Park, über dem noch die Nebel des frühen Morgens lagen. Janna, die von ihren seltsamen Entdeckungsfahrten durch London berichtete, sah verstohlen in Gurlitts Gesicht: er schien ihr älter geworden, konzentrierter in seinen Bewegungen, härter im Gesichtsausdruck.

»Es war nicht leicht. Das dürfen Sie mir glauben. Ich habe mich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig gemacht und mich obendrein aus dem Abteil weisen lassen müssen – ehe ich seine Adresse hatte.«

Gurlitt schüttelte belustigt den Kopf. »Kann man durch eine Beamtenbeleidigung eine Adresse erfahren?«

»Ich versuchte es zunächst mit leichterem Geschütz. Aber an diesen Roberts war nicht heranzukommen. Er antwortete höflich › Yes‹ und › No‹ – und dabei blieb es. Ich weiß heute noch nicht, ob es Mißtrauen gewesen ist oder die traditionelle britische Zurückhaltung. Jedenfalls merkte ich: noch einen Schritt weiter, und er ahnt, was ich will. Aus diesem Grunde zündete ich mir eine Zigarette an.«

»Nanu?«

»Ich hoffte, er würde dagegen protestieren; dann war zum mindesten Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung gegeben – ging's nicht im Guten, so war es vielleicht im Bösen möglich. Aber auch dieser Versuch mißlang: er lächelte nachsichtig zu mir hinüber – wir waren allein im Coupé. Auf einer Station, es war zwischen Harwich und London, öffnete er einen Augenblick das Fenster. Das war eine deutliche Demonstration, und ich freute mich, daß ich ihn endlich einmal auf einem Terrain hatte, auf dem er verwundbar war.

Aber wenn ich geglaubt hatte, ihn nun aus seiner Reserve herauszulocken, so hatte ich mich geirrt. Ich schloß also einen Pakt mit dem Schaffner.

›Wollen Sie ein Pfund verdienen?‹ fragte ich ihn. ›Ich sitze dort im Nichtraucher-Coupé und werde mir eine Zigarette anzünden.‹

›Das dürfen Sie nicht, Madam‹, sagte er.

›Eben darum. Sie werden hereinkommen und mir das Rauchen verbieten; darauf werde ich Ihnen ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen.‹

›Das dürfen Sie nicht, Madam.‹

Ich überreichte ihm stumm das Pfundstück.

›Sie werden mich also beleidigen‹, sagte er. ›Gut. Was dann?‹

›Darauf werden Sie in furchtbare Wut geraten.‹

›Aber Sie haben mir doch ein Pfund dafür gegeben?‹

›Haben Sie nicht vielleicht einen andern Schaffner bei der Hand?‹ fragte ich.

›Ach, ich verstehe‹, sagte er jetzt. ›Ich soll bloß so tun als ob!‹

›Na also. Sie werden den Herrn um seine Adresse bitten, als Zeugen; und diese Adresse werden Sie mir nachher geben.‹«

»Und der Plan ist gelungen?« erkundigte sich Gurlitt interessiert.

»Absolut. Hier ist seine Karte; der Schaffner wollte sie mir übrigens zuerst nicht aushändigen, weil er sie für das Verfahren gegen mich benötigte:

Charles A. Roberts
7, Hyde Park Gate
South Kensington
London W.«

Gurlitt faßte in die Tasche. »Ich bin zum äußersten entschlossen. Wenn er leugnet, schieße ich ihn nieder.«

»Nun bitte ich Sie um eines, Herr Doktor: keine Voreiligkeit! Zum Niederschießen haben Sie immer noch Zeit. Dort drüben ist Hyde Park Gate – und dort, rechts, das dritte Haus, ist Nummer sieben. Ich habe mir alles genau angesehen. Aber nun muß ich Sie verlassen; denn wenn er mich mit Ihnen sehen sollte, begreift er sofort alle Zusammenhänge. Und das ist zum mindesten überflüssig. Sie treffen mich im Hotel Balmoral.«

Kilian Gurlitt ging die kurze Villenstraße hinunter; er fühlte, wie sich seine Haltung, seine Muskeln, seine Kräfte strafften; er fühlte, daß jetzt, da er vor der letzten Pforte stand, alles von ihm abfiel, was hindernd, hemmend, schwächend gewesen war. Die Ungewißheit hatte ihn gelähmt; jetzt, da es galt, den Arm auszustrecken, den Schlag zu führen – jetzt war alles wie fortgeblasen; er fühlte, ein wenig verwundert über sich selbst, daß er der letzten entscheidenden Wendung gegenüberstand wie ein Mann: ruhig, entschlossen zur Tat.

In diesem Moment geschah das Unerwartete: über den Fliesenweg, der von dem Eingang der Villa zur Gartenpforte führte, kam der Mann im blauen Mantel: Charles Roberts.

Gurlitt ging mit langsamen Schritten auf ihn zu. Jener blickte auf; er blieb betroffen stehen, jenseits der Gartentür. Vielleicht daß er an eine Ähnlichkeit glaubte, vielleicht auch, daß er Gurlitt durch eine gleichmütige Haltung täuschen wollte: er öffnete die Pforte und trat auf die Straße hinaus, im Begriff, an Gurlitt vorüberzugehen.

»Herr Roberts?«

Jener blieb, scheinbar erstaunt, stehen. »Bitte?«

»Wir kennen uns«, sagte Gurlitt. »Mein Name ist Kilian Gurlitt.«

Roberts sah ihm ins Gesicht, regungslos; man konnte nicht erkennen, ob das Verstellung war oder ein Suchen in der Erinnerung – oder aber wirkliche Betroffenheit.

»Wollen Sie leugnen, daß Sie mich kennen?«

Roberts schüttelte den Kopf. »Ich kenne Sie«, sagte er in deutscher Sprache.

Fast aufatmend antwortete Gurlitt: »Ich freue mich, daß Sie keinen Versuch machen, sich der Wahrheit zu entziehen. Sie haben sich mir unter einem falschen Namen vorgestellt.«

Roberts zuckte die Achseln und schwieg.

Gurlitt griff in die Tasche. »Hier ist das Geld, das Sie mir gegeben haben. Damit ist unser Vertrag aufgehoben.« Und indem er, fast ohne es zu wissen, in eine bittende Tonart verfiel, setzte er leise hinzu: »Sie müssen mir meinen Namen wiedergeben, Herr Roberts. Meinen ehrlichen Namen. Ich stehe unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Sie wissen am besten, daß ich unschuldig bin.«

Roberts blickte in seltsamer Versunkenheit die Straße hinunter: dort, wo von den Rasenflächen des Hyde Park das erste Grün des jungen Frühlings schimmerte.

»Sie haben also den Mut nicht gefunden, Ihr Vorhaben auszuführen?« fragte er, mit einem Ton in der Stimme, der wie leise Ironie klang.

»Ich hatte noch in derselben Nacht ein unerwartetes Wiedersehen mit meiner Frau. Das warf meine Selbstmordabsichten über den Haufen.«

»Ich wußte nicht, daß Sie noch am Leben waren.«

Gurlitt sah Roberts an. »Sie wußten es nicht? Wir sind uns in Hamburg begegnet.«

Roberts machte eine unmutige Bewegung. »Also was wünschen Sie von mir?«

»Begreifen Sie das nicht? Alle Voraussetzungen haben sich geändert: ich bin am Leben geblieben. Sie müssen der Behörde mitteilen, daß ich unschuldig bin. Und daß Sie der Täter sind, Herr Roberts.«

Verwundert fragte Roberts:

»Verdächtigt die Berliner Behörde denn allen Ernstes Sie, der Mörder Martinis zu sein?«

In Gurlitts Gesicht stieg die Röte des Zorns auf. »Ich verstehe nicht, was Sie mit dieser Frage bezwecken. Da Sie selbst sich von mir einen Revers geben ließen, in dem ich mich der Täterschaft schuldig bekenne – einen Revers, der an die Adresse der Polizeibehörde gerichtet war ...«

Roberts zog die Brieftasche und entnahm ihr eine Visitenkarte. »Bitte.«

Gurlitt warf einen Blick darauf und fuhr bestürzt zurück. Es war sein Schuldgeständnis.

»Sie haben ... Sie haben diese Karte nicht abgeschickt?«

Eben bog ein Auto in die Hyde Park Gate und hielt in scharfem Finish vor dem Hause Nummer sieben.

Zwei Herren stiegen aus, groß, breitschultrig, von jener Ruhe des Gehabens, die das internationale Charakteristikum ihres Metiers zu sein scheint.

»Mr. Roberts ...?«

Der Gefragte sah den beiden ins Gesicht und nickte stumm.

»Der Richter Barry hat Ihre unverzügliche Vernehmung angeordnet.« Damit ging der eine von ihnen zum Wagen und öffnete den Schlag. Roberts schritt langsam, ohne sich umzusehen, auf das Auto zu; der zweite Beamte folgte gleichmütig.

»Herr Roberts!« rief Gurlitt.

Der Beamte wandte sich um. »Was wünschen Sie?«

»Ich habe mit Mr. Roberts Wichtiges zu besprechen.«

»So so. Wichtiges. Wer sind Sie?«

»Sie kennen meinen Namen nicht.«

»Betrifft es die Mordangelegenheit?«

»Ja«, nickte Gurlitt erstaunt.

»Dann melden Sie sich Punkt zwei Uhr bei Richter Barry, Fleet Street, vierte Sektion, Zimmer eins. Dort können Sie alles vorbringen, was Sie auf dem Herzen haben.« Damit stieg der Beamte ein und warf den Schlag hinter sich zu. Der Wagen ratterte in der Richtung nach der City davon.

*

Über dem Korridor, in dem sich zwanzig oder dreißig oder vierzig Menschen drängten, lag bedrückte und ängstliche Spannung. Vielleicht waren die meisten, die hier warteten, lediglich Zeugen, vielleicht standen sie nur an der Peripherie des großen Ringes, der um irgendeinen Dritten kreiste – aber das Bewußtsein, in einen der Fangarme der ungeheuren Justizmaschine gelangt zu sein, gab das Gefühl einer gewissen furchtsamen Solidarität. Aus einem Zeugen konnte im Verlaufe einer kurzen Verhandlung ein Mitbeschuldigter werden; die Dialektik der Anwälte, der Scharfsinn des Öffentlichen Anklägers, die Überlegenheit des verhörenden Richters lauerten wie unsichtbare Schlingen jenseits jener Türen.

Ein paar Männer, deren Interesselosigkeit so sehr betont war, daß man sie ihnen nicht glaubte, schlenderten an den Wartenden vorüber. Ein paar halblaute Fragen, ein kurzes Wenden des Kopfes; unter dem nervösen Lächeln der andern ließen sich zwei, drei, für die besonders Schweres auf dem Spiel stehen mochte, aus der Kristallkugel die Zukunft deuten. Im besonderen: die allernächste Zukunft.

Eben ging einer dieser geheimnisvollen Männer flüsternd an Gurlitt vorüber; der streckte in einem plötzlichen Impuls die Hand aus. Der Aufgeforderte trat bereitwillig näher. Er warf einen forschenden Blick aus dunklen klugen Augen in Gurlitts Gesicht, dann ergriff er mit der Linken Gurlitts Hand und betrachtete sie lange durch ein Glas. Darauf nahm er aus der Tasche eine Kristallkugel, in die er aufmerksam, wie gedankenverloren, hineinblickte; dabei nahmen seine Augen den deutlichen Ausdruck einer andachtsvollen Konzentration an.

»Sie sind in einer schweren Lage«, sagte er endlich flüsternd.

Gurlitt, der dem Mann seine Sache nicht so leicht machen wollte, wies achselzuckend auf die Tür des Verhörzimmers, die auf seinen Eintritt wartete, als ob er sagen wolle: es gehört keine große Sehergabe dazu, diese Weisheit zu verkünden. Janna, die an seiner Seite saß, lachte leise auf.

»Die Dinge stehen nicht gut, mein Herr«, fuhr der Weise fort. »Ich sehe einen Mann in einem dunklen Mantel. Er ist groß, breitschultrig; um diesen Mann liegt ein Geheimnis. Sie glauben dieses Geheimnis zu kennen, mein Herr; aber ich muß Ihnen sagen: Sie kennen es nicht. Ich sehe es langsam licht werden in der Tiefe dieses Kristalls. Indessen: diese Helligkeit bedeutet eine grausame Ernüchterung. Und hier ... was ist das ... Blut ... Blut ... Es rinnt ins Meer, das Wasser kommt. Doch hier: ein Schiff ... ein weißes Schiff ... Blumen ... Blumen. Auf diesem Schiff sind Sie, mein Herr; nein, es ist etwas anderes, nicht Sie; aber Ihre Gedanken sind bei diesem weißen Schiff – auf ihm liegt die Lösung aller Rätsel. Sie müssen dieses Schiff, das durch Ihre Träume geht, dieses weiße Schiff ...«

Die Tür des Zimmers eins öffnete sich; der Usher blickte auf den Korridor hinaus und sagte mit monotoner Stimme:

»Die Zeugen in der Sache Roberts!«

Gurlitt und Janna erhoben sich; zugleich mit ihnen ein Dritter: ein sonnenverbrannter, dunkelhäutiger Mann von sehniger Gestalt, mit einer Reisetasche. Gurlitt betrachtete ihn erstaunt. Er steckte dem Wahrsager, der ihm mahnend die Hand auf den Arm legte, ein paar Schillinge zu und ging mit Janna ins Verhörzimmer.

Die Drei traten ein; der Usher wies ihnen ihre Plätze an. Dort drüben, hinter dem Tisch, saß der Untersuchungsrichter mit seinen zwei Sekretären; vor einer kleinen Bank in der Nähe des Fensters lehnte in lässiger Haltung Charles Roberts.

»Wie heißen Sie?« fragte der Richter, die Hand hebend.

»Doktor Kilian Gurlitt aus Berlin.«

Der Richter blickte ins Protokoll. »Ich kann Ihren Namen in den Akten nicht finden. Kennen Sie diesen Mann?«

»Ja. Es ist Charles Roberts.«

»Wissen Sie, welche Angelegenheit es ist, in der hier die Untersuchung gegen ihn geführt wird?«

»Ein Mord, Herr Richter.«

»Stimmt«, sagte der Richter erstaunt. »An wem ist dieser Mord begangen?«

»An Stefan Martini.«

Der Richter blickte auf; auch die beiden Schreiber hoben erstaunt die Köpfe. »An Stefan Martini? Was bedeutet das, Mr. Roberts?«

Der Gefragte trat auf den Richtertisch zu. »Ich weiß es nicht, mein Lord.«

»Der Name Stefan Martini ist mir in der Tat bekannt«, sagte der Richter, indem er sinnend in Gurlitts Gesicht sah, fast als ob er in der Tiefe seiner Gedanken zu lesen versuche. »Wir wissen auch, daß Stefan Martini getötet worden ist. Aber es ist eine andere Angelegenheit, die uns hier beschäftigt. Wer sind Sie, mein Fräulein?«

»Janna Lynd. Auch ich habe in der Sache Martini einige Angaben zu machen.«

»Martini ... Martini ...«, wiederholte der Richter kopfschüttelnd. »Es ist merkwürdig: alle Einzelheiten dieses Prozesses führen auf den Namen Martini zu. Und wer sind Sie?« wandte er sich an den Dunkelhaarigen.

»Ich bin Luigi Summermatter.«

Der Richter nickte. »Richtig. Sie sind geladen. Luigi Summ ... Luigi Summ ...«, er machte eine resignierte Handbewegung und gab den Versuch auf. »Brauchen Sie einen Dolmetscher?«

»Nein, Herr Richter.«

»Wir haben uns heute«, begann der Richter mit erhobener Stimme, »mit der Frage zu befassen: ist Charles A. Roberts, geboren in Hamburg, Deutschland, unter dem Namen Carl Robert, naturalisiert in England am 5. August 1914, anglisiert unter dem Namen Charles A. Roberts, hinreichend verdächtig, den Tod seines Schwiegervaters Willy Soltmann vorsätzlich beziehungsweise fahrlässig verschuldet zu haben? Die Angelegenheit ist erst jetzt ins Rollen gekommen: durch eine Anzeige des Stefan Martini. Das Verbrechen ist im Auslande geschehen; da indessen der Verdächtigte englischer Staatsangehöriger ist, so untersteht es der großbritannischen Judikatur. Mr. Roberts: Sie haben zu Protokoll gegeben, daß Sie Ihre Schuld bestreiten. Erhalten Sie diese Behauptung aufrecht?«

»Ja, mein Lord. Ich bin unschuldig.«

Indem er sich an den Sekretär zu seiner Linken wandte, sagte der Richter: »Verlesen Sie den Tatbestand.«

Der Aufgeforderte erhob sich und las langsam mit feierlicher Stimme:

»Am 5. August 1923 morgens um vier Uhr brach der Angeschuldigte, Charles A. Roberts aus London, in Begleitung des Willy Soltmann, Kaufmann aus Hamburg, seines Schwiegervaters, und des Stefan Martini, ohne Beruf, aus Berlin, Deutschland, zu einer gemeinsamen Besteigung des Cimone della Pala in den Dolomiten auf. Martini und Soltmann hatten die Hinzuziehung eines Führers beabsichtigt; Roberts hatte erklärt, man könne die Partie allein machen.«

»Ich bitte um Vergebung, mein Lord!« sagte Roberts. »Die Behauptung, ich sei gegen den Führer gewesen, ist eine Unwahrheit.«

»Welches Interesse sollte Martini haben, Sie eines Verbrechens zu beschuldigen, das Sie nicht begangen haben?« fragte der Richter kopfschüttelnd.

Roberts schwieg.

»Die Besteigung des Cimone della Pala ist außerordentlich schwierig und gefährlich. Die drei Herren waren angeseilt in der Reihenfolge: Soltmann – Roberts – Martini. An einer besonders steilen Stelle glitt der vorangehende Soltmann aus. Im nächsten Augenblick rollte er über den Grat und hing, ein lebendes Gewicht, im Angesicht der Tiefe, hilflos, angewiesen auf den Opfermut seiner beiden Begleiter, namentlich auf den seines Schwiegersohns Roberts, der der Nächstfolgende in der Reihe war. Plötzlich löste sich der Körper des Soltmann vom Seil und stürzte in eine der vielen unzugänglichen Felsspalten, die für die Dolomiten charakteristisch sind.«

Luigi Summermatter machte ein Zeichen, als ob er sprechen wolle; der Richter wehrte ab.

»Während man zuerst an einen Unglücksfall glaubte, wurden nach kurzer Zeit Stimmen laut, die auf Roberts hinwiesen. Roberts hatte ein Interesse an dem Tode seines Schwiegervaters; denn von dem Tage seines Ablebens an war er von der Rente befreit, die er bis dahin an Soltmann gezahlt hatte. Roberts war gegen den Führer gewesen ...«

Roberts machte eine Handbewegung.

»Damit schließt das Protokoll«, sagte der Richter. Der Sekretär setzte sich.

»Und hier, als belastendstes von allen Indizien, der Strick; Stefan Martini hat ihn zusammen mit seiner Anzeige dem Gericht übersandt. Der Angeschuldigte, Charles A. Roberts, behauptet, daß sich der Strick durch das Gewicht des überhängenden Körpers an der scharfen Kante des Grats zerfasert und zerrieben hat, bis die letzten Fasern nachgaben. Zu dieser Behauptung steht der Befund des Stricks im Widerspruch: er ist zweifellos mit einem Messer durchschnitten worden. Danach läge unter Umständen kein fahrlässiger, sondern ein beabsichtigter Mord vor. Wobei ich die schwierige und verhängnisvolle Situation, in der sich der Angeschuldigte befand, selbstverständlich nicht übersehen will. Vielleicht blieb Roberts keine Wahl mehr, vielleicht erkannte er nach langen, vielleicht stundenlangen vergeblichen Bemühungen, daß er seinem Schwiegervater nicht helfen könne. Vielleicht spürte er, daß seine Kräfte ihn verließen und daß er in den nächsten Minuten mit Soltmann zusammen in die Tiefe stürzen würde – dies alles ist nicht ausgeschlossen, aber es ist Aufgabe der öffentlichen Verhandlung, nicht der Voruntersuchung, diese Einzelheiten festzulegen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten: entweder überlegter Mord – oder fahrlässige Tötung in der Erkenntnis, daß sein eigenes Leben in Gefahr sei, wenn er nicht das Seil durchschnitt, das ihn an den Todgeweihten fesselte.«

Roberts trat vor. »Darf ich sprechen?«

»Sie dürfen alles vorbringen, was zu Ihrer Entlastung dienen kann. Ebenso muß ich darauf aufmerksam machen, daß jedes Sie belastende Wort, das Sie sprechen, in der Hauptuntersuchung gegen Sie verwandt werden wird.«

»Es wird Ihnen selbst aufgefallen sein, mein Lord,« begann Roberts, »daß in der Erklärung des Martini von dem Dritten bei dieser Bergtour kaum die Rede ist: nämlich von Martini selbst. Wenn die Dinge sich so abgespielt haben sollten, wie Martini behauptet – warum die Sprache der Indizien statt der Worte eines Menschen?«

Der Richter hob die Hand. »Martini hatte sich erboten, nach London zu kommen und seine Aussage an Ort und Stelle zu machen. Der Mord, der an ihm verübt worden ist – der Mord, Herr Roberts! – hat ihn daran gehindert. Es ist der zweite in dieser Tragödie, Herr Roberts! Und fast sieht es so aus, als ob der erste den zweiten zwangsläufig im Gefolge gehabt hätte.«

»Ich muß,« fuhr Roberts, der den Argwohn der Anwesenden fühlen mochte, mit leiser Stimme fort, »ich muß ein paar Worte über Martini sagen. So schwer es mir fällt, über einen Toten Schlimmes zu sprechen – hier, im Angesicht einer Kette von Verbrechen, die an mir begangen sind – an mir, Herr Richter! – muß alle Rücksicht schweigen. Rund heraus gesprochen: Martini hat sich fünf Jahre lang wie ein Vampir an mich geheftet. Er hat gedroht, er ist mir nach London gefolgt. Er hat mir Briefe gezeigt, fertig geschrieben, frankiert, postbereit, immer mit dem einen einzigen Inhalt: Charles Roberts ist ein Mörder. Und ich – ich habe gegeben und gegeben. Ich habe mich einschüchtern lassen ... ich habe fast mein ganzes Vermögen geopfert; ja, ich habe meine Frau verloren, die ich liebte, die den Einflüsterungen dieses ... dieses ... ich finde das Wort nicht, Herr Richter, das einen solchen Menschen bezeichnen könnte.«

»Es sieht nicht eben nach einem guten Gewissen aus, Mr. Roberts, daß Sie jahrelang den angeblichen Erpressungen Martinis nachgegeben haben.«

»Sie müssen mich begreifen, mein Lord. Er war der einzige Zeuge; mit seiner Aussage war ich verloren – oder rehabilitiert. Ich kann im übrigen seine Erpressungen beweisen.«

»Es ist möglich,« der Richter blickte hinüber zu Gurlitt, der aufmerksam, klopfenden Herzens, der Vernehmung gefolgt war – »es ist möglich, daß dieser Martini ein Schuft gewesen ist. Aber ich muß Ihnen dazu bemerken: das beweist keineswegs, daß Sie das Verbrechen nicht begangen haben. Wie hat sich das Drama also nach Ihrer Behauptung abgespielt?«

»Fast so wie Martini es darstellt; dennoch mit einer ganz kleinen Abweichung. Martini wurde ohnmächtig; ich hatte keine Hilfe von ihm. Erst als das Unglück geschehen war, konnte ich mich zu ihm hinübertasten und ihn wachrütteln. Dann stiegen wir zusammen ins Tal nieder. Im Verlaufe des Abstiegs merkte ich, daß meine Nerven mich im Stich ließen. Martini aber wurde, je mehr wir uns dem Tale näherten, frischer und zuversichtlicher. Damals glaubte ich: der Gedanke, mich trösten, mich stützen zu müssen, war, was ihn munter machte; heute begreife ich, daß ihm während des Abstiegs der Gedanke gekommen ist: hier winkt ein reicher und müheloser Lohn. Er nahm mir behutsam alles ab, was mich belastete: das Tau, den Rucksack, mein Bergmesser. Sie werden es begreifen, daß ich angesichts der furchtbaren Katastrophe vergessen habe, diese Dinge von ihm zurückzufordern. Das Messer hat er meiner Frau geschickt, als scheinbar belastendes Indizium; das Seil aber, das verhängnisvolle, unglückselige Seil muß er präpariert haben: indem er die Fasern abgetrennt und eine Schnittfläche künstlich hergestellt hat. Dieses Tau, Herr Richter, das vor Ihnen auf dem Gerichtstisch liegt, ist in der Tat mein eigenes – aber es ist mit dem Merkmal eines Verbrechens versehen worden, das niemals begangen worden ist ... Ich hatte beim Gericht den Antrag gestellt, einen unparteiischen und sachverständigen Mann aus Cortina d'Ampezzo, am besten einen erfahrenen Dolomitenführer, zu beauftragen, den Spuren jener Katastrophe nachzugehen. Denn alles, was das Gericht bisher weiß, stammt aus den Bekundungen jenes Martini – eines Mannes, der, das werden Sie mir zum mindesten glauben, mein Lord, ein Interesse daran hatte, gegen mich einen gefährlichen Verdacht hervorzurufen – denn dieser Verdacht brachte ihm jährlich ein Vermögen. Das Gericht hat meine Vorschläge wohlwollend geprüft – es selbst hat durch Vermittlung der italienischen Behörden Nachforschungen anstellen lassen. Nun – der Mann, der jede Einzelheit der Katastrophe vom 5. August 1923 nachgeprüft hat, ist erschienen. Ich bitte, Herrn Summermatter zu vernehmen.«

»Sie sagten mir,« wandte sich der Richter an den Bergführer, der ernsten Gesichts an den Vernehmungstisch herantrat, seine Reisetasche in der Hand, »daß Sie eines Dolmetschers nicht bedürfen. Wo haben Sie Englisch gelernt?«

»Die meisten der Herrschaften, die ich zu führen habe, sind Engländer und Amerikaner. Von ihnen habe ich ihre Sprache gelernt.«

»Hm. Die Präfektur von Cortina d'Ampezzo hat Sie uns als besonders zuverlässig empfohlen, Herr Summermatter; ich will Ihnen nicht verschweigen, daß sie Sie als einen der besten Dolomitenführer bezeichnet. Sie schreibt uns, daß Sie sechzehn Personen das Leben gerettet haben.«

Luigi Summermatter machte eine bescheiden zustimmende Verbeugung.

»Sie haben gehört, um was es sich handelt. Die Dinge spitzen sich auf die letzte und einzige Frage zu: ist das Seil am Grat zerscheuert – oder ist das Seil mit einem Messer abgeschnitten worden? Was haben Sie uns dazu zu sagen?«

Der Führer, auf den sich aller Blicke richteten, nahm das Seil in die Hand und betrachtete aufmerksam die Schnittstelle. Ein paarmal schüttelte er den Kopf.

»Wie lange sind die Herren oben an der Unglücksstelle gewesen?« fragte er.

»Nach den Akten: eine knappe Stunde. Das stimmt doch, Mr. Roberts?«

»Ja.«

»Nun –« Summermatter hielt dem Richter die Schnittstille des Taues entgegen – »dieses Tau ist so gut wie ungebraucht; die Hanffaser ist sehr fest und sehr sorgfältig gedreht. Wenn Herr Roberts wirklich dieses Tau durchschnitten hat, so ist das eine Arbeit gewesen, die mindestens zwei bis drei Stunden in Anspruch genommen hätte.«

Überrascht sah der Richter auf den Sachverständigen. »Dann hätte also nach Ihrer Meinung Martini Herrn Roberts wissentlich falsch beschuldigt?«

In dem wettergebräunten Gesicht des Führers zuckte es. »Daß Martini Herrn Roberts eines Verbrechens beschuldigt hat, an dem er in Wahrheit unschuldig ist, steht fest. Ich habe nämlich die Leiche des Herrn Soltmann gefunden

Der Richter ließ die Hand betroffen auf den Tisch fallen.

»Sie haben ... Sie haben sie gefunden?«

»Und ich habe das Seilende, das um den Körper der Leiche gewickelt war, mitgebracht.« Damit öffnete er die Reisetasche und entnahm ihr ein zusammengerolltes Tau. Indem er dem Richter das eine Ende präsentierte, sagte er:

»Wenn das Seil durchschnitten worden wäre – so müßten beide Seilenden jene glatte Schnittfläche zeigen – sowohl jener Teil, der um den Körper von Roberts gewickelt war – als auch das andere Ende, an dem Herr Soltmann hing. Dieser Teil aber ist zerfasert – er ist von dem scharfen Grat des Bergabhangs zerrieben worden und unter dem Gewicht des daranhängenden Körpers zerrissen. Danach ist es kein Zweifel: Martini hat das Tau nachträglich präpariert; er hat es mit einem Messer so lange bearbeitet, bis es aussah, als ob es von verbrecherischer Hand durchschnitten worden wäre – der Befund des andern Endes aber beweist das Gegenteil. Martini hat Herrn Roberts eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat – Herr Roberts ist unschuldig an dem Tode seines Schwiegervaters.«

Schweigen legte sich über den Raum. Der Richter betrachtete aufmerksam die beiden Tauenden, die er prüfend gegeneinanderhielt; flüsternd stellte er einige Fragen, die der Italiener halblaut beantwortete. Dann wandte sich Richter Barry zu Roberts herum. »Es ist kein Zweifel, daß der Sachverständige uns die Wahrheit gesagt hat. Danach kann ich die Feststellung treffen, daß Sie, Charles A. Roberts, an dem Tode des Willy Soltmann schuldlos sind.«

Roberts verneigte sich stumm. Janna wandte den Kopf und blickte Gurlitt an, der bleich und verstört neben ihr saß.

»Sie sagen, Mr. Roberts«, begann der Richter von neuem, »daß Sie auf Grund dieser Konstellation in Martinis Hände gegeben waren: Ihr Schicksal stand und fiel mit seiner Aussage. Martini hat von dieser Macht verbrecherischen Gebrauch gemacht – Sie haben sein Schweigen durch ständige Hergabe großer Summen erkauft. Danach ist es keine Frage, daß Sie, Roberts, ein Interesse an Martinis Tode hatten. Martini ist ermordet worden. Ist Ihnen über die Tat oder über den Täter Näheres bekannt?«

Roberts blickte hinüber zu Gurlitt, der ihn aus fieberglänzenden Augen anstarrte. Leise sagte er:

» Nein, mein Lord

»Ich muß Ihnen nämlich die Erklärung machen, daß aus Deutschland der Antrag gestellt worden ist, die Untersuchung gegen Sie zu eröffnen: in der Angelegenheit Martini. Nach dem Wortlaut des Strafantrags, der telegraphisch eingelaufen ist, besteht der Verdacht, ich darf wohl sagen: der dringende Verdacht, daß Sie der Mörder Martinis sind.«

»Darf ich sagen, Herr Richter, daß es mir unbegreiflich ist, wer in Deutschland auf den Gedanken gekommen sein könnte, ich sei Martinis Mörder?«

»Der telegraphische Verfolgungsantrag ist unterzeichnet: Janna Lynd.«

»Janna Lynd ...« Roberts blickte hinüber zu der Zeugenbank – »Janna Lynd ... das ist, wenn ich nicht irre, die junge Dame, in deren Gesellschaft ich die Fahrt von Hamburg nach London gemacht habe?«

»Ist es so, Fräulein Lynd?« fragte der Richter.

Janna erhob sich. »Gewiß.«

»Diese junge Dame wußte es durch eine List einzurichten, daß ich dem Schaffner meine Adresse gab.«

Janna nickte und zog Roberts' Visitenkarte.

»Was haben Sie auf die Beschuldigung von Fräulein Lynd zu erwidern?«

»Ich habe mit dem Mord an Stefan Martini nichts zu tun, mein Lord.«

»Herr Gurlitt, bitte machen Sie Ihre Aussage.«

Der Aufgeforderte trat an den Tisch des Richters und sah Roberts in die Augen. »Wollen Sie im Ernst bestreiten, daß Sie mich aufgefordert haben, die Tat auf mich zu nehmen? Daß Sie mir erklärt haben, Sie seien der Mörder?«

»Nein«, antwortete Roberts. »Ich bestreite es nicht, Herr Gurlitt. Ich muß sogar das eine zugeben: ich habe die Absicht gehabt, diese Tat auszuführen.«

»Sie haben diese Absicht also wieder aufgegeben?« fragte der Richter. »Welchen Grund hatten Sie dafür?«

»Der Grund klingt fast ein wenig humoristisch. Es ist mir nicht gelungen, Martini allein zu sprechen. Ich war zweimal in seiner Villa, einmal in seinem Bureau. Alle drei Male ließ er mich abweisen. Dann, endlich, drang ich gewaltsam in seine Wohnung ein. Ich traf ihn richtig an – aber er war nicht allein. Er war in Gesellschaft einer Dame.«

»Wo waren Sie, als der Mord geschah?«

»In Hamburg.«

Erstaunt fragte der Richter: »Sie behaupten also, Martini habe noch gelebt, als Sie abreisten?«

»Ich kann es beweisen.«

»Bitte.«

»Hier ist das Ticket der Hansa-Flugverkehrs-Gesellschaft. Der Tod Martinis ist erfolgt in der Nacht vom 13. auf den 14. März. Ich bin am 12. März mit dem Flugzeug nach Hamburg gefahren.«

Der Richter nahm das Ticket in die Hand. »Das scheint zu stimmen. Aber wie wäre es mit der Möglichkeit, daß Sie sich auf diese Weise lediglich ein Alibi verschafft hätten – und daß Sie am nächsten Morgen heimlich nach Berlin zurückgefahren wären?«

»Das Hotel Esplanade wird Ihnen auf Anfrage bestätigen, daß ich am 13. und am 14. März in Hamburg gewesen bin.«

»Danach haben Sie mit Martini über die Angelegenheit, die Ihnen am Herzen lag, überhaupt nicht sprechen können?«

»So gut wie gar nicht; nur mit einigen Worten, die den Kern der Sache nicht berührten.«

»Ersuchten Sie Martini nicht um eine Unterredung unter vier Augen?«

»Gewiß. Aber er lehnte ab.«

»Die Dame, die, wie Sie sagen, in Martinis Gesellschaft war, könnte das bezeugen?«

»Ohne Frage.«

»Wissen Sie ihren Namen?«

»Es war eine junge Künstlerin. Sie hieß: Rose Majewski

»Obwohl diese Aussagen noch nicht völlig erwiesen sind,« sagte der Richter, »muß ich dennoch feststellen, daß sie von einer gewissen inneren Wahrscheinlichkeit sind. Wir werden die formalen Beweise selbstverständlich noch einziehen; für heute darf ich Ihnen die Erklärung geben, daß die Verdachtsmomente fast restlos zerstört sind. Ich schließe die Sitzung.«

Gurlitt ging an Janna Lynds Seite hinaus auf den Korridor, mit müden, schweren Schritten. Das Grau der Wände begleitete ihn wie eine eintönige, endlose, trostlose Melodie, aus der es kein Entrinnen gab, die alle Dinge durchtränkte. Eine Tür ging, Tageslicht flutete herein, graues, trübes Londoner Nebellicht; jemand nannte seinen Namen; er blieb stehen, wandte sich um.

»Nun, Herr Gurlitt?« fragte er. »Sind Sie mit mir zufrieden?«

Gurlitt zuckte hilflos die Achseln. »Ich glaube, daß Sie es nicht getan haben, Herr Roberts. Ja, ich bin davon überzeugt. Aber sagen Sie das eine – Sie kennen Martini, Sie kennen die Verhältnisse besser als ich: wer – wer – wer!?«

In Roberts Gesicht trat ein Ausdruck, den Kilian nicht verstand. Es schien, als ob er in Gurlitt hineinblicke; seine Pupillen verkleinerten sich, seine Mienen wurden hart und scharf.

»Fragen Sie mich im Ernst?« sagte er nach einer langen Pause.

Janna mischte sich ins Gespräch. »Sie müssen die Situation des Herrn Gurlitt begreifen. Alle seine Hoffnungen sind zerstört. Er glaubte sich mit dieser Reise nach London rehabilitieren zu können; nun steht er von neuem vor einer schweren, fast unlösbaren Aufgabe. Wenn Sie ihm helfen können – durch einen Rat – durch einen Hinweis – Sie würden ein gutes Werk tun.«

»Soll ich Ihnen wirklich meine Meinung über den mutmaßlichen Täter sagen?«

»Wenn Sie es können – selbstverständlich«, antwortete Janna erstaunt.

»Nun – man pflegt sich die Frage vorzulegen: wer hatte ein Interesse an der Tat? Ich glaube, daß es einen Mann gibt, dem Martini die Frau genommen hatte. Martini war diesem Mann, zum mindesten finanziell, überlegen – und nicht nur das: er hatte die Macht, der Karriere dieser Frau die entscheidende Wendung zu geben. Diese Frau ist Schauspielerin – sie ist ehrgeizig –, und Martini hielt ein Engagement nach Amerika für sie im Hintergrunde bereit. Ergeben alle diese Dinge, wenn man sie zusammenrechnet, nicht etwa einen guten Grund, diesen Mann aus der Welt zu schaffen?«

Janna trat vor Roberts hin. »Sie halten Kilian Gurlitt für den Täter?«

»Ja«, antwortete er. »Ich halte ihn für den Täter.«

Gurlitt machte eine Bewegung, als ob er sich auf Roberts stürzen wolle; Janna legte ihre Hand mit einer energischen Geste auf seinen Arm.

»Ich werde es so lange glauben,« sagte Roberts, indem er Gurlitt ins Gesicht sah, »bis man mir das Gegenteil beweist.«

»Es wird am klügsten sein, Herr Gurlitt,« mischte sich Janna ein, »wenn Sie diesem Herrn nicht antworten. Heute nicht antworten. Ich glaube aber, Sie können ihm versprechen: daß Sie ihm nichts schuldig bleiben werden: daß er in einer Woche die Antwort erhalten wird, die alles klärt.« Und indem sie Gurlitts Arm nahm, sagte sie, sich noch einmal halb umwendend:

»Ich glaube, daß Sie nicht der Mörder sind. Aber ich glaube, Herr Roberts, daß Sie den Mörder kennen

*

Die beiden gingen schweigend nebeneinander her; durch den Hyde Park, über dem das matte Gold der Nachmittagssonne lag; das Spiel der Kinder scholl herüber von den Rasenflächen.

»Was nun?« fragte Gurlitt endlich, indem er stehen blieb.

Sie wies auf das pavillonartige Gebäude zur Linken. »Nun, denke ich, werden wir erst einmal etwas Anständiges essen. Dies kleine Restaurant sieht recht vertrauenerweckend aus.«

»Ich bewundere Ihre Elastizität«, sagte er, während sie am besonnten Fenster Platz nahmen.

Der Kellner erschien; Gurlitt bestellte ein kleines Dinner.

»Ich habe es immerhin ein bißchen leichter als Sie in dieser merkwürdigen Geschichte«, sagte Janna tröstend. »Auf Ihnen lastet ein schwerer Verdacht; das drückt Sie nieder, selbstverständlich. Ich gehe doch sozusagen neben Ihrem Unglück her; wenn ich auch ...«, sie brach verwirrt ab.

»Ich hatte bisher geglaubt,« begann er, »daß unter dem Druck einer schweren Situation die Kräfte wachsen. Ich halte mich nicht gerade für dumm; aber ich merke, wie unter dieser Last alles in mir zusammenstürzt. Sehen Sie: bisher hatte ich einen Kameraden – eine Frau. Sie war die erste, die mich verließ. Jetzt bin ich so grenzenlos allein.«

»Wirklich?« fragte sie, in einem Tonfall, der ihn aufblicken ließ; begütigend legte sie ihre Hand auf die seine.

»Fräulein Janna,« er erschrak selbst bei der vertrauten Anrede, »ich weiß, daß ich Unsinn spreche. Ich habe eine Frau verloren – aber ich habe einen Kameraden gefunden. Ich habe mich versündigt, am Leben, an Ihnen. Sind Sie mir böse?«

Janna hatte ihm während der letzten Worte die Hand unmerklich entzogen; er ergriff sie von neuem und drückte sie.

»Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen«, sagte er leise. »Manches, Janna. Sie werden vielleicht erstaunt sein über das, was ich Ihnen sagen will. Vielleicht ungehalten. Ich möchte von Ihnen sprechen.«

Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf mit einem kleinen zärtlichen Lächeln. Aber dann straffte sie sich und sagte, wieder ganz die frühere Janna:

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir von Ihnen reden, Herr Doktor Gurlitt. Wir müssen einmal darüber beraten: was wir nun unternehmen wollen.«

Seufzend antwortete er: »Ja. Sie haben recht. Aber wenn ich Ihnen ganz offen gestehen soll: ich habe keine Ahnung, was jetzt zu tun ist. Ich bin glücklich, Janna, daß Sie an meiner Seite sind, daß ich Hand in Hand mit Ihnen meinen Weg gehen darf. Ich habe Sie bewundert, vorher: als Sie Roberts entgegentraten. Sie wären ein ausgezeichneter Anwalt geworden. Jeder Dritte, Nichtinformierte, hätte geglaubt: Sie wären die Anklägerin – und Roberts wäre derjenige, der sich zu verteidigen hätte.«

Der Kellner brachte die Vorspeise und die Cocktails.

»Zweifeln Sie daran, daß Roberts die Wahrheit gesagt hat?«

»Nein«, sagte Janna. »Ich glaube, daß Roberts in der Tat unschuldig ist. Aber ebenso unverblümt habe ich ihm zu verstehen gegeben ...«

»... daß er den Mörder kennen müsse. Ist das Ihr Ernst, Janna?«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Wenn er den Mörder kennt ... wenn er also weiß, daß ich unschuldig bin ... welchen Grund kann er haben, jenen zu schonen? Da er weiß, daß ich unter Verdacht bin?«

»Dafür gäbe es immerhin eine Erklärung«, sagte Janna.

»Ich wäre neugierig.«

»Nehmen wir einmal an: der Täter stünde Herrn Roberts näher als Sie.«

»Das wäre ... in der Tat ... Aber dann wäre Herr Roberts, wenn er die Wahrheit kennt und sie verschweigt ...«

»Ich sagte Ihnen schon: vielleicht steht ihm der Mörder sehr nahe.«

Gurlitt blickte auf.

»Sie haben mir von jener Nacht in Hamburg erzählt. Es gibt in Hamburg einen Menschen, der eines Tages die Entdeckung gemacht hat: daß Martini ihn betrogen hat. Dieser Mensch muß nach einer solchen Erkenntnis zum mindesten ein paar Stunden lang vor der Frage gestanden haben: Martini – oder Roberts? Wenn der eine von ihnen am Leben bleiben soll, muß der andere sterben. Und da ihm Roberts näherstand ...«

» Lisette Martini

»... so beschloß er bei sich: daß Martini sterben müsse.«

»Lisette ... Roberts Frau?«

»Sie selbst hat Ihnen gesagt, daß sie in Berlin gewesen ist. Daß sie versucht hat, Martini umzustimmen. Daß es ihr nicht gelungen ist. Begreifen Sie, daß die Dinge sich so zugespitzt haben können, daß sie, um sich und ihren Mann zu retten, einen Mord begangen hat?«

»Ja ...«, flüsterte Gurlitt.

Der Kellner erschien mit dem Mutton-Chop.

»Wissen Sie übrigens, daß Ihre Frau in London ist?« fragte Janna plötzlich.

»Léonie ...?«

Seltsam: er fühlte, wie groß in diesen wenigen Tagen die Distanz geworden war, die ihn von seiner Frau trennte.

Janna öffnete die Handtasche und entnahm ihr einen Brief. »Ich habe heute morgen einen Eilbrief aus Berlin erhalten: von meiner Redaktion. Also: die ›Yoshiwara‹ ist heute nacht im Hafen von London eingetroffen. Sie nimmt hier ein paar prominente Passagiere auf, darunter den Prinzen von Battenberg; morgen nacht fährt sie weiter: nach New York. Meine Zeitung ist eingeladen worden, die Fahrt mitzumachen. Kurz und gut: ich bin ausersehen, mit der ›Yoshiwara‹ nach New York zu fahren; hier ist das Ticket.«

»Dann werden Sie mich heute verlassen?« fragte Kilian bestürzt.

»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich diese ganze Zeit zwischen der Pflicht gegen meine Zeitung und meiner Pflicht gegen Sie schwanke. Ich fürchte, ich bin im Begriff, eine Dummheit zu machen; denn ich glaube allen Ernstes, ich darf Sie nicht allein lassen. Helfen Sie mir, diese Furcht zu beseitigen.«

»Ich kann Ihnen natürlich im Ernst nicht zumuten, Ihre Redaktion so zu enttäuschen.«

Sie nickte düster. »Andererseits – ich glaube, wenn Sie diese Geschichte allein in die Hand nehmen, wird das Rätsel des Falles Martini nie gelöst werden.«

»Sie scheinen Vertrauen zu mir zu haben.«

»Ich halte Sie für einen sympathischen Menschen, ich glaube, daß Sie Geist haben; aber ich bin der Meinung, daß Sie bei der ständigen Gehirnarbeit verlernt haben, die Dinge anzupacken. Ihnen fehlt der Griff. Darum glaube ich: Sie brauchen eine Frau ...«

»Eine Frau, Janna ...!«

»Ich meine,« Janna errötete wider ihren Willen: »eine Frau, die nicht Ihre Frau ist, die aber, weil sie eine Frau ist ... Kellner, zahlen!«

Der Kellner servierte eilig den Custard und legte die zusammengefaltete Rechnung vor Gurlitt hin.

»Ja«, sagte Janna, während sie dem Marble Arch zuschritten; »wenn Sie also meinen, werde ich doch nach Amerika fahren.«

»Janna!«

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: wir wollen uns diese Sache bis zum Abend überlegen. Auf alle Fälle, denke ich, wird es sich lohnen, daß wir uns diese ›Yoshiwara‹ einmal ansehen. Costa ist an Bord; es wird Sie auf andere Gedanken bringen, wenn Sie ihn wiedersehen; Léonie ist an Bord; über diesen Punkt möchte ich nichts sagen. Da kommt eine freie Taxicab. Chauffeur! Zum America-Dock, Dampfer ›Yoshiwara‹!«

*

Das schimmernde Schiff lag, ein weißer fremder Vogel, mitten unter den rußgeschwärzten Ozeanfahrern des Londoner Hafens. Das Dock war voll von Neugierigen, die sich keine Einzelheit dieser kleinen Sensation entgehen ließen; selbst das Wasser wimmelte von kleinen Jollen. Fast schien es, als ob die Londoner ein bißchen Neid empfanden, daß ihnen die Deutschen mit der Idee eines solchen Luxusdampfers zuvorgekommen waren.

Fünf Reihen leuchtender Fenster bezeichneten fünf Stockwerke, erfüllt von Glanz und Duft. Die Vorhalle, von der sich die Treppe abzweigte, war ein Blumengarten; das sonnenartige Licht der Glühlampen warf funkelnde Reflexe durch das Grün der Blätter, durch das Rot, Gelb und Weiß der Blumen. Dieser Dampfer schien eine letzte Bejahung der Lebensfreude zu sein, der entscheidende und endgültige Sieg menschlicher Kultur, die der Gefahren des Ozeans spottete, die eine kühne Gedankenbrücke geschlagen hatte zwischen West und Ost.

Janna und Gurlitt gingen die Treppe hinauf, die zum Promenadendeck führte.

»Kilian!«

Es war Costa; er begrüßte den Freund mit aufrichtiger Freude. »Wie geht es dir, Kilian? Und Sie, Fräulein Lynd? Sie in London ...? Sie in Gesellschaft Kilians? Wie steht deine Angelegenheit, Kilian? Die Sache mit Martini? Ich las in der ›Stunde‹ große Artikel, ich glaube, die ›Stunde‹ ist sehr auf deiner Seite.« Er wandte sich zu Janna herum, und ein plötzliches Lächeln ging über sein Gesicht. »Jetzt begreife ich: Fräulein Janna Lynd, Chefredaktrice der ›Stunde‹, Tochter des Verlegers, des Zeitungskönigs Lynd, in besonderer geheimer Mission unterwegs, um den Fall Martini aufzudecken; Spur führt nach London; das Rätsel steht vor seiner Lösung.«

»Ich hoffe, daß Sie recht haben, Herr Costa«, sagte Janna lächelnd.

»Kommt aufs Promenadendeck, ich zeig' euch alles. Die Herrschaften sind beim Dinner. Wie ist es übrigens: habt ihr schon gegessen?«

»Alles erledigt«, sagte Janna.

»Das trifft sich ausgezeichnet; dann können wir uns oben ein bißchen ergehen.«

Die Treppe war fast menschenleer; nur ein paar eifrige Stewards begegneten den dreien.

»Wo ist Rose?« fragte Gurlitt.

»Im Speisesaal. Mit Léonie ... Mit deiner Frau, wollte ich sagen. Die beiden haben sich angefreundet.«

Janna blickte zur Seite, in Gurlitts Gesicht; es blieb unbeweglich.

Die drei traten, vorüber an dem Fahrstuhleingang, hinaus auf das Promenadendeck. Der Blick war begrenzt, die Docks des Londoner Hafens säumten den Horizont. Lichter, rote, grüne, schaukelten im Wasser, blitzten an den Rahen der Dampfer; durch diesen ganzen ungeheuren Komplex schien ein geheimnisvolles und heißes Leben zu fließen.

Am Stern des Dampfers ging eben ein Herr vorbei. Er sah aufmerksam zu den dreien hinüber. Costa grüßte und blickte jenem nach; er ging die Treppe zur Kapitänskajüte hinauf.

Janna und Gurlitt sahen sich an; wieder blickte Gurlitt hinüber zu dem Fremden.

»Weißt du, wer das war?« fragte Costa. »Der Besitzer der ›Yoshiwara‹.«

»Wie heißt er?«

»Er ist ein Deutscher, aber er ist in England naturalisiert. Er hat ein Faible für mich, glaube ich. Er wollte ursprünglich mit seiner Frau die Reise nach Amerika mitmachen; aber er muß geschäftlich nach Deutschland. Jetzt fährt sie allein. Übrigens: eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, Kilian. Ich gestehe dir ganz offen: ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt. Das ist auch der Grund – dir kann ich's ja sagen –, warum Rose allein im Speisesaal sitzt, allein mit Léonie: wir haben uns wegen dieser Frau Lisette Roberts ein bißchen gezankt.«

»Was sagst du da –«, Gurlitt packte Costas Arm – »wie heißt der Besitzer? Wie heißt seine Frau?«

»Habe ich dir das noch nicht gesagt? Er heißt Charles A. Roberts; seine Frau, übrigens eine Hamburgerin, steht als Lisette Roberts in der Passagierliste, ich habe sofort nachgesehen. Jetzt fährt sie mit nach New York. Kilian, das wird großartig!«

»Lisette Mar ... Lisette Roberts ist an Bord der ›Yoshiwara‹?«

»Mein Gott, ja! Du bist auf einmal so schwer von Begriff! Ihr müßt mich übrigens entschuldigen – wir haben heute abend das große Konzert, weißt du! Wir wollen den Londonern ein bißchen imponieren. Deine Frau wirkt übrigens auch mit. Ihr könnt ruhig bis Mitternacht an Bord bleiben; wir sehen uns also noch.« Und fort war er.

Die beiden standen und sahen Costa nach, der lachend zurückwinkte.

»Soll ich Ihnen gestehen, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf geht?« fragte Janna. »Die Prophezeiung jenes Wahrsagers.«

»Ich pflege sonst über derartige Dinge zu lachen«, nickte Gurlitt. »Aber Sie haben recht. Ein Geheimnis ... dessen Lösung auf einem weißen Schiffe liegt.«

»Lisette Roberts«, murmelte Janna Lynd. »Ich glaube, es wird am klügsten sein, wenn ich auf der ›Yoshiwara‹ bleibe. Wenn ich die Fahrt nach Amerika mitmache. Und wenn Sie, Herr Doktor Gurlitt, sich schleunigst ein Ticket besorgen.«

»Ja«, sagte Gurlitt. »Ich werde mir telegraphisch von Berlin Geld anweisen lassen.«

Sie nickte. »Hier wird irgendwo ein Telegraphenamt sein; lassen Sie sich's vom Obersteward sagen. Ich werde inzwischen versuchen, diese Frau Lisette ausfindig zu machen.«

Sie gingen zusammen um das Promenadendeck herum. Es füllte sich langsam mit Passagieren, die aus dem Speisesaal zurückkehrten.

Eben trat aus einer der kleinen Türen eine Dame im Fehmantel, die bei seinem Anblick erschrocken stehen blieb.

Es war Léonie.

»Kilian ...!« sie sah ihm verwirrt ins Gesicht; in offenkundiger Verlegenheit hob sie zögernd die Hand; dann wandte sie den Kopf und blickte zu Janna hinüber, die an ihr vorbeisah.

»Hast du gute Nachrichten, Kilian?«

»Ich denke, daß sich alles klären wird. Auf der ›Yoshiwara‹. Fräulein Lynd wird mir helfen.«

»Du fährst mit nach New York?«

»Ja. Wir fahren zusammen.«

»Du mußt mir alles erzählen, Kilian. Wenn es wirklich so wäre – wenn Fräulein Lynd es fertigbrächte, dich zu rehabilitieren – wir beide würden ihr ewig dankbar sein. Gell, Kilian?«

Er wollte antworten; aber irgend etwas lenkte seinen Blick ab. Er wußte im Moment nicht, was es war, die Überraschungen jagten sich zu sehr; aber dann, als er hinübersah auf die Gangway, erkannte er: dort stand Roberts im Gespräch mit zwei Herren; alle drei blickten zu ihm hinüber.

»Ich muß auf eine Stunde an Land«, sagte er; »ich hoffe dich heute abend, auf dem Konzert, zu hören.«

»Wie formell er mich behandelt«, schmollte Léonie lächelnd, indem sie Janna herausfordernd anblickte. Aber Jannas Aufmerksamkeit war abgelenkt: sie sah Gurlitt nach, und ihre Augen glitten hinüber zu den drei Herren, die ihm gespannt entgegenblickten.

Eben wollte Gurlitt den Fuß auf die Gangway setzen, als die zwei auf ihn zutraten; Roberts blieb an die Reeling gelehnt stehen.

»Ihren Paß, bitte!«

Gurlitt zog das Büchelchen. Die beiden durchblätterten es aufmerksam.

»Dieser Paß lautet auf Sidney Spencer aus Manchester.«

»Ja.«

»Sie führen diesen Namen und diesen Paß zu Unrecht. Sie sind der Schriftsteller Kilian Gurlitt aus Berlin. Wollen Sie es bestreiten?«

Kilian warf einen Blick auf Roberts, der ihm unverwandt ins Gesicht sah; er drehte den Kopf; wenige Schritte von ihm stand Janna Lynd, schweigend, in ängstlicher Erwartung. Léonie war verschwunden.

»Ich bestreite es nicht«, sagte er ruhig. »Ich bin Kilian Gurlitt.«

»Warum führen Sie einen falschen Paß?« fragte der zweite Beamte.

Gurlitt zuckte die Achseln. »Ich möchte darüber nichts sagen.«

»Dann werde ich es Ihnen erklären: Sie reisen unter einem fremden Namen, weil Sie unter Mordverdacht stehen. Die deutsche Behörde sucht Sie.«

»Das ist nicht wahr. Die deutsche Behörde weiß gar nicht, daß ich in London bin.«

Der Detektiv zuckte die Achseln. »Es steht Ihnen frei, in Scotland Yard Protest einzulegen. Wir haben Auftrag, Sie festzunehmen. Ihre Auslieferung nach Deutschland ist beantragt.«

Janna trat näher. »Dieser Herr ist schuldlos. Ich bürge für ihn. Es ist wahr, er steht unter einem schweren Verdacht. Aber er ist eben im Begriff, alles aufzuklären. Durch seine Verhaftung zerstören Sie alles.«

»Es tut mir leid«, sagte der Beamte. »Wir müssen uns an unsere Instruktion halten.«

Die beiden gingen, Gurlitt in ihrer Mitte, zur Gangway. Plötzlich wandte Gurlitt sich um und ging auf Janna zu. Was alles gemeinsame Erleben nicht vermocht hatte – diese letzte unerbittliche Wendung des Schicksals gab den Dingen die letzte Klarheit: Kilian schloß, ungeachtet der beiden Männer, Janna in seine Arme; Janna zog seinen Kopf zu sich nieder und küßte ihn. »Mut!« sagte sie leise. »Ich rette dich.«

Einer der Beamten räusperte sich. Gurlitt nickte und wandte sich um, der Gangway zu.

Niemand von den Umstehenden begriff, was hier vor sich ging. Niemand außer Roberts.

Er stand, regungslos an die Reeling gelehnt. Janna ging langsam an ihm vorüber und maß ihn mit einem feindselig fragenden Blick. Er sah ihr unverwandt ins Gesicht; wie unter dem Zwange ihrer Augen griff er nach dem Hut; aber er ließ den Arm unentschlossen wieder sinken und zuckte hilflos, fast traurig, die Achseln.


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