Peter Rosegger
Die Sennerin und ihre Freunde
Peter Rosegger

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Beim Dotterhasch in der Stube schien's, als wäre etwas nicht ganz in Richtigkeit. Die Bäuerin hockte hinter dem großen Ehebette und flennte, der Bauer saß als ein vom Mittagessen Zurückgebliebener am Tische, nebelte ein ganzes Firmament Tabakrauch vor sich hin und stierte in dasselbe hinein.

Daneben auf der Wandbank, schlank hingestreckt, lag der älteste, einundzwanzigjährige Sohn.

Der Kerl konnte tot sein, so regungslos lag er da, er war aber nur faul. Er hielt Sonntagsruhe und tat die Augen zu. Es war ein Prachtbursche, wie er so dalag, und schöne Leute sind berückend, wenn sie schlafen. Was Wunder, daß die Mutter weinte! Denn wenn wieder Sonntag ist heute in acht Tagen, und wenn wieder abgegessen ist und die Leute ihre Rast halten, wird der Egyd nicht mehr daliegen.

»Der wird derschossen,« knurrte der Alte in sein Gewölke hinein, weil manche Leute Trost darin finden, ihr Mißgeschick und Unglück noch größer aufzubauschen, als es ist.

Nun war es eine Weile still, als wäre der Schuß schon gefallen und verhallt.

Daß ich's erzähle, es war nämlich an diesem Sonntag ein schlimmes Dekret ins Haus gekommen.

»Ich wollt' ihm gern die etlichen Tag', die wir ihn noch haben, gut geschehen lassen,« sagte der Alte halb vor sich hinaus und halb in sich hinein, »kunnt eins nur wissen, was er am liebsten möcht'.«

Jetzt räusperte sich der Egyd und bog ein Knie in die Höhe.

»Bist munter, Gidel?« fragte der Vater. »Muß ja hart liegen sein auf der Bank. Wollt mir's an deiner Stell' doch kamodt machen und mich ins Bett aufheben.«

Da sprang der Junge auf, daß die Bank erschrak; was sollt' er liegen!

»Daß ich dir sag', Gidel, die paar Tage hast Feiertag.«

»Früh gehst in die Mess',« schlug die Mutter vor.

»Ei freilich, als wenn ein' Leich' im Haus wär',« spottete der Bursche.

»Hergotts Schutz wirst wohl vonnöten haben, mein Kind,« so die Mutter und verdeckte ihr Gesicht mit der Schürze.

»Bleibst daheim, wenn du willst,« sagte der Vater, »tust, was dich gefreut, laßt dir kochen, was dir schmeckt, gehst auch ein wenig bei den Nachbarn um, unterhaltst dich mit deinen Brüdern, sind ohnehin hart verzagt, deinetwegen. Wird sie auch treffen, sag' ich, dauert nicht mehr lang. Brauchst Geld dieweilen?«

»Nichtstun steht mir nicht an,« sagte der Egyd und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Im Dorf umgehen und Mitleid betteln oder mich prahlen, daß ich Soldat bin und in den Krieg muß, das mag ich auch nicht. Ich geh' auf die Alm.«

»Was willst denn auf der Alm?« fragte der Vater.

»Hat nicht die Marthel herabsagen lassen, 's wär' die Hochwiesen schon zeitig? In drei Tagen werden wir passabel fertig mit dem Mähen, ich und die Marthel.«

»– Du und die Marthel,« sagte der Bauer nach mit etwas zweideutigem Tone. Und dann: »Hast recht, geh' hinauf.«

Die Mutter klagte, daß sie ihn nicht einmal diese letzten Tage mehr haben sollt'. Der alte Dotterhasch meinte, die Hochwiesen sei zeitig, da müsse die Mutter zurückstehen. Und schmunzelte bei sich. Der Junge soll auch seine Freud' haben auf der Welt. Wer weiß, was ihm ohnehin bevorsteht. Die Landstraße draußen soll Tag für Tag voll sein mit vorbeimarschierendem Fuß- und Reitervolk. Es soll kein Spaß sein, sagen die Leut', wir werden noch was hören.

»Morgen ist Montag, gehst hinauf. Am Mittwoch kannst fertig sein, am Pfingstag (Donnerstag), als am Jakobitag, bist wieder da und heißt's nachher fort – im Gottesnamen.«

's ist aber toll, daß ich ihm's erlaubt hab', denkt der Bauer noch bei sich. Wollt' man ihm nicht erlauben, dem Kaiserlichen, wär' auch toll.

Am Montag früh nahm der Egyd die Sense über die Achsel, den Wetzkumpf an die Lenden und stieg der Alm zu.

Wie er munter war! Nicht, als ob es ihm der Sommermorgen angetan hätte, der mit seiner frischen, leuchtenden und klingenden Herrlichkeit Berg und Tal umspielte. Junge Naturmenschen haben kein Auge für das Sonnengold auf den Felsen, und kein's für das Glitzern der Wasser im Wiesentale, noch viel weniger Gedanken über die Schönheit der Welt, sie sind zu tief eingesponnen in ihr eigenes Selbst.

Egyd dachte einstweilen an nichts, als wie er zu Berge käme. Das war bei seiner Kraft und Gelenkigkeit freilich ein Leichtes, solche Leute halten es mit den Hasen: aufwärts, lieber als abwärts. Das Soldatenleben war heute ein Stolz und Vorteil – nur die Hochwiese will der Egyd früher noch abgrasen daheim. Wer hätte es dem leblustigen Knaben ansehen mögen, daß er so für die Arbeit ist!

Nun ging's doch nicht so leicht. Das Tal mit seinen Büheln und Waldbergen hatte er wohl schon hinter sich geworfen. Jetzt reckte ihm über den grünen Hängen her schon der Mandelstein seine weißen Spitzen zu. Der junge Mähder ging am Karbach entlang, der in Kreuz und Krumm durch eine baumlose Steinmulde niederrasete. Zornig warf der Bach den weißen Gischt empor, wo ihn eine kahle Kieferwurzel neckte, ein grauer Felsblock hinderte. Da oben waren über dem klüftigen Bett drei glatte Waldbäume nebeneinandergelegen, die hatte er mit sich gerissen und zertrümmert und gespalten. So stand der junge Mann aus dem Dotterhaschhofe da und konnte nicht hinüber, wo er hinüber sollte. Die breiten Steine, auf denen der Steg gelegen, waren noch hüben und drüben zu sehen, als warteten sie auf einen Luftspringer, wie einer mit der hier nötigen Schwungkraft wohl kaum herbeikommen dürfte. So war dem Egyd der jenseitige Berg mit der Alm auf dem Rücken abgesperrt wie eine Festung. Wofür ist man aber Soldat? Er ging am Wasser entlang, wobei er mit seiner Sense freilich oft an dem dürren Gezirme hängen blieb, das sich lieber hätte mähen lassen, als hier in Sturm, Schnee und Sonnenglut zu verwittern. Nun endete plötzlich die Karschlucht, das Wasser stürzte in einem weißen Doppelbande hoch von einer senkrechten Felswand nieder. Sonst war dieses Wasser so klein und zahm, daß es an der braunen Wand in leichten Schleiern und Rieseln und Brunnen von Vorsprung zu Vorsprung plätschernd niederstieg. Jetzt aber wurde das Wildwasser oben aus steiler Rinne scharf hinausgeschleudert und schoß in einem kühnen Bogen krachend herab.

Selbst die Elemente werden überwindbar, sobald sie übers Ziel schießen. Egyd ging, am Felsen gedrückt, unter dem Wasserfalle durch. Da war's zwar arg wild über den schwarzen Tümpeln und im zischenden Donner, aber außer daß er höllisch naß wurde, geschah ihm nichts und er war drüben. Er schaute verwundert zurück. Das Ding war unheimlicher gewesen als er's vermeint. Nun, jetzt soll Wasser rinnen, so viel da will. Er sucht ein sonniges Angerlein und entkleidet sich, denn für eine Trockenstange ist er sich zu gut. Ein großer grauer Vogel, der in den Lüften schwimmt, läßt sein scharfes Auge mit Bewunderung haften an der Gestalt, die zwischen den Felsen wandelt. Wie der Mensch schön ist! Wie er schön ist, wenn er keine Schale und keine Waffe trägt!

Und der schalke Bursche dachte, die Ehre würde der Hochwiese auch noch niemals zuteil geworden sein, daß sich einer frisch badet und in der Sonne bräunt, ehe er ihr das Gras abschneidet.

Endlich zur späten Mittagszeit war er trocken – auch hinter den Ohren – und war oben auf der freien, weiten Alm. Der Mensch ist größer als er aussieht. Wieso fühlte er sich sonst im Tale beengt und frei auf den Höhen? Er dehnt sich aus, läßt sein Auge fliegen und seinen Juchschrei; je leichter die Luft ist, die er trägt, je leichter das Blut und die Sorge. Egyd kennt überhaupt keine Sorge als die, ob die Marthel wohl daheim sein wird in der Almhütte und ob sie allein sein wird? Der Hütten sind nicht viele in diesem Gebirge, um so gesuchter sind die wenigen. Die grünen Matten liegen hin über schwellenden Kuppen und über den Wiegen der Talungen. Dort und da wuchernder Bestand von Knieholz und Donnerrosensträuchern, dort und da ein weißes Felswändlein, dort und da eine Gruppe von schwerästigen Schirmbäumen und dort und da ein Schärchen rotbrauner Punkte, die sich sachte bewegten, wie nasse Käferlein auf grünem Buchenblatte. Das waren die auf den Almen weidenden Rinder.

In einer sanft gegen die Tiefe gleitenden Mulde – Egyd stand nun davor – lag die Hochwiese. Es war richtig, was die Marthel verlauten lassen, das Gras stand hoch zum Versinken. Es war aber ein reiner Blumengarten, weit hinleuchtend in eitel Weiß, Gelb und Blau. Da standen auf hohen Stämmlein die weißkronigen Schlüsselblumen mit ihren goldgelben Nestlein in der Mitte, da leuchteten die Strahlenrosen der Arnika, der vielzweigige Hahnenfuß mit seinen wachsig schimmernden Scheiblein, die hochwiegenden Glocken und Kelche der blauen Feldblume, die rötlichen, turmartig aufragenden Blütentrauben der Kuckucksblume, mit den schwarzgefleckten Blättern. Da waren die mattroten Blütenbüscheln des Klees, die Dotterblume, der Löwenzahn, da hob der langstengelige Kümmel seine weißen Schleierblüten empor, da wiegten die Rispengräser ihre grauen Ähren, an denen die kleinen Blütenflöcklein zitterten. Und hinter diesem luftigen Gewebe der saftiggrüne Grund mit dem Unendlicherlei von Halmen und Blättern. Ein weicher Dufthauch ging über die Wiese her, um arglos den Egyd mit der Sense zu grüßen.

Keine dieser Pflanzen wiegt eine reife Frucht, jede ist noch in ihrer schönen Jugend; aber im Blühen gemäht ist das Gras am besten, so weiß es der Dotterhasch und so meint es sein Sohn. In diesem sottnigen Blumengehäge flattern wie zuckende Flämmlein die hellfarbigen Schmetterlinge, säuseln die Waldhummeln und Bienen – auch solche suchen den Honig nicht in der Frucht, sondern in der Blüte.

Egyd geht mit seiner Sense der Wiese entlang und an ihr vorbei. Dort oben in der Falte des Berges, zwischen zwei breiten Kuppen hingeschmiegt, steht die Hütte mit ihrem weißen Schindeldache. Sie liegt so, daß man von ihr aus lange nicht mehr hinabsehen kann in die tiefe Gegend, wo der Dotterhaschhof steht, dem sie zugehört. Sie schaut hinaus ins ferne, luftblaue Gelände, wo die Welt und das Firmament zusammenfließen und wohin die Almerin gar nicht mehr denkt, weil es dort schon unergründlich ist und sie nichts mehr angeht. – Egyd schritt durch die hügelige, steinige Halde, wo über jungem Nachwuchs halbverdorrtes Rosen- und Knieholzgesträuche spießig stand, denn das war die Windrinne, durch die von den Scharten des Schneegebirges und den näheren Niederungen her die scharfen Stürme gesaust kamen. Heute strich über diese kleine Wildnis nur ein leises, frisches Lüftchen, daß sich kaum die Steinnelken regten. Und mitten im Gestein und dem dürren Zirmgerippe stand die Marthel.

Egyd erschrak – so schön – so schön war sie geworden.

Die Marthel war ein armes Kind, sagten die Leute, sie selber wußte nichts davon. Sie war ein Waisenkind bei Lebzeiten ihrer Eltern. Ihre Mutter ging jetzt in anderen Gegenden um, sammelte Ameiseneier und Beeren und Kräuter und heilsame Wurzeln, die sie draußen im Flecken verkaufte und nicht ungern eine lebendige Draufgabe machte. Sie genoß als schönes, zutunliches Weib einen Ruf. Aber ihr Kind suchte sie merkwürdigerweise in jener Reinheit zu bewahren, die sie selbst so früh verloren und nach der sie sich längst nicht mehr sehnt. Trotzdem hatte das Mädchen einen Abscheu vor dieser Mutter, es entfloh ihr und da fragte der Pfarrer in seiner Gemeinde herum, wer sich mit dem Dirndl einen Himmelslohn verdienen und es in Haus und Zucht nehmen wolle? Da war es nun der Dotterhasch gewesen, der, weil er die Arbeitsamkeit und den Fleiß des Mädchens schon loben gehört hatte, es zu seiner Herde auf die Alm nahm, die Meinung hegend, solch ein junges Blut könne bei dem lieben Vieh weniger Schaden nehmen als bei lieben Leuten.

Egyd hatte sie nur mit einem Blick gesehen, als sie im Frühjahre in den Hof gekommen war und, neben einem bekränzten Kälblein hergehend, mit dem sie im Gespräche begriffen, in Begleitung eines alten Knechtes die Herde bergwärts getrieben hatte. Als der alte Knecht von der Alm zurückgekehrt war, wußte er zu berichten:

Die Marthel sei ein großes Kind. Zum Vieh stellt sie sich zwar wie eine erfahrene Magd, wie sie es im Hofe, wo sie mit ihrer Mutter früher gewohnt, auch nicht anders gesehen habe; allein wenn sie ihren Feierabend habe, da spiele sie noch mit Puppen.

»Na ja, sie wird auch die Rechte, nur daß sie noch nicht zeitig ist,« war die Ansicht der Leute.

So paßt sie schon auf die Alm – mochte der Bauer denken – solche, an denen viel zu verderben, stellt man ohnehin nicht gerne hinauf. – Aber was ist's mit dem Himmelslohn, mein lieber Dotterhasch? – Na, den wird er sich gelegentlich schon holen.

Einstweilen schickt er seinen Sohn. Und der steht da vor dem Mägdl und erschrickt – so schön ist sie.

Was sie da mache im dürren Struppwerk?

Sie mache nichts, war die Antwort, sondern sie breche etwas. Und brach die fahlen Äste für sich zum Herdholz.

Wie sie dastand, sich neigte, sich streckte und dem Körper allerlei Wendungen gab im Zulangen, Brechen und Aufheben – da mußte sie es wahrlich selber nicht wissen, wie weit sie schon aus ihrem Gewandlein hinausgewachsen war. Für den ersten Blick ist die Marthel wie andere junge Mädchen: frisch, hübsch, schnippisch, hat Haare, Augen und Mund wie jede, die was Rechtes vorstellt; aber wer sie nur mit scharfem Auge anschaut, der schaut sich eine Schönheit und Süßigkeit aus ihr heraus, daß ihm die Sinne vergehen. So meint der Egyd.

»Sennerin,« sagte er munter, »jetzt bin ich da mit der Sense.«

»Das kann der Tod auch sagen,« war ihre lustige Antwort, dann hüpfte sie mit ihrer Armlast über die Steine hin und der Bursche mußte dazutun, daß er ihr folgen konnte bis zur Hütte.

So war das erste Begegnen. Dann bekam der junge Dotterhasch etwas zu essen, und dann beredeten sie ernsthafterweise, wie sie miteinander nun sollten die Hochwiese mähen. Unten ist die Mahdzeit schon vorbei, aber auf der Alm, da kommt alles später.

»Freilich, auf der Alm, da kommt es später,« gab sie bei.

»Schön Wetter wird auch bleiben zum Heuen.«

»Darfst gerad' einmal zum Fenster hinausschauen.«

Draußen fielen große Tropfen. Es stand eine braune Wolke gerade über der Alm, aber sehr hoch oben. Und jetzt war sie auch schon wieder vergangen und nur einige Fränslein davon schwebten noch im blauen Himmel. Als ob die Tropfen Balsam gewesen wären, so frisch und duftend war jetzt die Luft. Und die zwei Leute gingen mähen.

* * *

Ob er ihr die Sense wetzen solle?

Schönen Dank, er möge schauen, daß er selber bei der Schneid bleibe. Sie habe schon ihren eigenen Kumpf. Und hatte den hölzernen Wasserbehälter mit dem Wetzstein wirklich an einem Riemlein seitlings baumeln. Als nach einer Anzahl Hieben durchs Gras die Sense allemal wieder stumpf war, machte sie flink von dem Schärfzeug Gebrauch.

Schon nach den ersten Streichen stieg der süße Grasgeruch auf, und erst als sie nach stundenlangem Mähen eine Schichte zusammentrugen, um darauf zu rasten und das Pausenbrot zu genießen, war des Duftens kein Ende. Marthel gab dem Burschen in der Arbeit nichts nach, sie war ihm stets hart hinter der Ferse und einmal, als er vor ihr nicht weiter wollte, mähte sie um ihn herum und war voran. Er dachte: auch gut, so habe ich ein Vorbild – und bemerkte seine Schande nicht. Sie hatte alles Überflüssige längst von sich geworfen; die Niederschuhe hatten sich beim schleifenden Schritte des Mähens selber losgestreift, barfuß war's ihr auch bequemer. Als die Sonne mäßiger geworden war, warf sie auch ihren gelben Strohhut in die Luft, daß er tanzte und durch die Löcher der blaue Himmel blickte. Und wer wird ein Halstuch tragen, bei einer Arbeit, die so heiß macht!

Was sie am Nacken hinter der linken Schulter für ein Braunes hätte?

Er solle lieber aufs Grüne sehen, als aufs Braune, meinte sie, und es wäre jetzt Zeit zum Mähen.

Er sah aber doch aufs Braune, er lenkte sich ab, aber sein Auge ging immer wieder darauf zurück. Anfangs hatte er es für ein welkes Kleeblättchen gehalten, das da am Nacken klebte, aber es war kein Kleeblatt, es klebte auch nicht, es war ein Mal in der Haut, »womit sich der Teufel die schönsten Dirndl merkt,« wie der Volksmund sagt.

Wie sie jetzt wieder einmal zum Rande der Wiese gekommen waren und umkehrten, faßte er ihren sonnengebräunten Arm an; dagegen war nichts einzuwenden. Dann fragte er, ob sie glaube, daß er bloß gekommen sei, um das Gras zu mähen? Das könne ein anderer vollbringen so gut wie er, oder besser, denn zur knechtlichen Arbeit sei er – redlich gesagt – dieser Tage nicht aufgelegt. Es hätte ihm aber geträumt, die junge Sennerin auf der Alm sei so wunderschön geworden und da sei er heraufgekommen, um zu sehen, ob man den Träumen denn in gar keinem Punkte glauben dürfe. Aber richtig, die Träume, wenn man das letztemal in seinem Bett schlafe, die seien immer wahr.

»Ja, du wirst das letztemal in deinem Bette geschlafen haben!« warf sie zweifelnd ein.

»Wird schier so sein, Dirndl, die nächsten zwei Nächte schlafe ich bei dir auf der Alm, und am Jakobitag nimmt mein jung Bauernleben ein End'. Wirst es nicht wissen, daß ich schon seit vorigem Winter Soldat bin.«

Sie schwieg, denn sie wußte es recht gut. Hatte sie doch damals darüber mit ihrem Einseitigen gesprochen: wie es denn sein muß auf der Welt, daß just bei den schönsten Knaben der Kaiser die Vorhand hat! Worauf der Einseitige geantwortet: Die Knaben müßten exerzieren und fechten lernen, damit sie später im Ehekrieg ihren Mann stellen könnten.

»Und jetzt, Dirndl,« sagte der Bursche mit betrübter Gebärde, »jetzt muß ich fort, 's ist Kriegszeit, wie du schon gehört haben wirst. Aber du, Marthel, sollst meine weiße Brust noch sehen, ehe sie darauf schießen.«

Das Dirndl möchte ich kennen, das Abwehr hätte auf solche Red'. Um den Hals wollte sie ihm fallen und weinen, denn das war ihr jetzt klar: diesen Menschen hatte sie lieb über alle Maßen. Indes, sie rückt sich selber zurück, und foppen, denkt sie, foppen tu' ich dich doch.

Am selbigen Nachmittag war ein anderer über die Alm gegangen, ein alter, hagerer, schiefer Mann in halb priesterlicher, halb bettelhafter verschossener und verschlissener Gewandung; er trug auf und auf einen zusammengeknöpften Lodentalar von grünlicher Farbe mit großen Messingknöpfen und er ging barhaupt, so daß sein Haar von weitem zu sehen war, als habe er ein weißes Häublein auf, wie ein Herrschaftskoch. Sein Lebenstagwerk hielt er noch nicht für abgetan, er ging um und bettelte und sagte überall, wo er eintrat, er sei unseres Herrgotts Kammerdiener und komme Nachschau zu halten, ob die Leute barmherzig wären. Er wußte allerlei Sprüche und Fabeln herzusagen, und die ihn beschenkten, die konnten bei seinen Schwänken lachen, und die ihm nichts hatten, als ein vages »Helf' Gott«, denen begann er so trübselige Geschichten zu erzählen, daß, so unwillig sie ihm anfangs auch zuhören mochten, sie allmählich doch davon bestrickt wurden und schließlich ins Ärgern oder gar ins Weinen kamen. Besonders den Weibern tat er's an. Und als sie erst weinten, gaben sie ihm mehr als jene, die lachten. Hätte der Mann seine Phantasiereime aufschreiben können und wäre das Zeug in die Welt hinausgekommen, man würde weiß was Wesens daraus gemacht haben. Erlogen war alles, was er sagte, und wahr war auch alles, es kam nur darauf an, wie man's verstand. Solche Leute sind gerade recht zum Betteln. Weil er arg schief gewachsen war, teils schon von seiner Mutter her, teils von seiner Arbeit – die rechte Achsel stand um eine Faustesbreite höher als die linke, und der linke Fuß schien um so viel kürzer als der rechte – so hieß man ihn allerwärts, wo die zierliche Gestalt sich blicken ließ, den Einseitigen. Dieser Einseitige hatte sich von jeher aus der kleinen Marthel ein Recht gemacht. Als der Priester einst das Neugeborene gefragt hatte, wem es widersage und was es von der Kirche begehre, hatte der Einseitige, der es auf den Armen hielt, an dessen Statt geantwortet: dem Teufel! und das ewige Leben! So mußte er der Marthel nun dieses letztere Ding zu wahren streben. Er war's gewesen, der den Pfarrer um Vermittlung anging, daß dieses arme Kind doch einen Platz bekommen möchte, der weniger gefährlich sei als jener bei der eigenen Mutter, bei deren Wurzeln und Kräutern und Waldbeeren doch leichtlich auch einmal was Giftiges darunter sein konnte.

Ob die Alm des Dotterhasch ein solcher war? Ein solch passender Platz fürs Dirndl?

Heute, als der Einseitige über die Höhen aus- und einging, um »vor der Himmelstür Wache zu halten«, hörte er von der Hochwiese her das Schrillen, als ob man Sensen schärfe, dann wieder die weibliche und eine männliche Stimme und Gelächter. Und als er nun auf dem Grashaufen gar zwei Leutchen ziemlich nahe beisammen sitzen sah, dachte er an den Teufel und ans ewige Leben, kletterte über den Steinwall und schlüffelte durch das hohe Gras zu ihnen hin.

Die Marthel wand ihren Arm von der Hand des Burschen los, der Egyd aber bedeutete dem herannahenden Bettelmann mürrisch, es würde dahier nichts geschenkt!

»Wer sagt denn das?« fragte der Alte zwinkernd und preßte mit der Unterlippe die Oberlippe bis zur Nase hinauf, weil drinnen keine Zähne mehr vorhanden waren; »ich schenke überall, wo ich hinkomme, ich schenke auch euch was. Was wollt ihr denn haben?«

»Einen Hut voll Dukaten,« rief der Bursche.

»Mein junger Freund,« sagte der Einseitige und legte seine Hand dem Egyd auf die Achsel, »das Stoßseufzerlein magst tun, wenn dir der grüne Jäger was anbietet auf dem Kreuzweg in der Neujahrsnacht. Vor unsers Herrgotts Kammerdiener kannst dich schon höher versteigen.«

Sie redeten noch hin und her, halb im Spaß und halb im Ernst.

Man mußte fast ein wenig Zutrauen gewinnen zum Alten, er war gar so absonderlich treuherzig in seinem Gehaben und Reden. Endlich gestand die Marthel, sie wüßte schon, was sie wolle, wenn sie wünschen dürfe . . .

»Weißt du was, Dirn,« sagte er, »jetzt rucket an und tut noch eine Stunde Gras mähen. Macht die Sonn' ihre Augen zu, nachher reden wir weiter.«

Sie faßten die Sensen. Der Einseitige blieb da und streute mit seinem langen Stabe die Futterwellen auseinander, daß das Gras trocknen und dörren konnte. Dabei flog seine Kutte hin und her, daß es possierlich war.

* * *

Es hat sich an jenem Nachmittage weiter nichts ereignet, und so können wir erst dort wieder anknüpfen, wo die Marthel auf dem Einfuß unter der Kuh saß und die Milch aus dem Euter zog. Im Stalle war's dunkel, die Sonne hatte schon die Augen zugemacht.

Dem Egyd war es nicht gelungen, den lästigen Alten zu entfernen. Das äußerste, ihm zu sagen: Dies Dach ist mein Dach, fahr' hin! wollte er doch nicht, und so hieb er jetzt, da er auf dem Dengelstock saß, um mit dem Hammer die Schneide der Sense zu glätten, schärfer auf den zarten Stahl ein, als es gut gewesen.

Der Einseitige saß im Stall und redete leise mit der Melkerin. Sie habe einen besonderen Wunsch, das sei recht, er brauche es auch nicht zu wissen, was für einen, sie möge ihn nur bei sich behalten. Er rate ihr was Gutes, und wenn sie klug sei und Mut habe, so werde ihr Wunsch erfüllt werden. – Er weiß gar nicht, was sie will, und verspricht die Erfüllung! »Du kannst alsdann mehr als Birnen sieden!« sagte sie.

»Freilich, ich kann sie auch essen,« sagte der Alte und wackelte auf seinem Zuber, auf dem er saß, sachte hin und her. Sie lachte.

»Aber lach' nicht, Dirndl. Die Geschichte ist ernsthaft, wie das Jüngste Gericht. Mut mußt haben, und den hast, sonst bliebest nicht mutterseelenallein auf dieser Alm heroben.«

»Was kann mir denn geschehen?« fragte sie und gestand leise, während das Brünnlein unter der Kuh aufhörte zu rauschen: »Ich trag' ja einen Tobiassegen in die Pfaid eingenäht am Leib!«

»Ei, nachher freilich kann dir nichts geschehen,« rief der Alte überlaut. Dann redete er ein wenig noch so herum und rückte endlich mit seinem Geheimnis vor.

»Den Mandelstein wirst wohl kennen, der da oben hinter der Alm steht und die zwei Hörner hat wie eine Bischofsmütze, und wo in den Nächten, wenn der Mond scheint, immer ein schwarzes Mandel (Männlein) hin und her hupft von einer Felsspitze auf die andere.«

»Sei still, es ist ein Grausen,« wehrte das Mädchen ab, indem es wieder molk. »Den Schatz brauch' ich nicht, der in der dortigen Höhle vergraben liegen soll. Wirst es wohl wissen, daß vor etlich' Jahren ein Hirtenknab' in die Höhlen gestiegen ist, um den Schatz zu heben, und nicht mehr zum Vorschein gekommen.«

»Freilich weiß ich's,« sagte der Einseitige, »und ich weiß auch, daß von heut' in zwei Tagen die junge Marthel-Dirn in die Höhlen hinabsteigen wird zum verwunschenen Geist, der's machen kann, daß ihr Wunsch in Erfüllung geht.«

»Weil ich den Tobiassegen bei mir hab', meinst?«

»Der Tobiassegen, mein Kind, der wird dir in der Höhlen am Mandelstein nicht viel nutzen. Da gehört was anderes dazu. Laß ihn dengeln, den da draußen vor der Hütten, und hör' mir zu, ich will dir's gut.«

Das weiße Brünnlein war endlich versiegt, die Kuh stampfte mit dem Hinterfuß und fächelte mit dem Schweif gegen die Marthel hin: Was hilft das Anziehen, wenn nichts mehr drinnen ist! – Jetzt sollte die nächste drankommen, aber das Mädchen vergaß es und hörte dem Alten zu. Der wußte eine verwunderliche Mähr'.

»Tief drinnen in der Höhlen am Mandelstein, wo der versteinerte Wasserfall ist und ein hoher Saal, steht eine Bank aus Marmelstein. Und da geht alle Jahr in der heiligen Jakobinacht eine arme Seele mit einer brennenden Ampel über den Erdboden in die Höhlen und setzt sich auf den Marmelstein und tut rasten. Und wenn die Nacht aus ist, wischt sie sich den kalten Schweiß vom Angesicht, macht einen traurigen Seufzer und muß wieder in das Fegefeuer zurück, wo sie verlassen und vergessen ist. Wenn aber einmal in der Jakobinacht eine Jungfrau in die Höhlen tät hinabsteigen und zu der armen rastenden Seele sagen: Gott grüß' dich, arme Seel'! so wäre sie erlöst. Aus Freud' und Dank wollt' sie der Jungfrau eine weiße Rosenknospe in die Hand geben. Und im Morgenlicht, wenn sie aus der Höhle tritt, blüht die Knospe auf, und der allergrößte Wunsch, den die Jungfrau auf dem Herzen hat, geht zur selben Stund in Erfüllung durch die Fürbitte der armen Seel' beim himmlichen Vater.«

»Du machst einen auch hell zum Narren mit deiner Fabelei,« sagte das Mädchen, »ich soll ja meine Kühe melken.«

»Deine Kühe wirst melken, aber was ich da rede, ist keine Fabelei, 's ist schon probiert worden, mein Kind, aber 's ist schlecht ausgefallen. Nicht jeder, die am Fronleichnamstage einen grünen Kranz auf dem Kopfe trägt, möchte ich's raten. So ist vor zehn Jahren ein altes Weibl, das keinen Mann gekannt und ihre Jungfrauschaft dem Gottheiland aufgeopfert hat, in die Höhlen getreten und nicht mehr gesehen worden. Von ihrem roten Gewand ein paar halbverbrannte Fetzen sind gefunden worden auf den Wänden des Mandelstein. Danach kannst dir denken, was geschehen ist. Viel länger ist's her, hat's ein fünfzehnjähriges Dirndl versucht, 's hat's einer zur Höhlen begleitet und dort warten wollen; wenn sie zurückkommt mit dem Gold und Silber, das sie gewünscht, will er sie in seine Arme nehmen und einen Tanz mit ihr machen auf grünem Rasen. Gut. Sie kommt nach einer Stunde zurück, aber anstatt der Rosenknospe hat sie einen dürren Zirmast in der Hand, wie sie auch da draußen wachsen, und sie selber ist nicht mehr zu erkennen vor lauter Runzeln im gelben Gesicht, schier kein Haar mehr auf dem Kopfe und keinen Zahn im Maul. Eine alte Vettel, vor welcher der Knab' davongelaufen ist, weil sie ihm noch schreckbarer vorgekommen, als das schwarze Mandel, das beim Mondschein oben auf den Felsspitzen hin- und herspringt. Ja, Marthel, das sind Sachen!«

Die Marthel hatte es gehört und schwieg. So viel sah sie beim Abendstrahl, der durch ein Fenster fiel, es schwamm in der Milch ein Halm um. Und während sie diesen Halm herausfischte, sagte sie leise: »Wenn's drauf ankäm', ich wollt's probieren.«

»Was wolltest du probieren?« fragte der Einseitige, und wie er im Dunkel den alten Kopf so vorneigte, schien er noch viel einseitiger als sonst. Der Höcker an der rechten Achsel war nachgerade höher als der weißhaarige Kopf. Aber der Kopf war gescheiter.

»Wenn du meinst, daß ich keine Kurasch' hätt'? Probieren will ich's!« sagte das Mädchen und setzte den Milchzuber entschlossen auf den Streuboden, »ich geh' die Seel' erlösen.«

»Es sind wohl allerlei Schrecken in der Höhlen,« sagte der Alte. »Ich verschweig' dir's nicht, es gibt Würmer, auf die du treten wirst, und Drachen, die dich anschnauben werden, und Getier, das in den finsteren Lüften umflattert. Vorzeit ist in der Höhlen ein großer Wasserfall gewesen, der ist versteinert worden wegen solcher Schrecken. Dir wird nichts geschehen, wenn du's bist! Ich kann dir's heilig versprechen.«

Der andere draußen hatte aufgehört zu dengeln, so mußte leiser gesprochen werden.

»In der Jakobinacht muß es sein?« wollte sie sich vergewissern.

»Haargenau in derselbigen. Oder es mag auch die Nacht von einem anderen Aposteltag sein. Solcher gibt's zwölf im Jahr.«

»Nein, nein, ich bleib' schon beim Jakobus.«

»Ist auch der beste,« gab der Alte bei. »Wenn im Niedergang vom Tag der letzte Streifen vergangen und auf dem Mandelstein kein Glühen mehr ist, dann gehst du hin. Eine Laterne nimmst mit und einen guten Vorsatz. Auch beten kannst was, wenn dir zum Beten ums Herz ist.«

Es ist förmlich verabredet worden, die Marthel wird von nun in zwei Tagen in der Jakobinacht die arme Seele erlösen, auf daß der Wunsch, der ihr so heiß anliegt, wahr werde.

»Bereuen wirst es nicht, liebe Dirn'!« sagte noch der Alte, dann fand er nichts mehr zu schaffen in diesen Wänden, aß mit Mühe einen Schnitten Brot und aufgestrichenen Topfen (Käsestoff), mit dem sie ihn bewirtete. »Vergelt 's Gott,« sagte er hernach, »ich kann's nicht,« und er ging in der Nacht davon, ging hinaus zu seinem Hause, um »vor den himmlischen Türen« zu schlafen.

Für das Nachtmahl ließ die Almerin dem Gaste die Wahl; der Egyd entschied sich für einen großen Eierkuchen, bei dem ihm die Marthel Gesellschaft leisten mußte. »Unser drei sind wir zu Tisch gegangen und unser zwei stehen wir auf,« diesen Bauernspaß brachte der Bursche vor, als der Kuchen verzehrt war.

Sie hielt es nicht für nötig, daß die Unterhaltung fortgeführt werde, sondern wies dem Egyd draußen über dem Kuhstall ein Lager an, versorgte rasch noch das Kleinvieh und verschloß sich in die Hütte. Sie schlief nicht so bald ein, sondern reckte das Köpfl durch das Fenster hinaus in die stille, laue Nacht und schaute den Sternen zu, wovon einer und der andere laufend wurde und über den Himmel purzelte. Es war, als hörte sie vom Kar herauf das Brausen des Wasserfalls. Was das für grauenhafte Schrecken sein müssen, daß so ein Wasserfall davon versteinert werden kann! Was doch eine reine Jungfrau sein muß, daß sie stärker ist als der Wasserfall.

An der Türe klopfte es jetzt, erst leise, dann heftiger.

Wer es wäre?

Auf dem Heu sei kein Schlafen. Das Dach sei schadhaft, es falle der Tau herein.

»Wenn das ist, Egyd, so schläfst in der Hütten.«

Sie öffnete die Tür, und als er hereinging, ging sie hinaus, schloß hinter sich zu, und er, der voreh hinausgesperrt gewesen, war jetzt hineingesperrt. Sie schlief auf dem Heu, und der Tau, der dort fiel, kam aus ihren Augen, denn sie sah den lieben Knaben auf weitem Felde hingestreckt, das Blei in der blutenden Brust. – Das Gernhaben, daß es so weh tut! . . .

* * *

Am anderen Morgen waren sie wieder auf der Wiese. Während der Arbeit ließ sich nicht viel sprechen, aber wenn sie hin- und hergingen und rasteten oder während sie schärften, wußten sie allerlei miteinander zu bereden, Lustiges und Ernsthaftes, und hatten keinen Hinterhalt, als wären sie schon jahrelang miteinander gut bekannt.

»Wir verstehen uns halt, Dirndl,« sagte da der Egyd einmal.

»Das wird auch just kein Wunder sein, wenn zwei deutsche Leut' zusammenkommen.« So drauf sie.

Das gestern gefallene Gras war heute schon Heu, es knisterte, wenn der Egyd aus Übermut zu allerlängs hineinfiel, und die kleinen Heuschrecken hüpften über seine Beine her.

Das Mädchen mahnte zur Arbeit, es würde das Wetter nicht anhalten, täte schon »wasserziehen«. Es standen allerlei Wolken am Himmel, solche mit weißen scharfgeschnittenen Rändern, und solche, die eine harte, bläuliche Farbe hatten, so daß man sie schier für blaues Firmament halten konnte, wenn sie nicht teils die Sonne verdeckt und gelbliche Ränder gehabt hätten. Dieses Gewölke hatte Lücken und aus diesen Lücken gingen hier und da, breiter und schmäler, schimmernde Bänder der Sonnenstrahlen herab, mehr schleierartig verhüllend, als beleuchtend. Das sah die Marthel und meinte, es täte wasserziehen. Die Sonne zieht's hinauf, der Regen regnet's herab. »Desweg', Bübel, flink wieder dran!«

»Angeschmiert ist er nicht, wer dich zur Hauswirtin nimmt,« sagte hierauf der Egyd und richtete sich etwas faul mit Hilfe des Rechenstabes auf, »fleißig bist. Wenn du nur auch gutherzig wolltest sein.«

Sie wußte darauf nichts zu sagen, sondern schob emsig das Heu zusammen in Haufen. Sie wird immer dummer, denkt sie bei sich selber; sonst hat sie die Burschen keck abgetrumpft, wenn sie was dergleichen gesagt haben, jetzt verschlägt's ihr die Red'. Was das noch für ein End' nehmen wird!

Als sie mit dem Rechen das Gras aus einem Sträuchlein kraute, welches um einen modernden Baumstock hervorwuchs, flatterte plötzlich etwas vor ihr auf, daß sie einen Schrei tat.

Ein Hähernest, auf dem ein buntgefleckter, struppiger Vogel saß und mit seinen Flügeln so heftig schwirrte, daß man nicht sehen konnte, ob er unter sich nur das Ei hatte, oder schon ein Junges.

Der Egyd wollte mit einem Halm das ängstige Tier noch necken, da tat selbes seinen plumpen Schnabel auf und krächzte.

»Wie es zeert (schreit), das Vieh!« sagte der Bursche.

»Ich denk',« verwies ihm das Mädchen, »du möchtest schon auch zeeren, wenn sie dir dein –« Sie hielt inne. Es kommt doch schon gar alles ungereimt heraus, was sie heute sagt. Das Nest ließen sie in Ruh', aber ein gesprenkeltes Federchen, das dem Vogel davongeflogen, steckte der Knab' auf sein braunes Hütl.

Als der Egyd im Grünen ein Kleestämmchen fand, das vier Blätter hatte, nahm er Anlaß, zu sagen, er werde heute noch ein großes Glück haben.

Was er sich für ein Glück wünsche? wollte sie wissen.

»Das will ich dir gerne sagen,« sprach er, und stellte sich ganz demütig und ernsthaft vor sie hin: »Meine liebe Marthel, hör' mir zu: Meinen Durst, den kann kein Wasser löschen. Ich will meinen Mund fest an deinen Zwacken drücken, wo du das Braune hast.«

Es war, als ob's sein müßte, daß jetzt über den Mandelstein ein dumpfer Donnerschlag erscholl.

»So!« sprach das Mädchen, »das laßt dir der himmlische Vater sagen für dein tollwitzig Reden.«

Nun, wenn der himmlische Vater spricht, da muß der Dotterhasch-Sohn freilich still sein, so viel er zu sagen hätte. Und er war still und blieb still den ganzen übrigen Tag. Das drohende Gewitter murrte noch eine Weile; es ging weiter drinnen in den Alpen nieder und es ging draußen auf dem Lande nieder, über unsere Gegend kam kein Tropfen Regen. Endlich heiterte es sich wieder auf und die Pflanzen bogen sich welker als früher dem Boden zu. Der Abend war so warm, daß sich die Marthel mehrmals mit der Schürze die Tropfen vom Gesicht wischen mußte. Sie fürchtete die Nacht. Es war auch zu schwül, und bei sich flehte sie, wenn nur die Hundstage vorbei wären! Es war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht so drückend und ängstlich gewesen . . .

Nachdem am Abende die Kühe gemolken und die Hühner versorgt waren, die Sensen gedengelt, das Nachtmahl gegessen, und als die Marthel den Stab des Butterkübels auf- und niederstieß und im ganzen alles wieder zu werden schien, wie in der vorhergehenden Nacht, da machte der Egyd einen Vorschlag, der dem Dirndl sehr gefiel. Wenn die Tage so heiß sind, sollte man eigentlich in der kühlen Nacht nicht schlafen. Gescheite Leute mähen mit der Sichel – mit der Mondsichel, die dazu leuchten soll. Mähen wir den Rest der Hochwiese bei der Nacht wieder!

Da hörte sich in derselbigen Nacht mit dem Zirpen der Grillen das Rauschen der durchs Gras fahrenden Sensen; es hörte sich das Schrillen, wenn sie den Wetzstein handhabten und man sah das Glitzern der Sensen im niedergehenden Monde. Die Mähder kamen in die Niederung, wo das Futter üppig stand und hoch, daß es den beiden bis an die Brust ging. Die großen Blätter des Huflattich und der Germen, die wuchtigen Fächer der Farnkräuter umwogten sie wie ein Meer, und tief am Boden rieselte ein Wässerlein. Einmal, als sie ganz nahe beisammenstanden und der Egyd die Hand an ihren Leib legte, weil ihm sein Wetzstein zu Boden gefallen war und er nun den ihren entlehnen wollte, da schwankte der Boden. Er wankte und schwankte unter ihren Füßen, daß sie erschrocken auseinanderfuhren.

»Wenn uns der Erdboden verschlingt!«

Sie waren auf ein Zittermoor geraten, das bei den Tritten der Mähder nachgab, um sich gleich daneben aufzubauchen, als wäre unter der zähen Rasenhaut ein hohler Raum mit Luft angeblasen.

Und kurze Zeit hernach schien es wirklich, als sei das eine in den Grund gesunken. Die Marthel war plötzlich nicht mehr zu sehen. Der war das nächtliche Mähen auf einmal so unheimlich vorgekommen, daß sie in ihre Hütte floh. Allein war's kein Spaß, so nahm der Bursche die beiden Sensen über die Achsel und suchte den Heuboden auf.

Am nächsten Morgen – es war der letzte Tag auf der Alm, ja der letzte in der Heimat – faßte der Egyd einen festen Vorsatz. Aber jetzt war es ihm gar nicht mehr und in keinem Sinne um die Hochwiese zu tun. Es hatte ihn tiefer gepackt und es kam ihm schier unmöglich vor, von der Marthel fortzugehen. Es hatte ihm ein Leichtes geschienen, ins lustige Soldatenleben hineinzuspringen, den Kummer der Eltern hatte er gar nicht begriffen. Jetzt hatte er den seinen.

Das Futter mag gemäht sein, gedörrt, aber es ist nicht eingeführt. Da wird ein anderer heraufkommen und mit ihr an den Ziehkarren gespannt das Heu in den Stadl bringen. Sie werden es unter Dach tun und ihr Wesen treiben dabei. 's ist doch sauer, das Soldatsein, das Fortmüssen. Oder sollte er dableiben? Das Dirndl haben und ins Schneegebirge flüchten, wenn sie ihn suchen?

Was half das Sinnen! Es konnte doch nicht sein. Aber was sein kann, das soll geschehen, bevor er Abschied nimmt.

Heute fiel das letzte Flecklein Gras auf der Hochwiese. Und als es um war und die Marthel ihren Rückenkorb füllte, wie sie ja niemals leer zur Hütte zurückging, da hatte sie vom feuchten Grase so schwer ausgelastet, daß sie mit der Last nicht auf die Beine konnte. Nun kauerte sie auf dem Rasen, um die Achseln die Tragbänder geschlungen, das Haupt weit vorgebeugt, mit Fuß und Hand sich anstemmend. So sah es der Egyd. Er eilte flink herbei, aber anstatt ihr aufzuhelfen, beugte er mit seiner Hand ihr Haupt noch weiter nach vorwärts und preßte einen schreckbar heftigen Kuß auf das braune Mal des Zackens.

»Aus ist's!« schrie sie auf und war im Augenblick aus den Bändern. Sie stand aufrecht, als wäre sie nie gesessen, zuckte, als ob sie sich auf ihn stürzen wollte, tat es aber nicht, sondern ging langsam beiseite und weinte.

Der hochgeschichtete Korb war umgekippt und der Egyd stand ratlos daneben. Der Korb war leicht wieder aufgerichtet, aber wie das Mädchen beschwichtigen? Willst Soldat sein und kannst kein Weib flennen sehen! Ja, das ist auch ein Unterschied, der bis an die Zähne bewaffnete Feind und ein hilfloses Weib.

Zagend schlich der Egyd zum schluchzenden Mädchen und bat treuherzig, sie solle wieder gut sein, es wäre nicht schlecht gemeint gewesen.

Sie sagte eine Weile nichts, weinte so heftig, daß ihre leichten Busenwellen wie in einem Orkane wogten, und daß der Bursche glaubte, es könne ihr das Herz zerspringen. Er wußte es nicht, daß der Kuß wohl der leichteste und der geringste Anlaß gewesen war zu ihrem Weinen. Ihr Glück, daß er sie lieb hatte, ihre Freude, daß er da war, ihr Schmerz, daß er fort mußte, ihre Erwartung, daß ihr das Vorhaben im Mandelstein gelingen werde, ihre Angst, daß der Liebste ihrer vergessen könne und wohl auch der wonnige Schreck, wie er sie plötzlich so mächtig überfallen und geküßt hatte: das alles tobte jetzt im Weinen aus. Selbstverständlich ließ sie ihn glauben, es sei alles nur, weil er sie beleidigt habe und ihr Weinen gewann für sie gerade dadurch eine unendliche Süßigkeit, daß sie wußte, ihm sei ihretwegen wehe.

Er bat noch einmal: »Sei gut, ich habe dich nicht kränken wollen!« und legte seine Hand ganz leicht auf ihre Achsel. Sie ließ sie darauf liegen und sagte endlich mit stockender. Stimme: »Du weißt halt nicht, was du hättest anstellen können, und daß es uns allzweien zum Unglück sein kann!«

Er konnte es freilich nicht verstehen, er hörte nur das süße »uns allzweien«.

So hat er sich am selben Nachmittage, als die Arbeit geschlichtet war, aufgemacht. Den Kumpf an der Seite, die blinkende Sense über der Achsel, so stand er vor ihr, gab ihr ruhig die Hand und sagte: »Also, Marthel, wenn ich nicht mehr heimkomme, so denk': Er soll im Frieden schlafen, wo er schläft, 's ist kein schlechter Bursch' gewesen.«

Jetzt sprang sie ihm an die Brust, preßte ihre Arme fest um seinen Nacken und rief: »Ja, du kommst wieder heim! Du kommst gesund wieder heim! Wirst es schon sehen, du lieber Bub! Du herzlieber Bub! Und jetzt geh', geh' eilends fort!« Sie stieß ihn von sich, daß die Sense in der Luft zuckte und einen Blitz warf auf die schattige Hüttenwand.

Sie floh über die Matte hin, wo die Herde graste. Er schaute ihr gar verwundert nach, und dann stieg er zu Tale.

* * *

Während Egyd betrübt und glückselig zugleich hinabging, um unten wenigstens die letzten Stunden seines Daheimseins noch einigermaßen angenehm zu verbringen, hatte die arme Marthel in ihrer Hütte unbeschreibliche Qualen zu erdulden. Sie hockte im Winkel hinter dem Herde; ihre Hände hätten von einem halbeingedorrten Laibe sollen Brot in die Abendsuppe schneiden, aber sie vergaßen immer drauf, ruhten im Schoß. Endlich schob das Dirndl den Topf gar von sich: Sie ißt heute lieber gar nichts, sie hat keinen Hunger.

Wie das Wetter draußen ist? Es ist schon dunkel geworden, es tut »nachtlitzen« (wetterleuchten). Sie soll heute noch zum Mandelstein hinaufgehen. Wenn nur das nicht wäre gewest, daß er seinen Bart so gottlos an ihrem Nacken hätt' gerieben! Es kann ja nichts Schlechtes sein, aber ihr ist die Sach' durch den ganzen Leib gegangen, daß es ihr den Atem verschlagen, als ob ihr einer hätt' glutheiße Funke ins Herz geworfen, gerade so ist's gewesen. Sie weiß nichts Lustigeres mehr auf der Welt, aber wenn's etliche Augenblicke länger gedauert, so hätte sie sterben müssen. Ob sie's nun aber wohl wagen darf, mit der Höhlen im Mandelstein?

Sie fährt sich mit beiden Händen rasch über das Gesicht und springt auf. Sie wird's wagen. Fahren lassen kann sie ihn nicht mehr, diesen Buben. Und weil gar kein anderes Mittel sein kann, daß sie zusammenkommen, als der einzige Rat vom Göden (Paten), so setzt sie darauf all ihr Vertrauen. Lügen tut er nicht, und daß im Mandelstein ein Schatz ist, und daß man dort eine Seele erlösen kann, und daß man darauf einen Wunsch frei hat, das hat sie schon oft gehört.

Sie steht vor der Almhütte und schaut hinaus ins weite Land, wo es immer so blau ist, und gar nicht zu denken, wie weit. Und jetzt soll sie doch dorthin denken und ihren Sinn hinausschicken, daß er ins Blaue versinkt. Sie weiß nur das: es ist die Gegend, nach welcher die Soldaten marschieren.

Sie hält noch Umschau im Stall, ob beim Vieh alles in Richtigkeit ist, sie schiebt mit dem Eisenschlüssel, der statt des Bartes eine lange bewegliche Zunge hat, den Holzriegel innen vor die Hüttentür und denkt dabei: Wie wird's sein, wenn ich den Riegel zurückschieb'? Wie wird's sein?

Und dann geht sie eilig über die mäßig ansteigenden Matten empor. Durch die Scharte, zwischen den scharfen Zacken des Hochstoll und den fast senkrechten Abfällen der Fensterhalde, schimmert noch der letzte Streifen des Abendrotes. Auf dem Federgrase geht sich's so weich und still wie auf unredlichen Wegen.

Dort und da hockt ein schwarzer Körper; sie weiß, daß es die Schöpfe des Zirmstrauches sind. Dort sieht sie etwas, als ob eine Gestalt, so lang wie ein liegend ausgestreckter Mensch, mit einem weißen Tuche zugedeckt wäre; sie weiß, es ist einer der weißen Steine, die auf dieser Hochmatte herumliegen. Nein, vor diesen Erscheinungen bangt ihr nicht; dafür hat sie für alle Fälle in ihrer Pfaid den Tobiassegen. Wenn sie den verschachert hätte! Einen halben Winter lang ist sie in die Schule gegangen, da hat ihn ihr der Lehrer abschwatzen wollen. Damals hat sie ihn nur nicht gegeben, weil er ein Angedenken von der Großahne war; heute, da das geweihte Blatt auf der Alm sie beschützen muß vor Unholden, weiß sie besser, was es wert ist.

Hoch vor ihr steht eine schwarze gewaltige Masse, die ihre zwei Spitzen, eine scharfe und eine stumpfe, fast bis zum Halbmond aufreckt, der still am blassen Himmel ruht. Das ist der Mandelstein. Sie schaut genau, ob sie dort oben keinen hin und wieder hüpfen sieht. Das nicht. Hinten jedoch bleckt manchmal ein roter Schein hervor, aber auch nicht das leiseste Murren ist hörbar. Es ist alles in Ruh' und denkt die Marthel daran, es würden sie auf diesem ihrem Wege gewiß ganze Rotten armer Seelen verfolgen. Jede drängt sich vor die andere, jede streckt flehend ihre Hände aus: Mich erlöse! Mich erlöse! Es sind von ihren Bekannten und Blutsfreunden auch schon etliche gestorben, es kommen ihr alle vor, die sie auf der Bank liegen gesehen, kalt und eingefallen in den Gesichtern, die wachsfarbigen Hände über der Brust. Wenn sie alle erlösen könnt', die im Leide sind, wie gern, wie gern! Daß sie einen irdischen Wunsch daran knüpft, das kommt ihr jetzt auf einmal sündhaft vor. Aber Gott weiß es, auch auf Erden gibt es Seelen, die erlöst sein wollen. Und wenn sich's heute um ihre eigene handelt, die sie ausspielt, die heilige Jungfrau im Himmel möge ihr Schutz und Schirm sein!

Nach länger als einer Stunde Wanderns, da ihr Haupt schon naß geworden vor Aufregung und ihre Füße von dem Tau des Grases, stand sie endlich in einer der Falten des Mandelsteines. Rechts und links hatte sie Felsen, auf deren höchsten Tafeln und Zinnen der blasse Mondschein lag. Vor ihr, aus hohen Spalten und Schründen, ging eine breite Schuttriese nieder; in derselben, über das lose Gerölle, das bei jedem Schritte rieselnd nachgab, mußte sie hinauf. Sie konnte sich aber mit ihrem Bergstocke gut helfen, und so war sie bald hinter dem scharfen Steinvorsprung, von dem sie wußte, daß er das Wahrzeichen zum Eingang in die Höhle war. Sie sah vor sich unter überhängenden Wänden die schwarze Scheibe der Höhlung. Hier zündete sie das Licht in der mitgebrachten Laterne an, schaute noch einmal hinaus zu den blaß überschienenen Almen, die wie ein weites Tal unter ihr lagen. Dann hob sie ihren Gedanken zum allmächtigen Gott und betrat die Höhle.

Unter ihren Füßen hatte sie den fast glatten Boden des Felsens, an beiden Seiten starrten die rauhen Wände, an denen schwarze Wasserstreifen niedergingen. Eine kalte Luft strömte ihr entgegen, wie aus der Klostergruft zu Niedersing, in die sie mit anderen bei einer Wallfahrt einmal hinabgeschaut hatte. Was nur jenen widerfahren sein mochte, die einst in diese Höhle hineingegangen und nicht mehr zurückgekehrt sind? Für reine Jungfrauen hätte es keine Gefahr, sagt der Einseitige. Aber ein andermal hatte derselbe gesagt: Die Reinen liegen alle noch in den Windeln. Es mag schon etwas Wahres daran sein, denkt sich die Marthel, und weil ihr doch wieder in den Sinn kam, mit Willen und Absicht sei sie bis zur Stunde nichts anderes, denn als was sie Gott erschaffen, so bewahrte sie ihren Mut und schritt vorwärts. Ihre Tritte widerhallten so laut, daß es zu hören war, als gingen neben und hinter und vor ihr im selben Schritte allerlei nächtliche Wanderer. Sachte abwärts höhlte es sich und die Wände rückten enger zusammen, und hie und da standen oder hingen Gebilde, so weiß und glatt wie Marmelstein.

Das Licht zuckte und zitterte und wies mit seiner Lanze immer nach rückwärts, als meine es, umkehren wäre hier das beste. Ein kleines Untier kam plötzlich durch die dumpfe Luft geflattert, prallte an die Laterne, schwirbelte an der Gestalt des Mädchens zu Boden und huschte wieder davon. Die Marthel blieb standhaft und erwartete nun im Namen Gottes das Gewürme, auf das sie treten sollte, und die Drachen, die sie anschnauben würden. Aber es kam nichts, als losgebrochenes Gestein, auf das sie steigen, und nasse Klammen, durch die sie sich zwängen mußte. Ihr Gewand war schon feucht von den niederfallenden Tropfen, und manchmal ging ein Schauern durch ihr Wesen. Sie dachte nichts mehr anderes, als: jetzt bist so weit, jetzt vorwärts, und geht's aus wie's will. Schlechtes hast nichts angestellt.

Da war's, als wüchse mit einenmal ihr Fuß fest an den Boden. Der unterirdische Gang hatte eine Biegung und auf der Wand lag ein roter Schein, der nicht von der Laterne kam. Da sah sie auch schon das Ämplein und die glühenden Formen der Gegenstände, die es zunächst beschien. Ein Teil dieser Formen wurde lebendig, es war eine Hand, ein Arm, ein Mantel, ein tiefgeneigtes Menschenhaupt. Die Gestalt war nur in diesen ihren oberen Teilen sichtbar und wie aus der Finsternis des Bodens hervorgewachsen.

Das Mädel beherzte sich, tat noch einige Schritte gegen die Erscheinung, dann blieb es stehen und rief laut, daß es selbst vor seiner Stimme erschrak:

»Gott grüße dich, arme Seele!«

»Grüß' dich Gott, meine brave Marthel,« sagte die Gestalt, erhob sich und wandelte mit ihrer Ampel dem Mädchen entgegen. Und welche Verwandlung ging nun vor mit der armen Seele – es wurde daraus der einseitige Körper und das gute, schalkhafte Gesicht des alten Paten.

»Grüß' dich Gott!« sagte er noch einmal und nahm sie an der Hand, »ich hab's nicht verhofft, daß du kommen würdest. Ich habe gefürchtet, daß du nicht kommst, Marthel, ich habe es gefürchtet. Es freut mich, wie ein ganzer Korb voll himmlischer Freuden, daß du gekommen bist. Es freut mich über alle Maßen.«

Nun standen sie eine Weile stumm nebeneinander; dann schritt der Alte tiefer in die Höhle, sie glaubte, er führe sie der armen Seele zu und folgte ihm. Bald aber blieb er wieder stehen, leuchtete ihr mit der rußigen Ampel ins Gesicht und sagte: »Du bist es, Marthel, es ist nun ganz gewiß, du bist es. O schau! Was sich meine alte Seel' abgekümmert hat um dich, daß du sicherlich auch nicht weit möchtest vom Stamme fallen, daß du soviel Gelegenheit hast zum Leichtsinnig- und Schlechtwerden und schier keine zum Bravbleiben, und daß du ins zeitliche und ewige Verderben rennst, dieweilen du mir taufshalber bist aufs Gewissen gebunden, dieweilen du mir so grausam erbarmest und ich mich an dich angewachsen hab', daß ich vermeine, wenn ich einstmals dich nicht finde im Himmel, dann dürft' mir auch das andere alles miteinander gestohlen werden. Jetzt bin ich im Zutrauen und im Frieden; du hast gewußt, wer das sein muß, der sich da herein darf wagen und bist gekommen. Gott danke dir's, du hast meine arme Seel' erlöst! . . .«

So ging sein Redestrom und seine Freude. Das Mädchen schien aber nicht erbaut über diese Wendung. Seine Seel'! Das wäre ein schlechter Spaß, und wo ist denn die Knospe, die im Sonnenlicht aufblüht und mein Begehr? . . .

»Dein Begehr? Dazu, was du meinst, wird noch Zeit sein,« fuhr der Alte fort; »halte du die Laterne fest, ich trage die Lampe, wir wollen jetzt miteinander in die Unterwelt hinabsteigen.«

Er zerrte die willenlos Gewordene mit sich fort und weiter mit sich fort. Die Höhle weitete sich hallenartig aus, ihre Schritte schallten wie der Hall von Pistolenschüssen, und so oft der Einseitige ein Wort sprach, huben die Wände an zu reden, und man hörte die gleichtönigen Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne. Der Einseitige machte die Begleiterin auf einen stillen, lichten Strom aufmerksam, der aus der Höhe niederging und auf dem Boden in Wellen und Adern auseinanherfloß. Der versteinerte Wasserfall. Die Marthel machte ein ablehnendes Zeichen mit der Hand: er möge versteinert sein, sie sei es auch.

Einmal bückte sich der Alte, hub vom Boden ein graues Stänglein auf, gab es dem Mädchen in die Hand:

»Wieg' einmal, wie leicht dieser Stein ist!«

Sie ließ ihn sogleich erschrocken wieder fallen, denn sie hatte erkannt, daß es kein Tropfstein, sondern ein Knochen war.

»Ein Rest von denen, die sich verirrt haben,« sagte der Einseitige.

Die sich verirrt haben! Jetzt wurde ihr leicht, sie verstand die Stunde. In ihrem Herzen dankte sie Gott für die Gnade in den Tagen der Gefahr und machte ein heiliges Gelöbnis für die Zukunft.

Noch stiegen sie eine Weile niederwärts, da schimmerten ihnen aus der Tiefe zuckende Lichtstreifen entgegen – sie standen vor einem schauerlich gurgelnden Gewässer.

»Wenn wir wieder auf die Erde zurück wollten,« meinte der alte Mann, »so könnten wir in dieses Wasser springen. Möchte nicht gar lange dauern, täten wir beide unten mit dem Wasserfall ins Kar hinausfahren.«

»Um des heiligen Leidens und Sterbens willen, kehren wir um!« bat das Mädchen zitternd. Es konnte ja wohl doch sein, daß der Pate übergeschnappt war. Obschon sie bisher der Meinung gewesen, er sei der Klügste weit und breit. »Mein Pat', wo führst mich hin? Mein lieber Pat', kehren wir um!«

»Auf die grüne Welt willst du wieder hinaus?« sagte der Greis. »Hast du noch nicht genug von ihr? Ei so, du bist ja erst siebzehn Jahr alt. Aber bedenk's, wenn du später in die Erden steigst, ob deine Seel' ein weißes Kleid wird tragen, wie heut'!«

»Ich will nichts hören, ich will nichts haben, nur hinaus, um Gottes willen hinaus in die freie Welt!«

Noch umgingen sie kletternd den Tümpel, stiegen einige Schritte an, zwängten sich durch einen Spalt, wobei sich die Marthel so sehr sträubte, daß sie fast mit Gewalt mußte durchgepreßt werden. Da war es plötzlich lau und lind und in den Höhen funkelten die Sterne des Himmels.

»So ist es,« sagte der Alte, »ich bin einseitig, aber der Mandelstein ist zweiseitig, bei der einen Seite geht man hinein, bei der anderen wieder hinaus.«

Das Mädchen begann vor Freude zu lachen. »Nun hast du es,« schrie ihr der Greis fast jauchzend ins Gesicht, »die erlöste Seel' hat dir noch nicht einmal die Knospe in die Hand gegeben, und schon ist dein größter Wunsch erfüllt. Du willst sein. Sollst es, sollst es wahrhaftig! Das ist noch die Nacht, aber erst wenn die Sonne aufgeht! Die anderen Leut', die da umgehen und oft ein so armseliges Herz haben, daß sie sich und anderen nichts Gutes gönnen, die wissen es nicht, was das ist, die Sonne, das Licht. Du weißt es jetzt. Die Laterne lisch' aus.«

Sie gingen darauf nebeneinander hin, über rauhen Steinschutt zuerst, dann umwandelten sie zwischen Klötzen und Gestrüppe einen Teil des Felsstockes und endlich kamen sie auf die weichen feuchten Matten. Der Greis blieb mehrmals stehen und atmete, und schaute zur Höhe.

Der Mond war nicht mehr da, auch keine Schwüle und kein Wetterleuchten, nur der weite, stille, sternklare Himmel.

Als sie hinabkamen zur Hütte, wehte schon die scharfe Kühle des nahen Morgens. Der Einseitige ging mit ihr in die Wohnung. »Weil wir noch nicht ausgeredet haben mitsammen,« das war dafür die Begründung.

Das Trautsame der menschlichen Behausung tat beiden wohl.

»Du bist erst wenige Wochen auf der Alm,« sagte der Alte, »aber du wirst noch dableiben und im nächsten Sommer etwan wieder heraufkommen. Dein Leben wird viele so heiße Tage haben, als die waren seit vorigen Sonntag. Vielleicht noch heißer. Aber ich werde nicht mehr lange um dich sein, um das an dir zu halten, was ich für dich versprochen habe. Wenn ich so mitten im Sommertage sitze drüben in meinem stillen Tal und den alten Kopf auf die gestemmte Hand lege und der Stille zuhöre, da ist's mir zuweilen, als hörte ich in weiter Ferne eine helle Stimme rufen oder einen Gesang singen. Und wenn ich genau danach horche, ob's wirklich sollte wahr sein, daß mich meine Heimgegangenen lieben Leut' schon rufen, dann merk' ich's wohl, es kommt nicht weit, es kommt nur aus meiner Brust herauf. Der singende Atem, Kind! Ich glaube, daß ich auch da drinnen schon stark einseitig bin. Viel habe ich nicht geleistet auf der Erden; der von so geringem Namen ist, einer blinden Hüttlerin Kind; 's ist gar keine Wage dafür, wie gering – dem vertraut man nichts an. Der Bettelmann hat wohl auch sein Gutes, er ist unsers Herrgotts Mahnrute, mit der er herumfuchtelt, wenn die Leut' nicht arbeiten wollen. Ich war fortweg allzu gescheit und allzu faul, heißt das, was man in der Bäuerei faulsein heißt; gearbeitet hab' ich schon, aber wie der Jochochs, nämlich mit dem Kopf. Das gilt nicht dahier. So bin ich eine Münze worden, die man auf der Straße hat liegen lassen, aber ich denke mir, man hat sie nur nicht wechseln können. Deiner Mutter war ich gut bei deiner Taufe, weil kein Besserer zu kriegen gewest. Von der Straßen hat sie mich hereingeholt, 'leicht wie dich auch. So hab' ich mir gesagt: Stefan, das nimmst ernst, das Dirndl ist verlassen, um das nimmst dich an. Schlecht machen hab' ich dir den Burschen nicht wollen, es wär' ihm unrecht geschehen und du hättest ihn dafür erst recht schadlos gehalten. Närrische Mittel braucht's schon, daß ihr nicht aus dem Kittel springt, ihr nichtsnutzig Weibervolk ihr! Na, gottlob, 's ist g'raten, du bist brav. Und das wird wohl meine einzige Ausweisung sein vor der himmlischen Tür. So, und jetzt sag' auch du was.«

Sie wisse nichts, sie sei ganz kleinsinnig. Es sei gut gemeint gewesen, aber die Mär' hätte auch einen schlimmen Ausgang nehmen können. Und mit ihrem einzigen Verlangen stehe sie jetzt da wie ein Narr.

»Tust es gern, so kannst mir's ja sagen, was du dir von der armen Seele gewünscht hättest.«

»Sagen kann ich's, aber helfen kannst mir nicht, dafür bist du eine zu arme Seel'! Soll er denn zugrund' gehen im Krieg?« schluchzte die Marthel in den Winkel ihres Ellbogens hinein, in den sie ihr Haupt niedergesenkt hatte. »Daß er glücklich wieder heimkommt, nur das wollt' ich, nur das!«

Er stand eine Weile still neben ihr, wie sie weinte, dann legte er seine Hand auf ihr Köpflein und sagte ganz leise: »Bist ein gutes Wesen.«

Nun wollte er aber, daß sie sich schlafen lege, er werde draußen im Heu seine Rast suchen. Doch als er schon hart an der Tür war, drehte er sich um, machte ein paar rasche Schritte zum Mädchen hin und sagte: »Er kommt glücklich heim, verlaß dich drauf!« Dann war er fort.

Ob der alte wunderliche Mann im Heu des Stadls seine Rast gefunden oder in dieser Nacht noch seinem Hause zugegangen ist, man weiß es nicht. Man weiß überhaupt von ihm nichts mehr weiteres. Von Jakobi bis Maria Himmelfahrt sind drei Wochen. Als Maria in den Himmel fuhr, hat sich der Einseitige ihr angeschlossen. Sein Leib saß auf dem Bänklein unter dem armseligen Dach, das der Bettelmann ein Haus und Heim genannt.

Fast genau ein Jahr später war unten im Tale, besonders um den Dotterhaschhof herum, helle Lustbarkeit. Die Alten hatten sich der Ruh' begeben, Egyd hielt Hochzeit mit seiner Almerin, der Marthel. Ob's geworden wäre, wenn sich die junge Sennerin auf der Alm weniger spröde gezeigt? Geworden wär's – aber anders. Der Egyd kennt sich aus. »Wohlfeile Zwetschken,« sagt er, »muß man kosten, aber nicht kaufen.«

Nun war's wunderschön, und der muntere Bräutigam hatte an seiner Brust neben der Myrte ein eisernes Kreuz, ein Ehrenzeichen, daß er im Krieg seinen Mann gestellt hatte.

Daheim – so Gott will, Marthel – wird er ihn auch stellen.

 


 


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